Erich Mühsam
Briefe
Erich Mühsam

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An Julius Bab

L. B., mit gleicher Post geht das dickleibige Material ab. Hoffentlich kommt es noch zur rechten Zeit. Verwenden Sie daraus, was Sie wollen, und in welcher Form Sie wollen. Als Honorar verschaffen Sie mir das Manuskript von dem in den Aufzeichnungen erwähnten Lumpen wieder! Sollten Sie aber Bares haben – tout mieux! Ich lebe nämlich mit J(ohannes) N(ohl), der von keiner Seite Zuschüsse erhält, mit meinen 100 Mk. aus einer Kasse. Natürlich ist der Dalles daher nach wie vor sehr groß. Antwort also, bitte: nach Zürich, Hauptpost. Grüßen Sie die Gattin, die teure.

Lausanne

Jener Erich Mühsam

18/VIII. 1904

An Julius Bab

Lausanne, 18/VIII. 1904

Wenn ich Ihnen, lieber Bab, Material für Ihre Boheme-Studie liefern soll, so müssen Sie mir zunächst gestatten, Ihnen einiges Prinzipielle zu verraten, was ich mir so unter einem Bohemien vorstelle. Zunächst mal das eine: es gibt keinen größeren Unfug, als unter einem Bohemien einen Murgerschen Leichtfuß zu verstehen. Die Murgerschen »Helden« sind alles andre als Zigeuner, wenn sich auch Symptome bei ihnen äußern, die auch aus Zjgeunertum resultieren könnten.

Ein Bohemien ist in erster Linie Skeptiker, ein Mensch, der die Welt so fatalistisch wie nur denkbar ansieht, einer, der vom Leben nichts erhofft, und der deshalb darauf los lebt mit der erhabenen Wurschtigkeit, die ihn dem bourgeoisen Geschäftstrotter gegenüber als Ausnahmewesen, als komischen Kauz erscheinen läßt. Aus diesem Darauflosleben mag dann wohl bei diesem oder jenem der goldige Optimismus entstehn, der – wie bei Peter Hille – erst recht die Fühlung mit der Umwelt aufhebt und in tausend sternenbunten Illusionen entschwebt.

Bei den meisten aber entwickelt sich das Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur Gesamtheit in umgekehrter Linie. Ich habe über diesen Gegenstand eine sehr lesenswerte Abhandlung geschrieben, die mir leider von einem Gauner namens Dr. Müller (per Adresse: Zucker, Berlin, JV. W., Fennstraße 5 3/4) abgeschwindelt wurde, der mir vorspiegelte, er wolle den Artikel ins Ungarische übersetzen, der Budapester »Zukunft« schicken und mir ein Honorar von mindestens 50 Gulden dafür Übermitteln. Er will es auch übersetzt und abgeschickt haben, – dann ging aber merkwürdigerweise das Original-Manuskript, das er mir zurückschicken wollte, auf der Post verloren, und die Rückübersetzung seiner ungarischen Kladde ins Deutsche, die er auch schon besorgt haben will, habe ich durch andre seltsame Umstände ebenfalls nicht bekommen – natürlich auch von dem ungarischen Blatt weder Empfangsbestätigung noch Honorar erhalten. Vielleicht bemühen Sie sich noch mal um die Arbeit, sie wird Sie sehr interessieren, und mich würden Sie über die Maßen erfreuen, wenn Sie mir wieder zum Besitz des Artikels verhülfen. Ich gebe Ihnen jede Vollmacht, gegen den Kerl vorzugehen. Um aber auf das Thema zurückzukommen: Den meisten von denen, deren Temperament und deren skeptische Kritik sie außerhalb der uniformen Geister stellt, steigert sich die Abneigung gegen die Weise, aus denen sie hervorgegangen sind, mit dem Quadrat der Entfernungen. So kommt es, daß sich manche von ihnen – also wie ich! – vor aller Welt in das Lager der erbittertsten Gesellschaftsfeinde stellen und mit aller Macht gegen das Grundübel all der Widerwärtigkeiten im sozialen und individuellen Leben, den zentralisierten Staat, anzurennen suchen. Wir Anarchisten – ich erinnere daran, daß z- B. auch Przybyszewski, Flaum und etliche andre bekanntere Künstler mit ausgesprochenerZigigeunernatur zeitweilig mitten im agitatorisch-anarchistischen Kampfe gestanden haben – sind meiner Überzeugung nach die bewußtesten unter den Bohemiens. Bei vielen andern äußert sich das Bohemetum in gewollten Abweichungen der Kleidung, Frisur usw. – auch dürften sexuelle Abnormitäten bei Bohemiens nicht selten auf die instinktive Sucht zurückzuführen sein, anders zu sein als die Mehrzahl der Menschen. Was allen wirklichen Bohemiens gemeinsam ist, das ist das Sich-als-Künstler-Empfinden. Es ist nicht nötig, daß man ausübender Künstler ist, um Bohemien zu sein; aber daß man – um mit Peter Altenberg zu reden – »Künstlermensch» ist, das ist allerdings Voraussetzung dazu. Niemand hat das schöner ausgeführt als Scheerbart in seinem »Tarub, die berühmte Köchin von Bagdad». Ich glaube nicht, daß es in der ganzen Weltliteratur einen zweiten Romanhelden gibt, in dem der Bohemien, als Lebemann aus Verzweiflung, der aus heiligster Künstlersehnsucht Unfruchtbare, mit solcher Vollendung gezeichnet ist, wie in dem Dichter Safur (offenbar Scheerbarts Selbstportrait), dessen Jagen nach seiner Dichtervision, der Dschinne, das ergreifendste Symbol einer großen Sehnsucht darstellt, das je einem Dichter gelungen ist.

Sollten Sie aus der neueren deutschen Literatur weitere Bohemien-Bekenntnisse wissen wollen, so mache ich Sie auf das zweite Gedicht aus meiner »Wüste« aufmerksam: »Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt –«, in dem, glaube ich, vom Boheme-Theoretiker ebenfalls allerhand Anhaltspunkte gefunden werden können. Denn soviel ist ganz gewiß: Wer ein wirklicher Zigeuner ist, der weiß nicht, wohin sein Weg führt, – der setzt einen Fuß vor den andern, dieses Ziel ist immer der nächste Schritt, und auch den tut er blind ins Leben hinein.

Nun zu den Momentbildern.

Ich beginne mit mir selbst – und da muß ich zunächst bemerken, daß die Verzögerung dieser Daten-Zusammenstellung nur darauf Zurückzuführen ist, daß ich eben erst wieder eine Periode abenteuerlichster Zigeunerei hinter mir habe – oder bin ich noch darin? —, die mir nicht dieZeit ließ, irgend etwas anderes zu tun, als mich über das Leben zu wundern, es zu genießen und es zu verwünschen.

Es ist sehr schade, daß ich Ihnen grade das Interessanteste von dem, was mir die letzten Monate brachten, nicht verraten kann, ohne befürchten zu müssen, daß mich die Publikation dieser Sündhaftigkeit die Einbuße meiner ohnehin nicht sehr üppigen Einnahmen kosten würde. Überlassen wir also die Aufdeckung der Umstände, die mir eine Schweizerreise – mithin eine Italienreise – und ein Monatswechsel einbringen, einer späteren Gelegenheit.

Nur von der Italienreise einiges: Ich machte diese denkwürdige Tour in Gemeinschaft mit meinem Freunde Johannes Nohl, dem vollendetsten und seiner ganzen Natur nach selbstverständlichsten Zigeuner-Typen, der mir in meinem Leben begegnet ist, einem Berliner Professorensohn, mit dem zusammen ich seit zirka einem Jahre alle für Sie in Betracht kommenden Aktionen ausführte, und dessen Namen von dem meinen zu trennen nicht mehr angängig ist.

Wir hatten schon in Berlin in der Augsburgerstraße zusammen gewohnt, und unsre extravaganten Amüsements endeten damit, daß mein Freund im Harz., ich in Mecklenburg im Sanatorium Unterkunft suchen mußten. In den 3 Monaten, in denen wir unsre Nerven reparieren ließen, fanden wir, daß der Berliner Boden etwas heiß für uns geworden sein mußte, und aus Rücksichten besonderer Art erkoren wir Lausanne zum ferneren Schlachtfeld. Nohl traf im April, ich im Mai dieses Jahres dort ein. In der ersten Zeit hatten wir beide reichlich Geld – und traten dementsprechend derart fürstlich auf, daß wir sehr bald Spitzel hinter uns merkten, die uns anscheinend bei Gelegenheit einer Hochstapelei in flagranti ertappen wollten. Das internationale Proletariat Lausannes — Franzosen, Deutsche, Schweizer, Italiener, Russen und Türken – vergötterte uns wegen unsrer Freigebigkeit, denn die Kaschemmen und Herbergen waren unsre Stammlokale, und täglich erregten wir bei den deutschen Studenten, der widerlichsten Gattung unter dem Lausanner Publikum, und bei allen, die uns von unsrer Pension her kannten, helles Entsetzen, wenn wir per Arm mit einer Anzahl betrunkener italienischer Arbeiter über den Grand Pont (die große Promenade Lausannes) daherzogen. Nun kam der erste Juni nahe, wo wohl einige Gelder anliefen, aber nicht entfernt soviel, wie wir zur Fortsetzung unsrer bisherigen Lebenshaltung hier nötig gehabt hätten. Wir beschlossen also, sobald die Gelder da wären, zu verschwinden – und zwar nach Italien, dem Land unsrer Sehnsucht.

Ausgerüstet mit einem kleinen Rucksack, einem gepumpten, Bädeker für Italien und Goethes schwächstem Buch, der »italienischen Reise«, an dem Bädeker seine Schilderungsart gelernt zu haben scheint, fuhren wir nach Locarno, von da ging's zu Fuß den Lago Maggiore entlang, und von Cannobio aus per Dampfer nach Pallanza, wo wir 3 Tage blieben, während deren wir sehr, aber sehr üppig lebten. Am dritten Tage entdeckte ich, daß mein Portemonnaie nur noch 20 Franken erhielt – und bis Capri, wo Hanns Heinz Ewers, E(rnst) v(on) Wolzogen, und noch mehr Bekannte lebten, sollte die Reise gehn. Meinem Freunde zu beichten, wagte ich nicht, obgleich ich nicht zu fürchten brauchte, daß er die Reise deswegen abbrechen würde. Auch nahm ich an, daß er noch genug Geld für uns beide besitze. Immerhin schrieb ich an diverse Bekannte, sie möchten Geld schicken, wir sitzen in großer Not und gab als Bestimmungsort Mailand, ferma in posta, an. Dann fuhr ich allein nach Mailand weiter, da mein Freund von einer Horde Harmonikaspieler nicht loszueisen war.

Am nächsten Abend saß ich mit den letzten zwei Lire 50 traurig und einsam vor einem Mailänder Cafehaus, als plötzlich mein Freund neben mir stand und mich mit den Worten ansprach: »Daß ich dich endlich finde! Ich habe keine 5 Centesimi mehr.« Bei der Beratung, was nun zu tun sei, ging natürlich der Rest meines Geldes auch drauf, und wir gingen allen Bares bar in ein erstklassiges Hotel schlafen. Am nächsten Tag kam Hilfe. Zu den von mir Angepumpten gehörte ein Berliner Arzt, der zu meinem nicht geringen Erstaunen vom »Monte Verita«, einem vegetarischen Sanatorium bei Ascona am Lago Maggiore, 50 Lire schickte. Einige Tage zuvor waren wir durch das herrliche Ascona durchgegangen, das weiterhin noch eine große Rolle für uns spielen sollte.

Zwei Tage nach Eingang dieser Summe waren wir wieder blank, aber zum Glück bekamen wir beide durch die Hitze Schlaganfälle, die dann telegraphische Geldsendungen von der Verwandtschaft zur Folge hatten. Mehrere Freundessendungen trafen noch ein, ein größerer Vorschuß von einem Blatt, für das ich arbeite, und so halfen wir uns von Tag zu Tag weiter, ohne irgendwelchen Mangel zu leiden und bei köstlichem Amüsement. Nach 14 Tagen reisten wir mit 30 Lire nach Genua ab – und abends war diese Summe alle. Plötzlich war's nun wie verhext. Wir schrieben, depeschierten — alles vergeblich. Das Hotel, in dem wir die erste Nacht geschlafen hatten, gab uns keinen Kredit mehr, so wanderten wir also zum deutschen Generalkonsulat, das mehrere erfolglose Telegramme aufgab und uns dann in einer ekelhaften, dreckigen Herberge einquartierte. Dort rückten wir am nächsten Tage aus, hungerten dann den gangen Tag, kampierten im Freien unter einer Kolonnadensäule und begaben uns dann wiederum zum Konsulat, das diesmal bedauerte, nichts für uns tun zu können. Was tun? – Wir bummelten durch die Straßen mit knurrendem Magen und einiger Depression. Wir badeten im Tyrrhenischen Meer und ernährten uns dabei mit Seewasser. Abends versprach ich meinem Freunde, ein gutes Abendbrot und Nachtquartier um jeden Preis zu beschaffen, widrigenfalls ich mich vor seinen Augen umbringen werde. Die Bedingung wurde akzeptiert, und nun ging ich um Leben oder Tod (weiß Gott, ich hätte schon der Exzentrizität wegen die Bedingung erfüllt!) auf mein Ziel los. Ich hörte zwei Herren deutsch sprechen. Die redete ich an, erzählte ihnen, uns sei all unser Geld gestohlen worden (das hatten wir auch auf dem Konsulat angegeben), wir seien mittel-, nahrungs- und obdachlos; und bat um ihren Rat. Sie empfahlen uns an einen deutschen Gastwirt am Hafen, dem ich erklärte, es sei seine verfluchte Menschenpflicht, uns anständig zu essen und ein Schlaflager zu geben – und er tat es unter der Bedingung, daß wir am nächsten Tage bezahlten. Den nächsten Tag gingen wir wieder zum Konsulat, erklärten, es sei eine Schmach für das Vaterland, wenn zwei gebildete Deutsche im Ausland zechprellen oder verhungern müßten, was zur Folge hatte, daß wir dem Generalkonsul selbst vorgeführt wurden. Der hielt uns moralische Vorträge, warnte in meiner Abwesenheit meinen Freund vor mir, der ich ihm wohl das Geld werde gestohlen haben, und schickte dann einen Konsulatsbeamten mit Geldern an die beiden Hotels und die Herberge, ließ unsre Sachen auslösen und gab uns jedem 5 Lire. Dann gab er uns einen Empfehlungsbrief an den Vizekonsul in Lugano mit, ermahnte uns, nur ja in gute Hotels zu gehen und uns gut zu pflegen, da uns sonst die Hitze nicht bekommen würde, ließ uns, bewaffnet mit Brot, Wein, Käse, Wurst und Obst in die Bahn setzen – und so fuhren wir plötzlich, ehe wir uns besinnen konnten, was geschah, nach Lugano, wo wir dann auch sogleich, der Ermahnung des Genueser Generalkonsuls gemäß, im ersten Hotel abstiegen. Das Vizekonsulat in Lugano war nicht so üppig wie das Genueser, das wir praeterpropter 100 Lire gekostet hatten. Es gab uns nur 20 Lire auf den Weg, mit denen wir dann nach Locarno fuhren, unter Zurücklassung unserer Hotelschuld in Lugano und einer Anzahl Effekten. Von Locarno ging's zu Fuß nach Ascona zurück und von da auf den Monte Verita, wo ich zunächst bleiben konnte. Mein Freund fand Unterkunft bei einem Asconaer Schriftsteller, bei dem ich insofern gut empfohlen war, als ich einmal ein Buch von ihm verrissen hatte.

Jetzt mußten wir vegetarisch leben, kriegten nichts zu trinken und zu rauchen und mußten barfuß, barhaupt und in Leinenkitteln herumlaufen. Inzwischen ward wieder Geld beschafft, die Rechnung auf dem Monte Verita beglichen, und nun zogen wir selbander zu einer jungen deutschen Dame, der Lotte, die auf einem Bergabhang ein Grundstück selbst beackert und ein Häuschen hat, das aus 4 Wänden und einer Decke besteht, die das Gebäude in zwei Etagen teilt. Das Haus dient nur zur Aufnahme von Nahrungsmitteln. Gewohnt und geschlafen wird im Freien.

Dort waren wir bis zur vorigen Woche. Dann entschlossen wir uns plötzlich, uns für eine Weile zu trennen. Mein Freund bummelt nun wohl barfuß in der Gegend von Pallanza herum, während ich in Lausanne bin, um unser beider Habseligkeiten morgen von hier nach Zürich zu bringen. Dort treffen wir uns sehr bald wieder.

Soviel von mir. Wie ich in Berlin lebte, Schulden machte, und in Kabaretts Clown spielte, wissen Sie selbst. Anhaltspunkte finden Sie wohl noch in meinem Artikel »Berliner Boheme« – in der Berliner Illustrierten Zeitung, einer Nummer aus dem August oder September vorigen Jahres, die ich nicht mehr habe.

Paul Scheerbart. Seine Charakteristik ist, wie gesagt, die des Safur in seinem Köchinnen-Roman. Die Tarub, der Bär, ist natürlich seine Frau, die ihn so gut versteht, daß er unter ihrer Obhut trotz der Schofligkeit literarischer Besoldung lebt und gedeiht. Er kriegt zu Hause zu essen und zu trinken, was er nötig hat, daß er aber trotz dieser Regelmäßigkeit im Leben noch immer echter, tüchtiger Bohemien ist, merkt jeder, der einen Blick in seine Bücher, also in seine Seele tut, und vor allem der, der sich mal mit ihm unterhält. Scheerbart ist kein Zeitgenosse. Er ist ein Mensch, der in Ewigkeiten lebt und der nicht auf der Erde, sondern in wer weiß welchen andern kosmischen Welten wirkt. Sein Lebensmotiv ist: Abkehr vom Irdischen, Abkehr von dem, was die Menschen gemeinhin bewegt, Aufgehn des Ich im All — daher auch Abkehr von der Liebe und der Freundschaft, dem Allerirdischsten. Lesen Sie Scheerbarts Bücher, betrachten Sie seine Zeichnungen, und unterhalten Sie sich eine halbe Stunde mit ihm – und Sie wissen, daß er eine Boheme-Natur echtester Sorte ist, und wissen auch, warum es so ist – darum, weil alles, was er sagt, schreibt, tut und denkt, zueinander in der prachtvollsten Harmonie steht, zu allem aber, was die Leute um ihn herum sagen, schreiben, tun und denken, im grellsten Disakkord.

Von erwähnenswerten Anekdoten möchte ich Sie an unsre gemeinschaftliche »Vaterland«-Gründung erinnern, deren Geschichte Sie ja kennen. Das »Vaterland« sollte ein Blatt werden, in dem wir durch systematische Lügenberichte eine Welt zeigen wollten, wie wir sie uns wünschen. Vor allem sollte sich das Blatt gegen den Militarismus wenden. Wir fanden denn ja auch wirklich einen Verleger dafür, mit dem wir völlig handelseins wurden. Leider kaufte dieser Verleger aber zwei Tage, bevor der Kontrakt unterschrieben werden sollte, der uns jedem ein Redakteurgehalt von monatlich 200 Mark versprach, zwei Annoncenblätter: »Das Casino« und »Die Kantine« – und er konnte doch, wo er diese beiden militärischen Zeitungen herausbrachte, nicht gleichzeitig unser antimilitaristisches Blatt verlegen! – Als die Nachricht kam, daß es mit der schönen gesicherten Existenz nichts war, kugelten wir uns beide auf dem Fußboden vor Lachen über diesen Witz des Schicksals. Nachher aber las mir Scheerbart aus seinem »Rübezahl«, an dem er damals grade arbeitete, eine Stelle vor, die so ergreifend war, daß wir beide plötzlich wie auf Kommando anfingen zu weinen wie die kleinen Kinder. – Augenblicklich bin ich bemüht, Scheerbart zur Übersiedlung nach Ascona zu bewegen. Wie es scheint, wird meine Bemühung Erfolg haben. Dann gehe ich mit Nohl

Peter Hille. Gott, was soll ich Ihnen von dem sagen? – Sie finden alle seine Erlebnisse in seinen Aphorismen wieder, und daß er sich nicht frisierte, keine reinen Kragen trug, sich auch sonst nicht immer bürgerlich-wohlanständig aufführte, weiß jedes Kind. Seine Eitelkeit war die, berühmt zu werden. Einmal fragte er mich ganz naiv: »Glaubst du nicht auch, daß ich nun bald berühmt werde?« Ich antwortete: »Aber, Peter Hille, du bist doch schon berühmt!« – Das wollte er kaum glauben. Immer wieder fragte er: »Wirklich? Glaubst du das wirklich?» und konnte sich vor Freude darüber kaum lassen. Einmal, als wir uns zusammen betrunken hatten, übernachtete er bei mir auf dem Sofa. Morgens ward ich plötzlich durch seinen Anruf geweckt. Er lag auf dem Sofa, und eins seiner nackten Beinchen baumelte herunter und pendelte im Takt immer hin und her. »Du, Mühsam«, sagte er mit Überzeugung, »ich finde, du hast Weltgemüt.« Dann schlief er wieder ein. Als ich dann wieder aufwachte, stand die Wirtin mit dem Kaffee im Zimmer – beinah hätte sie ihn vor Schreck fallengelassen, als sie des bärtigen Menschen ansichtig ward, der auf dem Sofa lag. Der aber sagte mit seiner sanften Stimme erklärend: »Sehn Sie, ich wohne nämlich in Schlachtensee«, was die Dame natürlich sichtlich beruhigte.

Weitere Geschichten, die ich mit ihm erlebte, will ich hier nicht erzählen. Außenstehende würden sie vielleicht nicht mit ihren Begriffen von Ästhetik vereinbaren können. Richtig würdigen kann die Vorgänge auch nur, wer den lieben Kerl in seiner Gesamtheit als Mensch kannte. Das Herausgreifen einzelner sehr komischer Begebenheiten könnte ihn aber vor Ihren Lesern profan erscheinen lassen — und das will ich nicht.

Ernst Roscius von Rhyn. Der Bestverkannte unter den Berliner Bohemiens. Ein Mensch, der sich konstant selbst verulkt und der darum natürlich bei vielen als rechter Witzbold gilt. Einige komische Geschichten finden Sie in meinem Boheme-Artikel in der »B(erliner) I(llustrierten) Z(eitung). Am besten ist, sie besuchen ihn mal selbst, und lassen sich von ihm erzählen, wie er z. B. die Dauerbrandkoksöfen, die ihm ein wohlwollender Ingenieur zur Heizung in sein Atelier stellen ließ, täglich 5 Stunden lang »begutachtete«. Gemeinschaftlich haben wir uns einmal dadurch zu Vermögen gebracht, daß er mir »Locken« herausschnitt und amerikanisch versteigerte. Die Damen rissen sich natürlich darum. Den Gewinn teilten wir uns.

Friedrich v(on) Schennis. Haben Sie mal seine Hände gesehen? Es sind die schönsten, die es geben kann. Er trägt Zwirnhandschuhe darüber, die aber die sauber gepflegten Nägel freilassen. Der geistreichste Selbstverächter, der mir je begegnete. Der schlagfertigste Kritiker und Dialektiker, den man sich denken kann. Es ist, ah ob seine Nerven außerhalb seiner Hände vibrieren. Für jeden hat er sofort, wenn er ihn sieht, eine schlagende Charakteristik. Von meinen Gedichten sagte er: »Äh — äh — der Mühsam – das Sauschwein — kotzt mit Grazie.« Er liebt es, junge Leute aus dem Volk, dreckige Schlachtergesellen usw. in hochnoble Restaurants mitzunehmen. Er ist Aristokrat von oben bis unten, gleichviel mit wem er sich gemein macht, gleichviel, wieviel Chartreuse er schon intus hat.

Margarete Beutler. Ich weiß nicht recht, ob man sie zur Boheme rechnen soll. Der innere Zwang, sich von der Familie freizumachen und dann denkbarst frei daraufloszuleben, ging bei ihr ursprünglich mehr aus dem »Schrei nach dem Kinde« hervor, und aus einem starken Solidaritätsgefühl zu ihren »Schwestern». Die kühnen Sprünge, die sie sich später leistete, sind, wie mir scheint, auf etwas noch weniger Zigeunerhaftes zurückzuführen: auf Theorie! – Immerhin ist sie eine Ausnahmeerscheinung, und wenn es mehr ist — eine starke Persönlichkeit. Anekdoten über sie werde ich nicht erzählen. Sie tragen allesamt zu intimen Charakter.

Dann nennen Sie noch drei: Lentrodt wie ich Ihnen schon schr(ieb), ein gebildeter Mensch ... Wenn es Anekdoten von ihm geben sollte, so müßten sie notwendig langweilig sein.

Dolorosa: Bohemienne – Ich weiß nur, daß sie masochistische Dichterin ist, und führe es darauf zurück, daß sich Liebe auf Hiebe reimt. Und

Lublinski. Aber! – Daß Sie den unter die Bohemiens zählen, ist ein Witz, über den er selbst lachen würde. Jetzt aber lache ich, weil ich mit diesem Brief fertig bin.

Adresse: Zürich, hauptpostlagernd

Ihr Erich Mühsam

 


 


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