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I

Gnädige Frau, Sie erinnern sich zweifellos an die Heirat des Fräulein Duval. Wenn man darüber auch nur einen Tag sprach – in Paris redet man über alles nur einen Tag –, so wurde es doch für bestimmte Kreise ein Ereignis. Es war, täuscht mich mein Gedächtnis nicht, im Jahre 1825. Fräulein Duval verließ das Kloster mit achtzehn Jahren und hatte achtzigtausend Franken Rente. Herr von Marsan, der sie heiratete, besaß nur seinen Titel und einige Aussichten, eines Tages, nach dem Tode seines Onkels, Pair zu werden; diese Hoffnung allerdings machte die Julirevolution zunichte. Im übrigen: gar kein Vermögen und beträchtliche Jugendschulden. Er verließ, erzählt man, das dritte Stockwerk eines möblierten Hauses, geleitete Fräulein Duval in die Saint-Roch-Kirche und bezog dann mit ihr eines der schönsten Häuser des Faubourg Saint-Honoré. Diese befremdliche und scheinbar recht leichtsinnige Verbindung gab zu tausend Mutmaßungen Anlaß, von denen keine stimmte, weil keine einfach war und weil man mit allen Kräften einen außerordentlichen Grund für ein ungewöhnliches Geschehen finden wollte. Einige Einzelheiten, die für das Verständnis der Geschichte nötig sind, werden Ihnen zugleich ein Bild von unserer Heldin geben.

Emmeline war das unruhigste, wißbegierigste, kränklichste und eigensinnigste Kind von der Welt; mit fünfzehn Jahren war sie ein Mädchen mit einer Haut wie Milch und Blut, hochgewachsen, schlank und selbständigen Charakters. Sie war erstaunlich ausgeglichen, sehr sorglos und bewies nur dann einen Willen, wenn ihr Herz etwas begehrte. Sie kannte keinen Zwang; sie saß fast immer allein in ihrem Zimmer und arbeitete für gewöhnlich nur, wenn es ihr gerade Spaß machte. Ihre Mutter, die sie verstand und liebevoll zu behandeln wußte, hatte diese Freiheit für sie gefordert, die die mangelnde Anleitung in manchem ausglich: denn eine natürliche Freude am Lernen und Wißbegier sind für gutgeartete Begabungen die besten Lehrmeister. Es waren in Emmeline Ernst und Frohsinn zu gleichen Teilen; ihr Alter indes ließ das Lustige in ihr vorherrschend scheinen. Sie hatte einen ausgeprägten Hang zum Sinnieren und konnte doch kurzerhand die schwierigsten Betrachtungen mit einem Spaß abschneiden oder sah mit einemmal nichts als die komische Seite des Gesprächsstoffes. Man konnte sie ganz alleine schallend auflachen hören, und es geschah ihr im Kloster, daß sie die Nachbarin mitten in der Nacht durch ihre laute Lustigkeit aufweckte.

Ihre rege Phantasie schien für einen leichten Enthusiasmus sehr empfänglich; die Tage verbrachte sie mit Zeichnen oder Schreiben; wenn sie einen Anflug von Lust verspürte, ließ sie auch alles stehen und liegen und setzte sich ans Klavier, um sich hundertmal und in allen Tonarten ihre Lieblingsmelodie zu spielen; sie war verschwiegen und keineswegs zutraulich; sie hatte gar nichts für Freundschaftsergüsse übrig, und eine Art Scham verwehrte es ihr, Gefühle in Worte zu kleiden. Sie liebte es, die kleinen Probleme dieser Welt, die sich bei jedem Schritt offenbaren, selbst zu lösen; so gewährte sie sich einigermaßen befremdliche Vergnüglichkeiten, von denen die Menschen ihrer Umgebung sicherlich nichts ahnten. Aber ihre Neugierde hatte stets einen bestimmten Respekt vor sich selbst als Schranke. Dies sei ein Beispiel von vielen:

Sie studierte den Tag über in einem Saal, in dem sich ein geräumiger Bücherschrank mit großen Glasscheiben befand, der an die dreitausend Bände enthielt. Der Schlüssel steckte im Schloß, aber Emmeline hatte versprochen, ihn nicht zu berühren. Sie hielt ihr Versprechen stets gewissenhaft, und das war ihr hoch anzurechnen, denn sie brannte vor Wißbegierde. Nicht verboten war ihr, die Bücher mit den Augen zu verschlingen; so wußte sie denn alle Titel auswendig; sie durchlief allmählich alle Reihen und stellte, um die obersten zu erreichen, einen Stuhl auf den Tisch. Mit geschlossenen Augen hätte sie den Band greifen können, nach dem man sie fragte. Sie liebte die Autoren nach den Titeln ihrer Werke und gewann auf diese Art schreckliche Begriffe von Wert und Unwert. Doch das war es nicht, worum es sich handelte.

In diesem Saal stand ein kleiner Tisch neben einem großen Fenster, das auf einen ziemlich dunklen Hof ging. Erst der Ausruf eines Bekannten ihrer Mutter ließ Emmeline das Düstre des Zimmers bemerken; sie hatte noch nie den Einfluß äußerer Gegebenheiten auf ihr Empfinden gespürt. Leute, die dem, was das materielle Wohlbefinden ausmacht, eine übermäßige Bedeutung beimaßen, wurden von ihr unter die Narren gezählt. Stets barhäuptig, die Haare unordentlich, Wind und Sonnenglut verlachend und nie zufriedener, als wenn sie regendurchnäßt heimkam, gab sie sich auf dem Lande ihren wilden Neigungen hin, als ob die ihr Leben ausmachten. Sieben oder acht Stunden zu Pferd im Galopp waren für sie Spielerei. Zu Fuß nahm sie es mit jedermann auf, lief, kletterte auf Bäume; und wenn man nicht lieber auf der Mauerbrüstung als auf den Wegen marschierte und die Treppe nicht auf dem Geländer hinabrutschte, glaubte sie, es wäre aus Scheu vor den Menschen. Mehr als alles aber liebte sie – zu Hause bei der Mutter –, sich alleine wegzuschleichen, auf den Feldern umherzustreunen und niemanden zu sehen. Dieser Kindheitshang zum Einsamsein und die Freude, beim scheußlichsten Wetter auszugehen, verhüteten, wie sie sagte, daß man sie »auf ihren ›Spaziergängen‹ suchen« könne. Von dieser wunderlichen Vorstellung bestimmt, scheute sie keine Gefahr und ließ sich etwa mit einem Kahn in die Strömung und aus dem Park, den der Fluß durchquerte, hinaustreiben, ohne sich zu fragen, wohin sie verschlagen werden könnte. Warum man sie in solche Fährnisse laufen ließ? Ich möchte mich nicht mit dem Versuch einer Antwort beschweren.

In aller Tollheit und Torheit war Emmeline eine Spötterin; sie hatte einen Onkel von beträchtlichen Rundungen und einem etwas dummen Lachen, der sonst aber ein prachtvoller Mensch war. Sie hatte ihm eingeredet, sie wäre körperlich und geistig sein Ebenbild, und das bewies sie mit Gründen, die einen Toten hätten lachen machen. Seit dieser Zeit hegte der würdige Onkel eine grenzenlose Zärtlichkeit für seine Nichte. Sie spielte mit ihm wie mit einem Kind, sprang ihm um den Hals, wenn er ankam, kletterte ihm auf die Schultern; und bis in welches Alter hinein? Das sage ich Ihnen gar nicht erst. Das größte Vergnügen für den kleinen Schelm war, den im übrigen ziemlich ernsten Herrn vorlesen zu lassen; das war eine beschwerliche Sache, zumal er an den Büchern keinen rechten Sinn fand; und das erklärte sich wiederum aus seiner Art zu punktieren. Er atmete mitten im Satz, denn er hatte als Maß eben nur die Länge seines Atems. Urteilen Sie selbst über das Durcheinander, das da herauskam; das Kind wollte vor Lachen bersten. Ich muß auch hinzufügen, daß sie es im Theater bei Tragödien ebenso machte und es bei den lustigsten Komödien fertigbrachte, gerührt zu sein.

Verzeihen Sie, gnädige Frau, diese Einzelheiten aus der unreifen Jugend, die nach allem nur das Bild eines verzogenen Kindes geben. Sie müssen verstehen können, daß ein solcher Charakter später nach seiner Manier handelt und nicht nach der der Welt.

Als Emmeline sechzehn Jahre alt war, nahm sie der bewußte Onkel in die Schweiz mit. Angesichts der Berge glaubte er, sie verliere den Verstand; so überschwenglich äußerte sie ihre Freude. Sie schrie, beugte sich aus der Kalesche: Sie müßte ihr kleines Gesicht in die Bäche tauchen, die von den Felsen sprangen. Sie wollte die Gipfel erklimmen oder bis zu den reißenden Wassern in die Abgründe steigen. Sie hob Steine und riß Moos aus. Als sie in eine Sennhütte kam, wollte sie nicht mehr fort; man mußte sie fast mit Gewalt wegschleppen; sie stieg wieder in den Wagen und rief weinend den Bauern zu: »Freunde, ihr laßt mich wieder fort!«

Noch war nichts von Koketterie in ihr, als sie in die Gesellschaft eintrat. Ist es von Übel, sich ohne viel Grundsätze in der Tasche dem Leben gegenüber zu sehen? Ich weiß es nicht. Und zum andern: Geschieht es nicht oft, daß man der Gefahr um so näher ist, als man sie vermeiden will? Denken Sie doch nur an die armen Menschenkinder, denen man die Liebe so schrecklich geschildert hat, daß sich die Saiten ihres Herzens schmerzlich und zagend spannen, wenn sie in den Salon treten, und bei dem leisen Aufseufzen eines flüchtigen Wunsches wie die einer Harfe klingen. In den Dingen der Liebe war Emmeline noch sehr unwissend. Sie hatte einige Romane gelesen, aus denen sie sich eine Sammlung »alberner Sentimentalitäten« – so nannte sie es – zugelegt hatte und die sie gerne auf belustigende Art erörterte. Sie hatte sich vorgenommen, dem Leben nur Zuschauerin zu sein. So war sie wenig um ihr Äußeres, um ihre Kleidung, ihre Haltung besorgt. Mußte sie auf einen Ball gehen, so tat sie irgendeine Blume auf den Kopf, ohne sich weiter über die Wirkung der Frisur zu beunruhigen; ein Musselinkleid zog sie wie ein Jagdkostüm an, drehte sich nicht lange vor dem Spiegel und marschierte fröhlich los.

Sie können sich denken, daß sie mit ihrem Vermögen – denn zu Lebzeiten der Mutter war die Mitgift noch beträchtlich – alle Tage Anträge erhielt. Sie gab ohne Prüfung keinen Korb; doch die ständigen Examina wurden ihr nur willkommene Gelegenheit, ihre Karikaturensammlung zu erweitern. Sie musterte die Menschen vom Scheitel bis zur Sohle mit mehr Sicherheit, als man für gewöhnlich ihrem Alter zutrauen mag. Am Abend dann schloß sie sich mit ihren Freundinnen ein und gab ihnen eine Vorstellung von der Morgenparade; ihr Nachahmungstalent gab den Szenen vollendete Komik. Der war immer schüchtern, jener ein Geck; einer sprach durch die Nase, ein andrer verbeugte sich linkisch. Mit des Onkels Hut in der Hand trat sie ein, setzte sich, schwatzte vom Regen und vom schönen Wetter wie bei der Anstandsvisite, kam dann ganz allmählich und nur so obenhin auf die Heirat zu sprechen und fing, jäh aus der Rolle fallend, herzlich zu lachen an. Eine Antwort, die immerhin deutlich war und den Bewerbern überbracht werden konnte.

Und doch kam ein Tag, an dem sie vor dem Spiegel stand und die Blumen ein wenig kunstfertiger ordnete als sonst. Sie war an diesem Tage zu einem großen Diner geladen, und ihre Kammerzofe hatte ihr ein neues Kleid gebracht, das nicht recht nach ihrem Geschmack schien. Eine alte Opernmelodie, mit der man sie schon in den Schlaf gesungen hatte, kam ihr in den Kopf:

Will man der Liebe gefallen,
So ist man wohl selbst schon verliebt.

Sie dachte über die Worte nach und wurde mit einemmal merkwürdig unruhig. Sie blieb den ganzen Abend verträumt, und zum erstenmal fand man sie traurig.

Damals kam Herr von Marsan aus Straßburg, wo sein Regiment stand; er war einer der schönsten Männer, die man sehen konnte, mit jener stolzen und etwas verletzenden Art, die Sie an ihm kennen. Ich weiß nicht, ob er bei dem Essen war, bei dem das neue Kleid eingeführt wurde; sicher aber wurde er von Frau Duval, die in der Nähe von Fontainebleau ein wunderschönes Landgut besaß, zur Jagd gebeten. Emmeline war ebenfalls da. In dem Augenblick, als sie in den Wald reiten wollten, scheute ihr Pferd vor den Klängen der Hörner. Nachdem sie es beruhigt hatte, wollte sie, die an die Launen des Tieres gewöhnt war, es bestrafen; aber ein zu heftig geführter Hieb mit der Reitgerte hätte sie beinahe das Leben gekostet. Das wildgewordene Pferd warf sich herum und jagte mit seiner unbesonnenen Reiterin querfeldein einer tiefen Schlucht zu, als Herr von Marsan, der aus dem Sattel gesprungen war, sich ihm in die Zügel warf; doch der Anprall schleuderte ihn zurück, und er brach sich den Arm.

Seit diesem Tag schien Emmeline wie verwandelt. Ihr Frohsinn wich einer befremdlichen Zerstreutheit. Frau Duval starb kurze Zeit danach, das Landgut wurde verkauft, und man behauptete, die kleine Duval zöge im Hause des Faubourg Saint-Honoré den Vorhang regelmäßig zu der Stunde in die Höhe, da auf dem Wege zu den Champs-Élysées ein hübscher Bursche vorbeiritt. Wie dem auch sei: Emmeline legte der Familie ein Jahr später ihr Vorhaben dar, von dem sie nichts würde abbringen können. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, welches Zeter und Mordio man schrie, um sie mürbe zu machen. Nach sechs Monaten hartnäckigen Widerstandes mußte man – sie konnten tun und sagen, was sie wollten – dem Fräulein nachgeben und sie Gräfin Marsan werden lassen.

 

II

Die Hochzeit fand statt, und Emmelines Lustigkeit kam wieder; es war immerhin wunderlich, eine Frau nach der Ehe wieder Kind werden zu sehen. Es schien, als ob ihr Leben durch die Liebe angehalten worden sei; doch da ihr Genüge geschah, drang es wieder in seine Bahn wie ein Bach, den man einen Augenblick gestaut hatte.

Jetzt aber war es nicht mehr ein dunkles Zimmerchen, das ihre Kindlichkeiten sah, sondern das Haus Marsan und die vornehmsten Salons. Und Sie mögen sich die Wirkung vorstellen, die sie hervorbrachten. Der Graf, der ernst war und zuweilen auch ein wenig verstimmt, verlegen vielleicht durch seine neue Lage, führte in nicht gerade bester Laune seine junge Frau aus, die über alles lachte und an nichts dachte. Zuerst wunderte man sich, dann wurde darüber gemunkelt und schließlich gewöhnte man sich daran wie an alles. Der Ruf des Herrn von Marsan war für einen Bräutigam nicht gerade der beste, aber um so vorzüglicher für einen Ehemann; und wollte einer strenger werden, so wurde er durch Emmelines herzliche Fröhlichkeit entwaffnet. Alle Welt wußte – Onkel Duval sorgte dafür –, daß seine Nichte in finanzieller Hinsicht von ihrem Gatten vollkommen unabhängig gestellt war; man begnügte sich gerne mit dieser vertraulichen Mitteilung und sprach von der Vorgeschichte und den Voraussetzungen dieser Heirat wie von einer Laune, aus der nur Schwatzhafte einen Roman konstruierten.

Immerhin fragte man sich so im geheimen, welche außerordentlichen Qualitäten die reiche Erbin hatten bestechen und sie zu diesem übereilten Schritt bestimmen können. Vom Glück wenig gut Behandelte können schwerlich begreifen, wie man ohne drängende Motive so mit zwei Millionen umgehen mag. Sosehr sie von der Mehrheit der Menschen wissen, daß sie nach Geld giert, sowenig verstehen sie ein Mädchen, das sich einmal nichts daraus macht, zumal es im Reichtum geboren ist und nicht gesehen hat, wie der Vater ihn erwarb. Ebendies aber war Emmelines Geschichte: Sie heiratete Herrn von Marsan einzig und allein, weil er ihr gefiel und weil sie weder Vater noch Mutter hatte, die sie daran hinderten; an den Vermögensunterschied hatte sie wahrhaftig nicht gedacht. Herr von Marsan bestach sie durch sein Äußeres, das sagte: Er ist schön und stark, er ist ein Mann. Er beging vor ihren Augen und für sie die einzige Tat, die geeignet war, ihr Herz rascher schlagen zu lassen, und wie sich natürlicher Frohsinn bisweilen mit der Anlage zur Schwärmerei verbindet, so war ihr unerfahrenes Herz aufgeglüht. Auch als ausgelassene Gräfin liebte sie ihren Gemahl maßlos; keinen Schöneren gab es für sie, und wenn sie seinen Arm nahm, schien ihr nichts der Mühe wert, sich danach umzudrehen.

Während der ersten vier Jahre ihrer Ehe sah man beide sehr wenig. Sie hatten an der Seine nahe bei Melun ein Landhaus gemietet; in der Umgegend gab es zwei oder drei Dörfer, die Le May hießen, und da wahrscheinlich das Haus auf dem Platz einer alten Mühle aufgebaut war, nannte man es Moulin de May. Es ist ein reizendes Anwesen und die Aussicht köstlich. Eine große, lindenbeschattete Terrasse erhebt sich über dem linken Flußufer; über hügeliges Grün steigt man vom Park zum Wasser hinunter. Hinter dem Hause liegt – schmuck und sauber – der Wirtschaftshof, der ein großes Gebäude für sich bildet und in seiner Mitte eine Fasanerie birgt. Das Haus umschließt ein weiter Park, der sich mit dem Wald von La Rochette vereinigt. Sie kennen den Wald, gnädige Frau; erinnern Sie sich an die »Seufzerallee«? Ich wußte nie, woher sie den Namen hat; aber ich fand stets, daß er zu ihr gehört. Wenn die Sonne über dem engen Buchengang hängt und wenn man inmitten mittäglicher Glut im Schatten geht und der Laubenweg sich weiter und weiter ausdehnt, dann fühlt man Unruhe und Glückseligkeit zugleich, so allein zu sein, und man kommt ins Träumen, ohne daß man viel dazutut.

Emmeline liebte diese Allee nicht; sie fand sie sentimental und spöttelte wie damals im Kloster, wenn man von ihr sprach. Der Wirtschaftshof dagegen war ihr ganzes Entzücken; zwei bis drei Stunden täglich trieb sie sich dort mit den Pächterskindern umher. Meine Heldin wird Ihnen kindisch vorkommen, fürchte ich, wenn ich verrate, daß der Besucher sie manchmal auf einem Schober finden konnte, eine ungeheure Forke schwingend und die Haare voller Heu; doch blitzschnell sprang sie zur Erde, und bevor Sie das ausgelassene Kind zu betrachten Zeit fanden, stand die Gräfin neben Ihnen und bewillkommnete Sie mit einer Anmut, die alles verzeihen ließ.

War sie nicht auf dem Hof, dann konnte man sie wohl im tiefsten Park aufstöbern, wo sich zwischen Felsblöcken eine grüne Anhöhe auftat: ein richtiges Versteck für Kinder wie jenes von Rousseau in Ermenonville, drei Kiesel und ein wenig Heidekraut. Dort saß sie im Schatten und sang laut, dieweil sie Bossuets »Leichenreden« oder ein anderes ähnlich ernstes Werk las. Wenn Sie sie auch dort nicht fanden, dann war sie hinaus in die Weinberge geritten und zwang irgendeine Pächtersmähre, über Gräben und Hecken zu springen, quälte und peinigte das arme Tier unerschütterlich kalten Blutes und fand daran Vergnügen. Sahen Sie sie aber nicht in den Weinbergen, nicht im Versteck und nicht auf dem Wirtschaftshof, dann hockte sie wahrscheinlich vor dem Klavier und mühte sich um ein neues Stück, vorgebeugten Kopfes, mit heißen Augen und zitternden Händen. Musik nahm sie ganz und gar gefangen, und sie atmete kaum in der Erwartung, eine Melodie, einen Satz zu finden, an dem sie Freude hatte. War aber auch das Piano stumm, dann fanden Sie die Herrin des Hauses auf einem Kissen sitzen oder vielmehr hocken, ganz nahe am Kamin, und mit der Feuerzange in der Glut herumspielen. Zerstreut suchten ihre Augen in den Adern der Marmorwandung nach Tieren, Figuren, Landschaften und tausenderlei Traumbildern, und in die Betrachtung verloren, versengte sie sich die Fußspitze mit der rotglühenden Zange.

Das sind Dummheiten! werden Sie sagen; doch – Sie merken es wohl – es ist kein Roman, den ich erzähle.

Trotz ihrer törichten Streiche besaß sie Witz und Verstand und fand nach einiger Zeit fast ohne ihr Zutun einen Kreis geistreicher Menschen um sich versammelt. Im Jahre 1829 mußte Herr von Marsan in einer Erbschaftsangelegenheit, die ihm nichts einbrachte, nach Deutschland verreisen. Er wollte seine Frau nicht mitnehmen und vertraute sie seiner Tante an, der Marquise d'Ennery, die nach Moulin de May zog. Frau d'Ennery war durchaus Dame von Welt; sie war in den schönen Tagen des Kaiserreichs schön gewesen und trug sich noch jetzt mit einer törichten Würde wie mit einem langen Schleppkleid. Sie ließ niemals einen alten Flitterfächer aus den Händen und verbarg verschämt das Gesicht hinter ihm, wenn sie sich ein gar zu freies Wort erlaubte; und das entschlüpfte ihr nur zu gerne. Der Anstand blieb indes immer gewahrt, und sobald sich der Fächer senkte, taten die Augenlider der Dame das gleiche. Ihre Art zu sehen und zu sprechen verwunderte Emmeline zuerst maßlos; denn bei aller Unbesonnenheit war die Gräfin Marsan von seltener Unschuld geblieben. Die vergnüglichen Geschichten ihrer Tante, ihre Gedanken über die Ehe, das halbe Lächeln, wenn sie von anderen, die Ach und Wehs, wenn sie von sich sprach, das alles ließ Emmeline ernst sein und aufs höchste erstaunt, und dann wieder närrisch vor Vergnügen, als würde sie wunderliche Märchen hören.

Daß die alte Dame die »Seufzerallee« in ihr Herz schloß, sobald sie sie sah, ist wohl sehr verständlich. Die Nichte begleitete sie aus Gefälligkeit. Hier geschah es denn auch, daß Emmeline unter der Sintflut alberner Worte den Dingen auf den Grund sah; daß sie auf gut deutsch zu begreifen begann, was eigentlich der Pariser unter Leben versteht.

Sie spazierten eines Morgens beide allein und kamen plaudernd zum Wald von La Rochette. Frau d'Ennery versuchte vergeblich, Emmelines Liebesgeschichte herauszubekommen; sie bemühte sich auf hunderterlei Art, die Geschehnisse des geheimnisvollen Pariser Jahres zu erfahren, als Herr von Marsan dem Fräulein Duval den Hof machte. Lachend fragte sie sie, wie viele Rendezvous sie schon gehabt hatten, ob sie sich schon vor der Verlobung geküßt hätten und wie schließlich überhaupt die ganze Leidenschaft entstanden sei. Darüber hat Emmeline zeit ihres Lebens geschwiegen; vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, sie kann über nichts sprechen, ohne sich darüber lustig zu machen, und sie schweigt, weil ihr die Liebe zu hoch steht. Als die alte Dame einsah, daß ihre Mühe umsonst war, wechselte sie kurz das Thema und fragte, ob diese seltsame Liebe auch nach vier Jahren Ehe noch lebendig sei. »Wie sie es am ersten Tage war und wie sie es an meinem letzten Tage sein wird«, antwortete Emmeline. Bei diesen Worten blieb Frau d'Ennery stehen und küßte die Nichte majestätisch auf die Stirn. »Teures Kind«, sprach sie, »du verdienst, glücklich zu sein, und das Glück ist dem sicher, der von dir geliebt wird.« Nach diesen emphatischen Worten straffte sie sich ein wenig in die Höhe und meinte geziert: »Ich glaubte, der Herr von Sorgues machte dir schöne Augen?«

Herr von Sorgues war ein junger Geck und ein großer Jagd- und Pferdeliebhaber, der häufig nach Moulin de May herauskam; mehr um des Grafen als um seiner Frau willen. Es war immerhin nicht ganz unrichtig, daß er der Gräfin verliebte Blicke zuwarf. Denn welcher junge Mann sieht nicht, wenn er sonst nichts zu tun hat, eine hübsche Frau an, der er zwölf Meilen von Paris begegnet? Emmeline hatte sich wenig mit ihm beschäftigt und nur dafür gesorgt, daß es ihm in ihrem Hause an nichts fehle. Er war ihr gleichgültig, doch die Bemerkung ihrer Tante ließ ihn ihr heimlich und gegen ihren Willen verhaßt sein. Als sie aus dem Walde heraustraten, wollte es der Zufall, daß auf dem Hof gerade ein Wagen hielt, den Emmeline als den des Herrn von Sorgues erkannte. Einen Augenblick später trat er grüßend auf sie zu, bedauerte, so spät erst vom ländlichen Sommeraufenthalt zurückzukehren und Herrn von Marsan nicht mehr vorzufinden. Emmeline war erstaunt oder vielleicht auch befangen, als sie ihn sah, und konnte eine Regung nicht unterdrücken: Sie wurde rot, und er merkte es.

Da Herr von Sorgues ein Opernabonnement besaß und zwei oder drei Choristinnen mit monatlich hundert Talern ausgehalten hatte, hielt er sich für einen, der Glück bei Frauen hat, und fühlte sich bemüßigt, als solcher aufzutreten. Als sie zum Essen gingen, wollte er wissen, bis zu welchem Grade er Frau von Marsan betört hatte, und drückte ihr die Hand. Der Eindruck der ungewohnten Berührung ließ ihren ganzen Körper erschauern. Das war bereits mehr als genug, um einen Gecken wie ihn trunken vor Erobererstolz zu machen.

Einen Monat lang erklärte es die Tante für gewiß, Herr von Sorgues sei ihr »Verehrer«; das wurde nun der unversiegliche Quell für antiquierte Witze und Doppelsinnigkeiten. Emmeline ertrug sie mit Mühe und nur aus Gutmütigkeit. Aus welchen Gründen die alte Marquise den Verehrer so liebenswert fand und warum sie ihn sehr bald nicht mehr recht mochte, das ist unglücklicher- oder glücklicherweise ebensowenig hinzuschreiben wie auch nur zu ahnen. Jedenfalls aber kann man leicht die Wirkung solcher Gedanken auf Emmeline ermessen, zumal sie mit Beispielen heutiger Begebenheiten und mit all den Prinzipien guterzogener Leute, die die Liebe wie einen Tanz einüben, reichlich versehen waren. In einem Buch, das ebenso gefährlich ist wie die Liebschaften, von denen sein Titel spricht, steht – glaube ich – eine Bemerkung, deren Tiefe man kaum genügend erkennt. Es hieß dort: »Nichts verdirbt ein junges Weib schneller als das Wissen um die Verderbtheit derer, die es achten soll.« Frau d'Ennerys Sentenzen ließen in der Nichte ein Gefühl ganz anderer Art groß werden. »Wer bin ich denn«, fragte sie sich, »wenn die Welt so ist?« Der Gedanke an ihren fernen Mann beunruhigte sie. Sie hätte ihn neben sich haben wollen, wenn sie am Kamin träumte. Sie hätte ihn wenigstens fragen und um Wahrheit bitten können. Er mußte sie wissen, denn er war ein Mann. Und sie fühlte, Wahrheit aus diesem Munde konnte nicht erschreckend sein.

Sie beschloß, an Herrn von Marsan zu schreiben und sich über die Tante zu beklagen. Der Brief war fertig und gesiegelt, und sie wollte ihn schon abschicken, als sie ihn – wunderlich wie sie war – lachend ins Feuer warf. »Ich bin wohl nicht ganz gescheit, mich so zu beunruhigen«, sagte sie sich, lustig wie gewöhnlich; »schau mir einer diesen netten Herrn an, der mir mit seinen verliebten Augen Angst machen will!«

In diesem Moment trat Herr von Sorgues ein. Wahrscheinlich hatte er sich unterwegs zum letzten Sturm entschlossen. Er schloß heftig die Tür, ging wortlos auf Emmeline zu und küßte sie.

Sie blieb vor Überraschung stumm und griff als einzige Antwort zur Klingel. Herr von Sorgues – als einer, der bei Frauen Glück hat – übersah sofort die Situation und machte sich davon. Am selben Abend schrieb er ihr einen langen Brief und ward in Moulin de May nicht mehr gesehen.

 

III

Emmeline sprach von ihrem Abenteuer zu niemandem. Sie sah es als Lehre für sich und als Grund zum Nachdenken, nicht aber als Anlaß zur Beunruhigung. Nur als Frau d'Ennery sie des Abends vor dem Schlafengehen wie gewöhnlich küßte, erblich sie unter leichtem Frösteln.

Sie beklagte sich auch nicht, wie sie zuerst willens gewesen war, über die Tante, sondern versuchte ganz im Gegenteil, ihr nahezukommen und sie noch mehr zum Sprechen zu bringen. Das Gefühl einer Gefahr war mit des Verehrers Abreise von ihr gewichen; doch ihrem Denken blieb eine Neugierde, die unersättlich schien. Die Marquise d'Ennery hatte – im wahrsten Sinne des Wortes – eine stürmische Jugend hinter sich. Wenn sie auch nur ein Drittel der Wahrheit zugestand, so war selbst das schon überaus ergötzlich; und was sie nach Tisch ihrer Nichte entdeckte, war bisweilen wohl sogar die Hälfte. Es ist wahr, sie wachte jeden Morgen mit dem Entschluß auf, nichts mehr zu sagen und das Erzählte zu widerrufen; doch ihre Anekdoten glichen fatalerweise den Hammeln des Panurg: ihre Vertraulichkeiten vermehrten sich in dem Maße, wie der Tag fortschritt. Dergestalt also, daß der Zeiger zuweilen beim Mitternachtsschlag die Summe der Histörchen jener guten Dame berechnet zu haben schien.

Emmeline lauschte ernst, in einen großen Sessel geschmiegt. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß ihre Andacht alle Augenblicke an einem unbändigen Lachen verging und von den drolligsten Fragen abgelöst wurde. Durch leises Übergehen und zarte Andeutungen hindurch interpretierte sie die Worte der Tante wie ein kostbares Manuskript, in dem etliche Seiten fehlen und der Scharfsinn des Lesers in die Lücke springen muß. Die Welt erstand ihr im neuen Licht. Sie sah, daß man die Fäden fühlend erkennen müsse, wenn die Marionetten spielen sollen. Aus solchem Wissen gewann sie Nachsicht für die andern und wußte sie stets zu bewahren. Sie scheint wahrhaftig über allem Ärgerlichen zu stehen und wie keine andere mit ihren Freunden freundlich zu sein. Dies kommt daher, daß sie lernen mußte, sich als etwas Besonderes zu betrachten; und wenn sie sich über die Schwächen der anderen harmlos lustig machte, verzichtete sie darauf, es ihnen gleichzutun.

So wurde sie bei ihrer Rückkehr nach Paris die Gräfin Marsan, von der zu sprechen schnell Mode ward. Das war nicht mehr die kleine Duval, nicht mehr die ausgelassene junge Frau mit den fast immer zerzausten Haaren. Ein einziges Erlebnis und ihr Wille hatten sie jäh gewandelt. Nun war sie eine Frau von Geist und feinem Empfinden, die nicht sich verlieben und erobern wollte und die – anerkannten Verstandes – stets zu gefallen die Mittel hatte. Sie hatte sich gleichsam gesagt: »Wenn die Welt nun einmal so ist, gut! so nehmen wir sie, wie sie ist.« Sie hatte das Leben verstanden; und während eines Jahres – Sie erinnern sich – gab es kein Vergnügen ohne sie. Ich weiß, man glaubte und man sagte, eine so außergewöhnliche Wandlung hätte nur durch die Liebe geschehen können, und man dichtete zu dem glanzvollen Anderssein der Gräfin eine neue Leidenschaft. Die Welt urteilt schnell und täuscht sich oft! Emmelines Anmut kam aus dem Streben, niemandem nahezukommen und keinen sich nähern zu lassen. Wenn es jemanden gibt, auf den man das geistbeschwingte Dichterwort: »Ich lebe aus Neugier« anwenden könnte, so ist sie es. In diesem Satz birgt sich ihr ganzes Wesen.

Herr von Marsan kam zurück; der geringe Erfolg seiner Reise ließ ihn nicht guter Laune sein. Seine Pläne waren zu nichts geworden. Überdies kam noch die Julirevolution, und er verlor seine Epauletten. Treu dem Stand, dem er diente, ging er nur aus, um vereinzelte Besuche im Faubourg Saint-Germain zu machen. In dieser trüben Zeit wurde Emmeline krank; ihre zarte Gesundheit erschütterte sich an langen Leiden, und sie glaubte, es gehe zu Ende. Nach einem Jahr war sie kaum mehr zu erkennen. Ihr Onkel brachte sie nach Italien; es wurde 1832, als sie mit dem guten Alten aus Nizza heimkehrte.

Ich sagte Ihnen schon, daß sich ein gewisser Kreis um sie gesammelt hatte. Sie fand ihn wieder vor, als sie zurückkam; doch sie, die früher so lebhaft und munter war, wurde jetzt häuslich. Die Elastizität des Körpers schien sie verloren und nur die des Geistes behalten zu haben. Sie ging gleich ihrem Mann selten aus, und man sah stets ihre Fenster erleuchtet, wenn man des Abends vorbeikam. Hier fanden sich einige Freunde ein, und da erlesene Geister sich anziehen, wurde das Haus Marsan bald ein beliebter Versammlungsort, der nicht schwer und auch nicht leicht zugänglich war und es mit gutem Geschmack vermied, ein Büro für geistige Anregung zu werden. Herr von Marsan war an ein weniger gemächliches Leben gewöhnt und empfand schlechterdings Langeweile. Konversation und Nichtstun waren niemals recht nach seinem Geschmack gewesen. Man sah ihn seltener und seltener bei der Gräfin und schließlich gar nicht mehr. Man munkelte bereits, er hätte, seiner Frau überdrüssig, eine Geliebte. Darüber weiß ich nichts und will ich auch nichts reden.

Inzwischen war Emmeline fünfundzwanzig Jahre geworden und fühlte, ohne sich recht darüber klar zu sein, was in ihr vorging, wie auch sie der Langeweile unterlag. Die »Seufzerallee« kam ihr ins Gedächtnis, und die Einsamkeit beunruhigte sie. Es dünkte sie, als trüge sie an einem Wunsch; und doch fand sie nichts, wenn sie sich fragte, was ihr fehlte. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß man zweimal im Leben lieben könnte. Ihr Herz sei ein für allemal vergeben, glaubte sie, und der Besitzer einzig und allein Herr von Marsan. Wenn sie die Malibran hörte, fühlte sie es unwillkürlich wie Angst. Sie kam heim, schloß sich ein und sang die ganze Nacht, für sich allein. Dann geschah es, daß die Töne auf ihren Lippen aufschluchzten.

Sie meinte, ihre Leidenschaft für Musik könnte das Glück wiederbringen. Sie hatte in der italienischen Oper eine Loge, die sie mit Seide ausschlagen ließ wie ein Boudoir. Diese Loge, die mit einer außerordentlichen Sorgfalt geschmückt wurde, beschäftigte eine Zeitlang ständig ihre Gedanken. Von ihr war der Stoff gewählt und ein kleiner gotischer Spiegel, den sie liebte. Nicht genug damit, steigerte sie ihr kindliches Vergnügen und brachte jeden Tag etwas anderes mit. Sie verfertigte selbst für ihre Loge einen kleinen gestickten Schemel, der meisterhaft gearbeitet war. Eines Abends schließlich, als alles ohne Frage vollendet und auch nicht das geringste mehr auszudenken war, saß sie allein in ihrem lieben Winkel und hörte den »Don Giovanni« von Mozart. Sie sah nicht den Saal und nicht das Spiel und verging schier vor Sehnsucht. Rubini, die Heinefetter und die Sontag sangen das Maskenterzett, das sie wiederholen mußten. Emmeline hörte mit offener Seele, in Träume ganz verloren. Sie merkte, als sie wieder von sich wußte, daß sie den Arm um einen leeren Sessel ihr zur Seite gelegt hatte und daß sie ihr Taschentuch zerpreßte, weil ihr die Freundeshand fehlte. Sie fragte nicht, warum Graf Marsan fern sei. »Warum bin ich allein?« das fragte sie. Und der Gedanke ließ sie erzittern.

Als sie heimkehrte, fand sie ihren Mann im Salon mit einem seiner Freunde Schach spielen. Sie setzte sich in einiger Entfernung und betrachtete fast unbewußt den Grafen. Sie folgte den Zügen dieses edlen Gesichts, das sie – die achtzehnjährige – so schön sah, als er sich ihrem Pferd entgegenwarf. Herr von Marsan verlor, und die gerunzelten Brauen verliehen ihm keinen liebenswürdigen Ausdruck. Mit einemmal lächelte er; das Glück wandte sich ihm zu, und seine Augen leuchteten.

»Du liebst dieses Spiel sehr, nicht wahr?« fragte Emmeline lächelnd.

»Wie die Musik, zum Zeitvertreib«, erwiderte der Graf.

Und er spielte weiter, ohne seine Frau anzusehen.

»Zum Zeitvertreib?« wiederholte sich Frau von Marsan ganz leise in ihrem Zimmer, als sie schlafen gehen wollte. Das Wort nahm ihr den Schlummer. »Er ist schön, er ist gut, er liebt mich«, sagte sie sich und ihr Herz schlug heftig. Sie hörte das Ticken der Wanduhr und empfand unerträglich das monotone Schüttern des Pendels. Sie stand auf, um es anzuhalten. »Was tue ich?« fragte sie sich; »kann ich Stunde und Zeit anhalten, wenn ich eine kleine Uhr zum Schweigen zwinge?«

Die Augen hingen an der Uhr, und Gedanken kamen, die sie noch nicht kannte. Sie dachte an das Vergangene, an das Zukünftige, an die große Hast des Lebens. Sie fragte sich, warum wir auf Erden sind, was wir schaffen und was unser nachher harrt. Sie forschte in ihrem Herzen und fand nur einen Tag, da sie gelebt hatte, jenen, da sie um ihre Liebe wußte. Der Rest dünkte sie ein wirrer Traum, eine Folge von Tagen, gleichförmig wie des Pendels Hin und Her. Sie legte die Hand auf die Stirn und fühlte ein unbesiegliches Bedürfnis zu leben. Soll ich sagen: zu leiden? Vielleicht. In diesem Augenblick hätte sie das Leiden der Traurigkeit vorgezogen. Sie nahm sich vor, um jeden Preis ihr Dasein zu ändern. Sie entwarf hundert Reisepläne; aber kein Land gefiel ihr. Was sollte sie auch suchen gehen? Sie erschreckte vor dem Nutzlosen ihrer Wünsche und dem Ungewissen, das sie zu Boden rang. Es schien ihr, als müsse sie wahnsinnig werden. Sie stürzte auf das Klavier und wollte das Maskenterzett spielen, doch bei den ersten Akkorden brach sie in Tränen aus und trug schwer an mutlosen Gedanken.

 

IV

Unter den ständigen Gästen des Hauses Marsan befand sich ein junger Mann mit Namen Gilbert. Ich fühle, gnädige Frau, daß ich an Peinlichem rühre, wenn ich Ihnen von ihm spreche, und ich weiß nicht recht, wie ich mich dem entziehen soll.

Er kam seit einem halben Jahr ein- oder zweimal in der Woche zur Gräfin. Die Empfindungen, die ihm in ihrer Nähe wurden, dürfen vielleicht nicht Liebe geheißen werden. Man sage, was man will: Liebe ist Hoffnung. Doch so, wie sie ihre Freunde kannten, war Emmelines Wesen und Verhalten nicht dazu angetan, Wünsche, die sie erweckte, zu ermutigen. Niemals hatte sich Gilbert in ihrer Gegenwart derartige Fragen auch nur gestellt. Sie gefiel ihm durch ihre Unterhaltung, durch ihre Art des Betrachtens, durch ihren Geschmack, durch ihren Geist und durch das Quentlein Schalksinn, dieses tändelnde Spiel ihres Geistes. War er fern von ihr, dann kam ihm die Erinnerung an einen Blick, an ein Lächeln, an irgendeine heimlich erschaute Schönheit, an was weiß ich für tausend Dinge, die ihn unaufhörlich verfolgten wie Melodien nach einem Konzert. Aber sobald er sie sah, fand er seine Ruhe wieder; die leichte Möglichkeit des Wiedersehens hinderte ihn vielleicht, mehr zu wünschen; denn zuweilen geschieht es ja, daß man erst bei der Trennung vom Geliebten weiß, wie sehr man ihn liebt.

Kam man des Abends zu Emmeline, so fand man sie stets in Gesellschaft. Gilbert erschien gewöhnlich erst gegen zehn Uhr, in dem Augenblick, da die meisten Leute da waren. Allgemein ging man um Mitternacht, zuweilen auch später, wenn gerade eine amüsante Geschichte im Gange war; niemand blieb dann noch zurück. So kam es, daß Gilbert trotz seiner häufigen Besuche in sechs Monaten nie mit der Gräfin allein gewesen war. Er kannte sie indessen sehr genau, vielleicht besser als ihre nächsten Freunde; sei es kraft der Scharfsinnigkeit seines Wesens oder aus einem anderen Motiv, das ich Ihnen nicht vorenthalten will. Er liebte nämlich nicht weniger als sie Musik, und da eine Neigung, die über uns herrscht, vieles begreifen lehrt, so ließ sie ihn ihr Wesen verstehen. So wurden ihm die Melodie einer Romanze oder die schwingenden Läufe einer italienischen Arie der Schlüssel zu etwas Köstlichem. Wenn die Töne verklungen waren, sah er Emmeline an; und fast immer trafen sich ihre Blicke. Sprachen sie über ein neues Buch oder ein jüngst aufgeführtes Stück, so nickte der eine zu dem, was der andere meinte. Bei Anekdoten mußten sie an derselben Stelle lachen, und die rührende Geschichte einer schönen Tat ließ sie zu gleicher Zeit die Augen abwenden, fürchtend, sie möchten ihre Bewegtheit verraten. Mit einem guten alten Wort also: sie waren einander sympathisch. Aber, werden Sie sagen, das ist ja Liebe? Gemach, gnädige Frau, noch nicht.

Gilbert besuchte oft die Italienische Oper und blieb bisweilen während eines Aktes in der Loge der Gräfin. Zufällig wurde an einem dieser Tage wieder »Don Giovanni« gegeben. Auch Herr von Marsan war da. Als das Terzett aufklang, konnte es sich Emmeline nicht versagen, zur Seite zu sehen und jenes Taschentuchs zu gedenken. Diesmal war es Gilbert, der bei den Klängen der Saiten und der Schwermut der Harmonien träumte. Seine ganze Seele schwebte auf den Lippen der Sontag, und wer nicht so fühlte wie er, hätte glauben können, er wäre in die schöne Sängerin heiß verliebt. Die Augen leuchteten ihm, und auf seinem bleichen Antlitz, umschattet von langen schwarzen Haaren, lag hohe Freude. Die Lippen waren halb geöffnet, und seine zitternde Hand klopfte leicht den Takt auf den Samt der Brüstung. Emmeline lächelte. Und in diesem Augenblick – ich gestehe es – in diesem Augenblick saß der Graf im Hintergrund der Loge und schlief ... schlief ...

So viele Hindernisse stellen sich auf Erden den Zufällen dieser Art entgegen, daß man sie nur gelegentlich findet. Aber um so tiefer prägen sie sich ein, und um so länger währt das Gedenken. Gilbert ahnte nichts von Emmelines heimlichen Gedanken und von dem Vergleich, den sie zog. Es hatte immerhin schon Tage gegeben, da er sich zuinnerst fragte, ob die Gräfin wohl glücklich sei. Und während er sich die Frage stellte, glaubte er es nicht; doch dachte er nach, so fand er keine Gewißheit. Da sie so ungefähr dieselben Menschen sahen und in der gleichen Gesellschaft lebten, hatten sie beide natürlich tausend Gelegenheiten, sich unwichtige Dinge zu schreiben. Diesen gleichgültigen Zeilen, die von den Gesetzen der Geselligkeit diktiert waren, konnten sie doch hie und da ein Wort mitgeben, einen Satz, der zu denken gab. Gilbert verblieb oft einen Morgen lang bei einem Brief Frau von Marsans, der offen auf dem Tisch lag und ihn von Zeit zu Zeit zwang, einen Blick hineinzuwerfen. Seine erregte Phantasie ließ ihn bei den unbedeutendsten Worten nach einem Sondersinn suchen. Emmeline signierte zuweilen italienisch: »Vostrissima«; und wenn er auch darin nichts anderes sehen konnte als eine freundschaftliche Formel, wiederholte er sich das eine um das andere Mal, das Wort sage dennoch: »Ganz die Ihre«.

Ohne gerade den Röcken nachzulaufen wie Herr von Sorgues, hatte er seine Mätressen gehabt; aber es kam ihm nicht in den Sinn, für die Frauen diese Geste frühreifer Verächtlichkeit zu haben, die bei jungen Leuten als modern gilt. Er machte sich so seine eigenen Gedanken, und dann schien ihm die Gräfin Marsan eine Ausnahme. (Anders kann ich es Ihnen nicht erklären.) Gewißlich sind sehr viele Frauen klug. Ich irre mich, gnädige Frau: sie sind es alle! Aber es gibt unterschiedliche Arten, es zu sein. Emmelines Alter, Reichtum, Schönheit, das zuweilen Traurige, dann Aufjubelnde und schon wieder über alle Maßen Unbekümmerte ihres Wesens, die Qualität ihrer Gesellschaft, ihre Begabung und die Freude am Vergnügen: dieses alles schien dem jungen Menschen seltsames Element ihrer Klugheit. »Sie ist doch schön!« sagte er sich, wenn er an den sanften Augustabenden über den Boulevard Italien schritt. »Zweifellos liebt sie ihren Mann, aber ihre Liebe ist nur Freundschaft. Die Leidenschaft ist vorbei. Wird sie ohne Liebe leben können?« Während er so sann, fiel ihm ein, daß er seit sechs Monaten ohne Geliebte war.

Eines Tages hatte er Besuche gemacht; der Weg führte ihn am Haus Marsan vorbei. Gegen seine Gewohnheit klopfte er an und erwog, daß es erst drei Uhr sei. Er hoffte die Gräfin allein zu finden und verwunderte sich, daß ihm der Gedanke an diese Glücksmöglichkeit zum erstenmal kam. Man sagte ihm, sie sei ausgegangen. Verstimmt wandte er sich seiner Wohnung zu und sprach – wie er es so oft tat – vor sich hin. Muß ich Ihnen verraten, an was er dachte? Seine Zerstreutheit zog ihn vom Wege. An der Ecke der Bussykreuzung, glaube ich, geschah es, daß er einigermaßen unsanft gegen einen Passanten rannte und höchst wunderlich das fremde Gesicht vor ihm andeklamierte: »Und spräche ich zu dir: ich liebe dich?«

Er ging schnell weiter, beschämt über seine Torheit, die er noch belächeln mußte, als er merkte, daß seine närrische Anrede ein recht wohlgelungener Vers sei. Seit seiner Schulzeit hatte er keinen mehr gemacht; er bekam Lust, Reime zu suchen. Sie werden sehen, daß er sie fand.

Der folgende Tag war ein Sonnabend und Empfangstag der Gräfin. Herr von Marsan fing an, von seinen einsiedlerischen Gewohnheiten abzulassen, und die Gesellschaft war zahlreich. Die Lüster brannten, weit waren die Türen geöffnet, um den Kamin sammelte sich ein dichter Kreis, die Damen auf der einen, die Herren auf der anderen Seite. Es war nicht der Ort für zärtliche Briefe. Gilbert näherte sich nicht ohne Mühe der Herrin des Hauses, plauderte mit ihr und ihren Nachbarinnen eine Viertelstunde lang über Gleichgültiges und zog schließlich ein gefaltetes Papier aus der Tasche, das er wie zum Vergnügen zerknitterte. Das Papier sah, so zerdrückt es auch war, dennoch wie ein Brief aus, und Gilbert wartete, ob man es bemerken würde. Jemand wurde in der Tat aufmerksam, aber nicht Emmeline. Er steckte es wieder in die Tasche und zog es dann von neuem hervor. Endlich sah die Gräfin hin und fragte, was er in der Hand halte.

»Es sind Verse von mir«, sagte er ihr, »die ich für eine schöne Frau schrieb, und ich will sie Ihnen zeigen, wenn Sie mir versprechen, mich nicht bei ihr schlecht zu machen, sollten Sie ahnen, wer sie ist.«

Emmeline nahm das Papier und las die Stanzen:

An Ninon

Und spräche ich zu dir: Ich liebe dich!
Wer weiß, blauäugige Frau, was du dann sagtest?
Du weißt, die Liebe quält uns jämmerlich
Und mitleidslos, daß du es selbst beklagtest;
Du weißt es wohl, und doch bestrafst du mich.

Und spräche ich zu dir: Sechs Monde Schweigen
Verbergen tollen Wunsch und langes Leid, –
O schlaue Frau, die Unbekümmertheit
Mag feenhaft dann in meine Zukunft zeigen
Und sagt vielleicht: Ich weiß es lange Zeit.

Und spräche ich zu dir: Ich bin dein Schatten,
Ich Narr, und deinen Schritten angebunden –
Ein wenig Zweifel und die Schwermut hatten
Stets doch dein Antlitz hübscher noch gefunden –,
Du sagst, du glaubtest mir nicht unumwunden.

Und spräche ich zu dir: Auch die geringen
Von unsern Worten halt ich in der Seele –
Du weißt, der Zorn kann einen Blick bezwingen,
Daß aus den Azuraugen Blitze springen –,
Dich nicht mehr sehn, vielleicht wird's zum Befehle.

Und spräche ich zu dir: Der Schlaf entweicht,
Ich jammre tags mir meine Augen feucht –
Ach, lachst du, Ninon, möchten von den Lippen
Die Bienen wie von Blumenkelchen nippen –,
Und sagte ich es dir, – du lachst vielleicht.

Doch du weißt nichts, – und ich will nichts gestehn,
Will unter deiner Lampe mit dir plaudern
Und deine Stimme hören und dann gehn.
So zweifle, ahne, lächle, – sollst nichts sehn,
Und deine Blicke sollen nicht erschaudern.

Doch Wunderblumen pflücke ich verschwiegen:
Wenn deine Hände auf den Tasten singen,
Hör neben dir ich Harmonien schwingen,
Und wenn die heitren Walzertakte klingen,
Fühl ich dich Schlanke mir im Arme liegen.

Wenn nachts die Welt uns voneinander trennt,
Wenn heimgekehrt ich meine Tür verschließe,
Dann greife ich des Glückes tausend Grüße,
Öffne vor Gott die übervolle Süße
Der Liebe, die zu dir im Herzen brennt.

Ich liebe – spreche kalt Gleichgültigkeit,
Ich liebe stumm; ich liebe – nur für mich.
Doch süß ist mein Geheimnis, süß mein Leid,
Ich schwor der Hoffnung ab für alle Zeit,
Dem Glück nicht: – Es genügt, ich sehe dich.

Das letzte Glück will nicht, daß ich es schaue,
Daß Tod und Leben ich dir anvertraue.
Ach, selbst mein Herzeleid zeugt wider mich.
Und spräche ich zu dir: Ich liebe dich,
Was sagtest du dann, blauäugige Fraue?

Emmeline las das Gedicht, gab es Gilbert zurück und sagte nichts. Ein wenig später verlangte sie es wieder und las es ein zweites Mal. Dann behielt sie das Papier mit gleichgültiger Geste in der Hand; jemand trat auf sie zu, sie erhob sich und vergaß, die Verse zurückzugeben.

 

V

Ich frage Sie: Wer sind wir, daß wir mit so leichter Hand verfahren? Freudig war Gilbert zu dieser Soirée gegangen, und zitternd wie Espenlaub kam er heim. Was in seinen Versen ein wenig übertrieben, etwas zuviel des Guten gewesen war, das wurde wahr, als es die Gräfin las. Und doch hatte sie nichts erwidert. Sie vor so vielen Zeugen zu fragen, war unmöglich. Fühlte sie sich verletzt? Wie ihr Schweigen deuten? Würde sie zuerst sprechen, und was würde sie sagen? Er sah ihr Bild bald kalt und streng, bald sanft und lächelnd. Nicht länger konnte er die Ungewißheit ertragen. Nach einer schlaflosen Nacht ging er wieder zu ihr. Er erfuhr, daß sie gerade mit der Post nach Moulin de May gefahren sei.

Es fiel ihm ein, daß er sie vor ein paar Tagen ganz zufällig gefragt hatte, ob sie aufs Land zu gehen beabsichtige, und daß sie ihm nein gesagt hatte. Diese Erinnerung traf ihn jäh. »Sie ist um meinetwillen gefahren«, sagte er sich; »sie fürchtet mich, sie liebt mich!« Bei diesem letzten Wort blieb er stehen. Die Brust war ihm eng, und er atmete mühsam. Irgendein Schauder schüttelte ihn. Unwillkürlich zuckte er zusammen bei dem Gedanken, so rasch ein edles Herz gerührt zu haben. Die geschlossenen Fensterläden, der Hof des verödeten Hauses, die wenigen Diener, die Gepäck auf den Wagen luden, die überstürzte, gleichsam fluchtartige Abreise: dies alles bestürzte ihn und machte ihn staunen. Langsamen Schrittes ging er nach Hause. In einer Viertelstunde war er ein anderer Mensch geworden. Er sah nichts voraus und bedachte nichts. Er wußte nicht mehr, was er gestern getan, nicht mehr, was ihn hierher geführt hatte. Nicht der Hauch eines Dünkels war in seinem Denken. Er dachte während des ganzen Tages nicht einmal daran, wie er seine neue Lage ausnutzen und Emmeline wiedersehen könne. Sie erschien ihm nicht mehr als sanft oder als ernst. Er sah sie nur auf der Terrasse sitzen und die Stanzen lesen, die sie sich bewahrt hatte. »Sie liebt mich«, sagte er sich immer und immer wieder und fragte sich, ob er dessen wert sei.

Gilbert war noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt. Zuerst sprach sein Gewissen und dann seine Jugend. Am nächsten Tag nahm er die Post von Fontainebleau und war abends in Moulin de May. Als man ihn meldete, war Emmeline allein. Sie empfing ihn mit sichtlichem Unbehagen, und als er die Türe schloß, ließ sie die Erinnerung an Herrn von Sorgues bleich werden. Doch bei seinen ersten Worten merkte sie, daß er nicht ruhiger war als sie. Statt ihr die Hand zu geben, wie er es immer tat, setzte er sich, ängstlicher und reservierter als sonst. Sie blieben fast eine Stunde allein, aber kein Wort erwähnte die Verse oder die Liebe, die aus ihnen sprach. Als Herr von Marsan von seinem Spaziergang zurückkehrte, glitt ein Schatten über Gilberts Stirn. Er gestand sich, das erste Alleinsein sehr schlecht genutzt zu haben. Doch Emmeline dachte anders. Gilberts respektvolles Betragen hatte sie bewegt, und sie versank in Träumereien, die gefährlich waren. Sie wußte sich geliebt, und da sie sich sicher glaubte, liebte sie wieder.

Als sie am folgenden Morgen zum Frühstück kam, waren auf ihre Wangen die schönen Farben jugendlicher Frische zurückgekehrt. Ihr Antlitz schien, ebenso wie ihr Herz, um zehn Jahre verjüngt. Sie wollte trotz des schlechten Wetters ausreiten. Sie bestieg eine prachtvolle Stute, die nicht leicht zu zügeln war, und als wolle sie ihr Leben aufs Spiel setzen, schwang sie lachend die Reitgerte über den Kopf des unruhigen Tieres. Sie konnte der Lust nicht widerstehen, ihm ohne Grund einen Schlag zu versetzen. Sie fühlte es vor Zorn sich bäumen und den Kopf mit schäumendem Gebiß in die Höhe werfen. Da sah sie zu Gilbert hinüber. Der sprang mit rascher Bewegung hinzu und wollte die Zügel greifen. »Lassen Sie, lassen Sie!« rief sie lachend, »heute falle ich nicht!«

Und doch mußten sie von jenen Versen sprechen und sprachen auch beide davon, jedoch nur mit den Augen. Diese Sprache ist ja nicht weniger beredt als eine andere. Gilbert blieb drei Tage in Moulin de May, stets nahe daran, vor ihr auf die Knie zu sinken. Sah er Emmelines Gestalt, dann zitterte er vor Angst, er könne der Versuchung nicht widerstehen, sie in seine Arme zu schließen; doch kaum tat sie einen Schritt, so trat er zurück, um sie vorbei zu lassen, als fürchtete er, ihr Kleid zu berühren. Am Abend des dritten Tages sagte er, er würde den nächsten Morgen abreisen. Beim Tee sprachen sie über den Walzer und über Lord Byrons Ode an den Walzer. Emmeline bemerkte, der Dichter müsse, um mit solcher Heftigkeit zu sprechen, wohl eine lebhafte Sehnsucht nach einer Lust empfunden haben, an der er selbst nicht teilhaben konnte. Sie ließ, um das Gesagte zu bekräftigen, das Buch holen und setzte sich, auf daß Gilbert mit ihr lesen könne, ihm so nahe, daß ihre Haare seine Wange leicht berührten. Die leise Berührung ließ ihn in Lust erschauern, und er hätte nicht mehr widerstanden, wenn Herr von Marsan nicht zugegen gewesen wäre. Emmeline bemerkte es und errötete: Das Buch wurde zugeklappt – und das war das einzige Ereignis der Reise.

Ein merkwürdiger Verliebter, nicht wahr, gnädige Frau? Ein Sprichwort sagt: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«. Ich bin im allgemeinen kein Freund von Sprichwörtern, weil man sie überall anbringen kann. Es gibt keines, das nicht sein Gegenstück fände, und welches Benehmen man auch zur Schau trägt: Stets kann man es mit einem Sprichwort abstützen. Ich gebe zu, daß mein Zitat in neunundneunzig von hundert Fällen falsch ist und höchstens von Leuten, die ebenso geduldig wie resigniert und ebenso resigniert wie gleichgültig sind, mit einiger Berechtigung angewandt werden kann. Man spreche solche Sprache im Paradies; die Heiligen mögen sich gegenseitig sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; das wäre wunderschön. Es geziemt sich für jene, die die Ewigkeit vor sich haben und ihre Zeit aus dem Fenster hinauswerfen können. Aber wir armen Sterblichen können unser Glück nicht so lange verfolgen. Doch ich zeige Ihnen meinen Helden so, wie er ist, und glaube durchaus, daß es ihm so wie Herrn von Sorgues ergangen wäre, wenn er sich anders aufgeführt hätte.

Frau von Marsan kehrte Ende der Woche zurück. Gilbert erschien eines Abends zu sehr früher Stunde. Drückend war die Hitze. Er fand sie allein in ihrem Zimmer auf einem Ruhebett liegen. Sie trug ein leichtes Musselinkleid, Arme und Hals waren bloß. Zwei Schalen voller Blumen durchdufteten das Zimmer, und durch die geöffnete Tür strömte vom Garten her laue und liebliche Luft. Alles atmete Weichheit. Doch in ihre Unterhaltung schlich sich eine befremdliche, ungewohnte Gereiztheit. Ich erzählte Ihnen, wie sie ständig zu gleicher Zeit, in gleichen Sätzen gleiche Gedanken und Gefühle hatten; an diesem Abend stimmten sie in nichts überein, und so waren beide verstimmt. Emmeline ließ einzelne Frauen ihrer Bekanntschaft Revue passieren. Sprach Gilbert entzückt von ihnen, dann urteilte sie um so abfälliger. Die Dämmerung kam, und beide wurden still. Ein Diener trat ein und brachte die Lampe. Frau von Marsan wollte sie noch nicht und ließ sie in den Salon tragen. Kaum hatte sie es befohlen, als es sie auch schon zu reuen schien. Verlegen stand sie auf und wandte sich dem Klavier zu. »Sehen Sie doch hier«, sprach sie zu Gilbert, »den kleinen Hocker aus meiner Loge, den ich habe ändern lassen. Jetzt benutze ich ihn hier; man hat ihn mir eben gebracht. Ich werde ein wenig Musik machen, um ihn mit Ihnen einzuweihen.«

Sie präludierte leise und in unbestimmten Akkorden. Bald aber erkannte Gilbert sein Lieblingslied: Beethovens »Sehnsucht«. Allmählich vergaß Emmeline sich; aus ihrem Spiel sang große Leidenschaft und eine Bewegtheit, die das Herz schneller schlagen ließ. Dann plötzlich brach sie ab, als versage ihr der Atem, hielt wie mit Gewalt den Ton und ließ ihn ausklingen. Niemals könnten Worte dem hauchhaft Zarten dieser Sprache gleichen. Gilbert war aufgestanden; von Zeit zu Zeit hoben sich ihre schönen Augen zu ihm, wie um ihn zu befragen. Er stützte sich auf die Kante des Klaviers, und beide rangen gegen den Sturm ihrer Wünsche. Da riß ein fast lächerlicher Zwischenfall sie aus ihrem Träumen.

Der Hocker brach plötzlich, und Emmeline fiel Gilbert zu Füßen. Er bückte sich rasch und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie und erhob sich lachend. Er war bleich wie ein Toter, fürchtend, sie könne sich verletzt haben.

»Schon gut«, sagte sie, »geben Sie mir einen Sessel; man sollte meinen, ich sei aus dem fünften Stock gefallen.«

Sie setzte sich und spielte einen Kontertanz, so als wolle sie mit der Melodie seine Angst verspotten.

»Ist es nicht ganz natürlich«, sagte er, »daß ich mich erschreckte, als ich Sie fallen sah?«

»Bah!« machte sie, »das ist nur Nervosität. Glauben Sie ja nicht, daß ich mich dafür erkenntlich zeige. Ich gebe gern zu, daß mein Hinfallen lächerlich war; doch ich finde«, fügte sie trocken hinzu, »Ihre Furcht ist es noch mehr.«

Gilbert ging im Zimmer auf und ab, und Emmelines Kontertanz wurde von Augenblick zu Augenblick unlustiger. Sie fühlte, sie hatte verletzt, wo sie nur spotten wollte. Er war zu erregt, um sprechen zu können. Dann trat er wieder vor sie hin und lehnte sich an dieselbe Stelle wie vorher. Seine schweren Augen vermochten die Tränen nicht mehr zurückzuhalten. Emmeline erhob sich schnell und setzte sich in den Hintergrund des Zimmers, in eine dunkle Ecke. Er trat auf sie zu und beklagte ihre Härte. Jetzt war es die Gräfin, die nicht zu antworten imstande war. Sie verharrte in stummer, unsäglicher Erregtheit. Er nahm den Hut, um zu gehen; jedoch, der Entscheidung nicht mächtig, setzte er sich neben sie. Sie wandte sich ab, hob den Arm, wie um ihn gehen zu heißen. Er umfing sie und preßte sie an seine Brust. Im selben Augenblick klopfte es an die Tür, und Emmeline stürzte in ein Nebenzimmer.

Der arme Junge merkte am nächsten Tag erst dann, wohin es ihn trug, als er vor dem Hause Marsan stand. Die Erfahrung ließ ihn befürchten, sie wieder streng zu finden und von dem Geschehenen verletzt. Doch er irrte: Sie war ruhig und sanft und ihr erstes Wort: Sie habe ihn erwartet. Aber sie sagte ihm festen Tones, daß sie sich nicht mehr sehen dürften. »Ich bereue meinen Fehler nicht«, sagte sie, »und will mich über nichts hinwegtäuschen. Doch wenn ich Sie auch noch so sehr leiden ließe und selber litte, Herr von Marsan steht zwischen uns. Ich kann nicht lügen! Vergessen Sie mich!«

Gilbert wurde durch ihre Offenheit, die zu sehr überzeugte, als daß man an ihr zweifeln konnte, niedergeschmettert. Er verschmähte die üblichen Phrasen und lächerlichen Todesdrohungen, die man für solche Fälle stets bei der Hand hat. Er versuchte, ebenso stark zu sein wie die Gräfin und ihr wenigstens dadurch zu beweisen, wie hoch er sie achte. Er antwortete, er werde gehorchen und Paris für einige Zeit verlassen. Sie fragte ihn, wohin er zu reisen gedenke, und versprach ihm zu schreiben. Sie wollte, daß er sie ganz und gar kenne, erzählte ihm mit wenigen Worten die Geschichte ihres Lebens, schilderte ihm ihre Lage, den Zustand ihres Herzens und gab sich nicht glücklicher, als sie war. Dann reichte sie ihm seine Verse und dankte ihm, daß er ihr den Augenblick eines Glückes geschenkt habe.

»Ich habe mich ihm ganz überlassen«, sagte sie ihm, »und nicht nachdenken wollen. Ich war sicher, daß das Unmögliche mich anhalten würde; aber ich konnte dem Möglichen nicht widerstehen. Ich hoffe, Sie werden in meinem Verhalten nicht Koketterie sehen, die mir fernliegt. Ich hätte mehr an Sie denken müssen; doch ich halte Ihre Zuneigung für nicht so tief, daß Sie nicht bald genesen könnten.«

»Ich will ebenso offen sein«, antwortete Gilbert, »und Ihnen sagen, daß ich es nicht weiß, aber daß ich an ein Genesen nicht glaube. Nicht so sehr Ihre Schönheit war es, die mich rührte, als Ihr Geist und Ihr Charakter; und wenn auch das Bild eines schönen Antlitzes durch Ferne oder Jahre blaß werden kann, der Verlust eines Wesens wie Sie ist niemals zu ersetzen. Es wird zweifellos scheinen, als ob ich es überwunden hätte, und fast sicher ist es, daß ich in einiger Zeit mein früheres Leben wieder aufnehmen werde; doch meine Vernunft wird mir immer wieder sagen, daß Sie mein Lebensglück gewesen wären. Diese Verse, die Sie mir zurückgeben, sind wie im Zufall geschrieben, wie in einem Rausch. Doch das Fühlen, das aus ihnen spricht, ist in mir, seit ich Sie kenne, und nur weil es wahr und beständig ist, hatte ich die Kraft, es zu verbergen. Wir werden beide nicht glücklich sein, nicht Sie, nicht ich, und wir opfern der Welt so viel, daß nichts es ausgleichen kann.«

»Nicht der Welt opfern wir«, sagte Emmeline, »sondern uns selbst; nein, ich bin es, der Sie opfern; lügen ist mir unerträglich, und gestern abend, als Sie fort waren, hätte ich fast Herrn von Marsan alles gesagt. Mut, mein Freund«, setzte sie fröhlich hinzu, »Mut! Versuchen wir zu leben!«

Gilbert küßte ihr ehrerbietig die Hand, und sie trennten sich.

 

VI

Den Entschluß – kaum gefaßt – auszuführen war ihnen, wie sie fühlten, unmöglich. Es bedurfte keiner langen Auseinandersetzungen, um es einzusehen. Gilbert blieb zwei Monate lang der Gräfin fern, und während dieser zwei Monate verloren sie beide Appetit und Schlaf. Nach diesen acht Wochen fühlte sich Gilbert eines Abends so unglücklich und trostlos, daß er, ohne viel zu wissen, was er tat, seinen Hut nahm und zur gewohnten Stunde bei der Gräfin erschien, so als wäre nichts geschehen. Sie dachte gar nicht daran, ihm seinen Wortbruch vorzuwerfen. Kaum erblickte sie ihn, so wußte sie, daß er gelitten hatte; und er sah sie so bleich und verändert, daß es ihn reute, nicht früher gekommen zu sein.

Emmelines Herzeleid kam nicht aus Laune, nicht aus Leidenschaft; es war die Natur selbst, die in ihr nach neuem Lieben schrie. Sie hatte über Gilbert gar nicht viel nachgedacht; er gefiel ihr, und er war da; er sagte ihr, daß er sie liebe, und er liebte sie ganz anders, als es Herr von Marsan je getan hatte. Das Geistreiche, Intelligente, schön Begeisterte ihres Wesens, alle ihre edle Eigenart litt, und sie wußte es nicht. Die Tränen, die sie sinnlos zu weinen vermeinte, kamen ihr wider Willen, sie zwingend, nach einem Grund zu forschen. Und so fand sie ihn in allem, in ihren Büchern, ihrer Musik, ihren Blumen und selbst in den Gewohnheiten ihres einsamen Lebens. Sie mußte lieben und kämpfen – oder müde vergehen.

Mit trotzigem Mut sah sie in den Abgrund, in den sie fallen sollte. Als Gilbert sie wieder in die Arme nahm, hob sie den Blick zum Himmel, als wolle sie ihn zum Zeugen ihrer Sünde anrufen und dessen, was diese sie kosten würde. Gilbert begriff die Schwermut des Blickes. Er maß die Größe seiner Aufgabe am Herzensadel der Freundin. Er fühlte in seinen Händen die Macht, sie zum Leben zu heben oder für immer ins Nichts zu stoßen. Diese Erkenntnis erfüllte ihn weniger mit Stolz als mit Freude; er schwor sich, ihr sein Leben zu weihen, und dankte Gott für diese Liebe.

Der Zwang des Lügenmüssens indes peinigte die junge Frau. Sie sprach zu dem Geliebten nicht mehr davon und verschwieg die heimliche Qual. Der Gedanke, sich noch längere oder kürzere Zeit zu verteidigen, da sie doch nun einmal nicht für immer widerstehen konnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie zählte, wenn man so sagen darf, die Leid- und Glückchancen und setzte ihr Leben kühn als Einsatz. In dem Augenblick, da Gilbert zurückkam, war sie gezwungen, drei Tage aufs Land zu gehen. Er beschwor sie, ihn noch einmal vor der Abreise zu treffen. »Ich will es tun, wenn Sie es wollen«, antwortete sie, »aber ich flehe Sie an, lassen Sie mir Zeit.«

Vier Tage später trat um Mitternacht ein junger Mann ins Café Anglais. »Was wünscht der Herr?« fragte der Kellner. »Das Allerbeste, das Sie haben«, antwortete der junge Mann mit so freudigem Gesicht, daß sich die Leute umwandten. Zu gleicher Stunde zeigte eine halbgeöffnete Jalousie im Haus Marsan hinter den Vorhängen Licht. Allein, im Nachtgewand, saß Frau von Marsan auf einem kleinen Sessel. Die Türen waren verriegelt. »Morgen gehöre ich ihm. Wird er auch mir gehören?«

Emmeline dachte nicht daran, sich und ihr Verhalten mit anderen Frauen zu vergleichen. In diesem Augenblick gab es für sie kein Weh und kein Gewissen. Alles schwieg vor dem Gedanken an das Morgen. Darf ich Ihnen zu sagen wagen, an was sie dachte? Darf ich zu schreiben wagen, was in der Furcht dieser Stunde eine schöne, edle Frau beunruhigte, eine Frau, so feinnervig und der Ehre wert wie keine, die ich kenne, eine Frau, die vor ihrer einzigen Sünde stand?

Sie dachte an ihre Schönheit. Alles war verjagt, Liebe, Hingebung, Herzenseinfalt, Standhaftigkeit, innere Gemeinschaft, Furcht, Gefahr, Reue, alles wurde zu nichts durch die ganz vitale Besorgnis um ihre Reize, um ihre körperliche Schönheit. Das Licht, das auf die Straße scheint, gehört einer Kerze, die sie in der Hand hält. Sie steht vor dem großen Spiegel, sie wendet sich um, lauscht. Kein Zeuge, kein Geräusch. Sie öffnet halb den Schleier, der sie umhüllt, und erscheint scheu, wie Venus vor dem Hirten der Fabel.

Um Ihnen das Geschehen des folgenden Tages zu erzählen, gnädige Frau, brauche ich nur den Inhalt des Briefes zu sagen, den Emmeline an ihre Schwester schrieb und in dem sie ihre Empfindungen schilderte:

»Ich gab mich ihm hin. Nach allen Beklemmungen und Erregungen war eine große Mattigkeit gekommen. Ich war zerbrochen, und ich fand Gefallen an dieser meiner Ohnmacht. Hinträumend verbrachte ich den Abend. Ich sah unbestimmte Konturen, hörte ganz fern Stimmen, vernahm noch: ›Mein Engel, mein Leben!‹ und wurde dann matter, immer matter. Nicht einmal hob sich mein Denken zur Unruhe des vergangenen Tages. Ich weiß nur noch von einer halben Lethargie, einem Zustand, den ich im Paradies erwählen werde. Dann schlief ich wie zu einem neuen Leben. Am andern Morgen, erwachend, ließ ein unklares Erinnern an die Nacht mein Blut zum Herzen strömen. Herzklopfen trieb mich vom Lager und laut hörte ich mich rufen: ›Es ist geschehen!‹ Ich senkte den Kopf auf die Knie und tastete in die Gründe meiner Seele. Zum erstenmal kam mir die Furcht, er könne mich falsch beurteilen. Die Einfältigkeit, mit der ich mich hingab, konnte ihn zu solcher Meinung führen. Trotz seines Taktes und Feingefühls fürchtete ich, zu einer schlimmen Erfahrung zu kommen. Wenn es für ihn nichts anderes war als eine Laune, als ein schwieriger Sieg? Allzu erstaunt, erfaßt, bedrängt von den Gefühlen, die mich beherrschten, hatte ich die seinen nicht genügend erforscht. Ich hatte Angst, ich atmete schnell. ›Nun‹, sagte ich mir mutig, ›an dem Tage, da er mich erkennt, wird er eine Schuld zu bezahlen haben.‹ Plötzlich leuchteten süße Erinnerungen durch das Dunkel. Ich fühlte ein Lächeln um den Mund; ich sah sein Gesicht wie am Vorabend, verschönt von einem Zug, den ich selbst in den Werken der großen Meister niemals erblickte. Ich las Liebe darin, Verehrung, Andacht und auch diese zage, zweifelnde Furcht, die große Sehnsucht möchte die Erfüllung nicht erhalten. Gewiegt von Gedanken, die für die Frau das höchste Glück bedeuten, kleidete ich mich an. Man hat viel Freude am Anziehen, wenn man den Geliebten erwartet.«

 

VII

Fünf Jahre hatte Emmeline zu der Erkenntnis gebraucht, daß ihre erste Wahl sie nicht glücklich machen konnte. Ein Jahr lang hatte sie darunter gelitten, sechs Monate gegen die werdende Leidenschaft angekämpft, zwei Monate gegen bewußte Liebe. Dann war sie unterlegen, und ihr Glück dauerte vierzehn Tage.

Zwei Wochen, das ist ein wenig kurz, nicht wahr? Ich begann diese Geschichte, ohne daran zu denken; ich komme zu dem Augenblick, der mich hat die Feder in die Hand nehmen lassen, und ich weiß nichts anderes zu sagen, als daß er kurz war, sehr kurz. Wie soll ich es Ihnen zu schildern versuchen? Soll ich Ihnen erzählen, was nicht zu sagen ist und was der Erde größte Geister in ihren Werken nur haben ahnen lassen, da es ihnen an Worten fehlte? Nein, Sie erwarten es nicht, und ich werde kein Sakrileg begehen. Man kann beschreiben, was vom Herzen kommt, aber nicht das Herz selbst.

Übrigens, wenn man vierzehn Tage glücklich ist, hat man da noch Zeit für solcherlei Empfindungen? Emmeline und Gilbert staunten noch über ihr Glück; sie wagten es nicht zu fassen und verwunderten sich über die zärtliche Leidenschaft, die sie erfüllte. »Ist es möglich«, fragten sie sich, »daß sich unsere Blicke jemals gleichgültig trafen und sich unsere Hände kühl berührten?« – »Habe ich dich wirklich ansehen können, ohne daß mir das Auge feucht wurde?« fragte Emmeline. »Ich konnte dir zuhören, ohne dir die Lippen zu küssen? Du sprachst zu mir, wie zu aller Welt, und ich antwortete dir nicht, daß ich dich liebe?« – »Nein«, entgegnete Gilbert, »dein Blick, deine Stimme verrieten dich! Großer Gott, wie sie in mir brannten! Ich war es, den die Furcht so lange hielt und der die Schuld trägt, daß wir uns so spät lieben.« Und sie drückten sich die Hände, wie um sich stumm zu sagen: »Ruhig! Sonst bricht uns noch das Herz.«

Sie hatten kaum sich zu gewöhnen begonnen, einander heimlich zu sehen und an der Angst des Heimlichen sich zu freuen; Gilbert kannte kaum das neue Antlitz, das eine Frau im Arm des Geliebten plötzlich erhält; kaum war Emmelines erstes Lächeln hinter den Tränen aufgegangen, kaum hatten sie sich ewige Liebe geschworen – o die armen Kinder, die ihrem Glück vertrauten und sich ihm furchtlos hingaben, sie schlürften langsam die Lust der Erkenntnis, daß sie einander in ihren Hoffnungen nicht getäuscht hatten; sie waren noch dabei, sich zu sagen: »Wie werden wir glücklich sein!« – da barst schon ihr Glück.

Der Graf Marsan war ein in sich geschlossener Mann, und sein Blick täuschte ihn in wichtigen Dingen nie. Er hatte seine Frau traurig gesehen und geglaubt, sie liebe ihn weniger; das machte ihm nicht viel aus. Dann aber sah er sie grübelnd und voller Unruhe und beschloß, reinen Tisch zu machen. Kaum nahm er sich die Mühe, nach der Ursache zu suchen, als er sie auch schon fand. Emmeline zitterte bei seiner ersten Frage, und bei der zweiten war sie nahe daran, alles zu gestehen. Er aber wollte nicht von dieser Art Vertrauen, zog, ohne es irgendeinem mitzuteilen, in das Logierhaus, wo er vor seiner Heirat gewohnt hatte, und mietete sich dort ein. Seine Frau wollte sich gerade schlafen legen, als er eintrat, im Hausrock, sich ihr gegenübersetzte und sprach:

»Meine Liebe, du kennst mich genügend, um zu wissen, daß ich nicht eifersüchtig bin. Ich habe dich sehr geliebt und werde stets Achtung und Freundschaft für dich empfinden. Natürlich ist uns bei unserem Alter und nach so vielen Jahren Gemeinsamkeit eine gegenseitige Toleranz notwendig, damit wir in Frieden weiterleben können. Für meinen Teil genieße ich die Freiheit, die ein Mann haben muß, und finde es gut, daß du ein gleiches tust. Hätte ich ebensoviel Geld in dieses Haus gebracht wie du, dann würde ich anders sprechen, und du würdest es begreiflich finden. Doch ich bin arm, und unser Ehevertrag hat mich, wie ich es wünschte, arm gelassen. Was bei einem anderen Nachsicht oder Klugheit wäre, das wäre bei mir Niedrigkeit. So vorsichtig man auch ist, Ränke können nicht geheim bleiben und sind früher oder später in aller Mund. Und wenn das geschieht, dann würde man – du fühlst es – mich nicht in die Kategorie der gefälligen und auch nicht in die der lächerlichen Ehemänner setzen, man sähe in mir nur einen Elenden, der um des Geldes willen alles duldet. Es liegt mir nicht, einen Skandal zu entfachen, der – wie immer die Sache ausgehen mag – zwei Familien Unehre bringen würde. Ich hasse weder dich noch sonst jemanden. Und eben deshalb sage ich dir jetzt meinen Entschluß, um jedem Erstauntsein vorzubeugen. Ich werde von nächster Woche an in dem Logierhaus bleiben, das ich bewohnte, als ich deine Mutter kennenlernte. Ich bleibe nicht gerne in Paris, aber ich wüßte nicht, mit welchen Mitteln reisen. Ich muß irgendwo wohnen und jenes Haus gefällt mir. Nun sieh zu, was du tun willst, und wenn es möglich ist, werde ich danach handeln.«

Frau von Marsan hatte ihrem Mann mit wachsendem Erstaunen zugehört. Sie blieb starr wie eine Statue. Sie sah wohl, daß die Entscheidung gefallen war, und konnte es nicht glauben. Fast ohne Willen warf sie sich ihm an den Hals und schrie, um nichts in der Welt würde sie in die Trennung einwilligen. Er blieb zu alledem stumm. Emmeline brach in Schluchzen aus. Sie warf sich ihm zu Füßen und wollte ihre Sünde bekennen. Er unterbrach sie und weigerte sich, sie anzuhören. Er mühte sich, sie zu beruhigen, und versicherte ihr das eine um das andere Mal, er zürne ihr nicht. Dann ging er trotz ihrer Bitten.

Am nächsten Tag sahen sie sich nicht. Als Emmeline nach dem Grafen fragte, antwortete man ihr, er wäre schon zu früher Stunde weggegangen und würde bis zum Abend nicht zurückkehren. Sie wollte ihn erwarten und hielt sich von sechs Uhr abends an in seinen Räumen auf. Doch sie wurde mutlos und ging zurück.

Am folgenden Tag kam der Graf im Reitanzug zum Frühstück. Die Diener packten schon seine Sachen, und der Korridor lag unordentlich voll von Kleidungsstücken. Emmeline näherte sich ihrem Mann, als sie ihn eintreten sah, und er küßte sie auf die Stirn. Sie setzten sich schweigend. Man frühstückte im Schlafzimmer der Gräfin. In dem Spiegel, der ihr gegenüberstand, glaubte sie ein Gespenst zu sehen. Die wirren Haare und das zerquälte Gesicht schienen ihre Sünde anzuklagen. Mit unsicherer Stimme fragte sie den Grafen, ob er immer noch willens sei, in dem Logierhaus zu wohnen. Er entgegnete, er stelle sich darauf ein, und der Tag seines Auszuges sei der kommende Montag.

»Gibt es kein Mittel, den Auszug zu verschieben?« fragte sie ihn bittenden Tones.

»Was ist, läßt sich nicht ändern«, antwortete er. »Hast du überlegt, was du zu tun gedenkst?«

»Was willst du, daß ich tue?«

Herr von Marsan erwiderte nichts.

»Was willst du?« wiederholte sie. »Wie kann ich dich erweichen? Welche Sühne, welches Opfer kann ich dir darbringen, daß du es annimmst?«

»Das zu wissen, ist an dir«, sagte der Graf. – Er erhob sich und ging, ohne mehr zu reden. Doch am Abend kam er wieder, und sein Gesicht war weniger streng.

Diese beiden Tage hatten Emmeline müde gemacht, und ihre Blässe war erschreckend. Als er sie sah, konnte Herr von Marsan eine Gebärde des Mitleids nicht unterdrücken.

»Liebe, sag, was ist dir?«

»Ich denke und sehe, daß es nicht möglich ist.«

»Liebst du ihn so sehr?« fragte er.

Trotz des kalten Tones, den er annahm, ahnte sie in dieser Frage eine eifersüchtige Regung. Sie glaubte, ihres Mannes Verhalten könnte wohl nur ein Versuch sein, sich ihr wieder zu nähern, und dieser Gedanke machte ihr Pein. Alle Männer sind so, dachte sie; was sie besitzen, verachten sie, und wenn sie es durch ihre Schuld verlieren, dann wollen sie es leidenschaftlich wiederhaben. – Sie wollte wissen, bis zu welchem Punkt sie richtig vermutete, und antwortete stolzen Tones:

»Jawohl, ich liebe ihn, und darin wenigstens will ich nicht lügen.«

»Ich verstehe das«, entgegnete Herr von Marsan, »und es wäre vergeblich, wollte ich den Kampf aufnehmen; dazu habe ich weder die Macht noch die Lust.«

Emmeline sah, daß sie sich getäuscht hatte. Sie wollte sprechen und fand keine Worte. Was sollte sie in der Tat auch dem Grafen und seinem Verhalten entgegnen? Er sah das Geschehene klar, und sein Entschluß war nur gerecht, nicht grausam. Sie begann einen Satz, vollendete ihn nicht; sie weinte. Herr von Marsan sprach sanft zu ihr:

»Beruhige dich doch. Bedenke, daß du gefehlt hast, aber daß du einen Freund hast, der es weiß und dir helfen wird, es wiedergutzumachen.«

»Was täte dieser Freund«, sagte Emmeline, »wäre er ebenso reich wie ich, zumal ihn doch diese jämmerliche Geldfrage bestimmt, mich zu verlassen? Was würdest du tun, wenn unser Kontrakt nicht existierte?«

Emmeline erhob sich, ging zum Schreibtisch und zog den Ehevertrag heraus. Sie verbrannte ihn an der Kerze, die auf dem Tisch stand. Der Graf sah ihr ruhig zu.

»Ich begreife dich«, begann er endlich; »und wenn auch das, was du da eben tust, nutzlos ist, weil die Kopie beim Notar liegt, so ehrt dich dein Tun doch. Ich danke dir. Aber bedenke doch«, fügte er hinzu und küßte sie, »bedenke doch, wenn es sich allein um eine Formalität handelte, hätte ich ja nur meinen Vorteil mißbraucht. Du kannst mich mit einem Federstrich so reich machen, wie du es bist, ich weiß es, aber ich werde niemals einwilligen, heute weniger denn je.«

»Daß du so stolz bist!« rief Emmeline verzweifelt, »und warum weigerst du dich?«

Herr von Marsan reichte ihr die Hand; mit leisem Druck antwortete er:

»Weil du ihn liebst.«

 

VIII

An einem der schönen Herbstmorgen, da die Sonne noch einmal in all ihrem Glanz leuchtet und dem sterbenden Grün Lebewohl zu sagen scheint, lehnte Gilbert an einem kleinen Fenster des zweiten Stockes, in einer Straße, die hinter den Champs-Elysées gelegen ist. Eine Melodie aus »Norma« vor sich hinsummend, sah er aufmerksam auf jeden Wagen, der die Chaussee entlang kam. Erreichte der Wagen die Straßenecke, dann hörte das Lied auf. Doch der Wagen fuhr vorüber, und er mußte auf einen andern warten. Es kamen an diesem Tag viele vorbei, aber in keinem sah der unruhige junge Mann einen kleinen italienischen Strohhut und eine schwarze Mantille. Es läutete ein Uhr, dann zwei; jetzt war es schon zu spät. Er sah wohl noch zwanzigmal auf die Uhr, ging wohl ebensooft im Zimmer hin und her und war abwechselnd untröstlich und hoffnungsvoll. Endlich stieg er die Treppen hinunter und schlenderte einige Zeit in den Alleen auf und ab. Er ging wieder nach Haus, fragte den Portier, ob keine Post gekommen sei und bekam eine verneinende Antwort. Eine böse Vorahnung lastete auf ihm den ganzen Tag. Gegen zehn Uhr abends stieg er, nicht ohne Beklemmung, die große Treppe des Hauses Marsan hinauf. Das Licht brannte nicht; das überraschte und beunruhigte ihn. Er läutete, niemand kam; er drückte gegen die Tür, die nachgab. Im Eßzimmer blieb er stehen. Ein Zimmermädchen kam ihm entgegen; er fragte sie, ob er eintreten dürfe. »Ich will fragen«, antwortete sie. Als sie in den Salon trat, hörte er zwischen den beiden Türen eine zitternde Stimme, die er kannte und die leise sprach: »Sagen Sie, daß ich nicht da sei.«

Gilbert hat mir selbst gesagt, daß diese wenigen Worte, die – in einem Augenblick, als er am wenigsten darauf gefaßt war – aus der Dunkelheit zu ihm drangen, ihn mehr geschmerzt hätten als ein Degenstoß. Er ging in unsäglicher Verwirrung. »Sie ist da«, sprach er zu sich, »sie hat mich ohne Zweifel gesehen. Was ist geschehen? Hätte sie mir nicht ein Wort sagen, mir nicht wenigstens schreiben können?« Acht Tage vergingen; er bekam keinen Brief und konnte sie nicht sehen. Endlich erhielt er diese Zeilen:

»Leben Sie wohl! Denken Sie an Ihre Reisepläne und an Ihr Versprechen. Oh, ich bringe ein großes Opfer in diesem Augenblick. Die wenigen Worte tiefen Empfindens, die Sie mir sagten, als ich einen traurigen Entschluß zu fassen willens war, halten mich allein. Ich werde leben. Aber man darf mir nicht gänzlich einen Gedanken nehmen, der einzig imstande ist, mir so etwas wie Ruhe zu geben. Lassen Sie mich ihn, mein Freund, wie aus der Ferne und nur bedingt aussprechen. Wenn in Ihnen zum Beispiel eine vollständige Gleichgültigkeit für mich groß würde, wenn Sie, einmal starken Herzens zurückkehrend, mich nicht mehr sehen wollten, wenn Ihnen nie mehr mein Bild, meine Liebe käme ... nein, ich kann dieses entsetzliche Leben nicht weiterführen. Der ist der Unglücklichste, der bleibt. Darum also müssen Sie gehen. Ihre Verpflichtungen erlauben es doch? Oder wollen Sie, daß ich gehe? Aber wohin nur? Antworten Sie mir. Sie sind es, der stark sein wird; ich kann es nicht. Haben Sie Mitleid mit mir! Sagen Sie mir ... was weiß ich? – Sagen Sie mir, daß Sie genesen werden. Aber das ist ja nicht wahr! Doch sagen Sie es nur immerhin; was tut es! Vermeiden Sie es, mich vor Ihrer Abreise zu sehen. Ich brauche Kraft und weiß nicht, woher ich sie nehmen soll. Acht Tage lang habe ich geweint und Ihnen geschrieben. Doch ich warf alle Briefe ins Feuer. Auch diesen hier werden Sie noch unzusammenhängend finden. Herr von Marsan weiß alles: Zu lügen war mir unmöglich. Und im übrigen: Er wußte es bereits. Trotz allem sind diese Zeilen weit entfernt, den Zwiespalt zwischen meinem Herzen und meiner Vernunft voll auszumessen. Gehen Sie gerade in diesen Tagen in die Gesellschaft, damit Ihre Abreise nicht auffällig wird. So bald werde ich nicht ausgehen und nicht empfangen können. Die Stimme versagt mir jeden Augenblick. Sie schreiben mir, nicht wahr? Sie werden doch nicht abreisen, ohne mir ein paar Zeilen zu schreiben! Nein, das ist unmöglich. Reisen! ... Sie ... Sie werden wegreisen!«

Sein Unglück war ihm wie ein Traum. Er wollte zu Herrn von Marsan eilen und ihn zur Rede stellen. Er warf sich auf den Boden und weinte wehe Tränen. Endlich entschloß er sich, die Gräfin um jeden Preis zu sehen und von ihr die Geschehnisse klar zu hören, die sie ihm so wenig verständlich mitgeteilt hatte. Er lief zum Haus Marsan und drang, ohne mit einem Diener zu sprechen, bis in den Salon. Bei dem Gedanken, er könne die Geliebte kompromittieren und ihr durch seine Schuld Schaden zufügen, blieb er stehen. Als er jemanden kommen hörte, eilte er hinter einen Vorhang. Es war der Graf, der eintrat. Kaum war Gilbert wieder allein, als er sich vorschlich und eine Glastür halb öffnete. Er sah Emmeline im Bett, ihr Mann stand daneben. Am Fußende lag ein blutbeflecktes Stück Leinwand, und der Arzt trocknete sich gerade die Hände. Der Anblick machte ihn schaudern. Er zitterte bei dem Gedanken, daß er, unklug genug, das Leid der Geliebten noch hatte steigern wollen, und ging auf Zehenspitzen unbemerkt hinaus. Er bekam sehr bald zu wissen, daß die Gräfin in Lebensgefahr gewesen war. Ein neuer Brief sagte ihm die Einzelheiten des Geschehenen. »Ich kann uns nicht das Wiedersehen versagen«, schrieb sie, »ich darf nicht daran denken. Und dieser Gedanke, der Sie so trostlos macht, berührt mich gar nicht, weil ich ihm nicht einen Augenblick Einlaß gewähre. Aber daß wir uns für sechs Monate, für ein Jahr trennen sollen, das läßt mich aufweinen und zerreißt mir das Herz; denn das ist das Äußerste.« Sollte seine Sehnsucht, fügte sie hinzu, sie noch einmal vor ihrer Abreise zu sehen, zu groß sein, so würde sie ja sagen. Er wollte nicht; er hatte alle Kraft nötig und konnte doch keinen Entschluß fassen, wenn er auch die Notwendigkeit der Reise einsah. Ohne Emmeline zu leben dünkte ihn sinnlos und fast wie eine Lüge. Doch er schwor sich, um jeden Preis zu gehorchen und, wenn es notwendig sein sollte, sein Leben ihrer Ruhe zu opfern. Er ordnete seine Angelegenheiten, sagte seinen Freunden Adieu und gab der ganzen Welt kund, er reise nach Italien. Dann, als alles bereit war und er seinen Paß hatte, blieb er in seiner Wohnung eingeschlossen und versprach sich jeden Abend, am nächsten Morgen zu fahren, und weinte den ganzen Tag.

Emmeline war, wie Sie sich denken können, kaum mutiger. Sobald sie den Wagen besteigen durfte, fuhr sie nach Moulin de May. Herr von Marsan war stets um die Kranke, freundschaftlich wie ein Bruder und besorgt wie eine Mutter. Daß er verziehen hatte, und daß er von seinen Trennungsplänen ließ, als er seine Frau so leiden sah, brauche ich kaum zu sagen. Er sprach nicht mehr von Gilbert, und ich glaube nicht, daß er von diesem Zeitpunkt an jemals wieder seinen Namen vor ihr ausgesprochen hat. Als er von seiner Abreise erfuhr, schien er weder erfreut noch verstimmt. Man ahnte leicht aus seinem Verhalten, daß er sich im tiefsten Innern für schuldig sprach, seine Frau vernachlässigt und so wenig zu ihrem Glück beigetragen zu haben. Wenn sie an seinem Arm langsam durch die lange »Seufzerallee« ging, schien er kaum weniger traurig als sie, und Emmeline war ihm dankbar, daß er sie niemals an ihre alte Liebe mahnte und niemals die neue Leidenschaft bekämpfte.

Sie verbrannte Gilberts Briefe und rettete aus dieser schmerzlichen Opferung nur eine Zeile seiner Hand: »Alles in der Welt für Dich.« Als sie diese Worte wieder las, hatte sie es nicht vermocht, sie zu vernichten. Es war des Armen Lebewohl. Sie schnitt die Zeile aus und trug sie lange Zeit auf dem Herzen. »Wenn ich mich jemals von diesen Worten trennen müßte«, schrieb sie an ihn, »werde ich sie verschlucken. Jetzt ist mein Leben nichts als ein Häuflein Asche, und ich kann meinen Kamin nicht lange betrachten, ohne zu weinen.«

War sie aufrichtig? werden Sie vielleicht fragen. Machte sie gar keinen Versuch, den Geliebten wiederzusehen? Reute sie nicht ihr Opfer? Suchte sie niemals ihren Entschluß rückgängig zu machen? Doch, gnädige Frau, sie versuchte es. Ich will sie nicht besser und mutiger machen als sie war. Ja, sie versuchte zu lügen, ihren Mann zu täuschen. Ihren Schwüren, ihren Versprechungen, ihrem Leid und ihrem Gewissen zum Trotz sah sie Gilbert wieder, verbrachte sie mit ihm zwei Stunden der Liebe und der Ekstase; doch als sie heimkehrte, fühlte sie, sie könne nicht mehr lügen und nicht mehr täuschen. Ich sage Ihnen mehr noch: Auch Gilbert fühlte es und bat sie nicht um ein Wiedersehen.

Indessen, er reiste noch nicht ab und sprach auch nicht mehr davon. Nach Verlauf etlicher Tage wollte er sich schon einreden, er sei ruhiger und er könne ohne jede Gefahr bleiben. Er bemühte sich in seinen Briefen um Emmelines Zustimmung, den Winter in Paris bleiben zu dürfen. Sie zauderte, und sich ganz der Liebe begebend, begann sie von Freundschaft zu sprechen. Beide suchten sie tausend Gründe, ihr Leid zu verlängern, oder doch: sich leiden zu sehen. Zu welchem Ziele? Ich weiß es nicht.

 

IX

Ich glaube Ihnen schon gesagt zu haben, gnädige Frau, daß Emmeline eine Schwester hatte. Sie war ein schlankes, schönes Mädchen und von überaus großer Herzlichkeit. War es ein Zuviel an Schüchternheit, war es irgendein anderer Grund: Sie hatte niemals anders als äußerst reserviert mit Gilbert gesprochen, wenn sie mit ihm zusammenkam, ja, fast mit einem gewissen Widerwillen. Gilbert hatte etwas leichtsinnige Gesten, und seine Art zu sprechen mußte, so einfach und natürlich sie war, ihre schamhafte Bescheidenheit verletzen. Seine Unbekümmertheit und das Exaltierte seines Wesens konnten bei der strengen Sarah – das war ihr Name – auf wenig Sympathie rechnen. Ein paar höfliche Worte gelegentlich, einige Komplimente, wenn sie sang, von Zeit zu Zeit ein Kontertanz: Das war ihre ganze Bekanntschaft, und darüber ging sie nicht hinaus.

Zu dieser Zeit gerade empfing Gilbert von einer Freundin Frau von Marsans eine Einladung zum Ball; er glaubte, ihrem Wunsch gemäß, hingehen zu müssen. Sarah war ebenfalls dort, und er kam an ihrer Seite zu sitzen. Er wußte von der zarten Neigung, die die Gräfin mit der Schwester verband, und es war ihm willkommen, mit ihr, die ihn verstand, über die geliebte Frau zu sprechen. Ihre letzte Krankheit wurde der Vorwand; sich nach ihrem Befinden erkundigen bedeutete, nach ihrer Liebe zu fragen. Gegen ihre Gewohnheit antwortete Sarah sanft und rückhaltslos. Das Orchester hatte in ihre Unterhaltung hinein das Zeichen zum Kontertanz gegeben. Sie sei müde, sagte sie, und gab ihrem Tänzer, der sie holen kam, einen Korb.

Das Spiel der Musik und der Tumult der Tanzenden gab ihnen mehr Freiheit. Das Mädchen ließ ihn merken, daß sie um die Ursache von Emmelines Krankheit wüßte. Sie sprach von den Leiden der Schwester und erzählte, was sie gesehen hatte. Zuhörend senkte Gilbert den Kopf; als er ihn wieder hob, lief ihm eine Träne über die Wange. Sarah war jäh verwirrt, und ihre schönen blauen Augen umflorten sich. »Sie lieben sie mehr als ich dachte«, sprach sie zu ihm. Sie gab sich ihm gegenüber von diesem Augenblick an ganz anders als zuvor; sie gestand ihm, daß sie das Geschehene schon lange erfahren hatte und daß ihre Kälte ihm gegenüber nur aus ihrem Glauben entstanden war, er sei ein leichtfertiger Lebemann, der allen Frauen den Hof mache und sich um die Folgen keinen Deut kümmere. Sie sprach als Schwester und Freundin mit Wärme und Freimut. Das Wahrhaftige ihres Tones, mit dem sie ihm die unbedingte Notwendigkeit bewies, der Gräfin die Ruhe wiederzugeben, rührten ihn mehr als alles andere. Nach einer Viertelstunde sah er mit klaren Augen in sein Schicksal.

Man schickte sich an, den Kotillon zu tanzen. »Wir wollen uns in den Kreis setzen«, sagte Gilbert; »wir werden uns vor dem Tanz drücken und können plaudern, ohne daß es auffällt.« Sie sagte ja. Beide setzten sich und fuhren fort, von Emmeline zu sprechen. Indessen wurde Sarah hin und wieder zum Tanz aufgefordert, und sie mußte aufstehen, um eine Schärpe zu halten oder Blumen und Fächer. Gilbert blieb dann auf seinem Sessel und sah gedankenverloren seine schöne Partnerin tanzen und lächeln, mit Augen, die noch feucht waren. Sie kam zurück, und beide nahmen ihr trauriges Gespräch wieder auf. Und es geschah bei dem Klang jener deutschen Walzer, die die ersten Tage seiner Liebe gewiegt hatten, daß er zu reisen schwor und zu vergessen.

Die Stunde des Aufbruchs kam, und beide standen mit einer gewissen Feierlichkeit auf. »Ich habe Ihr Wort«, sagte sie, »ich vertraue Ihnen, Sie werden meine Schwester retten; und wenn Sie fortfahren« – sie nahm seine Hand, ohne zu bedenken, daß man es beachten könnte – »wenn Sie fortgehen, dann werden wir beide zuweilen an den armen Wanderer denken.«

Mit diesen Worten gingen sie voneinander, und Gilbert reiste am nächsten Tage ab.

 


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