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Aber die Episode mit Kant war nahezu gänzlich überwunden. Bei Tage dachte Törleß überhaupt nicht mehr daran; die Überzeugung, daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe, war viel zu lebhaft in ihm, als daß er sich noch um die Wege eines anderen bekümmert hätte. Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff zu der Türe, die hinüberführe, schon in der Hand gefühlt, nur sei er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, daß er auf die Hilfe philosophischer Bücher verzichten müsse, und auch kein rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da, wie er ihn wiedergewinnen wolle. Er machte einige Male Versuche, in seinen Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte.

Daher beschloß er, so oft als möglich, immer und immer wieder die Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in sich trugen; und besonders häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn dieser, sich unbeobachtet glaubend, harmlos unter den anderen sich bewegte. »Einmal«, dachte sich Törleß, »wird es schon wieder lebendig werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.« Und er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem nichts übrigbleibe, als, wenn man die richtige Stelle wieder unter den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die dunklen Wände abzutasten.

In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es überkam ihn da eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedrückt hatte. Er lag dann ruhig und horchte zu Basini herüber, dessen geschändeter Körper friedlich wie die aller anderen atmete. Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage.

Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht. Ein körperlicher Einfluß schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man nur die Hand auszustrecken brauche. Das, was junge Paare häufig zu Ausschweifungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis hinausgehen.

 

Je nach der Lebhaftigkeit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfangen ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte, was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütterung waren die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der Stille des allgemeinen Schlafes seine Augen heiß und offen hielten. Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblicken halb willig, halb verzweifelt ihren Einflüsterungen hingab, so erging es ihm nur, wie es mit allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu einer tollen, ausschweifenden, so sehr die Seele zerreißenden, mit wollüstiger Absicht zerreißenden, Sinnlichkeit neigen als dann, wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewicht ihres Selbstbewußtseins erschüttert. – – – –

Wenn er dann nach Mitternacht endlich in unruhigem Schlummer lag, schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat. Dann verließen sie den Saal ... ... Aber es konnte auch eine Einbildung gewesen sein. – – – –

 

Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen, ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei, und es gab viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde durch dringende Geschäfte im Ministerium festgehalten, und die Mutter fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengungen der Reise aussetzen konnte.

Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten und viele zärtliche Tröstungen hinzufügten, fühlte er, daß es ihm so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung empfunden, – zumindest hätte es ihn arg verwirrt, – wenn er seinen Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübertreten müssen.

Viele Zöglinge erhielten Einladungen auf naheliegende Besitzungen. Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub, und Beineberg, Reiting, Hofmeier begleiteten ihn. Auch Basini war von Dschjusch eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen. Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren Festlichkeiten und Unterhaltungen gelaunt.

Samstag mittag schon lag das große Haus schweigend und nahezu verlassen da.

Wenn Törleß durch die Gänge schritt, so widerhallte es von einem Ende zum andern; kein Mensch bekümmerte sich um ihn, denn auch die meisten Lehrer waren zur Jagd oder sonst irgendwohin gefahren. Nur bei den Mahlzeiten, die jetzt in einem kleinen Zimmer neben dem verlassenen Speisesaale serviert wurden, sahen sich die wenigen zurückgebliebenen Zöglinge; nach Tisch zerstreuten sich ihre Schritte wieder in der weiten Flucht der Gänge und Zimmer, das Schweigen des Hauses verschlang sie gleichsam, und sie führten in der Zwischenzeit ein Leben, nicht mehr beachtet als das der Spinnen und Tausendfüßler in Keller und Boden.

Von Törleß' Klasse waren nur er und Basini zurückgeblieben, einige andere ausgenommen, welche in den Krankenzimmern lagen. Beim Abschied hatte Törleß noch einige heimliche Worte mit Reiting gewechselt, welche sich auf Basini bezogen. Reiting fürchtete nämlich, daß Basini die Gelegenheit benützen könnte, um bei einem der Lehrer Schutz zu suchen, und er legte Törleß ans Herz, ihn sorgsam zu überwachen.

Es bedurfte dessen jedoch gar nicht, um Törleß' Aufmerksamkeit auf Basini zu sammeln.

Kaum hatte sich die Unruhe der vorfahrenden Wagen, der koffertragenden Diener, der mit Scherzen voneinander Abschied nehmenden Zöglinge aus dem Hause verloren, als das Bewußtsein seines Alleinseins mit Basini herrisch von Törleß Besitz ergriff.

Das war nach dem ersten Mittagmahle. Basini saß vorne auf seinem Platze und schrieb an einem Briefe; Törleß hatte sich in die hinterste Ecke des Zimmers gesetzt und versuchte zu lesen.

Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch, und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren ...

Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlich immer wieder erneuten Versuche klebte.

Törleß warf wütend das Buch zur Erde. Basini sah sich erschreckt um, fuhr aber gleich wieder hastig fort zu schreiben.

So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinnig. Das einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden Allgemeingefühle heraus in sein Bewußtsein hob, war das Ticken seiner Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzchen wackelte es hinter dem trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwommen ... Basini konnte doch längst nicht mehr schreiben ... »Ah, wahrscheinlich traut er sich nicht Licht zu machen«, dachte sich Törleß. Saß er aber überhaupt noch auf seinem Platze? Törleß hatte in die kahle, dämmerige Landschaft hinausgesehen und mußte sein Auge erst an das Dunkel des Zimmers gewöhnen. Doch. Dort, der unbewegliche Schatten, das wird er wohl sein. Ach, er seufzt ja sogar, – einmal, .. zweimal, .. oder schläft er am Ende?

Ein Diener kam und zündete die Lampen an. Basini fuhr auf und rieb sich die Augen. Dann nahm er ein Buch aus der Lade und schien lernen zu wollen.

Törleß brannte es auf den Lippen ihn anzusprechen, und um dem vorzubeugen, verließ er hastig das Zimmer.

 

In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine mörderische Sinnlichkeit war in ihm nach der Pein des gedankenlosen, stumpfsinnigen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeitig der Schlaf.

Der nächste Tag verging. Er hatte nichts als die gleiche Unfruchtbarkeit der Stille gebracht. Das Schweigen – die Erwartung überreizten Törleß, – die beständige Aufmerksamkeit verzehrte alle geistigen Kräfte, so daß er zu jedem Gedanken unfähig blieb.

Zerschlagen, enttäuscht, bis zu den ärgsten Zweifeln mit sich unzufrieden, legte er sich frühzeitig zu Bett.

Er lag schon lange in einem ruhelosen, erhitzten Halbschlafe, als er Basini kommen hörte.

Ohne sich zu regen, folgte er mit den Augen der dunklen Gestalt, die an seinem Bette vorbeischritt; er hörte das Geräusch, welches durch das Lösen der Kleidung verursacht wurde; dann das Knistern der über den Körper gezogenen Decke.

Törleß hielt den Atem an, dennoch vermochte er nichts mehr zu hören. Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß Basini nicht schlafe, sondern ebenso angestrengt wie er durch das Dunkel horche.

So vergingen Viertelstunden, – Stunden. Hie und da nur durch das leise Geräusch der sich im Bette bewegenden Körper unterbrochen.

Törleß befand sich in einem eigentümlichen Zustande, der ihn wach erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildungskraft gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlusse hatten sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der unerbittlichen Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur eine ganz dunkle Erinnerung. Heute aber war es von Anfang an nichts als ein triebhafter Wunsch, aufzustehen und zu Basini hinüberzugehen. Solange er das Gefühl gehabt hatte, daß Basini wache und zu ihm herüber horche, war es kaum auszuhalten gewesen; und jetzt, da dieser doch wohl schon schlief, lag erst recht ein grausamer Kitzel darin, den Schlafenden wie eine Beute zu überfallen.

Törleß spürte schon die Bewegungen des Sichaufrichtens und aus dem Bette Steigens in allen Muskeln zucken. Trotzdem vermochte er aber noch nicht, seine Reglosigkeit abzuschütteln.

»Was soll ich denn eigentlich bei ihm?« fragte er sich in seiner Angst fast laut. Und er mußte sich gestehen, daß die Grausamkeit und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte. Er wäre in Verlegenheit gekommen, wenn er sich wirklich auf Basini gestürzt hätte. Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre! Und in welcher Weise sollte sich denn seine sinnliche Erregung an ihm befriedigen? Er empfand unwillkürlich einen Abscheu, als er an die verschiedenen kleinen Knabenlaster dachte. Sich vor einem anderen Menschen so bloßstellen? Nie! ...

In dem Maße aber, als dieser Abscheu wuchs, wurde auch der Antrieb stärker, zu Basini hinüberzugehen. Schließlich war Törleß ganz von der Unsinnigkeit eines solchen Unterfangens durchdrungen, aber ein förmlich physischer Zwang schien ihn wie an einem Seile aus dem Bette zu ziehen. Und während alle Bilder aus seinem Kopfe wichen und er sich unaufhörlich sagte, daß es jetzt wohl am besten wäre, den Schlaf zu suchen, richtete er sich mechanisch von seinem Lager auf. Ganz langsam – er fühlte ordentlich, wie dieser seelische Zwang nur Schritt für Schritt gegen die Widerstände Boden gewann – richtete er sich auf. Erst einen Arm, .. dann stützte er den Oberkörper auf, dann schob er ein Knie unter der Decke hervor, .. dann ..: doch plötzlich eilte er mit bloßen Füßen, auf den Zehen zu Basini hinüber und setzte sich auf den Rand des Bettes.

Basini schlief.

Er sah ganz so aus, als ob er angenehm träumte.

Törleß war noch immer nicht Herr seiner Handlungen. Einen Augenblick saß er still und starrte dem Schlafenden ins Gesicht. Jene kurzen, abgerissenen, gleichsam nur den Situationsbefund konstatierenden Gedanken zuckten durch sein Gehirn, die man hat, wenn man sein Gleichgewicht verliert, stürzt oder wenn einem ein Gegenstand aus den Händen gerissen wird. Und ohne Besinnen faßte er Basini an der Schulter und rüttelte ihn wach.

Der Schläfer reckte sich einige Male träge, dann fuhr er auf und blickte Törleß mit schlafblöden Augen an.

Törleß erschrak; er war völlig verwirrt; seine Handlung kam ihm zum ersten Male zur Besinnung, und er wußte nicht, was er nun weiter tun solle. Er schämte sich furchtbar. Sein Herz klopfte hörbar. Worte der Erklärung, Ausreden drängten sich auf seine Zunge. Er wollte Basini fragen, ob er keine Streichhölzchen habe, ob er ihm nicht sagen könne, wie viel Uhr es sei ...

Basini glotzte ihn noch immer ohne Verständnis an.

Schon zog Törleß, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben, den Arm zurück, schon glitt er von dem Bette herunter, um lautlos in das seine zurückzuschleichen, – da schien Basini die Situation erfaßt zu haben und richtete sich mit einem Rucke auf.

Törleß blieb unschlüssig am Bettende stehen. Basini sah ihn noch einmal mit einem fragenden, prüfenden Blicke an, dann stieg er vollends aus dem Bette, schlüpfte in Mantel und Hausschuhe und ging mit schlurfenden Schritten voran.

Törleß wurde es mit einem Schlage klar, daß dies nicht zum erstenmal geschehe.

Im Vorbeigehen nahm er die Schlüssel zur Kammer, die er unter seinem Kopfkissen versteckt gehabt hatte, mit. – – – – – –

Basini schritt geradenwegs zur Bodenkammer voraus. Er schien mit dem Wege, den man ihm damals doch noch verheimlicht hatte, inzwischen genau bekannt geworden zu sein. Er hielt die Kiste fest, als Törleß daraufstieg, er räumte die Kulissen zur Seite, umsichtig, mit diskreten Bewegungen, wie ein geschulter Lakai.

Törleß sperrte auf, und sie traten ein. Er stand mit dem Rücken zu Basini und zündete die kleine Lampe an.

Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick dieses nackten, schneeweißen Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. Und Törleß fühlte das Bild dieser Nacktheit wie heiße, weiße Flammen in seinen Nerven auflodern. Er konnte sich der Macht dieser Schönheit nicht entziehen. Er hatte vorher nicht gewußt, was Schönheit sei. Denn was war ihm in seinem Alter Kunst, was kannte er schließlich davon?! Ist sie doch bis zu einem gewissen Alter jedem in freier Luft aufgewachsenen Menschen unverständlich und langweilig!

Hier aber war sie auf den Wegen der Sinnlichkeit zu ihm gekommen. Heimlich, überfallend. Ein betörender warmer Atem strömte aus der entblößten Haut, eine weiche, lüsterne Schmeichelei. Und doch war etwas daran, das zum Händefalten feierlich und bezwingend war.

Aber nach der ersten Überraschung schämte sich Törleß des einen wie des anderen. »Es ist doch ein Mann!« Der Gedanke empörte ihn, aber ihm war zumute, als ob ein Mädchen nicht anders sein könnte.

Beschämt herrschte er Basini an: »Was fällt dir denn ein?! Gleich wirst du wieder ...!!«

Nun schien dieser bestürzt; zögernd und ohne die Augen von Törleß zu lassen, nahm er den Mantel vom Boden auf.

»Da, setz dich!« wies Törleß Basini an. Dieser gehorchte. Törleß lehnte mit hinter dem Rücken gekreuzten Händen an der Wand.

»Warum hast du dich ausgezogen? Was wolltest du von mir?«

»Nun, ich dachte ...«

Zögern.

»Was dachtest du?«

»Die anderen ...«

»Was die anderen?«

»Beineberg und Reiting ...«

»Was Beineberg und Reiting? Was taten sie? Du mußt mir alles erzählen! Ich will es so; verstehst du? Obwohl ich es schon von den andern gehört habe.« Törleß wurde bei dieser unbeholfenen Lüge rot. Basini biß sich die Lippen.

»Nun, wird's?!«

»Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es nicht! Ich will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen ... Oh, du hast solch eine besondere Art mich zu quälen ...!« Haß, Angst und eine flehentliche Bitte kämpften in den Augen Basinis. Törleß lenkte unwillkürlich ein.

»Ich will dich gar nicht quälen. Ich will dich nur zwingen, selbst die volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht in deinem Interesse.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan, was besonderen Erzählens wert wäre.«

»So? Warum aber hast du dich dann ausgezogen?«

»Sie verlangten es so.«

»Und warum hast du getan, was sie verlangten? Du bist also feig? Erbärmlich feig?«

»Nein, ich bin nicht feig! Sag das nicht!«

»Wirst du den Mund halten! Wenn du ihre Prügel fürchtest, so könnten dir die meinen auch nicht schlecht bekommen!«

»Ich fürchte aber gar nicht ihre Prügel.«

»So? Was denn?«

Törleß sprach wieder ruhig. Seine rohe Drohung ärgerte ihn bereits. Aber unwillkürlich war sie ihm entschlüpft, lediglich weil ihm schien, daß sich Basini ihm gegenüber mehr herausnehme als gegen die anderen.

»Wenn du dich, wie du sagst, nicht fürchtest, was ist dann mit dir?«

»Sie sagen, wenn ich ihnen zu Willen sei, werde mir nach einiger Zeit alles verziehen werden.«

»Von ihnen beiden?«

»Nein, überhaupt.«

»Wie können sie das versprechen; ich bin doch auch noch da!«

»Hiefür werden schon sie sorgen, sagen sie!«

Dies gab Törleß einen Schlag. Beinebergs Worte, daß Reiting gegebenenfalls gegen ihn gerade so handeln würde wie gegen Basini, fielen ihm ein. Und wenn es wirklich zu einer Intrige gegen ihn käme, wie sollte er ihr begegnen? Er war den beiden in derlei nicht gewachsen, wie weit würden sie es treiben können? Wie mit Basini? ... Alles in ihm lehnte sich gegen diesen hämischen Einfall auf.

Minuten verstrichen zwischen ihm und Basini. Er wußte, daß es ihm an Wagemut und Ausdauer zu derlei Ränken gebrach; aber nur deswegen, weil er sich zu wenig dafür interessierte, weil er nie seine ganze Persönlichkeit im Spiele fühlte. Er hatte immer mehr dabei zu verlieren als zu gewinnen gehabt. Käme dies aber einmal anders, so fühlte er, daß auch eine ganz andere Zähigkeit und Tapferkeit in ihm sein würde. Nur wissen müßte man, wann es Zeit sei, alles aufs Spiel zu setzen.

»Haben sie dir Näheres gesagt? ... wie sie sich das denken? ... Das meinetwegen?«

»Näheres? Nein. Sie sagten nur, daß sie schon sorgen würden.«

Dennoch, ... eine Gefahr lag nun da, ... irgendwo im Versteck, ... und lauerte auf Törleß; ... jeder Schritt konnte in eine Fußangel fallen, jede Nacht konnte die letzte vor Kämpfen sein. Eine ungeheure Unsicherheit lag in diesem Gedanken. Das war kein lässiges Sichtreibenlassen mehr, kein Spielen mit rätselhaften Gesichten, – das hatte harte Ecken und war fühlbare Wirklichkeit.

Das Gespräch fing wieder an.

»Und was tun sie mit dir?«

Basini schwieg.

»Wenn es dir mit deiner Besserung ernst ist, mußt du mir alles sagen.«

»Sie lassen mich auskleiden.«

»Ja, ja, das sah ich doch, ... und dann ...?«

Eine kleine Weile verstrich, und plötzlich sagte Basini:

»Verschiedenes.«

Er sagte es mit einer weibischen, buhlerischen Betonung.

»Du bist also ihre ... Mai ... tresse?«

»Oh nein, ich bin ihr Freund!«

»Wie kannst du dich unterstehen, das zu sagen!«

»Sie sagen es selbst.«

»Was ..?«

»Ja, Reiting.«

»So, Reiting?«

»Ja, er ist sehr freundlich zu mir. Meist muß ich mich ausziehen und ihm etwas aus Geschichtsbüchern vorlesen; von Rom und seinen Kaisern, von den Borgias, von Timur Chan, ... na, du weißt schon, lauter solch blutige, große Sachen. Dann ist er sogar zärtlich gegen mich.«

 

»Und nachher schlägt er mich meistens ...«

»Wonach?!! ... Ach so!«

»Ja. Er sagt, wenn er mich nicht schlagen würde, so müßte er glauben, ich sei ein Mann, und dann dürfte er mir gegenüber auch nicht so weich und zärtlich sein. So aber sei ich seine Sache, und da geniere er sich nicht.«

»Und Beineberg?«

»Oh, Beineberg ist häßlich. Findest du nicht auch, daß er aus dem Munde riecht?«

»Schweig! Was ich finde, geht dich gar nichts an! Erzähle, was Beineberg mit dir tut!«

»Nun, auch so wie Reiting, nur. ... Aber du darfst mich nicht wieder gleich schimpfen ...«

»Vorwärts.«

»Nur ... auf einem anderen Umwege. Er hält mir erst lange Reden über meine Seele. Ich habe sie beschmutzt, aber gewissermaßen nur den ersten Vorhof von ihr. Im Verhältnis zu dem Innersten sei dies etwas Nichtiges und Äußerliches. Nur müsse man es abtöten; so seien schon viele aus Sündern zu Heiligen geworden. Die Sünde sei daher in höherer Hinsicht gar nicht so schlecht; nur müsse man sie ganz auf die Spitze treiben, damit sie abbreche. Er läßt mich sitzen und ein geschliffenes Glas anstarren ...«

»Er hypnotisiert dich?«

»Nein, er sagt, er müsse nur alle Dinge, die an der Oberfläche meiner Seele umherschwimmen, einschläfern und kraftlos machen. Dann erst könne er mit meiner Seele selbst verkehren.«

»Und wie verkehrt er denn mit ihr?«

»Das ist ein Experiment, das ihm noch nie gelungen ist. Er sitzt, und ich muß mich auf die Erde legen, so daß er die Füße auf meinen Leib stellen kann. Ich muß von dem Glas recht träge und schläfrig geworden sein. Dann auf einmal befiehlt er mir zu bellen. Er beschreibt es mir ausführlich: – leise, mehr winselnd, – so wie ein Hund aus dem Schlafe heraus bellt.«

»Wozu das?«

»Man weiß nicht, wozu es gut ist. Er läßt mich auch grunzen wie ein Schwein und wiederholt mir in einem fort, ich habe etwas von diesem Tiere in mir. Aber nicht, als ob er mich schimpfen wollte; er wiederholt es mir ganz leise und freundlich, um es – wie er sagt – fest in meine Nerven einzudrücken. Denn er behauptet, daß möglicherweise eine meiner früheren Existenzen so gewesen sei und daß man sie hervorlocken müsse, um sie unschädlich zu machen.«

»Und du glaubst ihm all das?«

»Gott bewahre; ich meine, er selbst glaubt nicht daran. Und dann ist er doch auch zum Schlusse immer ganz anders. Wie soll ich auch solche Dinge glauben?! Wer glaubt denn heute an eine Seele?! Und gar an eine solche Seelenwanderung?! Daß ich gefehlt habe, weiß ich ganz gut; aber ich habe immer gehofft, es wieder gut machen zu können. Da ist gar kein Hokuspokus nötig. Ich zerbreche mir auch gar nicht den Kopf darüber, wieso ich meinen Fehltritt begehen konnte. So etwas kommt so rasch, so von selbst; man merkt erst nachher, daß man etwas Unkluges getan hat. Wenn es ihm aber Vergnügen macht, etwas Übersinnliches dahinter zu suchen, so soll er meinetwegen. Vorläufig muß ich ihm ja doch zu Willen sein. Wenn er nur lieber unterlassen möchte, mich zu stechen ...«

»Was?«

»Ja, mit einer Nadel, – nun nicht heftig, nur um zu sehen, wie ich darauf reagiere, ... ob sich nicht an irgendeiner Stelle des Körpers etwas bemerkbar mache. Aber weh tut es doch. Er behauptet nämlich, die Ärzte verstünden nichts davon; ich habe mir nicht gemerkt, womit er das beweisen will, ich erinnere mich nur, daß er viel von Fakiren spricht, die, wenn sie ihre Seele schauen, gegen körperliche Schmerzen unempfindlich sein sollen.«

»Nun ja, ich kenne diese Ideen; du sagtest aber doch selbst, daß dies nicht alles sei.«

»Gewiß nicht; ich sagte doch auch, daß ich dies nur für einen Umweg halte. Nachher kommen jedesmal Viertelstunden, wo er schweigt und ich nicht weiß, was in ihm vorgeht. Danach aber bricht er plötzlich los und verlangt Dienste von mir – wie besessen – weit ärger als Reiting.«

»Und du tust alles, was man von dir verlangt?«

»Was bleibt mir übrig? Ich will wieder ein anständiger Mensch werden und meine Ruhe haben.«

»Was aber inzwischen geschehen ist, wird dir ganz gleich sein?«

»Ich kann mir ja nicht dagegen helfen.«

»Gib jetzt genau acht und beantworte meine Fragen: Wieso konntest du stehlen?«

»Wieso? Schau, ich brauchte das Geld dringend; ich hatte beim Traiteur Schulden, und er wollte sich nicht mehr vertrösten lassen. Dann glaubte ich doch bestimmt, daß in jenen Tagen für mich Geld kommen werde. Von den Kameraden wollte mir keiner leihen: die einen hatten selbst keins, und die Sparsamen freut es ja nur, wenn einer, der nicht so ist, gegen Monatsende in Verlegenheit kommt. Ich wollte gewiß niemanden betrügen; ich wollte es mir nur heimlich ausleihen ...«

»Nicht so meine ich es,« unterbrach Törleß ungeduldig diese Erzählung, die Basini offenbar erleichterte, »ich frage: wieso – wie konntest du das tun, wie fühltest du dich? Was ging in jenem Augenblick in dir vor?«

»Nun ja, – gar nichts. Es war doch nur ein Augenblick, ich fühlte nichts, ich überlegte nichts, es war einfach plötzlich geschehen.«

»Aber das erstemal mit Reiting? Als er zum erstenmal jene Dinge von dir verlangte? Verstehst du ...?«

»Oh, unangenehm war es mir schon. Weil es so auf Befehl geschehen sollte. Denn sonst ... denk' nur, wie viele tun solche Sachen freiwillig zum Vergnügen, ohne daß die anderen davon wissen. Da ist es wohl nicht so arg.«

»Aber du hast es auf Befehl getan. Du hast dich erniedrigt. So, wie wenn du in den Kot kriechen würdest, weil es ein anderer will.«

»Das gebe ich ja zu; aber ich mußte.«

»Nein, du mußtest nicht.«

»Sie hätten mich geprügelt, angezeigt; alle Schande wäre auf mich gekommen.«

»Nun, meinetwegen, lassen wir das. Ich will etwas anderes von dir wissen. Höre, ich weiß, daß du viel Geld bei Božena gelassen hast. Du hast vor ihr aufgeschnitten, dich in die Brust geworfen, mit deiner Männlichkeit geprahlt. Du willst also ein Mann sein? Nicht nur mit dem Mund und mit ..., sondern mit der ganzen Seele? Nun sieh, da verlangt auf einmal einer von dir einen so erniedrigenden Dienst, du fühlst im selben Augenblick, daß du zu feig bist, um nein zu sagen: ging da nicht durch dein ganzes Wesen ein Riß? Ein Schreck, – unbestimmt, – als ob sich eben etwas Unsagbares in dir vollzogen hätte?«

»Gott, ich verstehe dich nicht; ich weiß nicht, was du willst; ich kann dir nichts, gar nichts sagen.«

»So paß auf; ich werde dir jetzt befehlen, dich wieder auszukleiden.«

Basini lächelte.

»Dich platt da vor mir auf die Erde zu legen. Lach nicht! Ich befehle es dir wirklich! Hörst du?! Wenn du nicht augenblicklich folgst, so wirst du sehen, was dir bevorsteht, wenn Reiting zurückkommt! ... So. Siehst du, jetzt liegst du nackt vor mir auf der Erde. Du zitterst sogar; es friert dich? Ich könnte jetzt auf deinen nackten Leib speien, wenn ich wollte. Drücke nur den Kopf fest auf die Erde; sieht der Staub am Boden nicht merkwürdig aus? Wie eine Landschaft voll Wolken und Felsblöcken so groß wie Häuser? Ich könnte dich mit Nadeln stechen. Da in der Nische, bei der Lampe liegen noch welche. Fühlst du sie schon auf der Haut? ... Aber ich will nicht ... Ich könnte dich bellen lassen, wie es Beineberg getan hat, den Staub auffressen lassen wie ein Schwein, ich könnte dich Bewegungen machen lassen – du weißt schon –, und du müßtest dazu seufzen: Oh meine liebe Mut...« Doch Törleß hielt jäh in dieser Lästerung inne. »Aber ich will nicht, will nicht, verstehst du?!«

Basini weinte. »Du quälst mich ...«

»Ja, ich quäle dich. Aber nicht darum ist es mir; ich will nur eines wissen: Wenn ich all das wie Messer in dich hineinstoße, was ist in dir? Was vollzieht sich in dir? Zerspringt etwas in dir? Sag! Jäh wie ein Glas, das plötzlich in tausend Splitter geht, bevor sich noch ein Sprung gezeigt hat? Das Bild, das du dir von dir gemacht hast, verlöscht es nicht mit einem Hauche; springt nicht ein anderes an seine Stelle, wie die Bilder der Zauberlaternen aus dem Dunkel springen? Verstehst du mich denn gar nicht? Näher erklären kann ich's dir nicht; du mußt mir selbst sagen ...!«

Basini weinte ohne aufzuhören. Seine mädchenhaften Schultern zuckten; er brachte immer nur dasselbe hervor: »Ich weiß nicht, was du willst; ich kann dir nichts erklären; es geschieht im Augenblicke; es kann dann gar nicht anders geschehen; du würdest ebenso handeln wie ich.«

Törleß schwieg. Er blieb erschöpft, reglos an der Wand lehnen und starrte vor sich hin, geradeaus ins Leere.

»Wenn du in meiner Situation wärest, würdest du geradeso handeln«, hatte Basini gesagt. Da war das Geschehene als eine einfache Notwendigkeit, ruhig und ohne Verzerrung.

Törleß' Selbstbewußtsein lehnte sich in heller Verachtung selbst gegen die bloße Zumutung auf. Und doch schien ihm diese Auflehnung seines ganzen Wesens keine befriedigende Gewähr zu bieten. »... ja, ich würde mehr Charakter haben als er, ich würde solche Zumutungen nicht ertragen, – aber ist dies auch von Belang? Ist es von Belang, daß ich aus Festigkeit, aus Anständigkeit, aus lauter Gründen, die mir jetzt ganz nebensächlich sind, anders handeln würde? Nein, nicht daran liegt's, wie ich handeln würde, sondern daran, daß ich, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er. Dies ist das Eigentliche: mein Gefühl meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen entfernt sein wie das seine ...«

Dieser Gedanke, welcher – in abgerissenen, übereinander greifenden, immer wieder von vorne anfangenden Sätzen gedacht – der Verachtung für Basini einen ganz intimen, leisen, aber weit tiefer als Moral an das innerste Gleichgewicht rührenden Schmerz hinzufügte, kam von der Erinnerung an eine kurz vorher gehabte Empfindung, die Törleß nicht losließ. Als ihm nämlich durch Basini die möglicherweise von Reiting und Beineberg drohende Gefahr zur Kenntnis kam, war er einfach erschrocken. Einfach erschrocken wie bei einem Überfall, und hatte ohne Überlegen blitzschnell nach Paraden und Deckungen gesucht. Das war nun im Augenblicke einer wirklichen Gefahr gewesen; und die Empfindung, die er dabei gehabt hatte, reizte ihn. Diese raschen, gedankenlosen Impulse. Er versuchte ganz vergebens sie wieder in sich auszulösen. Aber er wußte, daß sie der Gefahr augenblicks alles Sonderbare und Zweideutige genommen hatten.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen, die er vor einigen Wochen erst an derselben Stelle geahnt hatte. Damals, als er so eigen wegen der Kammer erschrocken war, die wie ein vergessenes Mittelalter abseits von dem warmen und hellen Leben der Lehrsäle lag, und über Beineberg und Reiting, weil sie aus den Menschen, die sie dort waren, plötzlich etwas anderes, Düsteres, Blutgieriges, Personen in einem ganz anderen Leben geworden zu sein schienen. Damals war dies eine Verwandlung, ein Sprung für Törleß, als ob das Bild seiner Umgebung plötzlich in andere, aus hundertjährigem Schlafe erwachte Augen fiele.

Und doch war es dieselbe Gefahr gewesen ... Unaufhörlich wiederholte er sich dies. Und immer wieder versuchte er, die Erinnerungen der beiden verschiedenen Empfindungen miteinander zu vergleichen – – – – –

Basini hatte sich mittlerweile längst aufgerichtet; er bemerkte den stieren, geistesabwesenden Blick seines Gefährten, leise nahm er seine Kleider auf und schlich sich davon.

Törleß sah es, – wie durch einen Nebel hindurch, – aber er ließ es wortlos geschehen.

Seine Aufmerksamkeit war ganz durch das Bestreben gefesselt, jenen Punkt in ihm wieder aufzufinden, wo plötzlich jener Wechsel in der innerlichen Perspektive stattgefunden hatte.

Aber sooft er in dessen Nähe kam, erging es ihm wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit des Vergleichens drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck, – und alles stand still.

Und immer wieder begann Törleß von neuem.

Dieser Prozeß von mechanischer Gleichmäßigkeit schläferte ihn in einen starren, wachen, eiskalten Schlaf, der ihn reglos an seinem Platze festhielt. Unbestimmt lange.

Erst ein Gedanke weckte Törleß auf wie die leise Berührung einer warmen Hand. Ein anscheinend so selbstverständlicher Gedanke, daß sich Törleß wunderte, nicht schon längst auf ihn verfallen zu sein.

Ein Gedanke, der gar nichts tat als die eben gemachte Erfahrung registrieren: es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen, alltäglichen Proportionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll aussieht. So als ob eine unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen wäre. Was sich außerhalb vorbereitet und von ferne herannaht, ist wie ein nebliges Meer voll riesenhafter, wechselnder Gestalten; was an ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben sich stößt, ist klar und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen Linien. Und zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man fühlt, ahnt, von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze, in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den Menschen einzugehen.

 


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