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III. Geschichten, die keine sind

Der Riese Agoag

Wenn der Held dieser kleinen Erzählung – und wahrhaftig, er war einer! – die Ärmel aufstreifte, kamen zwei Arme zum Vorschein, die so dünn waren wie der Ton einer Spieluhr. Und die Frauen lobten freundlich seine Intelligenz, aber sie »gingen« mit anderen, von denen sie nicht so gleichmäßig freundlich sprachen. Nur eine einzige ansehnliche Schöne hatte ihn einmal, und zu aller Überraschung, tieferer Teilnahme gewürdigt; aber sie liebte es, ihn mit zärtlichen Augen anzuschaun und dabei die Achseln zu zucken. Und nachdem sich das kurze Schwanken in der Wahl von Koseworten gelegt hatte, das gewöhnlich zu Beginn einer Liebe statt hat, nannte sie ihn: »Mein Eichhörnchen!«

Darum las er in den Zeitungen nur den Sportteil, im Sportteil am eifrigsten die Boxnachrichten und von den Boxnachrichten am liebsten die über Schwergewichte.

Sein Leben war nicht glücklich; aber er ließ nicht ab, den Aufstieg zur Kraft zu suchen. Und weil er nicht genug Geld hatte, in einen Kraftverein einzutreten, und weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung nicht mehr das verächtliche Talent eines Leibes, sondern ein Triumph der Moral und des Geistes ist, suchte er diesen Aufstieg allein. Es gab keinen freien Nachmittag, den er nicht dazu benutzte, auf den Zehenspitzen spazieren zu gehen. Wenn er sich in einem Zimmer unbeobachtet wußte, griff er mit der rechten Hand hinter den Schultern vorbei nach den Dingen, die links von ihm lagen, oder umgekehrt. Das An- und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf die weitaus anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche Körper zu jedem Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine streckt, wenn der andere beugt, oder beugt, wenn jener streckt, gelang es ihm, sich bei jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten zu schaffen. Man kann wohl behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei völlig fremden Menschen bestand, die einander unaufhörlich bekämpften. Wenn er aber nach solchem aufs beste ausgenutzten Tag ans Einschlafen ging, so spreizte er alle Muskeln, deren er überhaupt habhaft werden konnte, noch einmal gleichzeitig auseinander; und dann lag er in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in den Fängen eines Raubvogels, bis ihn Müdigkeit überkam, der Griff sich löste und ihn senkrecht in den Schlaf fallen ließ. Es durfte nicht ausbleiben, daß er bei dieser Lebensweise unüberwindlich stark werde. Aber ehe das geschah, bekam er Streit auf der Straße und wurde von einem dicken Schwamm von Menschen verprügelt.

Bei diesem schimpflichen Kampf nahm seine Seele Schaden, er wurde niemals ganz so wie früher, und es war lange fraglich, ob er ein Leben ohne alle Hoffnung werde ertragen können. Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser Unfall, so tragisch für das Opfer, gestaltete sich für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehen blieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.

Das war nun so, und von Stund an blieb es auch so: Für fünfzehn Pfennige durfte er, wann immer er wollte, in den Leib eines Riesen kriechen, vor dem alle Sportsleute zur Seite springen mußten. Der Riese hieß Agoag. Das bedeutete vielleicht Allgemein-geschätzte-Omnibus-Athleten-Gesellschaft; denn wer heute noch Märchen erleben will, darf mit der Klugheit nicht ängstlich umgehn. Unser Held saß also auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten. Unvorstellbar wurde, was sie miteinander zu besprechen hatten. Er freute sich, wenn sie aufgeschreckt hopsten. Er schoß, wenn sie die Fahrbahn überquerten, auf sie los wie ein großer Köter auf Spatzen. Er sah auf die Dächer der schmucken Privatwagen, die ihn früher immer durch ihre Vornehmheit eingeschüchtert hatten, jetzt, im Bewußtsein der eigenen Zerstörungskraft, ungefähr so herab, wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof blickt. Es brauchte aber durchaus nicht viel Einbildung dazu, sondern bloß logisches Denken. Denn wenn es richtig ist, was man sagt, daß Kleider Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können? Man hat seine ungeheuerliche Kraft an oder um, wie ein anderer einen Panzer anlegt oder ein Gewehr umhängt; und wenn sich die ritterliche Heidenschaft mit einem schützenden Panzer vereinen läßt, weshalb dann nicht auch mit einem Omnibus? Und gar die großen Kraftnaturen der Weltgeschichte: war denn ihr schwacher, von den Bequemlichkeiten der Macht verwöhnter Leib das Furchtbare an ihnen, oder waren sie unüberwindlich durch den Apparat der Macht, mit dem sie ihn zu umgeben wußten? Und was ist es, dachte unser Mann, in seinem neuen Gedankenkreis thronend, mit allen den Edelleuten des Sports, welche die Könige des Boxens, Laufens und Schwimmens als Höflinge umgeben, vom Manager und Trainer bis zum Mann, der die blutigen Eimer wegträgt oder den Bademantel um die Schultern legt; verdanken diese zeitgenössischen Nachfolger der alten Truchsessen und Mundschenken ihre persönliche Würde ihrer eigenen oder den Strahlen einer fremden Kraft? Man sieht, er hatte sich durch einen Unfall vergeistigt.

Er benutzte nun jede freie Stunde nicht mehr zum Sport, sondern zum Omnibusfahren. Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonnement. Und wenn er es erreicht hat, und nicht gestorben, erdrückt, überfahren worden, abgestürzt oder in einem Irrenhaus ist, so fährt er damit noch heute. Allerdings, einmal ging er zu weit und nahm auf seine Fahrten eine Freundin mit, in der Erwartung, daß sie geistige Männerschönheit zu würdigen wisse. Und da war in dem Riesenleib ein winziger Parasit mit dicken Schnurrbartspitzen, der lächelte die Freundin einigemal frech an, und sie lächelte kaum merklich zurück; ja, als er ausstieg, streifte er sogar versehentlich an sie und schien ihr dabei etwas zuzuflüstern, während er sich vor allen ritterlich entschuldigte. Unser Held kochte vor Wut; er hätte sich gerne auf den Nebenbuhler gestürzt, aber so klein dieser neben dem Riesen Agoag ausgesehen hätte, so groß und breit erschien er darin. Da blieb unser Held sitzen und überhäufte nur später seine Freundin mit Vorwürfen. Aber, siehe, obgleich er sie in seine Anschauungen eingeweiht hatte, erwiderte sie nicht: Ich mache mir nichts aus starken Männern, ich bewundere Kraftomnibusse! sondern sie leugnete einfach.

Seit diesem geistigen Verrat, der auf die geringere Verstandeskühnheit der Frau zurückzuführen ist, schränkte unser Held seine Fahrten etwas ein, und wenn er sie antrat, so geschah es ohne weibliche Begleitung. Ihm ahnte ein wenig von der männlichen Schicksalswahrheit, die in dem Ausspruch liegt: Der Starke ist am mächtigsten allein!

Ein Mensch ohne Charakter

Man muß heute Charaktere wohl mit der Laterne suchen gehn; und wahrscheinlich macht man sich noch dazu lächerlich, wenn man bei Tag mit einem brennenden Licht umhergeht. Ich will also die Geschichte eines Mannes erzählen, der immer Schwierigkeiten mit seinem Charakter gehabt hat, ja, einfach gesagt, der überhaupt nie einen Charakter hatte; doch bin ich in Sorge, daß ich vielleicht bloß seine Bedeutung nicht rechtzeitig erfaßt habe und ob er nicht am Ende so etwas wie ein Pionier oder Vorläufer ist.

Wir waren Nachbarskinder. Wenn er irgendeine der Kleinigkeiten angestellt hatte, die so schön sind, daß man sie nicht gern erzählt, pflegte seine Mutter zu seufzen, denn die Prügel, die sie ihm gab, strengten sie an. »Junge«, jammerte sie, »du hast nicht die Spur von Charakter; was mag aus dir noch werden!?« In schwereren Fällen wurde aber der Herr Vater zu Rate gezogen, und dann hatten die Prügel eine gewisse Feierlichkeit und eine ernste Würde, ungefähr wie ein Schulfest. Vor Beginn mußte mein Freund dem Herrn Oberrechnungsrat eigenhändig einen Rohrstab holen, der im Hauptberuf dem Ausklopfen der Kleider diente und von der Köchin verwahrt wurde; während nach Schluß der Sohn die Vaterhand zu küssen und, mit Dank für die Zurechtweisung, um Verzeihung für die Sorgen zu bitten hatte, die er seinen lieben Eltern verursachte. Mein Freund machte es umgekehrt. Er bettelte und heulte vor Beginn um Verzeihung, und setzte das von einem Schlag zum andern fort; wenn alles aber einmal vorbei war, brachte er kein Wort mehr hervor, war blaurot im Gesicht, schluckte Tränen und Speichel und suchte durch emsiges Reiben die Spuren seiner Empfindungen zu beseitigen. »Ich weiß nicht«, – pflegte dann sein Vater zu sagen – »was aus dem Jungen noch werden soll; der Bengel hat absolut keinen Charakter!«

So war in unserer Jugend Charakter das, wofür man Prügel bekommt, obgleich man es nicht hat. Es schien eine gewisse Ungerechtigkeit darin zu stecken. Die Eltern meines Freundes behaupteten, wenn sie von ihm Charakter verlangten und ausnahmsweise einmal zu Erklärungen griffen, Charakter sei das begriffliche Gegenteil von schlechten Zeugnissen, geschwänzten Schulstunden, an Hundeschwänze gebundenen Blechtöpfen, Geschwätz und heimlichen Spielen während des Unterrichts, verstockten Ausreden, zerstreutem Gedächtnis und unschuldigen Vögeln, die ein gemeiner Schütze mit der Schleuder geschossen hat. Aber das natürliche Gegenteil von alledem waren doch schon die Schrecknisse der Strafe, die Angst vor Entdeckung und die Qualen des Gewissens, welche die Seele mit jener Reue peinigen, die man empfinden könnte, wenn die Sache schief ginge. Das war komplett; für einen Charakter ließ es keinen Platz und keine Tätigkeit übrig, er war vollkommen überflüssig. Dennoch verlangte man ihn von uns.

Vielleicht hätte es uns einen Anhaltspunkt bieten sollen, was zuweilen während der Strafen erläuternd zu meinem Freunde gesprochen wurde, wie: »Hast du denn gar keinen Stolz, Bube?!« – oder: »Wie kann man bloß so niederträchtig lügen?!« – Aber ich muß sagen, daß es mir auch heute noch schwer fällt, mir vorzustellen, daß einer stolz sein soll, wenn er eine Ohrfeige bekommt, oder wie er seinen Stolz zeigen soll, während er übers Knie gelegt wird. Wut könnte ich mir vorstellen; aber die sollten wir ja gerade nicht haben! Und ebenso verhält es sich mit dem Lügen; wie soll man denn lügen, wenn nicht niederträchtig? Etwa ungeschickt? Wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir selbst heute noch so vor, als ob man damals am liebsten von uns Buben gefordert hätte, wir sollten aufrichtig lügen. Das war aber eine Art doppelter Anrechnung: erstens, du sollst nicht lügen; zweitens, wenn du jedoch schon lügst, dann lüge wenigstens nicht verlogen. Vielleicht müssen erwachsene Verbrecher so unterscheiden können, da man es ihnen in den Gerichtssälen immer als besondere Bosheit ankreidet, wenn sie ihre Verbrechen kaltblütig, vorsichtig und mit Überlegung begehen; aber von Buben war das entschieden zu viel verlangt. Ich fürchte, ich habe bloß deshalb keine so auffallenden Charaktermängel gezeigt wie mein Freund, weil ich nicht so sorgfältig erzogen wurde.

Am einleuchtendsten von allen elterlichen Aussprüchen, die sich mit unserem Charakter befaßten, waren noch die, welche sein bedauerliches Fehlen mit der Warnung in Zusammenhang brachten, daß wir ihn einst als Männer vonnöten haben werden. »Und ein solcher Junge will ein Mann werden!?« hieß es ungefähr. Sah man davon ab, daß die Sache mit dem Wollen nicht ganz klar war, so bewies das übrige wenigstens, daß Charakter etwas sei, das wir erst später brauchen sollten; wozu also dann jetzt schon die überhasteten Vorbereitungen? Dies wäre ganz das gewesen, was auch wir meinten.

Obzwar mein Freund also damals keinen Charakter besaß, so vermißte er ihn doch nicht. Das kam erst später und begann zwischen unserem sechzehnten und siebzehnten Jahr. Da fingen wir an, ins Theater zu gehen und Romane zu lesen. Von dem Gehirn meines Freundes, das die irreführenden Verlockungen der Kunst lebhafter als das meine aufnahm, ergriffen der Intrigant der städtischen Theater, der zärtliche Vater, der heldische Liebhaber, die komische Person, ja sogar die teuflische Salonschlange und die bezaubernde Naive Besitz. Er redete nur noch in falschen Tönen, hatte aber plötzlich alles an Charakter in sich, was es auf der deutschen Bühne gibt. Wenn er etwas versprach, konnte man nie wissen, ob man sein Ehrenwort als Held oder als Intrigant besaß; es geschah, daß er heimtückisch begann und aufrichtig endete, wie auch umgekehrt; er empfing uns Freunde polternd, um uns plötzlich mit dem eleganten Lächeln des Bonvivants Platz und Schokoladebonbons anzubieten, oder umarmte uns väterlich und stahl dabei die Zigaretten aus unserer Tasche.

Doch war das harmlos und offen im Vergleich mit den Wirkungen des Romanelesens. In den Romanen finden sich die wundervollsten Verhaltungsweisen für unzählige Lebenslagen beschrieben. Der große Nachteil ist aber der, daß sich die Lebenslagen, in die man gerät, niemals ganz mit denen decken, für die in den Romanen vorgesehen ist, was man zu tun und zu sagen hat. Die Weltliteratur ist ein ungeheures Magazin, wo Millionen Seelen mit Edelmut, Zorn, Stolz, Liebe, Hohn, Eifersucht, Adel und Gemeinheit bekleidet werden. Wenn eine angebetete Frau unsere Gefühle mit Füßen tritt, so wissen wir, daß wir ihr einen strafend seelenvollen Blick zuzuwerfen haben; wenn ein Schurke eine Waise mißhandelt, so wissen wir, daß wir ihn mit einem Schlag zu Boden schmettern müssen. Aber was sollen wir tun, wenn die angebetete Frau unmittelbar, nachdem sie unsere Gefühle mit Füßen getreten hat, die Tür ihres Zimmers zuschlägt, so daß sie unser seelenvoller Blick nicht erreicht? Oder wenn zwischen dem Schurken, der die Waisen mißhandelt, und uns ein Tisch mit kostbaren Gläsern steht? Sollen wir die Tür einschlagen, um dann durch das Loch einen sanften Blick zu werfen; und sollen wir sorgfältig die teuren Gläser abräumen, ehe wir zum empörten Schlag ausholen? In solchen wirklich wichtigen Fällen läßt einen die Literatur immer im Stich; vielleicht wird es erst in einigen hundert Jahren, wenn noch mehr beschrieben ist, besser sein.

Einstweilen entsteht daraus aber jedesmal eine geradezu besonders unangenehme Lage für einen belesenen Charakter, wenn er sich in einer sogenannten Lebenslage befindet. Ein gutes Dutzend angefangener Sätze, halb erhobener Augenbrauen oder geballter Fäuste, zugekehrter Rücken und pochender Brüste, die alle nicht ganz zu dem Anlaß passen, und doch auch nicht unpassend wären, kochen in ihm; die Mundwinkel werden gleichzeitig hinauf- und hinabgezerrt, die Stirn finster gerunzelt und hell beglänzt, der Blick will sich zur gleichen Zeit strafend hervorstürzen und beschämt zurückziehen: und das ist sehr unangenehm, denn man tut sich sozusagen selbst gegenseitig weh. Als Ergebnis entsteht dann oft jenes bekannte Zucken und Schlucken, das sich über Lippen, Augen, Hände und Kehle ausdehnt, ja mitunter den ganzen Körper so heftig erfaßt, daß er sich wie eine Schraube windet, die ihre Mutter verloren hat.

Damals entdeckte mein Freund, wieviel bequemer es wäre, als einzigen Charakter seinen eigenen zu besitzen, und begann diesen zu suchen.

 

Aber er geriet in neue Abenteuer. Ich traf ihn nach Jahren wieder, als er den Beruf eines Rechtsanwalts ergriffen hatte. Er trug Brillen, rasierte sich den Bart und sprach mit leiser Stimme. – »Du siehst mich an?« – bemerkte er. Ich konnte es nicht leugnen, irgend etwas hieß mich, in seiner Erscheinung eine Antwort suchen. – »Sehe ich aus wie ein Rechtsanwalt?« fragte er. Ich wollte es nicht bestreiten. Er erklärte mir: »Rechtsanwälte haben eine ganz bestimmte Art, durch ihre Kneifergläser zu blicken, die anders ist als zum Beispiel die der Ärzte. Es läßt sich auch sagen, daß alle ihre Bewegungen und Worte spitzer oder zackiger sind als die rundlichen und knorrigen der Theologen. Sie unterscheiden sich von ihnen wie ein Feuilleton von einer Predigt, mit einem Wort, so wenig ein Fisch von Baum zu Baum fliegt, so sehr sind Rechtsanwälte in ein Medium eingetaucht, das sie niemals verlassen.«

»Berufscharakter!« sagte ich. Mein Freund war mit mir zufrieden. »Es ist nicht so einfach gewesen«, bemerkte er. »Als ich anfing, habe ich einen Christusbart getragen; aber mein Chef hat es mir verboten, weil es nicht zum Charakter eines Rechtsanwaltes paßt. Darauf habe ich mich wie ein Maler getragen, und als es mir verwehrt wurde, wie ein Seefahrer auf Urlaub.« – »Um Gottes willen, warum?« fragte ich. »Weil ich mich natürlich dagegen wehren wollte, einen Berufscharakter anzunehmen« gab er zur Antwort. »Das Schlimme ist, daß man ihm nicht entgehen kann. Es gibt natürlich Rechtsanwälte, die wie Dichter aussehen, und ebenso Dichter, die wie Gemüseverkäufer aussehen, und Gemüseverkäufer, die Denkerköpfe besitzen. Sie alle haben aber etwas von einem Glasauge oder einem angeklebten Bart an sich oder von einer schlecht zugeheilten Wunde. Ich verstehe nicht warum, aber es ist doch so?« Er lächelte in seiner Art und fügte ergeben hinzu: »Wie du weißt, habe ich doch nicht einmal einen persönlichen Charakter ...«

Ich erinnerte ihn an die vielen Schauspielercharaktere. »Das war erst die Jugend!« ergänzte er es seufzend. »Wenn man ein Mann wird, bekommt man noch einen Geschlechts-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen' Charakter dazu, man hat einen Charakter der Handschrift, der Handlinien, der Schädelform und womöglich noch einen, der aus der Konstellation der Gestirne im Augenblick der Geburt folgt. Mir ist das zu viel. Ich weiß nie, welchem meiner Charaktere ich recht geben soll.« – Wieder kam sein stilles Lächeln zum Vorschein. »Zum Glück habe ich eine Braut, die von mir behauptet, daß ich überhaupt keinen Charakter besitze, weil ich mein Versprechen, sie zu heiraten, noch nicht eingehalten habe. Ich werde sie gerade deshalb heiraten, denn ihr gesundes Urteil ist mir unentbehrlich.«

»Wer ist deine Braut?«

»Welchem Charakter nach? Aber, weißt du«, unterbrach er das »sie weiß trotzdem immer, was sie will! Sie ist ursprünglich ein reizend hilfloses kleines Mädchen gewesen ich kenne sie schon lange – aber sie hat viel von mir gelernt. Wenn ich lüge, findet sie es entsetzlich; wenn ich morgens nicht rechtzeitig ins Bureau gehe, so behauptet sie, ich werde niemals eine Familie erhalten können; wenn ich mich nicht entschließen kann, eine Zusage einzuhalten, die ich gegeben habe, so weiß sie, daß das nur ein Schuft tut.«

Mein Freund lächelte noch einmal. Er war damals ein liebenswürdiger Mensch, und jeder Mensch sah freundlich lächelnd auf ihn herab. Niemand nahm ernstlich an, daß er es zu etwas bringen werde. Schon an seiner äußeren Erscheinung fiel auf, daß, sobald er zu sprechen anfing, jedes Glied seines Körpers eine andere Lage einnahm; die Augen wichen zur Seite aus, Achsel, Arm und Hand bewegten sich nach entgegengesetzten Richtungen, und mindestens ein Bein federte im Kniewinkel wie eine Briefwaage. Wie gesagt, er war damals ein liebenswürdiger Mensch, bescheiden, schüchtern, ehrfürchtig; und manchmal war er auch das Gegenteil von all dem, aber man blieb ihm schon aus Neugierde gewogen.

 

Als ich ihn wiedersah, besaß er ein Auto, jene Frau, die nun sein Schatten war, und eine angesehene, einflußreiche Stellung. Wie er das angefangen hatte, weiß ich nicht; aber was ich vermute, ist, daß das ganze Geheimnis darin lag, daß er dick wurde. Sein eingeschüchtertes, bewegliches Gesicht war fort. Genauer gesehen, es war noch da, aber es lag unter einer dicken Hülle von Fleisch. Seine Augen, die einst, wenn er etwas angestellt hatte, so rührend sein konnten wie die eines traurigen Äffchens, hatten eigentlich ihren aus dem Innern kommenden Glanz nicht verloren; aber zwischen den hoch gepolsterten Wangen hatten sie jedesmal Mühe, wenn sie sich nach der Seite drehen wollten, und stierten darum mit einem hochmütig gequälten Ausdruck. Seine Bewegungen fuhren innerlich immer noch umher, aber außen, an den Beugen und Gelenken der Glieder, wurden sie von stoßdämpfenden Fettpolstern aufgefangen, und was herauskam, sah wie Kurzangebundenheit und entschlossene Sprache aus. So war nun auch der Mensch geworden. Sein irrlichternder Geist hatte feste Wände und dicke Überzeugungen bekommen. Manchmal blitzte noch etwas in ihm auf; aber es verbreitete keine Helligkeit mehr in dem Menschen, sondern war ein Schuß, den er abgab, um zu imponieren oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Er hatte eigentlich viel gegen früher verloren. Von allem, was er äußerte, ging jetzt zwölf auf ein Dutzend, wenn das auch ein Dutzend guter, verläßlicher Ware war. Und seine Vergangenheit behandelte er so, wie man sich an eine Jugendtorheit erinnert.

Einmal gelang es mir, ihn auf unseren alten Gesprächsgegenstand, den Charakter, zurückzubringen. »Ich bin überzeugt, daß die Entwicklung des Charakters mit der Kriegsführung zusammenhängt«, legte er mir in atemknapper Sprache dar »und daß er darum heute auf der ganzen Welt nur noch unter Halbwilden zu finden ist. Denn wer mit Messer und Speer kämpft, muß ihn haben, um nicht den kürzeren zu ziehen. Welcher noch so entschlossene Charakter hält aber gegen Panzerwagen, Flammenwerfer und Giftwolken stand!? Was wir darum heute brauchen, sind nicht Charaktere, sondern Disziplin!«

Ich hatte ihm nicht widersprochen. Aber das Sonderbare war, – und darum erlaube ich mir auch, diese Erinnerung niederzuschreiben – daß ich, während er so sprach und ich ihn ansah, immerdar das Empfinden hatte, der alte Mensch sei noch in ihm. Er stand in ihm, von der fleischigen größeren Wiederholung der ursprünglichen Gestalt eingeschlossen. Sein Blick stach im Blick des andern, sein Wort im Wort. Es war fast unheimlich. Ich habe ihn inzwischen noch einigemal wiedergesehen, und dieser Eindruck hat sich jedesmal wiederholt. Es war deutlich zu sehen, daß er, wenn ich so sagen darf, gerne einmal wieder ganz ans Fenster gekommen wäre; aber irgendetwas verhinderte ihn daran.

Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten

1729

Als der Marquis von Epatant den Raubtieren vorgeworfen wurde – eine Geschichte, die leider in keiner einzigen Chronik des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt wird – sah er sich plötzlich in eine so peinliche Lage versetzt, wie es ihm noch nie widerfahren war. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und ging lächelnd, mit einem Blick, der aus zwei matt geschliffenen Edelsteinen zu kommen schien, aber nichts mehr sah, dem Nichts entgegen. Doch es löste ihn dieses Nichts nicht ins Ewige auf, zog sich vielmehr sehr gegenwärtig zusammen; mit einem Wort, nicht das Nichts, sondern nichts ereignete sich, und als er sich seiner Augen wieder zum Sehen zu bedienen begann, gewahrte er ein großes Raubtier, das ihn unschlüssig betrachtete. Dies wäre dem Marquis, wie man annimmt, weiter nicht peinlich gewesen – er hatte Angst, wußte aber, wie man sie zu tragen habe – wenn er nicht im gleichen Augenblick inne geworden wäre, daß es ein weibliches Raubtier sei, das er vor sich habe. Strindberganschauungen gab es damals noch nicht; man lebte und starb in denen des achtzehnten Jahrhunderts, und Epatants natürlichste Regung war es, mit Anmut den Hut zu lüften und eine galante Verbeugung zu machen. Dabei sah er aber, daß die Handgelenke der ihn betrachtenden Dame beinahe so breit waren wie sein Oberschenkel, und die Zähne, die in dem lüstern und neugierig geöffneten Mund sichtbar geworden, gaben ihm ein Bild des Massakers, das ihm bevorstand. Diese Person vor ihm war furchteinflößend, schön, stärk, aber in Blick und Gestalt durchaus weiblich. Er fühlte sich durch die in allen Gliedern spielende Zärtlichkeit der Raubkatze unwillkürlich an die entzückende, stumme Beredsamkeit der Liebe erinnert. Er mußte sich nicht nur fürchten, sondern hatte zugleich auch den beschämenden Kampf zu ertragen, den diese Furcht mit dem Bedürfnis des Mannes führte, einem weiblichen Wesen unter allen Umständen Eindruck zu machen, die Frau in ihm einzuschüchtern und zu besiegen. Er sah sich statt dessen von seinem Gegner verwirrt und unterliegen. Die weibliche Bestie schüchterte ihn als Bestie ein, und das vollendet Weibliche, das jede ihrer Bewegungen ausatmete, mengte in die Preisgabe jedes Widerstandes das Wunder der Ohnmacht. Er, Marquis d'Epatant, war in den Zustand und die Rolle eines Weibchens gebracht worden, und dies in der letzten Minute seines Lebens! Er sah keine Möglichkeit, diesem boshaften ihm angetanen Schimpf zu entrinnen, verlor die Herrschaft über seine Sinne und wußte zu seinem Glück länger nicht mehr, was mit ihm geschah.

 

2197 vor unserer Zeitrechnung

Es soll nicht behauptet werden, daß die Jahreszahl richtig ist, aber wenn es den Staat der Amazonen wirklich gegeben hat, so müssen äußerst ernst zu nehmende Damen darin gewohnt haben. Denn hätten sie etwa nur einen etwas gewalttätigen Frauenrechtsverein dargestellt, so wären sie in der Geschichte höchstens zur Reputation der Abderiten oder Sancho Pansas gekommen und bis zum heutigen Tag ein Beispiel unweiblicher Komik geblieben. Statt dessen leben sie in heldenhaftem Andenken, und man darf daraus schließen, daß sie zu ihrer Zeit in einer überaus beachtenswerten Weise gebrannt, gemordet und geraubt haben. Mehr als ein indogermanischer Mann muß vor ihnen Angst gehabt haben, ehe sie es zu ihrem Ruf brachten. Mehr als ein Held wird vor ihnen davongelaufen sein. Mit einem Wort, sie müssen dem prähistorischen Mannesstolz nicht wenig zugesetzt haben, bis er endlich zur Entschuldigung von so viel Feigheit sagenhafte Geschöpfe aus ihnen gemacht hat: einem Gesetz folgend, wonach auch ein Sommerfrischler, der vor einer Kuh flüchtet, immer behaupten wird, daß es zumindest ein Ochse gewesen sei.

Wie aber, wenn es diesen Jungfrauenstaat niemals gegeben hat? Und das ist wohl schon darum wahrscheinlich, weil sich kaum denken läßt, daß es darin Divisions- und Regimentsstörche gab, die den männermordenden Jungfrauen die Rekruten brachten. Wovor haben sich dann die antiken Helden gefürchtet? War das Ganze nur ein wunderlich Gewalt antuender Traum? Unwillkürlich erinnert man sich daran, daß sie auch Göttinnen verehrt haben, von denen sie im Rausch der Anbetung zerrissen worden sind, und die Sphinx besuchten die kundigen Thebaner wie der Fliegerich die Spinne. Man muß sich schandenhalber wohl ein wenig darüber wundern, was für Spinnen- und Insektenträume diese Urväter unserer Gymnasialbildung kannten! Vorbildliche Sportsleute, die sich nicht viel aus Frauen machten, träumten sie von Frauen, vor denen sie sich fürchten konnten. Sollte am Ende Herr von Sacher-Masoch eine so lange Vorfahrenreihe gehabt haben? Es ist keineswegs anzunehmen. Denn wir mögen uns wohl gerne vorstellen, daß es früher dunkel gewesen ist, weil es dadurch jetzt umso heller ausschaut; aber daß an den Grundlagen des humanistischen Unterrichts etwas dermaßen in Unordnung sein sollte, vermögen wir nicht zu glauben. Sind sie scherzhaft gewesen, die alten Griechen? Oder haben sie in der Art aller Levantiner ungeheuerlich übertrieben? Oder liegt ihrer Ur-Perversität eine Ur-Harmlosigkeit zugrunde, die erst viel später die kranken Reiser getrieben hat?

Dunkel sind die Anfänge der Zivilisation.

 

1927

Was haben zwei Jahrhunderte »moderner Zeit« aus dieser Geschichte gemacht?

Ein Mann besiegt in offener Feldschlacht das Amazonenheer, und die Amazone verliebt sich in ihren Bezwinger. So ist es nun in Ordnung! Die Widerspenstigkeit wird gezähmt, sie läßt Schild und Speer fallen, und die Männer kichern geschmeichelt in der Runde. Das ist von der alten Sage übrig geblieben. Das Zeitalter des gebildeten Bürgers bewahrte von der wilden jungen Raubfrau, die darauf brennt, ihre Pfeilspitze hinter Mannesrippen zu landen, bloß das moralische Beispiel, wie sich unnatürliche Triebe wieder in natürliche verkehren; und außerdem höchstens noch kümmerliche Reste in den Theatern, Kinos und den Köpfen sechzehnjähriger Lebemänner, wo das dämonische Weib, die Salonschlange und der Vamp von fern an ihre männermordenden Vorgängerinnen erinnern.

Aber die Zeiten bleiben in Fluß. Es soll nicht von weiblichen Bureauvorstehern gesprochen werden, um die sich der männliche Untergebene rankt wie der bescheidene Efeu um die starke Eiche; es gibt Geschichten, die dem Mittelpunkt der männlichen Eitelkeit näher liegen, und eine solche ereignete sich, als vor einiger Zeit der berühmte Forscher Quantus Negatus einer Versammlung beiwohnte, wo die Opposition unter weiblicher Führung stand. Es war nicht gerade eine politische Versammlung, aber immerhin eine von jenen, wo der neue geistige Weltzug seinen Zusammenstoß mit dem alten hat. Quantus, als verdienstreicher Mann, saß bequem in den Polstern des alten. Er war nicht im geringsten gesonnen, sich um Weltanschauungen zu streiten, und begrüßte das Auftreten der Damen zunächst nur als eine Abwechslung. Während sie oben redeten, sah er unten ihre Füße in den Halbschuhen an. Aber plötzlich fesselte ihn eine Einzelheit: er hörte sie sagen, die Herren von der Mehrheit seien Esel. Sie sagten es in einer reizenderen Weise, und nicht gerade mit diesem Wort, immerhin aber ungefähr mit diesem Grad von Achtung. Und wenn die eine sich niedersetzte, stand ausgeruht die andere auf und wiederholte die Anklage in einer nur wenig anderen Weise. Auf ihren Stirnen bildeten sich vor Ärger und Anstrengung kleine lotrechte Falten; ihre Handbewegungen waren pädagogisch, wie wenn man Kindern auseinandersetzen muß, wie denkfaul sie seien; und die Sätze wurden sorgfältig vom Mund gegliedert, wie von einem geschulten Koch, der Fasanen zerlegt.

Der berühmte Forscher Negatus lächelte; er war kein Esel, er stand über der Situation, er durfte sich ihrem Reiz vorurteilslos hingeben; bei der Abstimmung würde sich schon zeigen, was er für richtig halte. Zufällig warf er aber einen Blick zur Unzeit auf die anderen Herren der Mehrheit. Und es kam ihm mit einemmal vor, sie säßen alle bocksteif da wie die Weibchen, denen ein Mann den überwältigenden Zauber der Logik beibringen will, wogegen sie keine andere Waffe haben, als nach jedem neuen Schluß zu erwidern: ich will aber nicht! Da bemerkte er erst, daß es ihm auch nicht anders ergehe. Tändelnden Sinnes betrachtete er Beine und Fingerspitzen, Mundfalten und Körperwendungen, obzwar er währenddessen anhören mußte, daß sein Wille eingeschlafen und seine Intelligenz die eines dicken Bürgers sei, der sie nicht gern bewege. Und nun geschah das, was allerdings nicht immer geschieht, Quantus fühlte sich halb überzeugt. Wenn er an seinen Forscherruhm dachte, so kam er sich wie eine brave Hausfrau vor, die daheim mit Fläschchen und Töpfchen am Herd hantiert, während diese Damen auf schäumendem Roß durch die offene Welt sprengten. Gewiß, es gab eine Menge besonderer Dinge, über die wenig Menschen so gut Bescheid wußten wie er; aber was nützte ihm das in solchen allgemeinen Fragen, deren Unsicherheit einen – beinahe hätte er gesagt, einen ganzen Mann brauchte?! Schon fand er, daß die Einwände, die sein Verstand gegen den Unfug dieser jungen Frauen erhob, eigentlich ängstlich wären, und seine Gedanken folgten mit einer fast käthchenhaften Begeisterung den wilden Taten ihres Geistes.

Was ihn noch im Gleichgewicht hielt, war der Umstand, daß auf der Gegenseite auch Männer aufstanden, die zusammenhangloses Zeug redeten. Die Versammlung wurde dadurch manchmal recht bewegt, und keiner ließ den anderen ausreden. Quantus Negatus beobachtete, was seine Rednerinnen täten. In diesem wirren Männergeschrei schwiegen sie lächelnd, und es schien ihm, daß sie ein bittendes Zeichen gäben. Dann erhob sich jedesmal ein fett-kräftiger junger Mann mit großem Gesicht und dichtem Haarwuchs und entfaltete ein wahres Phänomen von Stimme, deren Zwischenrufe wenig Vernunft hatten, aber mit einem Satz zwanzig feindliche Stimmen über den Haufen fegten, so daß man in der zurückbleibenden Stille die unterbrochenen Rednerinnen auf einmal wieder hörte. – »Ah, ein Mann!« dachte Negatus zuerst geschmeichelt. Aber wie er sich das, in der Stimmung, worin er sich nun einmal befand, genauer überlegte, fand er, daß eine starke Stimme doch auch nur etwas Sinnliches sei, wie in seiner Jugendzeit ein langer Zopf oder eine üppige Brust. Er fühlte sich von diesen Gedanken, die auf einem ihm recht fremden Gebiet lagen, ermüdet. Er hatte nicht übel Lust, seine Partei im Stich zu lassen und sich aus der Versammlung zu schleichen. Dunkel Gymnasialerinnerungen bewegten ihn: die Amazonen? – »Verkehrte Welt!« dachte er. Aber dann dachte er auch: »Ganz eigentümlich ist es, sich einmal eine verkehrte Welt vorzustellen. Es bereitet eine gewisse Abwechslung.« Er richtete an diesen Gedanken gleichsam seine Stacheln wieder auf; eine gewisse Kühnheit lag in ihnen, eine freimütige, männliche Neugierde. »Wie dunkel ist die Zukunft der Zivilisation!« dachte er. »Ich bin ein Mann, aber am Ende wird das nur noch etwas sehr Weibliches bedeuten, wenn nicht bald eine Zeit echter Männer wiederkommt!« Aber als die Abstimmung kam, stimmte er trotzdem für die Reaktion.

Die Opposition unterlag; die Versammlung war zu Ende. Quantus erwachte, und mit ritterlich beschwertem, schlechtem Gewissen suchte sein Blick den seiner ausdauernden Gegnerinnen. Aber diese legten soeben frischen Puder auf und hatten ihre kleinen silbernen Spiegel hervorgezogen. Mit der gleichen unbeirrbaren Sachlichkeit, wie sie vorhin mörderische Worte gesprochen hatten, taten sie nun das. Quantus staunte. Und seine letzte, doch noch recht befangene Überlegung im Hinausgehen war diese: »Warum machen sich bloß niedliche Männerköpfe ganz unnütze Gedanken?!«

Kindergeschichte

Herr Piff, Herr Paff und Herr Puff sind miteinander auf die Jagd gegangen. Und weil es Herbst war, wuchs nichts auf den Äckern; außer Erde, die der Pflug so aufgelockert hatte, daß die Stiefel hoch über die Schäfte davon braun wurden. Es war sehr viel Erde da, und so weit das Auge reichte, sah man stille braune Wellen; manchmal trug eine davon ein Steinkreuz auf ihrem Rücken oder einen Heiligen oder einen leeren Weg; es war sehr einsam.

Da gewahrten die Herren, als sie wieder in eine Mulde hinabstiegen, vor sich einen Hasen, und weil es das erste Tier war, das sie an diesem Tag antrafen, rissen alle drei ihre Schießrohre rasch an die Backe und drückten ab. Herr Piff zielte über seine rechte Stiefelspitze, Herr Puff über seine linke, und Herr Paff zwischen beiden Stiefeln geradeaus, denn der Hase saß ungefähr gleichweit von jedem und sah ihnen entgegen. Nun erhob sich ein fürchterlicher Donner von den drei Schüssen, die Schrotkörner prasselten in der Luft wie drei Hagelwolken gegeneinander, und der Boden staubte wild getroffen auf; aber als sich die Natur von diesem Schrecken erholt hatte, lag auch der Hase im Pfeffer und rührte sich nicht mehr. Bloß wußte jetzt keiner, wem er gehöre, weil alle drei geschossen hatten. Herr Piff hatte schon von weitem ausgerufen, wenn der Hase rechts getroffen sei, so gehöre er ihm, denn er habe von links geschossen; das Gleiche behauptete Herr Puff über die andere Hand; aber Herr Paff meinte, daß der Hase sich doch auch im letzten Augenblick umgedreht haben könne, was nur zu entscheiden wäre, wenn er den Schuß in der Brust oder im Rücken habe: dann aber, und somit unter allen Umständen, gehöre er ihm! Als sie nun hinkamen, zeigte sich jedoch, daß sie durchaus nicht herausfinden konnten, wo der Hase getroffen sei, und natürlich stritten sie jetzt erst recht um die Frage, wem er zukomme.

Da erhob sich der Hase höflich und sagte: »Meine Herren, wenn Sie sich nicht einigen können, will ich so frei sein und noch leben! Ich bin, wie ich sehe, bloß vor Schreck umgefallen.«

Da waren Herr Piff und Herr Puff, wie man zu sagen pflegt, einen Augenblick ganz paff, und bei Herrn Paff versteht sich das eigentlich immer von selbst. Aber der Hase fuhr unbeirrt fort. Er machte große, hysterische Augen wahrscheinlich doch, weil ihn der Tod gestreift hatte – und begann, den Jägern ihre Zukunft vorauszusagen. »Ich kann Ihnen Ihr Ende prophezeien, meine Herren«, sagte er »wenn Sie mich am Leben lassen! Sie, Herr Piff, werden schon in sieben Jahren und drei Monaten von der Sense des Todes in Gestalt der Hörner eines Stiers hingemäht werden; und der Herr Paff werden zwar sehr alt werden, aber ich sehe etwas äußerst Unangenehmes am Ende – etwas – ja, das läßt sich nicht so leicht sagen –«; er stockte und blickte Paff teilnahmsvoll an, dann brach er ab und sagte rasch: »Aber der Herr Puff wird an einem Pfirsichkern ersticken, das ist einfach.«

Da wurden die Jäger bleich, und der Wind pfiff durch die Einöde.

Aber indes die Röhrenstiefel an ihren Beinen noch im Winde klapperten, luden ihre Finger schon von neuem das Gewehr, und sie sprachen: »Wie kannst Du wissen, was noch nicht geschehen ist, Du Lügner!«

»Der Stier, der mich in sieben Jahren aufspießen soll«, sagte Herr Piff »ist heute doch noch gar nicht geboren; wie kann er spießen, wenn er vielleicht überhaupt nicht geboren wird?«

Und Herr Puff tröstete sich damit, daß er sagte: »Ich brauche bloß keine Pfirsiche mehr zu essen, so bist Du schon ein Betrüger!«

Herr Paff aber sagte nur: »Na, na!«

Der Hase erwiderte: »Das können die Herren halten, wie sie wollen; es wird Ihnen nichts nützen.«

Da machten die Jäger Miene, den Hasen mit ihren Stiefelabsätzen tot zu treten, und schrien: »Du wirst uns nicht abergläubisch machen!!« – Aber in diesem Augenblick kam ein häßliches altes Weib vorbei, das einen Haufen Reisig am Rücken schleppte, und die Jäger mußten rasch dreimal ausspucken, damit ihnen der Anblick nicht schade.

Da wurde das Weib, das es bemerkt hatte, böse und schrie zurück: Bin a amol schön gwen!« Niemand hätte zu sagen vermocht, welche Mundart das sei; es klang aber geradezu wie der Dialekt der Hölle.

Diesen Augenblick benutzte der Hase, um zu entwischen.

Die Jäger donnerten aus ihren Büchsen hinter ihm drein, aber der Hase war nicht mehr zu sehen, und auch das alte Weib war verschwunden; man glaubte nur während der drei Schüsse ein unbändiges Hohngelächter gehört zu haben.

Da wischte sich Herr Paff den Schweiß von der Stirn und ihn fror.

Herr Piff sagte: »Gehen wir nach Hause.«

Und Herr Puff kletterte schon den Abhang empor.

Als sie oben bei dem steinernen Kreuz angelangt waren, fühlten sie sich aber in seinem Schutze sicher und blieben wieder stehen.

»Wir haben uns selbst zum besten gehalten«, sagte Herr Puff« – es war ein ganz gewöhnlicher Hase.«

»Aber er hat gesprochen –« sagte Herr Paff.

»Das kann nur der Wind gewesen sein, oder das Blut war uns in der Kälte zu Ohren gestiegen« – belehrten ihn Herr Piff und Herr Puff.

Da flüsterte der liebe Gott am Steinkreuz: »Du sollst nicht töten ...!«

Die drei schraken von neuem ordentlich zusammen und gingen mindestens zwanzig Schritte dem steinernen Kreuz aus der Nähe; es ist aber auch zu arg, wenn man sich nicht einmal dort sicher fühlen kann! Und ehe sie noch etwas erwidern konnten, sahen sie sich mit großen Schritten nach Hause eilen. Erst als der Rauch ihrer Dächer sich über den Büschen kräuselte, die Dorfhunde bellten und Kinderstimmen durch die Luft zu schießen begannen wie die Schwalben, hatten sie ihre Beine wieder eingeholt, blieben auf ihnen stehn, und es wurde ihnen wohl und warm. »An irgendetwas muß schließlich jeder sterben« – meinte Herr Paff gelassen, der es bis dahin nach der Prophezeiung des Hasen am weitesten hatte; er wußte noch verdammt gut, weshalb er das sagte, doch plagte ihn jetzt mit einemmal ein Zweifel, ob wohl auch seine Gefährten davon wüßten, und er schämte sich, sie zu fragen.

Aber Herr Piff antwortete genau so: »Wenn ich nicht töten dürfte, dann dürfte ich doch auch nicht getötet werden? Ergo sage ich, da hat es einen grundsätzlichen Widerspruch!« Das mochte nun jeder beziehen, worauf er wollte; eine vernünftige Antwort war es nicht, und Herr Piff schmunzelte philosophisch, um zu verbergen, daß er brennend gern erfahren wollte, ob ihn die anderen trotzdem verstünden oder ob in seinem Kopf etwas nicht in Ordnung gewesen sei.

Herr Puff, der dritte, zertrat nachdenklich einen Wurm unter der Stiefelsohle und erwiderte: »Wir töten ja nicht nur die Tiere, sondern wir hegen sie auch und halten auf Ordnung im Feld.«

Da wußte jeder, daß auch die andern wußten; und indes sich jeder heimlich noch daran erinnerte, begann das Erlebte schon zu zerrinnen wie ein Traum nach dem Erwachen, denn was drei gehört und gesehen haben, kann kein Geheimnis sein und also auch kein Wunder, sondern höchstens eine Täuschung. Und alle drei seufzten plötzlich: Gott sei Dank! Herr Pfiff seufzte es über seiner linken Stiefelspitze, Herr Puff über seiner rechten, denn beide schielten nach dem Gott im Feld zurück, dem sie heimlich dafür dankten, daß er ihnen nicht wirklich erschienen sei; Herr Paff aber, weil die beiden anderen wegsahen, konnte sich ganz zum Kreuz umdrehen, kniff sich in die Ohren und sagte: »Wir haben heute auf nüchternen Magen Branntwein getrunken; das sollte ein Jäger nie tun.«

»So ist es!« sagten alle drei, sangen ein fröhliches Jägerlied, worinnen viel von Grün die Rede war, und warfen mit Steinen nach einer Katze, die verbotenerweise auf die Felder schlich, um Haseneier zu fangen; denn nun fürchteten sich die Jäger ja auch nicht mehr vor dem Hasen. Aber dieser letzte Teil der Geschichte ist nicht ganz so verbürgt wie das übrige, denn es gibt Leute, welche behaupten, daß die Hasen nur zu Ostern Eier legen.


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