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»Sie hätte mich damals ja beinahe vergiftet«, beteuerte der Oberleutnant Demeter Nagy, sooft er später von seinem Abenteuer in dem verzauberten Hause erzählte. Es ereignete sich, als er während einer winterlichen Truppenkonzentrierung durch mehrere Wochen auf dem alten Stadtbesitz der gräflichen Familie einquartiert war, und begann damit, daß er am Tage vor einer kurzdauernden Abkommandierung – kopfschüttelnd, weil er ihn nicht verstand, – den Schluß eines Gespräches mitanhören mußte, der vom Nebenzimmer mit den fühlbar durch eine Erregung verstärkten Stimmen zweier Menschen zu ihm herübergetragen wurde. Es kam erst ein Nein, ganz leise und trotzdem sich merkwürdig aus dem Vorherigen herauslösend und durch das Haus gehoben, dann sprach ein Mann etwas, das er nicht recht hören konnte, und von da ab vernahm er mit voller Deutlichkeit jedes Wort.

Eine tiefe, von der Leidenschaft in die Höhe getriebene und oben zerfallende Frauenstimme rief: »Lassen Sie mich, ich kann nicht! ich kann nicht!!« und die Worte brachen zackig wie mürbes Mauerwerk von ihr ab. Dann hörte Demeter wieder den Mann sprechen: »Trotzdem, Sie lieben mich! denn Ihr ganzes Wesen ist von dem meinen ergriffen, es hat keinen Gedanken, hinter dem nicht ich wäre, Ihr Leben begann erst mit dem meinen wieder. Täuschen Sie sich nicht selbst ... Das ist Liebe; sagen Sie ... Sie lieben mich ...?« Und die Stimme der Frau antwortete stiller, aber sie stieg wieder während der Worte an und zerriß: »Ich? oh ... vielleicht, das heißt nein, ... nein ich weiß nicht.« Und Demeter hörte noch einmal den Mann sprechen: »So hören Sie, Viktoria, wenn Sie sich weigern, reise ich heute ab, morgen habe ich mein Leben weggeworfen, wenn Sie sich weigern. Sie wissen, wie dies in dem letzten Jahr nur mehr an Ihnen hing. Ich weiß, daß Sie mich lieben, morgen werden vielleicht auch Sie es wissen: ich frage Sie noch einmal, können Sie?« – Darauf trat eine kleine Stille ein und dann hörte Demeter »nein!« sagen und »nein!!« – zweimal wie mit der Peitsche oder wie ein besinnungsloses Sichfestklammern – und dann noch einmal nein, – leiser, zusammengesunken und wie ein Schmerz über Wehtun.

Demeter Nagy pfiff, als er nichts mehr hörte, halblaut durch die Zähne, wie er dies in schwierigen Situationen seit seiner Knabenzeit zu tun pflegte, in deren Geschichten zwischen Indianern und Pfadfindern ihm dieses Zeichen tapferer Kaltblütigkeit zum erstenmal erstrebenswert erschienen war, dann klappte er mit den Absätzen zusammen, zog seinen Schnurrbart in die Höhe, schüttelte abermals den Kopf und lächelte. Es ging ihm, wie es auch andern geht, wenn sie plötzlich zwei Seelen mit blutigen Eingeweiden ineinander verschlungen sehen. Denn mag es sich um ein letztes Auseinanderreißen handeln oder um ein erstes Sichineinanderstürzen, um ein belauschtes Liebespaar oder um eines sterbenden Menschen schamlos vergessenes sich Stemmen und Klemmen: keiner weiß warum, aber man liebt nicht, daran erinnert zu werden, daß die äußersten Heimlichkeiten des Leides und der Lust, die man als die tiefsten Erregungen des eigenen Wesens ahnt, den einen ohne Unterschied gegen den anderen treffen; man fühlt das wie einen Eingriff, wie ein Zunahekommen, man rückt ab, man sucht unwillkürlich das gestörte Gleichgewicht wiederzugewinnen und statt Mitgefühl zu empfinden wird man von einem ruchlosen Trieb der Notwehr gedrängt, das Gesehene als widerwärtig oder lächerlich zu fühlen. Auch Demeter war im Augenblick nach der ersten Überraschung versucht, den belauschten Auftritt unterhaltlich zu finden. Ruhig packte er seine Sachen weiter in die kleine Reisetasche, allmählich wurde er aber dabei nachdenklicher und nachdenklicher und endlich stand er eine Weile ganz still, voll Erstaunen und mit der Spannung eines Tiers, das eine Witterung bekommen hat. »Viktoria? Ja wie kam dieses Mädchen dazu?« Und Demeter überlegte.

Aber immer wieder stieß er auf dieses Unpersönliche, das ihn nicht verstehen ließ, wie ein solcher Mensch zum Mittelpunkt eines leidenschaftlichen Ereignisses werden konnte. Es war etwas längst Verflackertes, wie der Duft verlöschter Kerzen um sie, etwas Umgangenes wie jene Salons, die reglos unter Leinenbezügen und hinter geschlossenen Vorhängen schlafen. Er konnte sich eine solche Frau in leidenschaftlicher Bewegung nicht vorstellen oder es mußte etwas Dahingewehtes sein, eine ruhelose Zärtlichkeit, etwas gespenstisch Erwachtes, das wie ein demütig haftender Schatten den Füßen des Geliebten folgt. Und wenn Demeter in einer Liebe auch diesen Geschmack der Überreife und schon mit dem Anfang beginnenden Vernichtung zu schätzen wußte, es galt ihm das doch als etwas, das man heimlich wie eine üble Anwandlung befriedigt, und er vermochte sich nicht vorzustellen, wie man es bis zum Selbstmord ernst nehmen könne.

Trotzdem ahnte – vielleicht durch den Eindruck des ganzen Hauses verstärkt – selbst er etwas von der eigenartigen Schönheit Viktorias, das ihm Zurückhaltung aufzwang. Als er gekommen war, wäre er beinahe nicht eingelassen worden. Die alte Dame, Viktorias Tante, wollte durchaus nicht oder sie hätte wenigstens gern eine Exzellenz gehabt und nur als der Bürgermeister selbst sie zu bitten kam und persönlich seine Gründe anführte, gab sie nach, und Demeter wurde, noch immer ein wenig übel, im Hause aufgenommen. Sein Bursche bekam durch einen alten Diener, was er brauchte, sonst sah er niemanden, und Demeter selbst hatte man in der kleinen nie benützten Bibliothek einquartiert, die neben den Empfangszimmern lag; dort standen seine Reiterstiefel auf dem alten glänzenden Parkett, zwischen den zierlichen Füßen eines Empiretischleins, auf dem über ihrer schweren, ritterlichen Wucht eine goldene Standuhr leise und unaufhörlich pendelte. Und etwas von diesem Polternden, Knarrenden, von einem Gefühl wie ein grob hineingetriebener Keil wurde auch Demeter nicht los, seit er in diesem Hause war. Wenn er noch so vorsichtig ging, dröhnten in dem schweigenden Gebäude die Dielen und Stiegen, und die Türen lärmten in seiner Hand. Er erschrak häufig über sich selbst und verlor zuweilen fast seine Sicherheit. Die alte Dame zwar fürchtete er nicht zu stören, sie lebte abseits in dem Flügel des Hauses, der nach dem Garten zu stand, und er sah sie niemals, aber Viktoria begegnete er öfters. Er hatte dann immer den Eindruck, daß sie wie lautlos vor ihm aus dem Dunkel auftauchte, und daß es sich hinter ihr ganz sonderbar ohne Bewegung wieder zusammenschloß. Und Demeter blieb manchmal stehen und empfand etwas wie Scheu und war nicht mehr sicher, ob sein Urteil, daß es sich hier bloß um das stille, machtlose Welken eines alternden Mädchens handle, auch richtig sei. Ja es ereignete sich, daß er etwas wie eine machtvolle, ungewöhnliche Sinnlichkeit gleich einer fremden Krankheit an sich vorbeistreifen fühlte. Viktoria war hoch gewachsen und hatte eine breite, ein wenig flache Brust, über ihrer niedrigen, wölbungslosen Stirn waren die Haare dicht zusammengeschlossen, ihr Mund war groß und wollüstig und ein leichter Flaum schwarzer Haare bedeckte ihre Arme. Wenn sie ging, hielt sie den Kopf gesenkt, wie wenn der feine Hals ihn nicht tragen könnte, ohne sich zu biegen, und den Leib drückte sie ein wenig hervor. Es war eine eigentümliche, fast schamlos gleichgültige Sanftmut in ihrer Art zu gehen und eben so sanft und leise übersah sie den Offizier und dankte seinem Gruße, wie wenn er etwas sehr Fernes wäre.

»... Ob sie nicht doch eine Heimlichtuerin ist«, schloß Demeter ärgerlich und fast ein wenig eingeschüchtert sein Nachdenken und warf mit einem mißmutigen Ruck seine Reisetasche zu. – – – –

Viktoria hatte indessen den Scheidenden ein Stück seines Weges zurückbegleitet. Etwas Undurchsichtiges, das bisher wie ein dunkler Nebel auf ihrem Leben gelastet hatte, war in Bewegung geraten und Formen unbekannter Glieder drückten sich wie in einem Schleier ab und verschwanden wieder. Dinge, die sie noch nie gesehen hatte, geschahen. Ihr Leben, das bisher wie ein schmaler, trüber Weg gewesen war, hatte sich plötzlich in die weite Pracht eines Gartens verwandelt. Alles, was sie tat, geschah, wie wenn es gleich schweren, kostbaren Gewändern an ihr herabfiele, an ihren Bewegungen hing das Spiel edler goldener Ketten, – oder alles, was sie tat, geschah wie durch einen weiten Ausblick gesehen; es war von jenem leise mitschwingenden Verständnis begleitet, das die Handlungen auf einer Bühne zusammendrängt und wie zu Zeichen eines im flachen Kieselgeflecht des Bodens sonst unsichtbaren Weges auftürmt. Aber alles war noch Ahnung. Nichts noch hob so sein Gesicht hervor, daß die Finger es halten konnten, alles wich noch zwischen den leise tastenden Händen aus. Es war bloß nicht mehr jene schwarze, klebrige Masse, die stumpf und häßlich alle Formen verwischt hatte, es lag nur mehr wie eine ganz dünne, seidene Maske über der Welt, hell und silbergrau und bewegt wie vor dem Zerreißen. Und sie spannte ihre Augen und es flimmerte ihr davor, wie wenn sie von unsichtbaren Stößen gerüttelt würde.

Lange schon war diese Bewegung dahergekommen, Viktoria dachte daran, ob es wohl Liebe sei. Langsam war sie gekommen. Und doch für das Zeitmaß ihres Lebens zu rasch. Das Zeitmaß ihres Lebens war noch langsamer; es war ganz langsam. Es war wie ein langsames Öffnen und wieder Schließen der Augen und dazwischen wie ein Blick, der sich an den Dingen nicht halten kann, abgleitet, langsam, unberührt vorbeigleitet. Mit diesem Blick hatte sie es kommen gesehen. Und sie konnte daher nicht glauben, daß es Liebe sei. Denn sie verabscheute ihn so dunkel wie alles Fremde; ohne Haß, ohne Schärfe, nur wie ein fernes Land, jenseits der Grenze, wo weich und trostlos das eigene mit dem Himmel zusammenfließt. Ihr Leben war freudlos geworden, seit sie so alles Fremde verabscheute, sich still davor zurückzog. Es schien ihr manchmal, daß sie seinen Sinn nicht wüßte, aber seit dieser Mann darin war, dünkte sie, daß sie ihn bloß vergessen hatte; es quälte sie manchmal etwas wie die unter dem Bewußtsein treibende Erinnerung an eine wichtige vergessene Sache.

Es war irgendeinmal, daß sie dem Leben näher stand, es deutlicher spürte, wie mit den Händen oder wie am eigenen Leibe, aber sie wußte nicht mehr, wie und wann das war. Denn seither hatte ein schwaches Alltagsleben sich über diese Eindrücke gelegt und hatte sie verwischt, wie ein matter dauernder Wind Spuren im Sand; nur mehr seine Eintönigkeit hatte in ihrer Seele geklungen, wie ein leise auf und ab schwellendes Summen. Sie kannte keine starken Freuden mehr und kein starkes Leid, nichts, das sich merklich oder bleibend aus dem übrigen herausgehoben hätte und allmählich war ihr Leben ihr immer undeutlicher geworden. Die Tage gingen einer wie der andere dahin und eines gleich dem anderen kamen die Jahre, sie fühlte wohl noch, daß ein jedes ein wenig hinwegnahm und etwas hinzutat und daß sie sich langsam in ihnen änderte, aber nirgends setzte sich eines klar von dem anderen ab; sie hatte ein unklares, fließendes Gefühl von sich selbst und wenn sie sich innerlich betastete, fand sie nur den Wechsel ungefährer und verhüllter Formen, unverständlich, wie man unter einer Decke etwas sich bewegen fühlt ohne den Sinn zu erraten. Es war wie wenn sie unter einem weichen Tuche lebte oder unter einer Glocke von dünn geschliffenem Horn, die immer undurchsichtiger wurde. Die Dinge traten weiter und weiter zurück und verloren ihr Gesicht, und auch ihr Gefühl von sich selbst sank immer tiefer in die Ferne. Es blieb ein leerer ungeheurer Raum dazwischen und in diesem lebte ihr Körper. Er sah die Dinge um sich, er lächelte, er lebte, aber alles geschah so beziehungslos, und häufig kroch lautlos ein zäher Ekel durch diese Welt, der alle Gefühle wie mit einer Teermaske verschmierte.

Und dann kam er, der alles besaß, durch die verdämmernde Einöde ihres Lebens. Er ging, und die Dinge ordneten sich unter seinen Augen. Es war, wie wenn er die Welt einatmen und im Leibe halten und von innen spüren könnte und sie dann wieder ganz sacht und vorsichtig vor sich hinstellte, wie ein Künstler, der mit fliegenden Reifen arbeitet; es tat ihr weh, wie schön er war. Sie war eifersüchtig auf ihn, denn unter ihren Augen ordnete sich nichts, und sie hatte zu den Dingen die Liebe einer Mutter für ein Kind, das zu leiten sie zu gering ist. Sie suchte sich in die Höhe zu richten, aber es schmerzte sie, wie wenn ihr Körper krank wäre und sie nicht tragen könnte. Und sie sank langsam wieder in sich zurück und kauerte in ihrer Finsternis und starrte ihn an und empfand dieses sich in sich Verschließen fast wie eine sinnliche Berührung, der sie sich lüstern vor Bewußtsein hingab, es ganz nahe seinen Augen und doch ihm unerreichbar zu tun. Es sträubte sich etwas in ihr wie ein weiches, knisterndes Katzenfell und wie eine kleine glitzernde Kugel ließ sie ihr Nein aus ihrem Versteck heraus und vor seine Füße rollen.

Und nun war es, wie wenn etwas mit einem leisen Klingen zersprungen wäre und wie aus einer zerbrochen am Boden liegenden Hülle war ihr daraus ein Gefühl von ihr selbst hervorgestiegen; es war plötzlich so fest, daß sie sich wie ein Messer in dem Leben dieses anderen Menschen fühlte. Es war alles klar gegliedert; er wird gehen und sich töten, das war etwas so Wuchtendes, wie ein dunkler schwerer Körper auf der Erde liegt, es war etwas so Unwiderrufliches wie ein Schnitt durch die Zeit, vor dem alles Strömende erstarrte, es sprang dieser Augenblick mit einem plötzlichen Blinken wie ein Schwert aus allen anderen heraus und sie sah ganz deutlich etwas, das man gar nicht sehen kann, wie die Beziehung ihrer Seele zu dieser anderen Seele, in ihrer augenblicklichen Lage, ein Durchgangsding, ein Ausholen und Übergang, plötzlich zu etwas Letztem, Unverrückbarem, Unabänderlichem wurde, das wie ein Aststumpf in die Ewigkeit ragte. Eine Traumhelligkeit stieg in ihr auf, in der das feinste Geschehen wie zartes Geäder sichtbar wurde, ein geheimnisvolles, neues Licht lag auf den Dingen und sie fühlte es auf sich, sie veränderte sich darin für sich selbst, sie war fast nur mehr eine Gestalt, wie sie durch die Bilder der Schlafenden schreiten ... Sie konnte vielleicht schon glauben, daß jenes Liebe war, sie war schon von Zärtlichkeit für ihn erfüllt, dem sie alles dankte; ... aber sie schritt durch eine andere Welt, und eine Lust ihm weh zu tun, trug dort Viktoria wie eine leichte Luft, die sie mit bebendem Wittern einatmete, die sie erfüllte und hob, und in der ihre Gebärden ausfuhren, in die Ferne griffen, in der sich ihre Schritte mit einem leisen Druck vom Boden lösten und über Wälder hoben. – – –

Und Viktoria ging in Sinnen und allein den Weg zurück. Zu Hause tat sie still, was sie zu tun hatte, und der Tag verlief ruhig wie alle anderen. Von Zeit zu Zeit tauchte das Geschehen in ihrem Bewußtsein auf. Sie sah nach der Uhr, jetzt mußte er wohl schon dem Burschen im Gasthof seinen Koffer gegeben haben, damit er ihn auf die Bahn trage, jetzt mußte er bereits den Fahrschein für diese letzte Reise gelöst haben – sie sah das kleine Stück Karton in der zarten Farbe des Zitronenfalters vor sich auftauchen –, dann strengte sie sich an, lange nicht an ihn zu denken, und als sie es das nächste Mal wieder tat, mußte der Zug schon durch die Nacht der Bergtäler nach Süden rollen. Sie legte sich zeitig zu Bett und schlief rasch ein. Aber sie schlief leicht und ungeduldig, wie jemand, dem am nächsten Tag etwas Besonderes bevorsteht. Es war unter ihren Augenlidern eine beständige Helligkeit; gegen den Morgen zu wurde sie noch lichter und schien sich zu dehnen, sie wurde unsagbar weit; als Viktoria aufwachte, wußte sie: das Meer. Jetzt mußte er es schon vor sich sehen und hatte nichts Notwendiges auf dieser Welt mehr zu tun als seinen Entschluß auszuführen. Er wird hinausrudern und schießen. Aber Viktoria wußte nicht wann. Sie begann zu mutmaßen und Gründe gegeneinanderzustellen. Wird er gleich von der Bahn ins Boot ...? Wird er auf den Abend warten? Wenn das Meer so ganz ruhig daliegt und wie mit großen Augen einen ansieht ...? Sie ging den ganzen Tag in einer Unruhe dahin, wie wenn beständig feine Nadeln gegen ihre Haut schlügen. Zuweilen tauchte irgendwo – aus einem goldenen Rahmen, der an der Wand aufleuchtete, aus dem Dunkel des Treppenhauses oder aus dem weißen Leinen, an dem sie stickte, – sein Gesicht auf. Bleich und mit karmoisinroten Lippen ... verzerrt und aufgedunsen vom Wasser ... oder bloß wie eine schwarze Locke über einer eingefallenen Stirn. Sie war noch fern von sich, aber sie schritt langsam zu sich zurück. Und als es Abend wurde, wußte sie, daß es geschehen sein mußte.

Eine tiefe Ruhe und ein Gefühl des Geheimnisses senkte sich auf sie herab. Sie zündete in ihrem Zimmer alle Lichter an und saß zwischen ihnen, reglos in der Mitte des Raumes; sie holte sein Bild aus der Lade hervor und stellte es vor sich hin. Das ganze Gemach schien ein einziges Empfinden zu sein, ein leises Klingen, wie es zur Weihnachtszeit durch ein Haus geht. Die Geräte wuchteten unverrückbar auf ihrem Platze, der Tisch und der Schrank und die Uhr an der Wand, sie waren ganz erfüllt von sich selbst und so fest in sich geschlossen wie eine geballte Faust, und doch sahen sie wie mit Augen auf und herab, als ob sie die vielen Jahre, die sie schon dastanden, nur auf diesen Abend gewartet hätten, um zueinander zu finden. Es schloß und wölbte sich etwas in die Höhe, es strömte von allen Seiten herzu und hob sich hinauf, ... Viktoria hatte ein Gefühl, wie wenn ihr Leben plötzlich wie ein riesiger Raum mit schweigend flackernden Kerzen um sie stünde. Und dann wurde es wie im Märchen, Schleier sanken herab, sanft wie Schneetreiben vor beleuchteten Fensterscheiben, und Bilder ihres Lebens schienen, hineingewoben, an ihr vorüberzutreiben; ein Kindheitsduft stieg aus Kasten und Laden empor, die Lichter knisterten.

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Kinder haben noch keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken. Sie fühlte ihn ganz nahe bei sich, seit er tot war; sie fühlte ihn so nahe wie sich selbst. Seit seine Seele gestorben war, gehörte er ihren Träumen, und ihre Zärtlichkeit ging ungehindert durch ihn, wie die Wellen durch jene weichen, purpurnen Glockentiere, die im Meere schweben. Sie empfand keinen Haß mehr. Sie hatte diesen Haß empfunden, solange er lebte; solange er lebte, war er ihr eigentlich tot. Es gab einen ganz weichen, blassen Wunsch in ihr, daß er tot sein möge. Still wie ein Herbsttag, der keine Frucht mehr treibt und nichts mehr für sich erwartet. Es gab ein wahnsinnig stilles Liebesspiel, wo sie ihre Blicke leise wie Nadeln in ihn hineingleiten ließ, tiefer und tiefer, ob nicht in einem Zittern seines Lächelns, in einem Verziehen seiner Lippen, in irgendeiner Bewegung der Qual etwas so herbstlich Verschenktes sich der suchenden Liebe entgegenhübe. Seine Haare wurden dann wie ein Wald und seine Nägel wurden wie große glimmrige Platten, sie sah feuchtfließende Wolken im Weißen seiner Augen und kleine spiegelnde Teiche; er lag ganz wehrlos häßlich da, mit geöffneten Grenzen, aber seine Seele war doch noch in einem letzten Turm verschlossen. Und Viktoria beugte sich tiefer über ihn, sie beugte sich ganz nahe über ihn, sie beugte sich in ihn hinein bis zu jenem innersten Widerstand, über den kein Fremder hinweg kann, sie versuchte sich noch über diese Grenze zu beugen. Und sie sah durch seine Augen, wie jemand, dem es gelingt, sich für einen Blick an ein hohes Turmfenster zu zwängen; sie wußte, daß dieser Blick nie wieder in sie zurückkehren werde. Er traf sie von außen; er traf sie wie etwas Fremdes, sie glänzte von Gold wie ein Spiegel, von Gold und doch nur ein Spiegel, in dem seine Seele aus dem Turm herunter sich ansah. Denn die Seele, die lebende Menschen haben, ist das, was sie nicht lieben läßt, was in aller Liebe einen Rest zurückbehält, was in aller Liebe nur sich ansieht; sie können sich nicht verschenken; sie bleiben immer sie selbst, sie kommen mit gefesselten Händen und geschlossenen Augen, um sich hinzugeben, und doch lieben sie den anderen nur, weil ihre Einsamkeit leise hinter ihm blutet.

Aber wie in tausend zärtlich vorsichtigen Falten schmiegte sich jetzt schützend ein unsagbares Glück um Viktoria: »Du bist tot«, träumte ihre Liebe; sie nannte ihn zum erstenmal Du und die Lichter spiegelten sich warm in ihren Träumen. Sie saß zwischen ihnen wie in einem blauen kristallenen Hause und hörte ihr Herz wie eine kleine gläserne Uhr darinnen, die die Stunden ihres Lebens zurück- und herbeirief. Sie saß mit der Kunkel und spann an Fäden zu ziehenden Bildern, denn nun hatte er keine Seele. Ihre Liebe aber lag groß und sanft über ihm wie eine Katze, die in zärtlichen Träumen schnurrt. Wie ein murmelndes Wasser rannen die Stunden, ... sie verlor das Gefühl für die Zeit.

Als sie aufschrak, empfand sie zum erstenmal Kummer. Es war kühl um sie, die Kerzen waren herabgebrannt und nur eine letzte leuchtete noch; auf dem Platz, wo sonst er immer gesessen hatte, war jetzt ein Loch im Raum, das alle ihre Gedanken nicht füllen konnten. Und plötzlich verlosch lautlos auch dieses eine Licht, wie ein letzter Weggehender leise die Türe schließt; Viktoria blieb im Dunkel.

Demütig wandernde Geräusche gingen durch das Haus, die Stiegen schüttelten mit einem scheuen Dehnen den Druck der Schreitenden wieder von sich ab, irgendwo nagte eine Maus, eine Uhr schlug. So messen sie mir wie aus einem großen Sack, aus dem sie alle nehmen, die Stunden meines Lebens zu, fühlte Viktoria und sie ängstigte sich wieder mitten in diesem fremden umspannenden Dasein. Aber etwas wie eine nadeldünne Stütze hielt sie und hielt sie hinein. Es redeten, hörbar in der Nacht, die unentwirrbar verwobenen Stimmen der Dinge: was war dies in ihr, das mit einer fern und unfaßbar dahingehenden leisen Melodie antwortete? Was war diese feine, nagende Seligkeit trotz ihres Kummers, die ihren Körper höhlte, bis er sich weich und zärtlich wie eine dünne Kapsel trug? Es lockte sie, sich zu entkleiden. Bloß für sich selbst, bloß für das Gefühl, sich nahe zu sein, mit sich selbst in einem dunklen Raum allein zu sein. Es erregte sie, wie die Kleider leise knisternd zu Boden sanken; es war eine Zärtlichkeit, die ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaustat, als ob sie jemand suchte, sich besann und zurückeilte, um sich an den eigenen Körper zu schmiegen. Und als Viktoria langsam, mit zögerndem Genießen ihre Kleider wieder aufnahm, waren diese Röcke, die in der Finsternis mit Falten, in denen wie Teiche in dunklen Höhlen träg noch ihre eigene Wärme säumte, und bauschigen Räumen um sie stiegen, etwas wie Verstecke, in denen sie kauerte, und wenn ihr Körper hie und da heimlich an seine Hüllen stieß, zitterte eine Sinnlichkeit durch ihn, wie ein verborgenes Licht hinter geschlossenen Läden unruhig durch ein Haus geht.

Es war dieses Zimmer; Viktoria fühlte, wie sonderbar sich manchmal die Ereignisse gleichen. Ihr Blick suchte den Platz, wo an der Wand der Spiegel hing, und fand ihr Bild nicht; sie sah nichts, ... vielleicht ein undeutlich gleitendes Leuchten im Dunkel, vielleicht mochte auch dies Täuschung gewesen sein. Die Finsternis füllte das Haus wie eine schwere Flüssigkeit, sie schien nirgends darin zu sein, sie begann zu gehen, überall war nur die Dunkelheit, nirgends sie und doch fühlte sie nichts als sich und wo sie ging, war etwas und war nicht, wie unausgesprochene Worte manchmal in einem Schweigen. Sie hatte einmal in diesem Zimmer Engel gesehn, als sie krank lag; da standen sie um ihr Bett und von ihren Flügeln, ohne daß sie sich rührten, tönte ein dünner, hoher Laut, der die Dinge durchschnitt. Die Dinge zerfielen wie taube Steine, die ganze Welt lag mit scharfen, muscheligen Brüchen da, und nur sie selbst zog sich zusammen; vom Fieber verzehrt, dünn geschabt wie ein welkes Rosenblatt, war sie durchsichtig geworden für ihr Gefühl, sie spürte ihren Körper von überall zugleich und ganz klein beisammen, als hielte sie ihn mit einer Hand umschlossen. Für die andern schien er nicht mehr da zu sein; wie ein flimmerndes Gitter, durch das man nur hinaussehen konnte, lag jenes Tönen davor.

Es war etwas von diesem Kranksein in der Sinnlichkeit, mit der sie sich selbst empfand; sie wich, vorsichtig sich einziehend, den Gegenständen aus und fühlte sie schon von ferne; es war jenes leise Verströmen und Zusammensinken in ihr, vor dem alles außen hart und fern und hinter dem alles weich wie hinter stillen Vorhängen von zerfallender Seide ist. Allmählich wurde es grau und mild von Schneelicht im Hause. Sie stand oben am Fenster, es wurde Morgen; die Leute kamen zum Markte. Hie und da schlug ein Wort zu ihr herauf; sie beugte sich dann, als wollte sie ihm ausweichen, in die Dämmerung zurück. Sie fühlte diese Bewegung, wie man etwas wieder durch die Hände gleiten läßt, das man vor Jahren in eine Truhe gelegt hat. Denn so stand sie als junges Mädchen, und während sie hinabsah, war ein knisternder Widerstand um sie, als ob feine Glasspitzen abbrächen, wenn ihr der Blick eines Menschen zu nahe kam. Und sie stand später hier, damals, als sie ihrem Haar in der Nacht phantastische Frisuren gab und ihren Fingern – die sie mit riechenden Wassern wusch, wenn sie die Hände eines andern berührt hatten, – die Namen von märchenhaften Liebhabern, die alle sie selbst waren. Sie stand immer hier, wenn sie niemanden liebte als sich und wenn sie sich vor den Menschen ängstigte, weil ihre Liebe so wehrlos weich war wie eine dunkle wunde Schnecke, die mit leisem Zucken nach einer zweiten sucht, an deren Leib es sie verlangt, aufgebrochen und sterbend zu kleben.

Und leise legte sich etwas um Viktoria; es war eine Sehnsucht so ziellos in ihr und so still wie das wehe unbestimmte Ziehen im Schoß vor den wiederkehrenden Tagen; sonderbare Gedanken fielen ihr ein; sich so lieben, das wäre, wie wenn man vor einem alles tun könnte ... Und langsam schob sich vor ihr, wie ein häßliches hartes Gesicht, die Erinnerung herauf, daß sie ihn getötet hatte. Doch der Gedanke erschreckte sie nicht; sie tat sich nur weh, wie sie sich sah; das war wie wenn sie sich von innen gesehen hätte, voll von Gedärmen, die wie große Würmer verschlungen waren, aber gleichzeitig sah sie ihr Sehen mit; sie empfand Abscheu vor sich, aber wie ein Körper sinkt und in einer letzten Schicht über dem Boden doch noch trübe schweben bleibt, war noch in diesem Abscheu etwas Unentreißbares von Liebe. Eine erlösende Müdigkeit legte sich um sie, sie sank zusammen und war in das, was sie getan hatte, wie in einen kühlen Pelz gehüllt, ganz traurig und zärtlich, ein stilles Beisichsein, ein sanftes Leuchten, ... wie man noch an seinem Schmerz etwas liebt und im Kummer lächelt.

Und dann war es, als ob sich auch diese Grenze zwischen ihnen beiden öffnete. Sie empfand eine wollüstige Weichheit und ein ungeheures Nahesein. Mehr noch als eines des Körpers eines der Seele; es war wie wenn sie aus seinen Augen heraus auf sich selbst schaute und bei jeder Berührung nicht nur ihn empfände, sondern auf eine unbeschreibliche Weise auch sein Gefühl von ihr; es erschien ihr wie eine geheimnisvolle geistige Vereinigung. Sie dachte, er war ihr Schutzengel; er war gekommen und ging, nachdem sie ihn wahrgenommen hatte; und wird doch von nun an immer bei ihr sein, er wird ihr zusehen, wenn sie sich auskleidet, und wenn sie geht, wird sie ihn unter den Röcken tragen, seine Blicke werden so zart sein wie eine beständige leise Müdigkeit. Sie dachte es nicht, sie fühlte es; es war etwas bleichgrau Gespanntes in ihr und wenn die Gedanken gingen, säumten sie sich hell, wie dunkle Gestalten vor einem Winterhimmel. Bloß so ein Saum war es. Von unsagbarer Zärtlichkeit. Es war ein leises herausheben; ... ein stärker werden und doch nicht da sein, ... ein nichts und doch alles.

Sie saß ganz still und spielte mit ihren Gedanken. Es gibt eine Welt, etwas Abseitiges, eine andre Welt oder nur eine Traurigkeit ... wie vom Fieber bemalte Wände, zwischen denen die Worte der Gesunden nicht tönen und sinnlos zu Boden fallen, wie Teppiche, auf denen zu schreiten ihre Gebärden zu schwer sind, eine ganz dünne, klingende Welt, durch die sie zu ihm schritt, und allem, was sie tat, folgte darin eine Stille und alles, was sie dachte, hallte ohne Ende wie Flüstern in verschlungenen Gängen. – – –

Und als es ganz klar und kalt und Tag geworden war, kam der Brief. Es pochte am Haus und riß durch die Stille, wie ein Felsblock eine dünne Schneedecke zerschlägt; durch das geöffnete Tor bliesen Wind und Helligkeit herein. In dem Brief stand: »Was sind Sie, ich habe mich nicht erschossen? Vielleicht sind Sie schön wie eine schlafende Kranke. Aber ich bin wie einer, der auf die Straße hinausfand. Ich bin heraußen und kann nicht zurück. Das Butterbrot, das ich esse, das schwarzbraune Boot, das am Strande liegt und mich hinaustragen sollte, alles Lärmende, Lebendige ringsum hält mich fest. Ich bin wie ein Pfahl gefaßt und verrammt und wieder verwurzelt worden, daß ich nicht anders kann ...«

Es stand noch anderes darin, aber sie sah nur dieses eine: was sind Sie, ich fand auf die Straße! Es enthielt etwas Höhnisches, kaum angedeutet, aber doch diesen rücksichtslos rettenden Sprung zu sich selbst. Es war nichts, gar nichts, nur wie ein Kühlwerden am Morgen und einer fängt laut zu sprechen an, weil der Tag kommt. Es war alles um solch einen getan, der nun ernüchtert zusah. – Von diesem Augenblick an, durch lange Zeit, dachte Viktoria nichts noch empfand sie etwas; nur eine ungeheure, von keiner Welle durchbrochene Stille glänzte um sie, bleich und leblos wie Teiche, die stumm im Frühlicht liegen.

Als sie dann aufwachte und wieder nachzudenken begann, geschah es wie unter einem schweren Mantel, der sie hinderte, sich zu bewegen, und wie Hände unter einer Hülle, die sie nicht abwerfen können, sinnlos werden, verwirrten sich ihre Gedanken. Sie fand nicht mehr in die Wirklichkeit. Daß er sich nicht erschossen hatte, war nicht die Tatsache, daß er lebte, sondern es war etwas in ihrem Dasein, ein Verstummen, ein wieder Sinken, es verstummte etwas in ihr und sank wieder in jene murmelnde Vielstimmigkeit zurück, aus der es sich kaum herausgehoben hatte. Sie hörte sie mit einemmal wieder von allen Seiten. Es war wie ein enger Gang, in dem sie einst lief und dann kroch und dann kam jenes weiter werden, jenes leise heben und sich aufrichten und nun schloß es sich wieder. Ihr war trotz der Stille, als ob Menschen um sie stünden und beständig leise sprächen. Sie verstand, nicht, was sie sich sagten. Ihre Sinne waren in ganz dünne Flächen gespannt und diese Stimmen schlugen raschelnd daran wie die Zweige eines wirren Gestrüpps. Fremde Gesichter tauchten auf. Es waren lauter fremde Gesichter, die Tante, Freundinnen, Bekannte, sie wußte es wohl, aber doch blieben es fremde Gesichter. Sie bekam plötzlich Angst davor, wie jemand, der fürchtet, streng behandelt zu werden. Sie bemühte sich an ihn zu denken, aber sie konnte sich nicht mehr vorstellen, wie er aussah, er verfloß ihr mit den anderen; es fiel ihr ein, daß er von ihr weggegangen war, ganz, ganz ferne, wie unter eine Menge, es war ihr, als ob irgendwo da heraus seine Augen listig und versteckt auf sie schauen müßten. Sie spannte sich ganz klein davor zusammen, sie wollte sich schließen und versuchte noch einmal jene leise Deutlichkeit wiederzugewinnen, mit der sie sich selbst empfunden hatte. Aber sie fand auch sich nicht mehr und allmählich verlor sie überhaupt das Gefühl, etwas Wirkliches zu sein. Sie konnte sich nicht mehr von den andern unterscheiden und alle diese Gesichter waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden, sie tauchten auf und verschwanden ineinander, sie waren ihr eklig wie ungekämmtes Haar und doch verstrickte sie sich in ihnen, sie antwortete ihnen, die sie nicht verstand, sie hatte nur das eine Bedürfnis, etwas zu tun, es war eine Unruhe in ihr, als ob unter ihrer Haut Tausende kleiner Tiere heraus wollten, und immer neue Gesichter tauchten auf und immer die alten, das ganze Haus war voll von dieser Unruhe.

Sie sprang auf und tat ein paar Schritte. Und plötzlich schwieg alles. Sie rief und nichts antwortete, sie rief noch einmal und hörte sich kaum. Sie sah suchend umher, reglos stand alles auf seinem Platz. Es stand alles ganz einfach und fügsam wie in einer großen Ordnung, und doch erschien ihr jedes, wenn sie es für sich ansah, furchtbar zusammengesetzt. Es war alles so verschlossen und alt wie ein kahler Greisenmund und doch verhalten lebendig. Es war, wie wenn diese Menschen, die hier kommen und gehen, immer die gleichen Menschen, in den Schränken und Wandverschalungen versteckt wären, sie treten heraus und treten hinein ... immer wieder ... heraus und hinein, wie von dem schläfernden Atem des Hauses in einer ungeheuren, langsamen, starren Regelmäßigkeit bewegt.

Sie stand vor Demeters Zimmer, oben durch ein Stiegenfenster fiel ein breiter Lichtbalken ins Haus, Stäubchen tanzten darin und kleine Lebewesen; sie legten sich über sie, sie deckten sie zu, und mit jedem Atemzuge drangen sie in sie ein. Träg strich diese Luft durch das Haus; Viktoria dachte daran, daß sie von einem zum andern strich und einen mit dem anderen füllte. Sie wurde von Ekel erfaßt und wollte sich verschließen, sie wollte nicht atmen, sie wollte überhaupt nicht mehr atmen, sie wäre gern tot gewesen. Aber langsam begann es, ihre Brust wieder zu heben und zu senken, ihr Leben ging weiter, unabhängig von ihr, als würde es von dieser fremden, übermächtigen Regelmäßigkeit ergriffen. Und nun packte sie die Angst vor allen denen, die in den Wänden versteckt waren. Sie saßen in diesem Hause wie scheue Vögel in den Haaren eines riesigen Tiers und schaukelten in der Dunkelheit und sahen sie an, und ganz heimlich, wie kleine Läuse auf solchen Vögeln, krochen ihre Gedanken durch das Haus und füllten es mit sich und mit Liebe und Freundschaft wie mit einem weichen, klebrigen Leben, das sich lautlos in unaufhaltsamen Kreisen um Viktoria legte, enger und enger, und schweigend wuchs und stumm sich schloß und langsam sich über sie schob, ... wie ein heißer, grauenhafter Leib, und reglos sie niederdrückte.

Da schoß eine Lust in ihr herauf, mit den Zähnen in dieses Leben zu schlagen, damit es endlich schreiend auseinanderfahre und sie mit seiner Fülle überschütte und in seiner Gier über sie herfalle. Es war ein taumelndes Empfinden, ein letztes Sichpreisgeben und eine ätzend bittere Lüsternheit in ihr, wie wenn sie in einem trägen Wirrsal scheußlich verschlungener Menschen ihren Leib verloren hätte und nicht mehr wüßte, ob es etwas Fremdes ist, das gräßlich über ihn kriecht, oder ob er in der wollüstigen Verwirrung zuckend sich selbst berührte. Es faßte sie und riß sie an den Haaren empor, und in breiten Zügen wie ein trinkendes Tier sog sie die Luft in sich ein; sie hätte sich in sie hineinwühlen, mit offenem Munde durch sie hindurch rasen mögen, sie wollte schmutzige Wäsche an die Lippen pressen und die Finger mit Unrat benetzen. Es war ihr dabei, als rauschten auf den Straßen die Bäume, und dumpf in der Ferne stampften die Berge dazu, kleine Haare wehten flatternd auf ihrem Leibe, kribbelndes Ungeziefer wuchs ihr darauf, und eine in Seligkeit kreischende Stimme schrie in einem wilden, riesigen Atem hinein, der sie in einen Schwarm von Menschen und Tieren hüllte und an sich riß ...

Als Demeter kam, fand er Viktoria in seinem Zimmer, auf seinem Bett liegend und ein Hemd von ihm zwischen den Zähnen haltend. Als sie ihn auf sich zukommen sah, sprang sie auf und stieß ihn zur Seite; auf der Treppe holte er sie ein. Sie standen voreinander. Sie sah seine kurzen, gedrechselten Schenkel in den engen Reithosen, und sie empfand seine Lippen unter dem Schnurrbart wie einen kleinen blutigen Schnitt, sein Gesicht stand wie etwas Brausendes vor ihr im Dunkel; sie erschrak so sonderbar davor, wie wenn sie ein Tier wäre. Es verwirrte sich wieder etwas in ihr; sie glaubte Ekel zu empfinden, aber es mußte doch auch eine Gewalt sein, er roch nach Staub und Schweiß und überhaupt wie ein Mann. Er griff nach ihrer Hand, aber sie ließ sich nicht ziehen; die Arme sanken wieder herunter, und doch lief sie nicht weg. Es duckte sich etwas in ihr vor ihm, als ob jetzt und jetzt ..., wie Vogelschrein und Flügelflattern in einer Dornenhecke, bis es still wird und weich im Laut, wie von Federn, die übereinandergleiten ... Sie standen jetzt ganz nah nebeneinander, ihre Brust flog auf und nieder, er berührte mit seinem Fuß den ihren, ihre Arme lagen aneinander, er bog ihren Kopf herab, um sie zu küssen, und langsam sank sie, als ob etwas in ihr diese Bewegung freiwillig fortsetzte, zur Erde. Sie saß auf der Treppe, er kauerte neben ihr, und dann geschah es. Ohne sich zu entkleiden, mit einem Lächeln, das sie wie eine Wunde im Gesicht fühlte, gab sie sich ihm hin; wie etwas Riesengroßes sah sie vor der fahlen Fläche des Fensters seine beiden Schnurrbartspitzen, sie dachte gar nichts. Nur als plötzlich irgendwo eine Tür ging, preßte sie unwillkürlich die Beine zusammen und wollte ihn wegstemmen, aber in diesem Moment bemerkte sie etwas in seinen Augen, ein leises Stöhnen kam aus ihm heraus, und sie fühlte ihn schwerer und sanfter auf sich lasten. Als sie in ihr Zimmer gekommen war, schlief sie vor Erschöpfung bis zum Abend. Als sie aufwachte, lag wieder dieses Leben vor ihrer Tür. Sie wollte auch die Nacht verschlafen, aber der Tag danach schien ihr wie etwas unter einem weißgespannten Tuche voll unerträglicher gleichmäßiger Helligkeit. Wenn sie an Demeter dachte, war ihr, als sei etwas Abscheuliches über sie gekrochen, und trotzdem sah sie noch fortwährend seine Augen, die sie erregten. Sie wußte nicht, was sie wollte, sie hatte nur den Wunsch, sich in ihrem Zimmer zu verschließen, damit sie an all das nicht denken müsse. Da klopfte Demeter, der in seinen kleinen Pantoffeln, auf denen ein Herz gestickt war, an ihre Tür geschlichen kam ... Er setzte sich auf den Rand ihres Bettes, und gerade als sie sich von ihm weg und zur Wand drehte, hörte man von der Straße unten herauf eine helle Tenorstimme durch das Haus schallen ... »Demeter, Demeter, bácsi, wo bist du?« Und Demeter sagte ärgerlich »duhmer Karl, ich kohm ja gleich. Wollen wir zusperren, Mähderl, sonst – der taktlose Mensch ist nämlich imstand und geht mich suchen.«


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