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Erster Aufzug

Die Szene stellt ein Ankleidezimmer dar, das durch eine große geschlossene Schiebetür mit dem anstoßenden Schlafzimmer verbunden ist. Eingangstür auf der entgegengesetzten Seite. Großes Fenster. Ebenerdig. Aussicht auf einen Park.

Diese Szene muß in der Wiedergabe ebensosehr Einbildung wie Wirklichkeit sein. Die Wände sind aus Leinen, Türen und Fenster sind darin ausgeschnitten, ihre Umrahmung gemalt; sie sind nicht starr, sondern unruhig und in engen Grenzen beweglich. Der Fußboden ist phantastisch gefärbt. Die Möbel gemahnen an Abstraktionen wie die Drahtmodelle von Kristallen; sie müssen zwar wirklich und benutzbar sein, aber wie durch jenen Kristallisationsvorgang entstanden, der zuweilen für einen Augenblick den Fluß der Eindrücke anhält und den einzelnen unvermittelt einsam ausscheidet. Oben übergeht der ganze Raum in den Sommerhimmel, in dem Wolken schwimmen. Es ist früh am Vormittag.

Regine sitzt, einen Brief in der Hand, auf einem ungeduldig herangezogenen Sessel an der Schlafzimmertür, leise mit den Fingerknöcheln daran trommelnd. Fräulein Mertens steht ratlos ihr zugewendet mehr in der Mitte des Zimmers.

Regine: Sie sind also wirklich nicht abergläubisch? Sie glauben nicht an geheime persönliche Kräfte?

Fräulein Mertens: Wie denken Sie sich das eigentlich?

Regine: Gar nicht. Als Kind und noch als Mädchen hatte ich eine häßliche Stimme, sobald ich nur laut sprach; aber ich wußte, daß ich eines Tags alle Leute durch einen wunderbaren Gesang überraschen würde.

Fräulein Mertens: Und haben Sie dieses Organ bekommen?

Regine: Nein.

Fräulein Mertens: Nun also.

Regine: Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Hatten Sie nie ein unerklärliches Gefühl von sich? So geheimnisvoll, daß man die Schuhe ausziehen muß und durch die Zimmer segeln wie eine Wolke? Früher kam ich oft hierher, als noch Mama nebenan schlief. Sie zeigt auf das Schlafzimmer von Thomas und Maria.

Fräulein Mertens: Ja aber um Himmelswillen, wozu?

Regine antwortet nur mit einer Schulterbewegung und klopft heftig an die Tür: Thomas! Thomas!! So komm doch schon! Der Brief von Josef ist da.

Thomas von innen: Gleich, Krählein; einen Augenblick. Man hört aufschließen, er steckt den Kopf durch die Tür und gewahrt Fräulein Mertens. Also dann noch einen Augenblick; ich dachte, du seist allein. Er schließt wieder die Türe.

Fräulein Mertens geht herzlich auf Regine zu: Sagen Sie mir, was wollen Sie eigentlich mit alldem beweisen?

Regine: Beweisen? Aber Liebe, wie könnte ich etwas beweisen? Das ist mir ganz gleichgültig.

Fräulein Mertens mit sanfter Hartnäckigkeit: Ich meine, wenn Sie sagen, daß Sie Ihren ersten Mann, der vor Jahren hier gestorben ist, zuweilen wiedersehen.

Regine: Dann sagen Sie mir, warum soll ich Johannes nicht sehn?

Fräulein Mertens mit hartnäckiger Schonung: Aber er ist doch gestorben?

Regine: Ja. So gewiß, als wir hier stehn. Amtlich bestätigt.

Fräulein Mertens: Also dann gibt es das nicht!

Regine: Ich will es Ihnen nicht erklären! Ich habe eben Kräfte, die Sie nicht haben. Warum nicht? Ich habe auch Fehler, die Sie nicht haben.

Fräulein Mertens: Ich habe das Gefühl: das alles sprechen Sie gegen Ihre Überzeugung.

Regine: Was meine Überzeugung ist, weiß ich nicht! Aber ich weiß, daß ich mein Leben lang alles gegen meine Überzeugung getan habe!

Fräulein Mertens: Sie meinen es nicht ernst. Man hört hier so viel von Kräften, die man nur hier hat! Das ist der Geist dieses Hauses: Auflehnung gegen das, was sonst aller Welt genügt.

Thomas ist eingetreten. Noch nicht fertig bekleidet; was er angelegt hat, so, wie es einem schönen Sommermorgen entspricht. Er nimmt allerhand morgendliche Hantierungen auf, da ihm augenblicklich keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Regine: Oh, ich werde Ihnen etwas sagen: Jeder Mensch kommt auf die Welt mit Kräften für die unerhörtesten Erlebnisse. Die Gesetze binden ihn nicht. Aber dann läßt ihn das Leben immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen, und immer fühlt er: eine ist nicht darunter; immer eine, die unerfundene dritte Möglichkeit. Und man tut alles, was man will, und hat nie getan, was man gewollt hat. Schließlich wird man talentlos.

Fräulein Mertens: Darf ich noch einmal den Brief sehn? Es ist ja doch sicher nur dieser Brief.

Regine gibt ihr ihn; währenddessen zu Thomas: Josef wird – hierherkommen.

Fräulein Mertens: Was sagen Sie?! Wirklich?

Regine: Bei Josef ist alles wirklich.

Thomas sehr – aber anscheinend nicht unangenehm – erstaunt: Wann?

Regine: Heute.

Thomas sieht nach der Uhr: Dann ist er womöglich noch vor Mittag hier? Atmet tief auf. Das – geht rasch.

Fräulein Mertens: Ich bin überzeugt, Exzellenz Josef verlangt nichts als Offenheit und ein wenig Entgegenkommen. Sie werden in ruhiger, – mit einer fühlbaren Spitze gegen Thomas – ihn nicht verletzender Aussprache Ihr Verlangen nach Scheidung begründen. Und wenn der letzte Rest von Unaufrichtigkeit diesem Mann gegenüber gefallen ist – den Sie in Wahrheit nie als Ihren Mann betrachtet haben – wird aller Spuk von selbst von Ihren Nerven weichen. Sie waren eine Heilige! Sie brauchen doch nicht die Erfindung, daß Sie Ihren Mann mit einem Toten betrogen haben! Sie stürzt sich mit Energie in den Brief. Thomas und Regine treten etwas beiseite.

Thomas: Ihr habt wieder von Johannes gesprochen?!

Regine: Sie glaubt, daß ich lüge.

Thomas: Sie versteht es nicht, sie nimmt es wirklich.

Regine: Es ist auch wirklich!

Thomas legt ihr den Arm um die Schulter und tippt ihr an die Stirn: Krählein, Krählein! Kleines, nasebohrendes Träumelinchen, das schon als Kind so beleidigt war, wenn es gelogen hatte oder Zucker gestohlen und von Mama Strafe bekam.

Regine: Es ist beinahe wirklich. Es ist wahrscheinlich viel wirklicher als –

Thomas läßt sie nicht ausreden: Du hast Unrecht: das ist das Ganze! Du hast unrecht; und es ist ja gleich, ob man es tut oder leidet. Er hat sich vor sie gesetzt und hält brüderlich unbedacht ihre Knie umschlungen. Ich habe jetzt auch immer unrecht. Aber je mehr man das fühlt, desto mehr übertreibt man. Man zieht sich die eigene Haut wie eine dunkle Kapuze mit ein paar Augen- und Atemöffnungen immer fester über den Kopf. Wir dürften jetzt die Geschwister sein, Regine.

Regine halb abwehrend: Wahrhaftig, fühllos wie ein Bruder bist du immer gewesen, mochte mit mir geschehn, was wollte.

Thomas: Ferngefühle, Regine; wie deine.

Regine macht sich los: Das gefällt mir; – mißmutig – aber was heißt es?

Thomas ihr nach, eindringlich: Nicht so prompt greifbar wie bei Anselm! Über den ganzen Umkreis verzweigt wie Wetterleuchten! Lieber scheinbar gefühllos. Er bemerkt, daß Fräulein Mertens nach beendetem Lesen sich mitteilen möchte. Zu ihr: Nun, was schreibt Josef? Ist Seine Exzellenz, der Beherrscher der Wissenschaft und ihrer Diener, auf uns sehr böse?

Regine: Er droht, daß er dich um Stellung und Zukunft bringen wird, wenn du uns nicht aus dem Haus weist.

Fräulein Mertens: Exzellenz Josef hat kein Recht dazu! Niemand kann etwas dagegen einwenden, daß Doktor Anselm Sie in das Haus Ihrer Frau Schwester und seines Freundes geleitet hat, wo Sie gemeinsam Ihre Kindheit verlebten. Er hat nur ein Recht auf Wahrheit. Wohlan, Sie werden ihm mit Wahrheit gegenübertreten; daß Sie die persönliche Überzeugung haben, nach der Scheidung Doktor Anselm zu heiraten, – wieder mit einer fühlbaren Spitze gegen Thomas – braucht man ihm ja wahrhaftig nicht zu sagen.

Regine: Josef läßt sich nicht umstimmen wie ein Klavier.

Fräulein Mertens: Die lange pflichttreue Entsagung, die Gerechtigkeit, die Liebe, alle humanen Empfindungen sind auf Ihrer Seite. Er ist ein Mensch. Vertrauen Sie dem, was zwischen allen Menschen gilt, und Sie werden es nicht vergeblich getan haben! Ich muß allerdings fürchten, daß das Herrn Doktor gewöhnlich klingt.

Thomas scheinheilig: Im Gegenteil, ich pflichte Ihnen bei. Wenn wir gleich so gehandelt hätten, hätten wir alles vermeiden können.

Fräulein Mertens warm aus sich heraustretend: Aber warum haben Sie so nicht immer gedacht??! Warum haben Sie dann jenen Brief geschrieben, in dem Sie sich darüber bloß lustig machten und Exzellenz Josef reizten, was ersichtlich die Ursache dieser Antwort ist?!

Thomas: Weil ich ein Idealist war.

Fräulein Mertens: Verzeihen Sie, Herr Doktor, ich wage nicht zu bezweifeln, daß Sie ein Idealist sind – ein Gelehrter mit Ihrer Leistung muß es sein. Aber jeder Mensch ist gut und für edle Empfindungen zu gewinnen, auch Exzellenz Josef, und ich habe mir vorgestellt, ein Idealist müßte das tun, müßte es zu tun versuchen; ich habe mir unter –, ich habe mir einen Idealisten vorgestellt – – mit einem Wort: mit Idealen!

Thomas sie auslachend: Aber liebes Fräulein Mertens, Ideale sind die ärgsten Feinde des Idealismus! Ideale sind toter Idealismus. Verwesungsrückstände – –

Fräulein Mertens: Oh, oh! Jetzt brauche ich nichts mehr zu hören; ich sehe, Sie machen sich doch wieder auch über mich nur lustig! Sie hat schon vorher an der Tür gepocht und auf die Antwort gehorcht. Jetzt mit gekränkt beherrschter Miene ab.

Thomas er ist mit einem Schlag verändert: Du bist der einzige Mensch hier, mit dem ich sprechen kann, ohne daß er es mir mißdeutet: Sag' mir, was ist zwischen dir und Anselm nicht in Ordnung?

Regine widerspenstig: Warum nicht in Ordnung?

Thomas: Ihr wißt beide, daß mit euch etwas nicht in Ordnung ist. Hast du kein Vertrauen mehr zu mir?

Regine: Nein.

Thomas: Recht hast du! ... Wir glaubten einmal neue Menschen zu sein! Und was ist daraus geworden?! Er packt sie an den Schultern und schüttelt sie. Regine! Wie lächerlich, was ist daraus geworden?!

Regine: Ich habe keine Weltordnungspläne gemacht. Das wart ihr!

Thomas: Ja, gut. Anselm und Johannes und ich. Von der Erinnerung noch immer bewegt. Es gab nichts, das wir ohne Vorbehalt hätten gelten lassen; kein Gefühl, kein Gesetz, keine Größe. Alles war wieder allem verwandt und darein verwandelbar; Abgründe zwischen Gegensätzen warfen wir zu und zwischen Verwachsenem rissen wir sie auf. Das Menschliche lag in seiner ganzen, ungeheuren, unausgenützten, ewigen Erschaffungsmöglichkeit in uns!

Regine: Ich habe immer gewußt, es wird schon irgendwie falsch sein, was man denkt.

Thomas: Ja, gut. Die Gedanken, welche schlaflos vor Glück machen, die dich treiben, daß du tagelang vor dem Wind läufst wie ein Boot, müssen immer etwas falsch sein.

Regine: Ich habe währenddessen Gott gebeten um etwas ganz besonders Schönes für mich allein, das ihr euch gar nicht ausdenken könnt!

Thomas: Und was ist daraus geworden?

Regine: Was willst du sagen! Du hast alles erreicht, was du gewollt hast!

Thomas: Hast du keine Ahnung, wie leicht das geht? Erst etwas langsam, aber dann: der beschleunigte Fall nach aufwärts! Auf der schiefen Ebene geht es ebenso leicht hinauf wie hinunter. – In einem halben Jahr bin ich Ordinarius, wenn ich mich mit Josef nicht rechtzeitig überwerfe. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts so Beschämendes kennen gelernt wie den Erfolg. Nun kurz: Was steckt hinter Johannes?!

Regine: Ihr alle könnt sprechen und euch damit helfen. Ich will nicht. Bei mir ist etwas nur so lange wahr, als ich schweige.

Thomas: Man weiß nicht einmal, ist es schon Hochzeits- oder erst Verlobungsreise, und ihr lädt euch einen Toten dazu ein!

Regine: Ich will nicht über Johannes sprechen!!

Thomas: Aber du hast ihn doch niemals so – über alle Grenzen gemocht!? Und heute? Heute ist er selbst zum Ideal vorgerückt! – Anselm verbindet eine bestimmte Absicht mit dieser Geschichte: Welche?!

Regine: Anselm verbindet mit allem, was er tut, eine bestimmte Absicht.

Thomas: Nicht wahr?! Anfangs war es nicht so? Aber jetzt, wenn Maria zuhört, wird er einfach unerträglich. Alles, was er dann treibt, ist irgendein seelischer Betrug!?

Regine ruhig: Ja, das ist es.

Thomas sieht sie fassungslos an. Dann erzwungen trocken: Gut. Aber welchen Sinn hat das?

Regine: Du wirst sogar sehn, er zieht sich zurück, wenn Josef da ist. Er wird darauf beharren, daß wir nur bei euch sind, weil Johannes hier starb.

Thomas: Wir werden ja sehn, ob er es so auf die Spitze treibt.

Regine: Er hat niemals gewollt, daß es so weit kommt.

Thomas: Aber was hätte er denn wollen!?

Regine mit einem Unterton von Verachtung, den Thomas nicht bemerkt: Ich habe ihn ja verführt!

Thomas: Du ihn!? Du bist doch, weiß Gott, nie einem Menschen nachgerannt! Du hast doch Josef genommen, wie man den Schleier nimmt!

Regine: Er war ergriffen über alles Maß, als wir uns so wiedergefunden hatten.

Thomas hastiger, als er will: War es ihm schlecht gegangen?

Regine: Es wird ihm immer schlecht gehn. Wenn er an einen Menschen nicht herankann, so ist er wie ein Kind, das die Mutter verloren hat.

Thomas: Ja, ja, ja ...: Brudergefühle für alle Welt. Aller Welt Liebkind. Das ist ja doch auch, was er Maria vormacht.

Regine es liegt etwas leidenschaftlich Warnendes darin, das sie selbst nicht will: Er wird von dem andren Menschen befallen wie von einer Krankheit! Er verliert völlig die Herrschaft über sich an ihn; er muß sofort einen Widerstand dazwischen aufrichten!

Thomas: Was – Widerstand?

Regine: Das verstehst du nicht. Ich kann es nicht sagen. Einen Widerstand. Ein häßliches Gefühl. Das Ausholen zu etwas Bösem.

Thomas: Du behauptest wenigstens von dem Unsinnigen ganz einfach: es ist; so warst du immer; je mehr du gefühlt hast, daß man dir nicht glauben kann, desto wahrer ist es für dich gewesen. Aber er sagt gar nicht; es ist; nur – eine empfindsame Ausdrucksweise nachäffend –: Es könnte ja sein ... Für ein Übermaß von Gefühl. Er läßt ungewöhnliche Erlebnisse durchblicken. Er umgibt sich und sein Leben mit Geheimnis. Regine: Hat er etwas zu verheimlichen?

Regine kommt nahe zu ihm; eindringlich: Er wird zusammenbrechen und etwas Verzweifeltes tun, wenn du ihn störst! Wenn du ihn auch nur zum geringsten zwingst, das nicht zu der Haltung paßt, die er Maria vormacht!

Thomas: Aber du glaubst doch nicht, daß das echt ist?!

Regine: Natürlich ist es falsch.

Thomas: Also? ... So sprich doch!

Regine: Aber doch ist es echt. In einem Ausbruch von Verzweiflung. Hast du denn niemals falsch singen hören mit echtem Gefühl?! Warum soll nicht jemand mit falschen Gefühlen echt fühlen?! Bau' nicht darauf, daß er sich das dir zum Trotz nur einredet! Glaub' nur, daß man sich für ein Gefühl töten kann, das man nicht ernst nimmt!! Man nimmt doch auch etwas nicht ernst und lebt es; wie wir alle.

Thomas eigensinnig: Wir werden ja sehn, was daran ist, wenn Josef kommt. Dann verändert. Aber Regine, trotz allem: ich werde immer glauben, daß wir einander alle so nahe sind wie die zwei Seiten eines Kartenblatts.

Regine leidenschaftlich, in einem Gemisch von Angst, Spott und Warnung: Opfre dich nicht! Treib uns fort! Du bist viel zu stark, um Schwache zu verstehn. Du bist zu – hell, um Unehrliche zu durchschaun.

Thomas: Und er? Aber er ja auch! Regine, er kann ja nicht lügen! Er kann nur – Maria und Fräulein Mertens treten ein und warten, Maria den Brief in der Hand – in einer ... mehr verwickelten Weise wahr sein. Von irgendwo an hätte in ihm wie in jedem geistigen Wesen Wahrhaftigkeit nicht mehr die Lüge zum Gegensatz, sondern die Armut!

Regine verhärtet: Ja, vielleicht hast du recht; man soll es lassen, wie er will.

Maria sanft und langsam: Ich meine, wir müssen doch daran denken, einige Vorbereitungen zu treffen wegen Josef.

Thomas aus seinen Gedanken gerissen, dann mit etwas Spott in der Stimme: Ja natürlich, Josef, wir müssen Vorkehrungen treffen.

Maria: Er kann jeden Augenblick hier sein. Hast du denn seinen Brief nicht gelesen?

Thomas: Nein; ich habe vergessen. Er wendet sich zu Regine.

Maria: Ich habe ihn ja. Er schreibt, daß er kommt, um mit dir zu sprechen. Daß du Anselm und Regine gemeinsam beherbergst, nennt er Beschützung einer Entführung und eines Ehebruchs –

Fräulein Mertens zu Maria: Nein, von Ehebruch soll nicht die Rede sein, ich bin Zeuge.

Maria: – Und wenn du der unklaren Situation in deinem Hause kein Ende bereitest, so wird er die Konsequenzen daraus ziehn.

Fräulein Mertens: Ich bin Zeuge, daß etwas – so Primitives bei einer Frau, deren Gewissen schon verlangt, einem Toten die Treue zu wahren, und bei einem Mann, der sich mit so unsagbarem Zartgefühl einer Leidenden annimmt, gar nicht in Betracht kommt.

Maria: Ja, ja; aber Thomas hat ihm nun einmal diese Waffe förmlich in die Hand gedrückt. Zu Thomas. Er glaubt, daß du bei persönlicher Aussprache als ein Mann ruhiger Überlegung, wie er sagt, einsehen wirst –

Thomas: Gehn wir zum Beispiel doch einfach alle weg; machen wir einen Ausflug.

Maria: Aber abends müßten wir dann doch wieder zurück sein und er würde warten.

Regine: Kann er dir wirklich schaden?

Thomas: Das kann er natürlich.

Regine mit der Befriedigung, die man über die Vollendung auch von etwas Unangenehmen hat: Dann tut er es; du darfst ihn nicht unterschätzen. Solange die Sache außen zusammenhielt, hat er alle Launen, allen Abscheu, Szenen wie ein Lamm ertragen. Er hatte wohl von Glück immer die Vorstellung, daß es eine Anstrengung sei. Und wenn es sich strapaziös erweist – gut; das kann schon so sein, das versteht er nicht; im Gegenteil, das ist ein gewisser Ernst. Aber gegen das geringste öffentliche Ärgernis wird er sich verzweifelt wehren!

Maria: Er nennt sie jetzt schon eine Potiphar.

Fräulein Mertens: Eine Märtyrerin der feineren Organisation!

Regine: Aber auch von Anselm behauptet er –

Maria: Da widerspricht er sich aber selbst, denn gleichzeitig argwöhnt er doch, nicht wahr, Ehebruch?

Regine: Von Anselm behauptet er, daß er ein gezwungenermaßen keuscher – sie reißt Maria den Brief weg.

Thomas: Aoh?

Maria: Regine, du bist unzart!

Regine: Aber das sind ja doch seine Worte! Daß er ein gezwungenermaßen keuscher Lüstling sei.

Thomas: Aber das ist ja interessant. Er nimmt Regine den Brief aus der Hand. Warum sagt ihr das nicht gleich?

Maria: Lüstern steht nicht in dem Brief; er sagt nur, daß sie sich gegenseitig verführt haben und verwirrt.

Regine: Und ein Schwindler!

Thomas: Ein Schwindler? ... Er sucht die Stelle.

Regine: Auf der dritten Seite.

Thomas: Ein liebeunfähiger Schwindler. Ein Vampir. Abenteurer. Was bringt ihn auf diese Ideen?

Regine zuckt koboldig die Achseln: ... Nichts ...

Maria: Man darf es ihm vielleicht nicht so übelnehmen. Gewiß erniedrigt ihn Eifersucht und er verleumdet, weil er fühlt, wie sehr ihm Anselm überlegen ist.

Thomas: Ja, aber das ist fast visionär ...! Schließlich ist Anselm bald Mitte Dreißig, und was hat er geleistet?

Maria: Ich denke, er war doch Privatdozent wie du.

Thomas: Ein Jahr lang und vor acht Jahren! Dann hat er die Dozentur niedergelegt und war verschollen. Und merkwürdigerweise hat eine gewisse scheinbare Wahrscheinlichkeit, was Josef schreibt. Er sucht boshaft noch einmal die Stellen in dem Brief. Er hat sich unter der Maske einer Durchschnittsgesinnung bei Josef eingeführt; als teilnehmender Freund; mit Sympathiegefühlen für alle Welt; als bescheidener Idealist ... Wir wissen aber doch, wie er früher war: Was ist Anselm nun in Wahrheit geworden?

Maria: Du bist taktlos!

Thomas: Aber Fräulein Mertens verehrt Anselm doch so, daß sie das gar nicht hört.

Maria: Er ist ein bedeutender Mensch!

Thomas anzüglich: O gewiß. Wahrscheinlich. Er hat Ideen! Natürlich. Aber – hat er Ideen? Wirkliche? Nicht nur so wie heute jeder Zweite? Das läßt sich gar nicht so leicht entscheiden. Nachdenken parodierend. Hat er große Gefühle? Aber eine Leidenschaft, mag sie sein, wie sie will, wird so groß, wie es der Mensch ist, dessen sie sich bemächtigt.

Fräulein Mertens: Er hätte sich beinahe getötet, als das Gelingen der Abreise bedroht zu sein schien!

Thomas: In der Tat? Hätte sich? Und beinahe? Es kommt eben auf die Verwandlungsfähigkeit des Gefühls an; ein abgerissener Strick war die Nabelschnur vieler großen Werke und nur ein dummer Mensch hängt sich einfach wirklich auf.

Regine: Aber ein Schwindler?

Thomas: Gerade darin ist es ja visionär; auch ein Schwindler hängt sich nur beinahe auf; den ersten Schritt haben großer Mensch und Schwindler eben gemeinsam.

Fräulein Mertens: Oh, ich fürchte sehr, daß Sie mit solchen Reflexionen nur Ihrer Eingenommenheit gegen Doktor Anselm Ausdruck geben.

Thomas: Sie irren, Fräulein Mertens; schlecht wie ich bin, habe ich nie im Leben einen Freund zu haben verdient – und das war Anselm.

Maria abschließend: Anselm ist gewiß auch ein bedeutender Mensch; man muß wirklich nicht gleich so unnötige Vergleiche wählen. Du hast damit schon in deinem Brief alles heraufbeschworen.

Fräulein Mertens: Exzellenz Josef beruft sich nun auf Ihre eigenen Worte!

Maria: Und hast ihm eingegeben, daß sie vor ihm geflohen sind.

Thomas: Unbestimmte Menschen vor dem bestimmten!

Maria: Gut, Thomas, ich will nicht rechten; aber längstens in drei Stunden ist Josef da und verlangt eine Entscheidung. Was soll geschehn?

Thomas: Nichts.

Maria: Nichts?

Fräulein Mertens gleichzeitig: Nichts!

Thomas: Es wird sich schon zeigen. Anselm und Regine bleiben natürlich.

Maria: Also wirst du mit Josef sprechen? Denn Anselm weigert sich, es zu tun.

Thomas betroffen: Anselm weigert sich ...? – fast schreiend – Er weigert sich! Er sieht Regine an, die sich mit Fräulein Mertens zu gehen anschickt.

Regine spöttisch: Er hat Widerstände!

Maria im Begriff, sich wieder ins Schlafzimmer zurückzuziehn: Weil du diesen Brief geschrieben hast.

Thomas: So werde ich Josef mit einem Fest empfangen!

Maria, Fräulein Mertens, Regine noch einmal festgehalten: Mit einem Fest?..?!..?

Thomas grimmig: Mit einem Fest, zum Teufel, das ihn erst recht in die Laune bringen soll. Was es an leer gewordenen Kokons gibt, aus denen je der Schmetterling der menschlichen Verzückung emporgetaumelt ist, hänge ich rings um ihn auf! Negertanztrommeln, Gefäße für den göttlichen Urinrausch, Federtalare, in denen das Männchen vor dem Weibchen tanzt!

Maria in der Tür: Aber der Mann ist ja wütend. Er ist sicher entschlossen, dich fallen zu lassen, wenn du dich weiter unklug aufführst!

Ab. Thomas sieht hinter Regine drein, macht einige Schritte ihr nach; da sie aber langsam, ohne es zu bemerken, mit Fräulein Mertens dem Ausgang zuschreitet, kehrt er um und folgt unwillig Maria.

Fräulein Mertens an der Tür stehen bleibend: Sie sind im Recht, Sie dürfen sich durch nichts ins Unrecht setzen lassen. Verhindern Sie dieses Fest!

Regine: Thomas ist nicht zu hindern, wenn er sich etwas in den Kopf setzt.

Fräulein Mertens: Dann lassen Sie uns weiter fliehn!

Regine: Thomas hat seine ganze Existenz für Anselm eingesetzt.

Fräulein Mertens: Und ist dieser wunderbare Mensch nicht viel mehr wert?! Aber Doktor Thomas wird Ihre Sache verderben. Ich beschwöre Sie, entziehen Sie sich seinem Einfluß; reisen wir mit Anselm weiter!

Regine: Anselm will nicht abreisen.

Fräulein Mertens: Ich verstehe; ein Ehrenmann; will nicht fliehn. So wird er selbst mit Exzellenz Josef sprechen; er hat ja in so bezauberndem Maße die Gabe der Rede.

Regine: Wozu? Es ist ja ausgeschlossen, daß ich Anselm heirate.

Fräulein Mertens: Aber wie mutlos! Merken Sie denn nicht, daß Doktor Anselm sich bloß deshalb geweigert hat, mit Exzellenz Josef zu sprechen, weil er durch Ihren Vetter Thomas verletzt ist? Doktor Thomas durchkältet alles mit seinen theoretischen Überlegungen.

Regine geheimnisvoll: Aber Liebe, merken Sie denn nichts? Merken Sie denn gar nichts?

Fräulein Mertens: Was sollte ich merken?

Regine: St! Leise! Sie beugt sich vorsichtig aus dem Fenster, um nachzusehn, ob Anselm nicht horcht. Oh, man ist nie sicher vor ihm ..: Merken Sie denn nicht, daß Anselm Maria liebt?

Fräulein Mertens: Aber das ist ja Verbrechen, was Sie sagen! Ihre Frau Schwester! Die Frau seines einzigen Freundes! Nein, nein, – faßt sie am Arm – Regine! Ach, diese dummen, dummen Einbildungen, so klug Sie sonst sind!

Regine: Aber warum nicht? Was wäre dabei?

Fräulein Mertens: Was wäre dabei?! Sprechen Sie nicht so abscheulich!

Regine: Sie überschätzen das rasend: Vor ihm steht ein neuer Mensch: er ist neugierig; vielleicht ... ergriffen. Aber was sage ich ein neuer Mensch? Zufällig hat nicht er, sondern Thomas Maria geheiratet.

Fräulein Mertens die Entrüstung fallen lassend: Ich dachte, fast zufällig hätten Sie damals Johannes und nicht ihn geheiratet?

Regine: Oder nicht Thomas, das war bei uns fast alles eins. Nun sieht er in seinem eigenen Anzug, den er weggegeben hat, einen andren Menschen gehn: das ist geheimnisvoll. Das ist doch überhaupt nicht so eine dumme Geschichte, die mit einem Weib anfängt, sondern das fängt bei ihm irgendwo an und tobt sich nur bei einer Frau aus! – Ja! Doch! – Liebe ist gar nie Liebe! Ein körperlich Antreffen von Phantasien ist es! Ein Phantastischwerden von – wie ihre Augen, nach einem Vergleich suchend, wandern – Stühlen ... Vorhängen ... Bäumen ... Mit einem Menschen als Mittelpunkt!

Fräulein Mertens: Oh, kommen Sie, kommen Sie! Um Doktor Thomas herrscht eine Atmosphäre, die Ihnen schlecht tut. Wir wollen vor dem Frühstück noch ein wenig ins Freie. Sie zieht die unlustig Widerstrebende mit sich. In der Nähe der Ausgangstür – das Gespräch hatte sie wieder ins Zimmer zurückgeführt – noch einmal stehenbleibend. Und Frau Maria?

Regine: Meine Schwester ist eine dicke dumme Katze, die einen Buckel macht, wenn man sie kraut.

Ab. In der Tür lassen sie ein Hausmädchen an sich vorbei, das ein Frühstücksbrett abstellt, an der Schlafzimmertür pocht und wieder das Zimmer verläßt, während Thomas und Maria eintreten.

Thomas am Fenster tief Atem schöpfend: Ich wachte auf, wollte mit dir sprechen, machte Licht: da lagst du mit offenem Mund, weggesunken ...

Maria: Du bist abscheulich; warum hast du mich nicht geweckt?

Beide beginnen ihre Toilette zu vollenden.

Thomas: Ja, warum? Weil ich mich beinahe aufgekniet hätte wie ein Einsiedler! So häßlich und stumm lag dein großer Körper da. Er rührte mich so.

Maria: Ich darf nicht einmal mehr ruhig schlafen.

Thomas: Wenn man nie allein ist –

Maria: Und jahrelang verheiratet ist: ja, ja ja! Ich halte das wirklich nicht mehr aus!

Thomas: Wenn man solang verheiratet ist und immer auf vier Füßen geht und immer Doppelatemzüge macht und jede Gedankenstrecke zweimal geht und die Zeit zwischen den Hauptsachen doppelt voll mit Nebensachen geräumt ist: Da sehnt man sich natürlich manchmal wie ein Pfeil nach einem ganz luftdünnen Raum. Und fährt auf in der Nacht, erschreckt von den eignen Atemzügen, die eben noch so gleichmäßig dahingegangen waren ohne einen selbst. Aber hebt sich nicht los. Kniet sich nicht einmal wirklich auf. Sondern reibt ein Zündholz an. Und da liegt noch so einer in Fleisch gewickelt. Das erst ist Liebe.

Maria hält sich die Ohren zu: Ich kann das nicht mehr hören.

Thomas: Empfindest du denn niemals Haß gegen mich?

Maria läßt sofort die Hände wieder sinken: Ich? Haß?

Thomas: Ja, geradezu Haß. Ich würde glauben, heute morgen. Du gingst bloßfüßig mit deinem ganzen Gewicht und ich stand da, klein und schmerzend in der Öffnung des Raums und meine Bartstoppeln ragten scharf brüchig in die Passage. Hast du mich da nicht gehaßt wie ein Messer, das dir immerzu im Weg liegt?

Maria schmerzlich ruhig und überzeugt: Das ist das Ende der Liebe.

Thomas jubelnd: Nein! Der wahre Anfang! So versteh doch: Liebe ist das einzige, was es zwischen Mann und Frau überhaupt nicht gibt! Als einen eigenen Zustand. Das wirkliche Erlebnis ist einfach: ein Erwachen. Lebhaft. Ich habe dich neben mir aufwachsen gesehn: brüderlich, aber natürlich nicht ganz mit der Teilnahme wie für mich selbst. Dann habe ich dich, verzeih den Ausdruck, – er deutet mit einer spöttischen Gebärde ihre Hoheit an – immer weiter wachsen gesehn. Über mich hinaus. Und einmal passiertest du den Augenblick, da erschienst du mir so übergroß und unermeßlich wie die Welt. Das war der Blitzschlag, der Rausch. Alles, was mich umspannte, Wolken, Menschen, Pläne, war noch einmal von dir umspannt, so wie man den Herzschlag des Kindes unter dem der Mutter hört. Das Wunder der Öffnung und Vereinigung hatte sich vollzogen. Abschwächend. Oder wie immer diese Terminologie es ausdrückt.

Maria: Und heute ist es, wie wenn wir im Rinnstein geträumt hätten.

Thomas: Wenn du willst, ja. Wir erwachen noch einmal und liegen im Rinnstein. Fettmassen, Skelette; eingenäht in einen gefühlsundurchlässigen Ledersack von Haut. Die Ekstase verraucht. Aber es wird das sein, was wir daraus machen. Die wahre menschliche Herbheit liegt erst darin, alles andre ist ja doch eine verkleinernde Übertreibung.

Maria: Ich wollte nichts als deinen Erfolg. Wenn du, müde von zuviel Arbeit, erst um zwei Uhr, drei Uhr morgens ins Schlafzimmer kamst, mürrisch wie ein Kind, verstand ich dich. Was du getan hast, wußte ich nicht, aber es war mein Glück, mein Wert als Mensch; ich konnte sicher sein, dieses Unbekannte war ich. Aber jetzt ist es anders. Du hast dich losgemacht von mir.

Thomas: Weil ich nicht sehen kann, wie du in die Honigfalle kriechst!

Maria: Wie du sprichst!

Thomas: Er umschmeichelt dich. Weil er eitel ist und sich nicht versagen kann, von dir dankbar bewundert zu werden.

Maria: Seine Übertreibungen sind mir oft geradezu unheimlich.

Thomas: Aber du läßt dich von diesem widrig süßen Zeug beeinflussen.

Maria: Ich bin keine solche Gans, die immer nur »Liebe«, »Liebe« schnattert! Aber glaubst du nicht, daß auch ich manchmal das Gefühl habe, man sollte Besseres mit sich anfangen als dieses eingelebte Leben?!

Thomas: Seit Anselm hier ist. Er hindert dich, mich zu verstehn.

Maria sich zusammennehmend, geht zu ihm: Aber du, du selbst hast von ihm geschwärmt, bevor er kam; und noch, als er da war! Du hast gesagt, er hat, was uns fehlt!

Thomas: Und was ist das?

Maria: Frag doch nicht; mir hat nichts gefehlt. Aber jetzt, nur weil dir etwas durch den Kopf gefahren ist, willst du ihn durchaus wieder schlecht machen; rein als Kraftprobe, so bist du eben.

Thomas: Sag' es nur, wie ich bin.

Maria: Ohne lebendige Anteilnahme an einem andren bist du. All das kommt dir gar nicht aus dem Herzen – das ist das Entmutigende!

Thomas: Sondern aus dem Kopf?

Maria aufgeregt: Aber ich kann dieses ewige »tätig sein« und Spielen mit der ganzen Existenz wirklich nicht mehr aushalten! Ist denn nichts wert, anerkannt und in Ruhe gelassen zu werden?!

Thomas: Da wiederholst du eben nur – Aber ich kann dir jetzt nicht antworten, Seine Heiligkeit ist da! Anselm, bis zur Brust sichtbar, ist in der Fensteröffnung aufgetaucht.

Anselm: Wie haben Sie heute geschlafen?

Maria unfreundlich: Wie zeremoniös Sie fragen!

Anselm: Sie müssen wie die Erde selbst schlafen.

Maria: So fest oder immer nur auf einem Auge, meinen Sie?

Anselm: Ich denke mir, daß ein Kranz grüner Berge um Sie wächst, wenn Sie ruhig liegen.

Es entsteht eine kleine Verlegenheitspause.

Maria: Thomas hat mich gestört, er war schrecklich unruhig heute. Sie wird verlegen. Nein – daß heißt – – nun warum soll man so etwas denn schließlich nicht sagen?!

Anselm ironisch: Aber natürlich, warum nicht ...? Was ist, soll man sagen!

Thomas: Und was denkst du wegen Josef?

Maria: Regine wird ihm doch noch gar nicht den Brief gezeigt haben.

Anselm: Nein. Ich habe Regine noch nicht gesprochen.

Thomas: Sie kann nicht weit sein. Es hat sie sehr aufgeregt.

Maria da Anselm zögernd Miene macht, sich zurückzuziehen: Nein, da. Ich habe ja den Brief. Erst müssen Sie natürlich lesen. Sie gibt Anselm den Brief. Thomas bleibt bei offener Tür eine Weile im Schlafzimmer. Anselm hört sofort auf zu lesen und starrt Maria an.

Maria: So lesen Sie doch.

Anselm klettert durchs Fenster ins Zimmer.

Anselm: Haben Sie nie geträumt, daß ein Mensch, den Sie zärtlich bis ins Letzte kannten, Ihnen im Traum als fremder andrer entgegentrat, bis in die kleinste Gebärde marternd vermengt aus Verlangen und Besitz?

Maria: Was dann geschieht, ist unruhig wie ein Haufen Laub, unter dem etwas versteckt ist, das in jedem Augenblick aufspringen kann?

Anselm: Nun gut, Maria; ich war früher Ihr Freund, als Sie das Mädchen Maria waren, und nun leben Sie unter dem Namen Thomas' und ich kann nicht aufspringen.

Maria: Aber Sie betrachten sich ja fortwährend im Spiegel dabei!

Anselm ertappt: Glauben Sie denn, daß ich mich sehe? Gott ja, so einen Fleck im Spiegel. Augen sind Hände, die man lebenslang nicht wäscht; so behalten sie die schmutzige Gewohnheit, alles anzurühren. Das kann man nicht hindern. Manchmal möchte ich sie mir ausglühen, damit sie, von allen Berührungen gereinigt, nur noch Ihr Bild bewahren.

Maria: Gott, Gott, Gott, Anselm!

Anselm: Ja, das finden Sie lächerlich; weil Sie es für eine Übertreibung halten, die der gute geistige Geschmack meidet. Auch so ein anmaßender Wächter. Wie blaß würde dieser durchgeistigte Geschmack, wenn die Augen plötzlich wirklich am glühenden Stahl naß aufzischen würden? Und triefend austropfen?!

Maria: Pfui! Wühlen Sie sich nicht wieder in diese ekelhaften Bilder hinein!

Anselm heftig: Unerbittlich würde ich ein Messer auch Ihnen im Herz umdrehn! Wenn ich Sie von der Schwelle nur noch einmal zurückholen könnte. Wo die Frauen ihr Korsett ablegen müssen. Die erborgte »Haltung«. Die Tragtierverständigkeit, auf die sie alles nehmen, Kinder und Kranke, Männer und den gedankenlosen Mord in der Küche.

Maria: Nun fangen Sie aber endlich zu lesen an! Wir haben wahrhaftig Dringenderes zu sprechen.

Anselm durch ihre Entschiedenheit besänftigt: Oh, es ist so herrlich, daß Sie mich nie überraschen können. Ich weiß alles voraus, was Sie tun werden. Als schmerzlich gespannte Knospe fühle ich es vorher in mir.

Maria: Natürlich, die paar Einfälle eines Hausverstandes sind leicht zu erraten!

Anselm: Ich will keine ungewöhnlichen Erlebnisse! Die täglichen Menschenerlebnisse sind die tiefsten, wenn man sie von der Gewohnheit befreit. Leise. Das ist es, was er nicht weiß. Und Sie kennen sich selbst nicht mehr. Sein Einfluß hat Sie verkleinert.

Maria: Ich habe Ihnen schon darauf geantwortet: Ich liebe Thomas.

Anselm: Ich frage nicht, ob Sie ihn lieben; darauf gibt es gar keine Antwort! ... Sich zusammennehmend. Entscheiden Sie, ob es das ist, was ich Ihnen jetzt erzählen werde. Ich wurde einmal von einer Weide –: ergriffen. Auf einer weiten Wiese und außer mir stand nur dieser Baum. Und ich konnte mich kaum aufrecht erhalten, denn was sich in diesen Ästen so einsam verzerrt und verknotet hatte, diesen gleichen schrecklichen Strom Lebens, fühlte ich in mir noch warm und weich und er wand sich. Da warf ich mich auf die Knie! Er wartet vergeblich einen Augenblick auf die Wirkung. Das ist das ganze Erlebnis. Auch Ihnen gegenüber.

Maria: Anselm ... solche Übertreibungen haben wenig Wert. Sie haben das empfunden; aber nicht einmal hingeworfen haben Sie sich wirklich.

Anselm: Nein? ...! Thomas hat wahrhaftig alle Tiefe in Ihnen zerstört.

Maria: Sie benehmen sich häßlich gegen mich und Regine.

Anselm: Wer, wie Sie, nicht mehr hingeworfen wird, sollte nicht tadeln! Ich habe alles, was ich im Leben hätte erreichen können, immer wieder preisgeben müssen. Weil man stolpert, wenn man glaubt. Aber weil man nur so lange lebt, als man glaubt!!

Maria ängstlich und unruhig: Lesen Sie; Thomas will doch mit Ihnen sprechen.

Anselm: Ich werde Ihnen lieber noch ein Beispiel erzählen: Als ich Mönch war –

Maria: Wie? Sie waren Mönch?

Anselm: Still!! Das darf Thomas unter keinen Umständen wissen!

Maria: Aber Anselm, jetzt erzählen Sie mir eine Unwahrheit.

Anselm: Ihnen werde ich nie eine Unwahrheit erzählen. In Kleinasien war es, am Berg Akusios. Durch ein kleines, ohne Glas in die Mauer geschnittenes Fenster sah ich von meiner Zelle das Meer –

Maria abwehrend: Lesen Sie! Lesen Sie!

Anselm will nicht, aber man hört Thomas sich nähern und Anselm sieht in den Brief.

Maria: Was Sie alles in der Zeit getan haben mögen, während wir hier gesessen sind.

Sie nimmt ihre Beschäftigung wieder auf. Thomas tritt ein.

Thomas: Du bist noch nicht zu Ende?

Maria: Lesen Sie nur nochmals. Anselm sucht ihren Blick festzuhalten, um das in dieser kleinen Hilfe liegende Einverständnis zu vertiefen, sie weicht aber seinem Auge aus. Anselm zuckt mißmutig die Achseln, dann überfliegt er den Brief. Thomas will Josef mit einem Fest empfangen, um ihn noch mehr zu reizen. Aber ich will nicht, daß wir uns so betragen. Josef ist unser Nahverwandter, das muß sich finden!

Thomas in seinem scheinbar spielenden Ton: Ich möchte Anselm hören!

Er setzt sich und sieht Anselm zu. Es tritt eine gespannte Pause ein. Anselm, steigend dadurch beunruhigt, sieht endlich langsam auf; in der Tiefe der Augen fest sich an einen Vorsatz haltend.

Anselm: Dein Brief hat alles verdorben.

Thomas: Also mein Brief. – Aber du warst doch einverstanden mit ihm?

Maria: So muß Thomas eben versuchen, es wieder gutzumachen!

Anselm: Nein, Thomas darf nicht mit Josef sprechen; das lasse ich nicht zu!

Thomas lauernd: So sprichst – eben du selbst mit ihm?

Anselm den Brief hinwerfend: Ich kann nicht.

Thomas: In der Tat. Du kannst nicht? Er sieht prüfend Maria an.

Maria: Ja, wollen Sie im Ernst auf sich sitzen lassen, was Josef Ihnen vorwirft?!

Anselm: Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll. Ist nicht der Sinn, ich sei ein Betrüger?

Thomas: Ja.

Anselm: Und – – bin ich es denn nicht wirklich? Ist denn nicht jeder Mensch, der einen andren ergreifen – – verstehen Sie, um wieviel gewaltsamer als mit Armen! – – und überzeugen möchte, – stark – trotzdem niemand seiner Sache bis in den Mittelpunkt sicher sein kann! ... ein Betrüger?

Maria unwillig, während Thomas unwillkürlich ihren Eindruck prüft: Das ist überempfindlich!

Anselm unruhig werdend: Ich weiß selbst nicht, hatte ich den Wunsch, Regine zu retten oder Josef etwas anzutun. Man ist manchmal so groß und übermütig wie in einem Traum. Heute bereue ich es.

Maria gefesselt: Was bereuen Sie, Anselm? Sprechen Sie doch, solange es Zeit ist!

Anselm: Ich weiß nicht, was ich Josef erwidern soll; jedes Recht, das einer im Herzen fühlt, ist ungeheuer ansteckend. Lassen Sie mich.

Maria: So sprechen Sie doch.

Anselm: Man hat etwas getan; es ist unwiderruflich. Man hat einen andren wie ein Ungeziefer zerdrückt. Unter der Stiefelsohle. Aber mit einemmal steigt der Andere an. Wie in einem zweischenkligen Glas steht er nach einer Weile in uns ebenso hoch, wie er in sich steht, der andere Mensch! Er strömt in uns herüber und nagelt uns fest! Man muß nur nicht gering denken wollen, – wie bedroht – dann erschließt er sich, der andere Mensch!

Thomas der gespannt die Wirkung auf Maria beobachtet hat: Dann gibt es nur eins: Ohne allen Aufwand tun, was alle Welt täte, einen kleinen praktischen Druck auf Josef ausüben. Man nimmt einen Detektiv und einen guten Advokaten; ein schmerzempfindlicher Punkt wird sich auch bei Josef irgendwo finden lassen.

Maria entsetzt: Auf solche Mittel würdest du dich einlassen?!

Thomas: Josef hat mir einmal etwas anvertraut. Vor langem. Wir hätten einen Detektiv nur auf nähere Umstände loszulassen, und wenn Josefs Seele auch unschuldig war, – anzüglich – die Tatsachen lassen sich verknüpfen! Die Tatsachen geben gern den Seelen unrecht. Oder nicht, Anselm?

Maria: Aber das wäre ja eine Niederträchtigkeit! Josef hat dir zeitlebens nur Gutes erwiesen!

Thomas: Und ich ihm ja auch, wo ich nur konnte! Auch jetzt bin ich ihm ehrlich erkenntlich und könnte ihm ebensogern etwas Gutes antun, wenn die Gelegenheit anders wäre.

Maria: Du bist nicht wiederzuerkennen. Wenn du nicht immer ein anständiger Mensch warst, wüßte ich nicht wer.

Thomas: Wer? Anselm. Weil er den Detektiv ablehnen wird.

Maria: Thomas, das ist nur ein Ausbruch von Überreiztheit! Das ist nicht dein Ernst! Du beträgst dich ja wie ein Schuft!

Thomas: Anselm, was ist dabei? Darf ich nicht? Bin ich denn einer? Bin ich denn einer, daß ich nicht darf?

Anselm: Du weißt ja voraus, daß ich Marias Meinung bin! Du läßt dich zu etwas hinreißen, das du nicht verantworten kannst.

Thomas: Ein Detektiv wäre nichts als das Zeichen, wie wenig uns diese blöden Verwicklungen angehn, von denen er lebt. Wer unberührbar von ihnen ist, kann sich ihrer bedienen!

Maria: Thomas ist gleich so extrem!

Anselm mit höhnischer Bescheidenheit: Oh, er hat vielleicht recht. Wer einen Neuen Menschen in sich birgt, hat natürlich wenig Zartgefühl.

Thomas: Du könntest also nicht?

Maria: Thomas, wenn du das tun kannst, hast du wahrhaftig nicht ein bißchen menschliches Gefühl!

Thomas lächelnd, aber mit Mühe die Stimme zum Scherz zwingend: Anselm, sollte also einer von uns beiden in dieser Frage ein Schuft bleiben: du kannst es nicht sein! Er geht, um seine Beherrschung nicht zu verlieren, rasch ins Nebenzimmer; die Türe bleibt offen.

Anselm höhnisch: Reformatoren müssen wahrscheinlich gefühllos sein; wer die Welt um hundertachtzig Grad drehen will, darf nicht inniger als durch Gedanken mit ihr verflochten sein.

Maria: Aber Sie sind doch hergereist, gerade um mit ihm wieder beisammen zu sein!

Anselm: Und dann kommt eine Zeit, wo ich mich selbst verleugne. Wo ich mich losreißen muß – – wie eine Heuschrecke, die ihr gefangenes Bein in der Hand eines Stärkeren läßt.

Maria: Sie sind mir unverständlich.

Anselm lächelnd: Ich habe Angst.

Maria: Das sind schließlich doch nur Worte.

Anselm ernst: Ich habe wirklich Angst.

Maria: Worte!

Anselm: Vor jedem Menschen, den ich nicht bestechen kann, an mich zu glauben, dem ich mich nicht etwas geben fühle oder gar etwas nehme, fürchte ich mich.

Maria: Aber was wollen nun Sie?

Anselm: Ich kann es ja nicht mehr wissen! Thomas gestattet mir nicht, zu mir zu kommen!

Maria: Ich will, daß Sie sich mit Thomas aussprechen. Schließlich sind Sie doch ein Mann!

Anselm: Ich weiß nicht, wie Sie sich einen solchen vorstellen. Es ist kein Zeichen von Stärke, wenn man nie schwach wird. Ich kann nicht!

Maria: Am Ende fürchten Sie sich wirklich vor Josef? Am Ende sind Sie furchtsam?

Anselm: Ja. Wenn ich nicht empfinden mache und deshalb selbst nicht empfinden kann, bin ich grauenhaft furchtsam; jenseitig furchtsam.

Maria spöttisch: Und wenn Sie empfinden?

Anselm: Löschen Sie Ihre Zigarette an meiner Hand aus.

Maria: Das würde Ihnen weher tun, als ein so empfindlicher Mann vertragen kann.

Anselm: Wenn man es langsam macht, tut es weh. Er faßt ihre Hand am Gelenk.

Maria: Aber was fällt Ihnen ein?! Sie kämpfen. Lassen Sie los! Sie werden ja doch im letzten Augenblick loslassen ... Machen Sie kein solches Gesicht! Ich bin nicht furchtsam ... Nein, Sie sind nicht so stark. Nein, nein, genug für einen Scherz!

Anselm während des Ringens: Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich gutmütig bin. Oder feig aus Herzschwäche. Er preßt, Marias Widerstand brechend, die glühende Spitze ihrer Zigarette samt der Hand gegen seine Handfläche. Sein Ausdruck ist fanatisch und fast sinnlich verzückt, der Marias ärgerlich bestürzt.

Anselm nachher, mit einem Versuch zu scherzen: Sie sehen, wenn es sein muß, ich springe ins Feuer.

Maria: Wie kann man so sein!

Anselm einige Glutteilchen langsam von Händen und Kleidern abklopfend: Ja, wie kann man so sein?! Ich bin kein gutmütiger Geist.

Thomas jetzt vollständig angekleidet, kehrt aus dem Schlafzimmer zurück und erkennt, daß etwas vorgefallen ist: Was war? Es war etwas zwischen euch?

Schweigen.

Thomas: Ich darf es wohl nicht wissen?

Maria trotzig gegen beide: Ich verstehe nicht, wie ihr aus dieser Lage nicht herausfinden könnt.

Thomas: Aber mit dem Detektiv bleibt es bei gemeinsamer Ablehnung?

Maria zuckt die Achseln.

Thomas: Oh, ich habe es mir gedacht. Er steht einen Augenblick lang ohnmächtig vor den beiden, will fortgehn, kehrt aber wieder um. Sieht Anselm an. Und brauche dich doch nur anzusehn und weiß: das bist du nicht! Anselm, wir saßen wieder beisammen wie vor Jahren, halbe Nächte durch, ohne die Zeit zu fühlen. Und du hast mir zugestimmt. Du hast auch dem Detektiv zugestimmt!!

Es tritt unwillkürlich eine kleine peinliche Pause ein.

Maria als wunderte sie sich, das nicht gleich gesagt zu haben: Aber man kann seine Meinung doch auch ändern.

Anselm: Er hatte mich überfallen und überredet! Mit unverhülltem Widerwillen. Aber ich kann eine Welt voll Verurteilung und Geringschätzung nicht dauernd ertragen!

Thomas: Soll ich sagen, was du dahinter versteckst? Wie einer, der einen fehlenden Finger verbirgt? Dein Leben war doch ein Mißerfolg? Wie könnte es auch anders sein!

Anselm heftig und höhnisch zu Maria: Er lebte immer in seinen Gedanken. Unumschränkter Herrscher in einem Papierreich! Das gibt ungeheure Überschüsse an Selbstvertrauen und Willkür. An den Menschen sich stoßen, schränkt ein und macht bescheiden.

Thomas: Anselm!? Erfindet Josef, was in seinem Brief steht? Oder habe wirklich ich es ihm eingegeben? Sie sehen einander an.

Anselm: Natürlich erfindet er.

Thomas heftig und ungeduldig: Ich will ja nicht wissen, welche Enthüllungen es sind, mit denen er droht! Ich halte jede für möglich!

Maria abwehrend: Thomas!

Thomas Widerspruch abschneidend. Als wollte er Anselm auffordern, sich zu bekennen: Es gibt Menschen, die immer nur wissen werden, was sein könnte, während die andren wie Detektive wissen, was ist. Die etwas Bewegliches bergen, wo die andren fest sind. Eine Ahnung von Andersseinkönnen. Ein richtungsloses Gefühl ohne Neigung und Abneigung zwischen den Erhebungen und Gewohnheiten der Welt. Ein Heimweh, aber ohne Heimat. Das macht alles möglich!

Maria: Aber das werden doch wieder nur Theorien!

Anselm: Ja, das sind Theorien. Sie haben das richtige Wort gefunden. Aber wie schrecklich ist es, wenn Theorien sich in Leben und Sterben einmengen. Er nimmt nervös den Brief wieder auf.

Thomas bitter, anklagend, immer leidenschaftlicher: Gut, es sind Theorien. Als wir jung waren, haben wir auch Theorien gemacht. Als wir jung waren, wußten wir, daß alles, wofür die Alten «im Ernst» leben und sterben, im Geist längst erledigt und entsetzlich langweilig ist. Daß es keine Tugend und kein Laster gibt, die sich an menschlicher Abenteuerlichkeit mit einem elliptischen Integral oder einer Flugmaschine vergleichen ließen. Als wir jung waren, wußten wir, daß das, was wirklich geschieht, ganz unwichtig ist neben dem, was geschehen könnte. Daß der ganze Fortschritt der Menschheit in dem steckt, was nicht geschieht. Sondern gedacht wird; ihre Ungewißheit, ihr Feuer. Als wir jung waren, fühlten wir: leidenschaftliche Menschen haben überhaupt kein Gefühl in sich, sondern gestaltlose, nackte Stürme von Kraft!!

Anselm ebenfalls erregt: Ja; und heute weiß ich einfach, daß das falsch und jugendlich war. Es sind Bäume, aber der Wind schüttelt sie nicht. Was diesen Gedanken fehlt, ist nichts als das bißchen Demut der Erkenntnis, daß schließlich doch alle Gedanken falsch sind und daß sie deshalb geglaubt werden müssen; von warmen Menschen!

Thomas: Deine Demut! Anselm! Deine Demut! Anselm, Anselm!

Anselm: Aber hast du denn je gelernt, was das ist?

Thomas: Demut, das ist der Letzte sein wollen, das ist, der Erste von hinten! Er bricht vor Erregung in Lachen aus. Schreibt denn nicht Josef selbst von deiner Demut und Menschenliebe! Erfindet Josef?

Anselm: Er ist ungerecht! Ungerecht ist er! Aber noch darin ein Mensch!

Thomas: Und du liebst doch Regine? Oder läßt sie in Ungewißheit wegen Josef vergehn und schindest sie?!

Maria: Ja, Anselm, da hat Thomas nicht ganz unrecht.

Thomas noch einmal an ihn zu rühren versuchend: Anselm! Es ist etwas in dir, dem kein Mensch was gibt. Dem keiner was geben kann. Es pfeift auf Menschenliebe wie der Atem eines Sterbenden. In jedem ist es. Und es ist etwas in dir, das nach andren schreit. Und wäre es nach dem Mit-Nichtmenschen! Eine Angst, Unrecht zu behalten, doch irgendwo hinter allem. Was haben wir denn erreicht? Im Studierzimmer wie der Affe mit dem Stein in der Hand überlegt, wie er am besten die Nuß aufschlägt. Ohne einer einzigen Frage, die unsere Seligkeit als Mensch berührt, nahezukommen. Oder entmannt wie du, aus dem Gehirn einen tollen Weiberschoß gemacht, der sich an alles, was fest ist, preßt. Anselm, man ertrug es leicht, solang die Jugend nicht an den Tod denkt. Und später half man sich mit kurzfristigen Wechseln wie Werk und Erfolg. Aber noch etwas später wird zum erstenmal in dir lebendig, daß es niemals drei und vier und zwölf Uhr ist, sondern ein stummes Steigen und Sinken von Gestirnen um dich! Und zum erstenmal merkst du, daß etwas in dir dem wie Flut und Ebbe folgt, ohne daß du es kennst. Und der Asket schlingt ein Seil um sein Herz und das andre Ende um den größten Stern, den er nachts erblickt, und fesselt sich so. Und der Detektivmensch hat sein Gesicht an seinen Fährten und braucht es nicht aufwärts zu heben. Aber ich? Und du? Wenn du aufrichtig bist, trotzdem dir Maria zuhorcht? Anselm, einer ist ein Narr, zwei eine neue Menschheit!

Erschöpfungspause.

Maria die nun auch mit ihrer Toilette fertig ist, aufgeheitert: Aber ihr beide Narren! Jetzt sehe ich erst, wie verstiegen ihr seid. Habt ihr ein Wort von Josef gesprochen? Beide wenden sich ihr erstaunt zu, wie einer Stimme aus andrer Welt. Maria lachend. Anselm ist ja ganz kleinlaut. Wenn Sie nur mit Thomas sich aussprechen, da verzichtet er ja auf seinen symbolischen Detektiv!

Thomas noch ganz verständnislos: Natürlich verzichte ich.

Maria fortfahrend: Und Anselm hat sich verbrannt; Anselm hat Schmerzen; ich werde ihm rasch etwas Kühlendes auflegen. Sie beginnt einen Verband zu improvisieren. Geh doch voraus, er kommt dir nach, er kommt dir gleich nach in dein Zimmer.

Anselm mit erzwungener Nachgiebigkeit: Aber das ist ja das Gefährliche an ihm, daß er alle überredet.

Thomas: Soll es sein, Anselm? Er sieht ihn fragend an, der sich zwingt, den Blick zu bejahen. Trotzdem unsicher und bitter. Sollte es sein? Ich werde warten. Maria wirst du ja nicht enttäuschen. Ab.

Anselm kaum daß Thomas das Zimmer verlassen hat, entzieht er Maria die Hand mit dem unfertigen Verband: Ich gehe nicht zu ihm.

Maria: Was sagen Sie?

Anselm: Daß ich natürlich nicht zu ihm gehe.

Maria: Ich spreche kein Wort mehr mit Ihnen.

Anselm unbekümmert: Er hat alles besser gewußt, seit wir Knaben waren. Aber ich wollte ihm nicht antworten! Ich muß ihm ja nicht antworten! Jubelnd. Ich muß nicht, Maria!! Ich muß nicht. Ich kann die Augen schließen, die Ohren, alle Luken zuziehn, bis es ganz dunkel wird um das, was ich weiß: und außen tobt und poltert der große Geldschrankknacker mit seinen zwei Brechstangen Verstand und Überhebung! Da Maria ein abweisendes Gesicht macht und nicht antwortet. Eher werde ich abreisen, als daß ich ihn einlasse!

Maria: Tun Sie es! Es wird das beste sein.

Anselm: Kommen Sie mit!

Maria: Was haben Sie gesagt?

Anselm: Kommen Sie fort.

Maria erst sprachlos, dann: Aber Sie sind ja verrückt; was fällt Ihnen jetzt wieder ein?

Anselm läßt eine kleine Weile verstreichen, dann verändert: Sie werden diesen Vorschlag natürlich falsch auffassen; das habe ich mir gedacht.

Maria: Ich fasse ihn gar nicht auf. Ich bin hier geblieben, weil ich Ordnung schaffen will. Wenn Sie also noch etwas zu sagen haben, tun Sie es; beleidigen werden Sie mich nicht wollen.

Anselm: Ich weiß nicht, ob Sie das beleidigt: Ich liebe Thomas viel mehr, als Sie ihn lieben. Denn ich bin ihm viel ähnlicher. Den Absturz, den er jetzt durchlebt, macht er mir nur nach. Und wenn ich feindselig bin, ist es vielleicht Angst um mich. Sie aber leiden nutzlos unter ihm, ohne es sich einzugestehn.

Maria: Er leidet! Dieser starke Mensch, der immer gekonnt hat, was er will, ist seiner selbst nicht mehr sicher.

Anselm eifersüchtig: Alles kann Thomas, aber leiden kann er nicht!

Maria: Es ist fürchterlich anzusehn und ihm mit nichts helfen zu können.

Anselm: Sie könnten es.

Maria: Ich? Ach, Anselm, da haben Sie kein scharfes Auge! Ich verstehe von diesen unmenschlichen Ideen nichts.

Anselm: Es gibt ein Mittel.

Maria: Aber so sagen Sie es doch lieber gleich.

Anselm: Ich habe es Ihnen ja schon gesagt.

Maria nach einer Weile: Aber das sind Phantasien; das ist phantastisch.

Es tritt eine Pause ein.

Anselm: Glauben Sie denn, daß ich Thomas' Überlegenheit bestreite, daß ich meinen Verstand neben seinem nicht als ungenügend empfinde?

Maria: Man sagt, daß Sie von der Universität fortmußten, weil Sie Auftritte gehabt haben?

Anselm: Ich habe mich unmöglich gemacht. Ich hätte vielleicht in einem Jahrhundert der Inquisition leben müssen. Wenn ein Mensch andrer Meinung ist, grinst mich der Stein an, die Bestialität. Wer den Blick dafür hat, sieht dahinter die schamlose Entschlossenheit von Ertrinkenden, die um den Platz im Boot kämpfen.

Maria: Aber man muß doch verschiedener Meinung sein können!

Anselm: Ich bin vielleicht nur zu dumm dafür. Ach, Maria, wir beide sind ja zu dumm für ihn. Ich muß fühlen, daß ich jemand das Letzte, das Entscheidende bedeute. Oder ich fühle mich verworfen. Thomas kann die Menschen entbehren, aber sagen Sie doch selbst: welche Monstrosität!

Maria: Darin haben Sie vielleicht nicht ganz unrecht; Thomas hat etwas Unmenschliches, ich habe es ihm auch oft gesagt.

Anselm rasch festhaltend: Er schätzt alle gering. Er vertraut nur der Kraft eines hochgehobenen Steins: von dieser Art ist nämlich die Kraft seiner Vernunft; diese Vernunft, von der heute die Welt beherrscht wird. Die Kräfte zwischen Gesichtern von Menschen, zwischen den Schwalben im Herbst, die unbeweisbaren Kräfte, Kräfte der Wärme, des Errötens, Kräfte sogar zwischen den Pferden eines Stalls, freundlichen oder feindlichen Beisammenseins, die – kennt er vielleicht, – höhnisch – oh, gewiß wird er sie kennen. Aber Wahrheiten, die nur verstanden werden können in Sekunden der Erschütterung und aufleuchten wie ein Funke zwischen zwei Menschen, denen vertraut er nicht.

Maria: Ich kann mir sehr gut denken, was Sie meinen. Aber in dem, was Sie sagen, steckt doch auch etwas, das sich sofort verflüchtigt, wenn man es beim Wort nehmen wollte. Etwas Unwirkliches. Etwas Unglaubwürdiges.

Anselm: Und gerade Sie sind beseligend voll solcher Kräfte! Jede Gebärde Ihres Körpers wird davon bewegt und sendet sie aus. Ohne Übertreibung gesprochen, Maria, ich bin manchmal so durchflutet davon, daß ich unter der Angst leide, meine Glieder und Gesichtszüge könnten wider Willen die Bewegungen der Ihren nachahmen wie Pflanzen, die am Grund eines fließenden Wassers stehn.

Maria: Aber das sind Übertreibungen!

Anselm: Das Natürlichste! Die menschliche Natur selbst! Stellen Sie sich nicht gering! Sie wissen, man begreift überhaupt nichts mit dem Verstand, nicht einmal das Daliegen eines Steins, sondern alles nur durch Liebe. In einem namenlosen Annäherungszustand und Verwandtschaftsgrad. Wovon diese Sache Mann-Frau nur ein überschätzter Einzelfall ist. Aber Thomas hat Sie das vergessen gelehrt. Gestehen Sie doch, daß er Sie ohnmächtig niederdrückt. Was bedeuten Ihnen denn seine Begriffe und Überlegungen!

Maria: Oh, es ist immer anregend und wertvoll!

Anselm: Oh! Wirklich? Aber Sie haben eine tiefere Verbindung mit Mensch und Ding als er. Ich weiß doch, wie Sie waren!

Maria: Das waren Jugenddummheiten.

Anselm: Thomas hat diese Kräfte in Ihnen nicht geduldet, wie er keine Kraft neben seiner duldet. Nun fehlen sie ihm. Das ist seine Katastrophe; ich habe ihn so weit, daß er es selbst ahnt.

Maria: Aber was wollen Sie eigentlich?!

Anselm: Was ist dabei: Sie gehen mit Regine und mir plötzlich fort?

Maria: Aber welchen Sinn?

Anselm: Heimlich. Ein so unerwarteter Stoß ist das einzige, was ihn erschüttern und zur Einkehr bringen könnte. Er zerstört sich sonst selbst.

Maria: Aber was würde Regine dazu sagen? Sie will doch möglichst bald Ordnung und Heirat!

Anselm: Maria, sie darf nichts einwenden! Ich muß Ihnen noch etwas anvertraun: Ich habe Regine nie mehr als Freundschaft versprochen.

Maria: Aber wozu geschieht dann alles?! War je von andrem die Rede?

Anselm: Helfen wollte ich ihr! Wissen Sie, warum Josef mich einen Betrüger nennt? Weil er nicht versteht, daß ich Regine von ihm fortgeholfen habe, ohne sie in diesem engen und alltäglichen Sinn zu lieben.

Maria: Aber er sagt doch auch: Potiphar?

Anselm: Weil er das irgendwie herausgebracht hat. Ich wollte sie aber nur wieder leben lehren, Gefühle in ihr erwecken, Gewichte ihr auferlegen; um sie aus der gespenstischen Luftleere herauszubringen, die um sie entstanden war.

Maria: Aber diese Geschichte mit Johannes ist doch erst recht ein Hirngespinst?!

Anselm: Eben deshalb nennt mich doch auch Thomas Betrüger. So muß ich Ihnen also auch das gestehn. Ich duldete es, um mich zu schützen! Regine neigte dazu, mich mißzuverstehn; sie war so herabgekommen. Aber mir graute davor, daß sich die menschliche Beziehung wieder zu diesem Krampf zusammenziehen sollte: so mußte ich Johannes zur Ablenkung benützen. Was immer er war, er war nicht ich!

Maria: Schrecklich, was Sie da mitgemacht haben!

Anselm: Eine Schwäche vielleicht von mir. Ich fand diese Geschichte vor; sie verkehrte mit diesem Toten wie mit einem lebendigen Schutzheiligen. Der sie vor nichts beschützte; vor nichts! Sie ist ja ein Mensch ganz ohne wahre Beziehungen zu andren Menschen. Ihre Gefühle sitzen im Kopf wie bei Thomas. Solche Menschen sind in allem übertrieben. Dann rührte mich wohl auch die arme Unbeholfenheit dieser Lüge. Aber ich wollte sie gerade von diesem Morphiumpräparat ganz sacht entwöhnen, da kam Thomas mit seinem Eingreifen. Heirat, Brief an Josef, Detektiv: Sie können nun ermessen, was er angerichtet hat.

Maria: Ich pflichte Ihnen noch gar nicht in allem bei, Anselm, aber ich beginne jetzt freilich einen Zusammenhang zwischen manchem zu ahnen, das ich bisher nicht verstand.

Anselm: Thomas ist ja in dieser Sache der gnadenlose Verstandesmensch, den er in Josef bekämpft; den er nur in Josef bekämpft!

Maria: In der Tat, Sie haben nicht ganz unrecht; ein wenig haben Sie recht ... Man müßte schon etwas Starkes tun, um ihn zur Umkehr zu bringen ... Und Sie waren wirklich in einem Kloster?

Anselm: Warum fragen Sie? Ich war dort.

Maria: Anselm, weil Sie mir immer nur die Wahrheit sagen dürfen! Ich würde zugrunde gehn, wenn jetzt nicht volle Wahrheit zwischen uns allen herrscht!

Anselm: Maria, selbst wenn ich wollte, könnte ich Sie nicht belügen; Ihnen beichte ich ja!

Maria: Sie müssen aber doch mit ihm sprechen.

Anselm: Das kann ich nicht! In einen nach Verständigung Dürstenden mich hinabbeugen kann ich; aber mit Thomas sprechen kann ich nicht. Sie können ihm ja alles wiedererzählen. Könnten Sie ihm sagen, was wir gesprochen haben?! Oder würden die Worte zwischen Ihrem Mund und seinem Ohr die Kraft verlieren?! – Sie müssen heimlich und überraschend von hier fortgehn. Er sucht Sie. Der Platz, den sein Ratschluß Ihnen zugewiesen hat, ist verlassen. Sie sind bei sich. Das ist das einzige, was ihn zur Umkehr bringen kann!

Maria: Wissen Sie, daß Sie Gefahr laufen, ein schlechter Mensch zu werden? Sie meinen etwas Gutes, aber Sie kennen dann gar keine Bedenken in der Wahl der Mittel.

Anselm: Aber was heißt denn, Mittel wählen, wenn ich schon fühle, daß Sie aus Ihren innersten Kräften das richtige finden werden; es hieße, mit der Pistole nach der Sonne schießen. Ach, Maria, ich bin weniger als ein schlechter Mensch; ein Gelehrter, der die Gelehrsamkeit verloren hat, und ein Mensch, der sich immer und immer wieder in der Wahl seiner Mittel vergriff. Nur Sie können uns helfen.

Maria: Anselm, wir müssen darüber noch sprechen. Auch über Regine. Sie versprechen mir aber, danach mit Thomas zu reden? Da Anselm schweigt. O ja, Sie versprechen es! Kommen Sie, dann gehen wir jetzt noch in den Park. Da Anselm sich zur anderen Türe wendet. Nein, nicht da herum, hier – sie zeigt auf das Schlafzimmer – haben wir es ganz nahe. Aber Sie müssen die Augen schließen, es ist alles in Unordnung. Ich meine, wenn wir uns aussprechen, könnte es Thomas wirklich helfen.

Anselm mit verhaltener Wut und Bosheit: Ach, ich möchte lieber, daß Sie durchs Fenster klettern! Wollen Sie nicht da hinaus?! Sie müßten sich hineinkrümmen und -runden und die Röcke zusammennehmen, so daß Sie gar nicht mehr zu verstehn sind; wie bei einem Unglücksfall! Aber Sie sind zu schön, um sich so etwas zu traun.

Maria: Aber was fällt Ihnen jetzt wieder ein?

Anselm: Daß Sie da geschlafen haben durch Jahre!!

Maria: Unsinn! Augen schließen! Geben Sie mir Ihre Hand! Ab. Die Bühne bleibt einen Augenblick leer.

Regine eintretend: Wenn Sie wirklich glauben, dann hier herein; hier wird uns jetzt niemand stören.

Fräulein Mertens: Oh, ich weiß, daß es Ihnen kaum erträglich erscheint, einem fremden Mann Vertrauen zu schenken. Wer sollte Sie besser verstehen als ich?! Ich weiß, was es heißt, sich in sein Inneres verschließen, Sie zarteste Heilige!

Regine: Thomas hat wohl etwas von einem Detektiv gesprochen ...? Aber ich mag das nicht leiden!

Fräulein Mertens: Nein, natürlich ist es nicht recht von Doktor Thomas; einer seiner kalten Einfälle! Sie sehen es!

Regine: Feststellen! Beobachten! Was will man denn damit erreichen! Das ist so dumm.

Fräulein Mertens: Aber vielleicht kann Ihnen der Mann nützen: er hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Sie winkt bei der offenen Tür hinaus. Und wenn er auch etwas gewöhnlich aussieht, hat er doch kein unsympathisches Gesicht. Ich werde Sie allein lassen. Sie läßt an sich vorbei Stader eintreten und zieht sich zurück. Stader tritt näher, mit allen Organen den Raum beschnüffelnd. Er war einmal ein hübscher Junge und ist jetzt ein tüchtiger Mensch. Seine Kleidung ahmt die Korrektheit eines wohlhabenden Gelehrten nach, aber mit einem kleinen schwarzen Künstlerschlips. Er legt beim Eintreten einen grämlichen, alten Ausdruck aufs Gesicht und rückt an einer großen blauen Brille, als hätte er sie eben aufgesetzt.

Regine: Sie schickt ... ein Bureau? Wollen Sie Platz nehmen.

Sie setzen sich. Stader zögert dabei und räuspert sich. Da es ihm nicht gelingt, Reginens Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung zu lenken, nimmt er die Brille ab und macht ein natürliches Gesicht.

Stader: Wie doch diese überholten, altmodischen Mittel noch immer wirken! Eine Brille, ein wenig Meisterschaft im Ausdruck und es genügt schon für einfache Fälle! Sie erkannten mich also nicht.

Regine: Ich weiß noch immer nicht ...? Sie betrachtet ihn, er grinst allmählich über das ganze Gesicht. Was meinen Sie?

Stader: Sie erinnern sich nicht?

Regine: N...ein. Ach ja ... Sie waren Diener bei uns?

Stader: Hrr mja; nun ja gewiß; ich war Diener ... Stader, Ferdinand Stader, ... Ferdinand!? Aber schon damals in der freien Zeit etwas Besseres, Sänger und Dichter.

Regine: Ich weiß. Sie sind nachts in Gastwirtschaften als Sänger aufgetreten, obgleich Sie das eigentlich nicht durften. Das gefiel mir.

Stader: Und wie oft haben Sie mir einen Kuß ins Haar gehaucht und gesagt, du –

Regine: Benehmen Sie sich doch nicht abgeschmackt!

Stader: Abgeschmackt? Mit den Zähnen und allen zehn Fingern haben Sie in mein Haar gebissen und gesagt: Du in –, du in –; Herrgott, bis vor kurzem hab' ich's noch gewußt und jetzt hab' ich's vergessen! Es war etwas mit Genie.

Regine: Du – ingénu. Mein Gott! Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Anspeien könnte ich mich heute!!

Stader: Beruhigen Sie sich. Sie haben mir zwar schweres Unrecht zugefügt, als Sie mich so einfach ... na ja, hinauswerfen wollte ich sagen. Ich wußte ja nicht, daß feine Damen so sein können. Aber ich trage Ihnen nichts nach. Denn Sie haben mich dadurch auf den Weg der Wahrheit gestoßen. Und der Wahrheit verdanke ich meinen Aufstieg! Sie hatten sich nämlich nicht in mir geirrt, und Ihr Wort, daß ich ein Genie bin, das hat mich begleitet und gestärkt; es nützt Ihnen nichts mehr, wenn Sie es heute zurückzunehmen versuchen. Ich war nie bloß nur Diener, ich habe das gleich danach aufgegeben. Ich war vielerlei. Präparator, Klavierspieler, Paukdiener, Photograph, sogar Hundefänger; ich war ein vielseitiger Mensch, schon bevor ich meinen Beruf entdeckte. Und ich muß sagen, man braucht für ihn auch außer der Strenge der Forschung etwas Künstlerblut: Heute bin ich Inhaber des größten neuzeitlichen Ausforschungsinstituts.

Regine: Ausforschungs?

Stader: Detektivinstituts.

Regine: Sie wollen Geld?! Wieviel? Ich habe keins.

Stader würdig: Betrachten Sie mich, bitte, als in ritterlichen Beziehungen Ihnen gegenübergestanden! Ich wollte Sie bloß um eine Gefälligkeit ersuchen. Mit herablassender Zärtlichkeit ihren Irrtum verbessernd. Keine solche; Sie haben sich doch noch immer nicht geändert. Mein Institut ist das größte und neuzeitlichste Ausforschungsinstitut der Gegenwart: Newton, Galilei & Stader. Früher hätte man so etwas Argus genannt; weil ich weiß, was ich der neuzeitlichen Wissenschaft schulde, habe ich ihre beiden Begründer in den Namen der Firma aufgenommen.

Regine die sich nicht zurechtfindet: Ja also, dann sind Sie aber der Detektiv, von dem mein Vetter Thomas gesprochen hat?

Stader: Ihr –? Wer ist Thomas?!

Regine: Mein Vetter Doktor Thomas – nun, Sie befinden sich doch in seinem Haus! Er hat davon gesprochen, einen Detektiv kommen lassen zu wollen.

Stader sehr beunruhigt: In der Angelegenheit Seiner Exzellenz Ihres Gatten und eines gewissen Doktor Anselm Mornas?

Regine: Wahrscheinlich doch!

Stader in äußerster Gemütsbewegung: Er hat einen Detektiv! Und nicht mich! Ich bin vernichtet!

Regine: Aber ich weiß ja gar nicht sicher, ob er es wirklich getan hat.

Stader: Es ist noch nicht sicher?! Sie müssen mir sofort eine Aussprache mit ihm vermitteln. Ich bin der Detektiv Seiner Exzellenz; aber ich will ihm alle meine Geheimnisse verkaufen, schenken will ich sie ihm, wenn er mir Gehör leiht! Sie müssen mich ihm sofort auf das herzlichste empfehlen!

Regine: Aber das ist ja unmöglich.

Stader: Unmöglich? Sie meinen wegen –? Vorbei ist gewesen. Ein Mann hat größere Interessen! Hören Sie mich an: Mein Institut arbeitet mit den neuzeitlichen Mitteln der Wissenschaft. Mit Graphologik, Pathographik, hereditärer Belastung, Wahrscheinlichkeitslehre, Statistik, Psychoanalyse, Experimentalpsychologik und so weiter. Wir suchen die wissenschaftlichen Elemente der Tat auf; denn alles, was in der Welt geschieht, geschieht nach Gesetzen. Nach ewigen Gesetzen! Auf ihnen ruht der Ruf meines Instituts. Ungezählte junge Gelehrte und Studenten arbeiten in meinen Diensten. Ich frage nicht nach läppischen Einzelheiten eines Falls; man liefert mir die gesetzlichen Bestimmungsstücke eines Menschen und ich weiß, was er unter gegebenen Umständen getan haben – muß! Verstehen Sie? Die moderne Wissenschaft und Detektivik engt den Bereich des Zufälligen, Ordnungslosen, angeblich Persönlichen immer mehr ein. Es gibt keinen Zufall! Es gibt keine Tatsachen! Jawohl! Es gibt nur – wissenschaftliche Zusammenhänge.

Ja, das ist aus Ihrem «kleinen Neapolitaner», aus Ihrem «Straßensänger» geworden!

Seine Exzellenz, Ihr Herr Gemahl, hat uns nun, angezogen von dem außerordentlichen Ruf, den unser Institut in der gesamten Fachwelt genießt, die Ehre seines Auftrags erwiesen. Es lag mir viel daran, eine so hochgestellte wissenschaftliche Persönlichkeit zufriedenzustellen: hier ist das schriftliche Elaborat. Er weist stolz auf eine dicke Mappe, die er nicht aus der Hand läßt.

Regine: Elaborat? Sie wollen doch nicht sagen? Über wen?!

Stader: Wir verwenden neben den geschilderten neuzeitlichen Mitteln natürlich auch Rescherschöre, Bestechungen, Frauen, Alkohol, Dienstboten, Spoliierungen, kurz die sozusagen klassischen Mittel der Detektivwissenschaft. Wollen Sie sehen? Er öffnet seine Mappe. Hier diese Postkarte ist von Doktor Anselm Mornas an seinen Schneider und handelt von der Bestellung eines Winteranzugs. Wollen Sie beachten, daß die Karte im August geschrieben worden sein muß. Das läßt sich beweisen durch das Datum des Poststempels und den Umstand, daß es sich um eine reine und direkte sogenannte Zweckorientierung handelt, wobei eine Irreführung des Schneiders nicht dienlich wäre.

Regine ganz benommen: Das verstehe ich nicht, aber was läßt sich denn daraus schließen!?

Stader: Oh ...! Bestellung eines Winteranzugs im August, das könnte bedeuten: Voraussicht; Sparsamkeit, denn im Sommer sind die Winterstoffe billiger; Mangel an Schick, denn man erhält noch nicht die kommenden Winterstoffe; viertens eine geheime Absicht. Pedantisch vorsorglich ist er nicht, sparsam ist er nicht, ohne Schick ist er nicht: was bleibt also? Ein Geheimnis. Da haben Sie schon den ganzen Menschen! – Mit der Analyse des Inhalts stimmt die der Schrift überein. Sehen Sie nur diesen aufwärts strebenden Haken: Abenteuerlust. Dieses geduckte »u«: geheime Leidenschaften. Oh, es ist ein Genuß, das verborgene Wesen eines Menschen so spielend vor sich auszubreiten! Hier! Sehen Sie diesen Schattenstrich: ein Selbstmordgedanke! Und nun die sich fast verkriechenden Mittelbuchstaben: Wandertrieb; es ist die Schrift eines Mannes, der zuweilen verschwindet und die Nachricht ausstreut, daß er in den Tod geht. Ich halte mich nicht dabei auf, daß er das Wort »Betrag« so schreibt, daß man es auch für »Betrug« lesen könnte, ich weiß auch ohne das, sein Lebensdrang ist wach: diese steil ansteigenden Haarstriche! Er hat in summa das Gefühl, daß er ohne die Person nicht leben kann, die er im Winter in diesem Anzug treffen wird.

Regine: Ja kennt er denn die schon?

Stader: Das waren Sie!

Regine: Woher wollen Sie das denn wissen.

Stader: Nun ich werde als Beauftragter Seiner Exzellenz doch wissen, wann Doktor Anselm zum erstenmal ins Haus kam. Er sieht auf seine Armbanduhr. Aber meine Zeit beginnt mir zu mangeln, sehen Sie nur noch dieses Dokument.

Regine: Das ist ja meine Schrift!

Stader: Jaha. Das habe ich seinerzeit als Andenken mitgenommen: es war Ihr Wirtschaftsbuch.

Regine: Was können Sie daraus sehen!

Stader: Ich habe es selbst untersucht. In diesem Fall, muß ich sagen, haben alle wissenschaftlichen Anhaltspunkte nicht mehr ergeben, als ich schon wußte. Indes er blättert. Herzlos. Schläft lang. Unverständig. Kurz: In ruhigem, lang aufgespartem Triumph. Eine, wissenschaftlich betrachtet, durchaus nicht vollwertige Person. Und ...! Er hat die gesuchte Stelle endlich gefunden und reicht sie ihr sehr vorsichtig hin, so daß ihm das Buch nicht entrissen werden kann. Und hier steht »Ferdinand« und daneben »Doppelpunkt kleiner Neapolitaner«. Und da: »Johannes, wann kehrst du wieder?«!

Regine: Geben Sie es mir zurück.

Stader: Aber was denken Sie. Freundschaftlich. Ja, sagen Sie, ich habe vorhin etwas gehorcht, es war ja nicht viel Gelegenheit, aber die Dame, die in Ihrer Gesellschaft war, rief »Heilige«. Machen Sie das also wirklich noch immer? Das haben Sie nämlich doch schon mir erzählt: Ihre Liebe zu mir galt dem seligen Herrn Johannes und mir gewissermaßen nur, wie wenn einer in Stellvertretung getraut wird. Das hat mir damals mächtig imponiert. Ich war unschuldig – entschuldigen Sie, daß ich lache: mir erzählten Sie das, dem späteren Newton & Stader – und ich habe es Ihnen geglaubt. Aber es war auch eine schöne Erfindung und hat mich später zum Psychologen gemacht. Nur: etwas so Ungewöhnliches ist nicht jedermanns Verständnis zugänglich. Und wenn man es zu oft wiederholt und ganz unwürdige Individuen zu den Akten kommen: Sie werden große Unannehmlichkeiten haben! Wissen Sie übrigens, daß Ihr jetziger Bräutigam bereits verheiratet ist und sich von seiner Frau nicht scheiden lassen will, um nicht Sie heiraten zu müssen.

Regine die sich inzwischen zusammengenommen hat: Ja.

Stader: Das hat nämlich die Analyse dieses Briefs an seine rechtmäßige Frau ergeben, – indem es darinsteht.

Regine: Den möchte ich sehen, zeigen Sie ihn mir.

Stader legt ihn in die Mappe zurück und verschließt diese sorgsam: Sie würden ihn zerreißen.

Regine: Sie haben also den Auftrag erhalten, mich auszuspionieren?

Stader: Seine Exzellenz der Herr Professor und ich dienen, jeder in seiner Art, seit unseren Mannesjahren der Wahrheit!

Regine steht auf: Sie sind ein Schwindler! Sie wissen gar nichts! Ich habe Sie nie gekannt! Ich kann ja doch jederzeit einen Eid darauf schwören.

Stader: Ich habe Ihnen ja bei weitem nicht alles gezeigt, ich habe noch ganz anderes Material: Vermissen Sie nichts?

Regine: Was sollte ich vermissen?

Stader: Ein Notizbuch zum Beispiel? Ein ganz kleines, gelbes Buch; darin haben Sie Ihre Lebensgeschichte aufgezeichnet und die des Doktor Anselm.

Regine: Aber das habe ich doch – –!

Stader: Nein, das haben Sie eben nicht mehr.

Regine: Das habe ich doch in den Koffer gelegt, das weiß ich ganz bestimmt.

Stader: Kann ja sein. Aber durchaus nicht nur die einfachen Naturen, auch in der besten Gesellschaft ... ich kann nicht mehr sagen als: selbst in wissenschaftlichen Kreisen findet man Subjekte! – Aber lassen wir das. Sehen Sie, diese Ausbrüche der Heftigkeit kennen wir; Sie haben mich nicht beleidigt.

Regine die ihren Entschluß gefaßt hat: Ja; lassen wir es!!

Stader: Die Wahrheit ist immer Angriffen ausgesetzt, aber sie ist darüber erhaben.

Regine: Wenn das die Wahrheit ist, so ist sie eine ungeheure schmutzige Menschenfalle ... Ich sehe Sie an, wie ein Gespenst stehn Sie da. So wie Sie könnten dastehn: – ich werde nachdenken und Ihnen die genaue Zahl sagen; die können Sie dann zu den Akten nehmen. Wie soll ich Ihnen begreiflich machen, daß all das niemals wahr gewesen ist?!

Stader dem diese Wendung ungelegen kommt: Sie brauchen es ja gar nicht.

Regine: Aber es ist ja wahr gewesen! Erinnern Sie sich nicht?! Wissen Sie nicht mehr, wie hündinnenhaft ich Ihnen hingegeben war?

Stader beruhigend: Vorbei ist gewesen.

Regine: So kommen Sie nicht davon! Ich hatte Sie vorher gesehn, wie Sie waren, ich habe Sie nachher so gesehn: aber dazwischen konnte ich das einfach nicht aushalten, so abscheulich waren Sie mir!

Stader: Ja, ja, ja; etwas Derartiges hört man immer nach solchen Gelegenheiten.

Regine: Aber ich konnte mir ja gar nicht genug daran tun, mir vor Ihnen etwas zu vergeben! Ich kann, wenn ich allein im Zimmer bin, es manchmal auch nicht ertragen, meinen Schrank so einfach dastehn zu sehn; manchmal bemerke ich, daß er sich verändert und Gesichter zieht. Dann muß ich ihn rasch aufmachen und nachsehn; ich würde ihn sonst vielleicht auch Johannes nennen.

Stader warnend, aber ebenso entschlossen, zu dem Seinen zu kommen: Ich kann Ihnen nur raten, vertrauen Sie sich Ihrem Vetter Professor Thomas an. Das ist ein Mann, dem man sich anvertrauen darf. Welch ein Ruf in der Fachwelt, hat man mir gesagt; aber daneben auch welch ein Blick für die Menschheit! Den haben die gelehrten Herren nicht immer; gerade in meinem Beruf hat man manchmal mit ihrer Geringschätzung zu kämpfen. Natürlich mit Unrecht, denn im modernen Sinn ist ein Detektiv etwas ebenso Hohes wie ein Forscher; ja etwas noch Höheres, wenn man bedenkt, daß er Menschen ausforscht. Immerhin ist da stets eine Unterstützung nötig. Er ist aufgestanden. Ich habe ihn für eine große Idee zu gewinnen. Daß Sie sich bei mir nicht an den Unwürdigsten verschwendet haben, ist bewiesen. Sie brauchen Professor Thomas nur in einer herzlichen und einladenden Weise auf mich aufmerksam zu machen als auf einen Menschen, mit dem es sich lohnt, in ständiger Verbindung zu bleiben. Wenn Sie das wollten, bliebe alles streng unter uns dreien!

Regine: Das tue ich nicht; das bringe ich nicht mehr zustande.

Stader: Regine, haben Sie sich nicht! Sie waren damals schlecht zu mir, aber ich habe mit dem Abstandsgeld, das Sie mir gegeben haben, mein Institut gegründet. Ich will Ihnen wohl. Aber seit ich von Professor Thomas gehört habe, finde ich keine Ruhe! Ich bin alles imstande! Ich habe unberechenbares Künstlerblut in mir! Ohne das hätte ich es in meinem Beruf nicht so weit bringen können. Seien Sie anständig!

Regine: Ich will nicht.

Stader: Aber ich kann Ihnen ja doch zu sehr schaden!

Regine: Tun Sie es. Sie kennen mich ja, wie ich wirklich und wahrhaftig bin; Sie haben mich in der Hand. Ich will, daß Sie diese Mappe Seiner Exzellenz ausliefern.

Stader: Ja, aber haben Sie denn gar kein Schamgefühl?! Das wird vor Gericht ausführlich behandelt werden! Sie müssen doch etwas Schamgefühl haben, Sie werden sich doch nicht so bloßstellen lassen! Oder Angst!?

Regine: Hören Sie «Ferdinand»: Man kann innen heilig sein wie die Pferde des Sonnengotts und außen ist es das, was Sie in Ihren Akten haben. Das ist ein Geheimnis, das Ihr Institut nie entdecken wird. Man tut etwas und es bedeutet innen etwas ganz andres als außen. Mit der Zeit aber hat man innen doch nur das getan, was außen geschehen ist. Man hat nicht mehr die Kraft, es zu verwandeln!

Stader: Nun, ich könnte unter Eid nur aussagen, daß Sie jederzeit sehr wirklich bei der Sache gewesen zu sein schienen.

Regine: –?! Ja. Sie haben recht. Das ist das Entsetzliche. – Aber Sie müssen gehn; wir können hier nicht länger bleiben.

Stader: Ja, ich habe auch schon größte Eile, ich muß zum Zug. Mit einem letzten Versuch. Professor Thomas ist bedroht! Ein dunkler Anschlag schwebt über seinem Haupte. Sie wissen ja nicht, was in dem Brief steht, den Sie gesehen haben: Anselm ist nicht Ihrethalben hier, er ist hier, um seinem Freund die Frau zu entführen!

Regine: So? Sie müssen hier durchgehn. Da kommt eine Tür, die führt in ein Badezimmer, dann auf einen Gang und ein paar Stufen – ich werde Sie lieber selbst führen. Sie geht voran.

Stader in der Schlafzimmertür: Ich gehe jetzt zu Seiner Exzellenz. Ich gebe es also Seiner Exzellenz. Aber bevor ich es Seiner Exzellenz gebe, wäre ich auf der Bahn noch zu treffen. Und vielleicht auch noch nachher ... Solche Geschichten, das verstehe ich nicht; ein Mann hat Logik! Ich habe gedacht, Sie würden alles tun, um die Mappe zu erhalten. Ab.

Die Bühne bleibt einen Augenblick leer, bevor bei der andren Türe Anselm eintritt. Er sieht sich vorsichtig um, geht rasch zur Schlafzimmertür und versinkt, auf den Türrahmen gestützt, in Betrachtung. Sein Ausdruck ist der der visio beata. Plötzlich weicht er zurück wie bei einer unerlaubten Handlung betreten und sucht sich eine harmlose Haltung zu geben. Regine ist durch das Schlafzimmer zurückgekehrt, tritt ein und steht ihm gegenüber.

Anselm: Du warst im Zimmer?

Regine: Nein, ich bin von außen gekommen, aber du hast mich nicht gleich bemerkt.

Anselm: Ja, ja, ich suchte dich; ich habe sie stehengelassen, aber ich fand dich nirgends.

Regine: Das ist ja nicht wahr.

Anselm blickt sie überrascht an, dann sagt er ruhig: Maria? Aber was denkst du! Sie amüsiert mich.

Regine: Sie wartet auf dich?

Anselm: Ich sollte ihr etwas holen, ein Schultertuch; aber sie kann lange warten. Sie sieht in mir einen romantischen Helden und erwartet mittelalterliche Aufmerksamkeiten von mir; sie begreift etwas schwer wie fast alle stattlichen Frauen.

Regine verstellt: Hast du ihr essen zugesehn? Sie kaut langsam wie eine Kuh. Am liebsten möchte sie immer auch blumige Gespräche, große grüne Wortlandschaften zum Grasen; das machst du übrigens großartig.

Anselm sucht sie zu überbieten. Und da er sich nach den vorausgegangenen leidenschaftlichen Szenen mit Maria in der Gegenphase des geistigen Ekels befindet, spricht er anfangs überzeugungsvoller: Ja, sie braucht Lyrik, geradezu mit der Butterspritze. Das macht mich rasen. Thomas wirkt, nach ihr genossen, trocken herrlich wie Wüstenwind. Verstehst du, ich halte es gar nicht für ausgeschlossen, daß sie ihn plötzlich verläßt, wenn der Geist über sie kommt; diese über achtzig Kilo schweren Seelen fallen wie die Säcke um.

Regine: Würdest du sie gern so sehn? Sie fordert dazu heraus, ihr irgendwie Paprika in den Körper zu praktizieren und sie hüpfen zu machen, um ihr dann zu sagen: Meine liebe Maria, ein hygienischer Geruch von Tugend umgibt Sie wie die reine Karbolluft Spitäler, solche Sprünge sind nichts für Sie!

Anselm: Hopsen Sie nicht so, alte Tugend! Ich würde da gern ihr Gesicht sehn.

Regine: Erinnerst du dich noch, wie dünn ihre Beine waren, und die Höschen hingen dem Musterkind immer vor. Jetzt kann man das nicht sehn, aber seit wir hier sind, verfolgt mich die Frage, ob die Beine noch immer zu dünn sind?

Anselm kann nicht mehr mit: Von früh bis spät beisammen: Sprechen wir nicht mehr von ihr; es schüttelt mich, wenn ich an sie denke.

Regine: Siehst du, du lügst! Oh, wie du lügst!

Anselm: Würde ich so über sie sprechen können?!

Regine: Ach du! Du sprichst doch über einen Menschen nur gut, solange er dir gleichgültig ist. Wenn du etwas für ihn empfindest, so beschmierst du ihn mit Schmutz, damit du es versteckst! Sie bricht plötzlich ab. Komm fort!

Anselm unwillig: Warum?!

Regine: Komm fort, Anselm! Wir reisen! Wir fliehn! Wenn Josef da ist, sind wir schon weg. Du hast dich hier verstrickt, du kannst von Maria nicht los.

Anselm: Sei doch nicht gleich so gräßlich weibisch. Er überlegt. Du müßtest im Gegenteil Maria bitten, daß sie mit uns kommt.

Regine: Und?

Anselm: Wenn wir außerhalb dieses Hauses zusammenleben, kann dein Mann uns die größten Unannehmlichkeiten bereiten; wenn du mit deiner Schwester reist, kann er gar nichts tun.

Regine: Und–?! Das schlag dir aus dem Kopf. Ich mache euch nicht noch länger die Mauer.

Anselm: Du bildest dir also ein, mir ein Geheimnis entrissen zu haben. Also ja: Deine Schwester ist herrlich! Herrlich und ungewürzt wie Wasser. Riecht so gut wie eine Bügelstube; meinethalben, wenn du willst, auch so dumpf.

Regine: Und ich?

Anselm: Auch Josef ist eigentlich ein herrlicher Mensch. Wir haben uns erlaubt, auf ihn hinabzusehn. Gewiß, sie sind aufreizend schwerfällig in Gemüt und Geist, diese Menschen. Aber ich will dir etwas sagen: Auch das ungewöhnliche Erlebnis ist nichts als eine umgestülpte Gewöhnlichkeit. Und selbst in einem Rindergespann ist das Leben reicher als in einem Kopf wie Thomas, und ein Kutscher, der bei seinen Pferden schläft, weiß von der Welt mehr als er und du!

Regine: Ich soll also zu Josef zurück?

Anselm: Gott, ich meine, vorerst einmal in frische Luft hinaus. Hier wird man diese gestockten Erlebnisse mit Johannes nie los. Wie ein Zimmer am Morgen nach einer Zecherei ist es hier.

Regine: Also: mit dem Kopf in «herrliches» frisches Wasser! Ich will aber nicht. Ich werde mich eher töten. Hörst du? Aber nicht deinetwegen.

Anselm: Sagt das nicht jede, wenn sie sich verlassen glaubt?

Regine: Ich habe andere Demütigungen ertragen. Hast du dir diese lang überlegt?

Anselm: Was heißt das?

Regine: Hast du vielleicht unser kleines gelbes Buch wieder aus dem Koffer genommen und für Josef liegen lassen?

Anselm: Du weißt es also? Woher? Ich könnte es abstreiten, denn du läßt ja alles liegen. Aber: ja! Ich hab' es getan: Weil ich schon wußte, was mir mit dir bevorsteht. Du bist mir zu nahe gekommen. Du willst mir nicht mehr aus dem Weg gehn! Ich bin nicht so stark, daß ich dich auch retten könnte; gerade dich nicht. Deine verfluchten Schwächen haben alle Kerker in mir aufgewiegelt!!

Regine: Und Josef gibst du dich preis? Diese herrlichen Menschen scheinen jetzt starken Einfluß auf dich zu haben. Dir war es doch sonst unerträglich, wenn jemand auch nur das geringste über dich wußte, als wärst du dann schon in seiner Macht. Du hast doch lieber etwas Böses über dich erlogen als etwas Gutes zugegeben, wenn es wirklich wahr war.

Anselm: Bis Josef es versteht, wollte ich weiß Gott wo sein. Ich wechsle den Namen und fange noch einmal an. Ich will noch einmal anfangen, verstehst du! Ich muß noch einmal anfangen! Du wirst mich nicht festhalten!

Regine: Also du wolltest wieder ein neues Leben beginnen. Und das war an dem Tag, als du dich mit der Faust ins Gesicht geschlagen und fast geweint hast. Sie äfft ihn mystisch nach. »Es ist ein Wunder, daß ich dich gefunden habe! Es hat mich niedergeschlagen wie ein Wunder. – Ich möchte mich töten, um es nicht überleben zu müssen.«

Anselm: Ja, das war der Tag! Ich fühlte, ich muß mich retten. Wir waren so unbegreiflich eins. Mein Leben war so wiederholt in dir. Noch einmal ich, bist du an meinem Weg gestanden, und es war eine flatternde Stille um uns und ein so plötzliches Hinausgleiten in diesen Ozean in uns und um uns, daß ich fühlte: Wenn das Schiffbruch wird, kommt nur einer von uns beiden wieder ans Ufer ... Wie schal klingt das heute schon. Wie schmählich sind diese vergeblichen Versuche.

Regine: Oh, es hat sich mir jedes Wort eingeprägt und ich konnte es dem Detektiv wiederholen, so daß es heute noch Thomas und Josef genau wissen werden.

Anselm: Was heißt das? Du fieberst?

Regine: Es war ein Mann da; gerade bevor du kamst. Ein Detektiv, ein ehemaliger Diener. Der war einmal mein Geliebter; er hat mich verlassen, wohl auch weil ein Mann höhere Interessen hat! Der weiß alles über mich; viel mehr, als nötig ist, um Josef zu bewaffnen; er hat es in einer dicken Mappe gesammelt, und den Rest habe ich ihm gesagt. Aber er weiß auch von dir viel mehr als du Josef preisgeben wolltest, um mich ihm auszuliefern. Er hat Briefe an deine Frau, in denen du beichtest. Er kennt dein ganzes Leben. Und was er noch nicht wußte, habe ich ihm auch gesagt.

Anselm: Du warst nicht bei Verstand. Da muß doch sofort etwas geschehn, um den Mann zum Schweigen zu bringen. Wo ist er hin?!

Regine: Nein! Josef soll es nur erfahren!

Anselm: Was heißt, nein?! Willst du, daß wir hier vor Thomas und Maria daliegen wie ein Krötenpaar?

Regine: Ja!

Anselm: Wegen einer blöden Eifersuchtsgeschichte! Einer Liebesgeschichte, pfui Teufel! Hast du überhaupt eine Vorstellung von dem, was du anstellst? Alle diese Sinnlosigkeiten, die nur im Dunkel zwischen zwei Menschen möglich waren, sollen nun – erschöpft, wie sie sind – an den Tag kommen?!

Regine: Anselm, du leugnest. Du hast nicht mich, du hast uns Josef preisgegeben! Weil du damals Mut hattest. Es war der Ausbruch aus dem Kerker der Vernunft! Oh, gleich als du kamst! Dein erstes Wort war, als ich dich fragte, wie dein Leben ausgefallen ist: Es ist eine einzige Demütigung gewesen. Und aus dem brünstigen Gewölk der Erinnerungen, aus dieser Bocksherde, deren stinkendes Gewimmel mir den Himmel verhüllt hatte, fuhr der Blitz: Demütigungen erleiden – das sind wir!

Anselm: Sag nicht: wir! Du sollst dich nicht an mich pressen, als wäre ich du! Ich hasse deine Demütigungen! – Ja, ja, ich weiß, du hast mir diese Geschichte von Johannes erzählt und ich habe dich darin bestärkt.

Regine: Und du hast ebensowenig daran geglaubt wie ich.

Anselm: Und es ergriff mich unsagbar! Dieses Gespenst, das immer zusehn muß, wenn du dich andren hingibst, war unser Gespenst. Die Angst vor dem Alleinbleiben.

Regine: Und die Angst vor dem Nichtalleinbleiben. Vor dem Beglotztwerden. Dem Beschleimtwerden! Bist du nicht lebenslang zitternd auf der Lauer gelegen und zugestoßen auf sie wie ein Hecht, um ihnen ein Stück des ihren aus dem Fleisch zu reißen, bevor sie dich fassen können? Schüchterner, du, Gescheuchter. Jeder Mensch kommt grausig zu seinem Bruder wie ein Fisch zur Leiche. Und jeder trägt ein Meer um sich!

Anselm: Du hattest mich angesteckt mit diesen Einbildungen! Ich sah nur noch so. Als ob alle Sympathie, alle ursprüngliche Natur nur Angst und Verderben wäre!

Regine: Dir drückt doch nur die Angst vor Thomas und Maria jetzt das Herz ab. Und die Scham über alles, was du getan hast. Bestie, du! Anselm! Wir sind nichts Wirkliches! Ob wir lügen oder nicht, gut sind oder uns wegwerfen: es ist etwas mit uns gemeint, das wir niemals richtig auslegen können. Das hast du gewußt und hast all unser Wirkliches dahingegeben. In dem einzigen Augenblick, wo du Mut hattest!

Anselm: Ich kann es nicht mehr hören. Man kann etwas, das der Vernunft dermaßen widerstrebt, nicht ewig aufrechterhalten. Das ist heute so unerträglich verlogen und unnatürlich. Wo ist der Mann?!

Regine sieht auf die Uhr: Ich weiß nicht, wo er ist.

Anselm: Ah, du bist nichts als eine eiternde Wunde, die sich nicht schließen will!

Regine: Einmal hattest du den Mut. Sollen wir wieder zurücksinken? Laß uns lieber jede Erniedrigung auf uns nehmen. Wenn man nicht mehr die Kraft hat, etwas andres zu sein, als man tut, ist man kein Mensch mehr!

Anselm: Wo der Mann ist, will ich wissen?!!

Regine: Das Tuch, Anselm! Du hast dich ja für das Tuch zu interessieren. Du mußt Maria das Schultertuch bringen!

Anselm: Wo der Mann ist, will ich wissen!!!

Regine sieht nochmals zur Uhr: So, jetzt ist es zu spät. Josefs Zug fährt ein, und der Mann steht am Bahnhof und übergibt ihm die Mappe. Sie wird schwach und beginnt zu weinen.

Vorhang


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