Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war Sonnabend und das düstere Comtoir des Herrn Johannes Reike von allen Kundleuten und Arbeitern verlassen, denn sieben dumpfe Schläge vom Thurme der nahen St. Nicolaikirche hatten so eben den Schluß des Geschäfts verkündigt. Die eisernen Doppelthüren und schweren Läden wurden geschlossen, der Hausdiener hatte den Boden gekehrt und Sand gestreut, dann war der alte Mann auch gegangen, und nun lag die Vorfeier der Sabbathstille auf dem schweigenden Gemache, wo die ganze Woche über reges Leben geherrscht hatte und mit dem irdischen Mammon gefeilscht und gewuchert wurde.
Von den schwarzen, spitzen Bogengewölben hingen die Lampen an Messingketten mitten über den doppelten Schreibpulten. Ihr Licht, von grünen Schirmen eingefaßt, fiel glänzend auf die gewaltigen, mysteriösen Handlungsbücher voll Namen und Zahlenreihen, welche aufgeschlagen die Pulte bedeckten. Der Dämmerschein der Ampeln streifte an den Wänden hin über vergilbte Landkarten, Courszettel, Empfangscheine, Preiscourante und Börsenlisten. Ein einzelner blendender Strahl, aus einem Spalt des grünen Schirms hervorbrechend, beschien das Zifferblatt der alten, englischen Wanduhr, begleitete hin und her schwankend ihren langsamen Pendelschlag und heftete sich zuweilen an den weißgepuderten Kopf eines alten Herrn, der, über einen der Schreibtische gelehnt, still und sinnend in dem dicken Zahlenbuche las.
Der alte Herr kehrte sich jedoch durchaus nicht an diese Mahnung des ungeduldigen Lichtes. Er stützte den Kopf in seine magere, langgefingerte Hand, und nur nach großen Pausen richtete er sich auf, um gedankenvoll zu den Kisten emporzuschauen, welche, mit grauer Leinwand überklebt, wohl versiegelt und umschnürt, auf Gestellen nahe an der Decke fast das ganze Gewölbe umzogen. –
Die Kisten waren mit Anker und Schlangenstab versehen und trugen alle die große schwarze Inschrift: Cum Deo in Berolino. Unter diesen Worten stand noch größer zu lesen: Scripturae nebst der laufenden Jahreszahl von 1760 an bis zum Jahre 1805. Alles war sorgsam und schön geschrieben, wie von eines Kupferstechers Hand.
Der alte Herr jedoch schien an etwas ganz anderes zu denken, während er sie mit seinen großen, strengblickenden Augen betrachtete. Das faltenvolle Gesicht milderte sich zuweilen durch ein Lächeln, und dann sahen seine scharfgeschnittenen Züge, aus denen die Nase groß hervor trat, ehrwürdig und beinahe edel aus; bald aber kehrte der stolze, feierliche Ernst darin zurück, und die hohe stille Gestalt hing wie aus Stein gehauen über dem großen Rechnungsbuche; das Bild eines Wucherers, der seine Schätze überzählt.
Ihm gegenüber saß auf einem Drehstuhle ein seltsam anzuschauender kleiner Mensch, der zwei Schreibfedern hinter seinen Ohren und eine in seiner rechten Hand trug. Er war von der sichtlichsten Ehrfurcht vor dem hohen Wesen durchdrungen, das an der andern Seite des Pultes lehnte, und bewachte ängstlich jeden Blick und jede Bewegung desselben. Auf seinem dicken Kopfe trug er eine vorn rund geschnittene, hinten mit einem kleinen Zopfe versehene Perrücke, die ihm quer über die Stirn einen weißen Puderstrich gezogen hatte, welcher sehr wunderlich gegen sein rothes, fettes Gesicht mit den schmalen Augen und breiter, aufgestülpter Nase abstach. –
Bald bewegte nun dieser kleine Mann den Gänsekiel in seiner Hand unruhig auf einem weißen Bogen Papier, bald ordnete und wühlte er in den Briefen umher, die vor ihm lagen, bald zupfte er an seiner Hemdkrause, an dem blendend weißen Halstuche, in welchem sein Doppelsinn vergraben lag, oder an dem müllergrauen Frack, den er mit steigender Ungeduld auf- und zuknöpfte, bis er endlich einige mißbilligende und unaussprechlich verwundernsvolle Blicke auf den alten Herrn warf, der sich noch immer nicht bewegen wollte. Bei jedem kleinen Geräusch legte sich jedoch eine unermeßliche Demuth auf sein Gesicht, das stets auf der Lauer war, um mit einem unterthänigen Lächeln jede Frage zu beantworten, welche der alte Herr etwa thun könnte.
Es erfolgte aber keine Frage, und nach und nach packte der Buchhalter die Briefe in ihre Fächer, kehrte mit der haarigen Seite der Feder das Pult rein, legte Petschaft und Siegellack behutsam in einen Kasten und steckte ein halbes Dutzend Papierschnitzel in seine linke Rocktasche, voll geheimen Vergnügen bei der Berechnung, daß er zu Haus eben so viele stattliche Fidibusse daraus machen würde.
Dann zog er, mit einem scheuen Blicke auf den alten Herrn im Halbschatten, die dreigehäusige goldene Uhr aus der Tasche, betrachtete mit stillem Entzücken die Kette und die fünf Petschafte, worauf er dem Geber dieser schönen Gabe, dem großmüthigen Principal, einen dankbaren Blick zusandte. Zum unzähligsten Male wog er Alles nochmals in seiner Hand, und da es ihm vorkam, als sei die Uhr wenigstens um ein Loth schwerer, als er sie gestern noch geschätzt, lief eine solche aufregende Rührung durch sein Herz, daß er eine Prise aus seiner Schildpattdose nahm und seine innere Seligkeit durch einen ziemlich heftigen Schlag auf den Deckel ausströmen ließ.
Bei dieser unerwarteten Störung richtete sich der alte Herr auf und warf einen strengen Blick auf den erblassenden Verbrecher.
»Ich bitte um Verzeihung,« stammelte dieser, »es geschah ganz gegen meinen Willen.«
»Gegen Seinen Willen, Stibs!« erwiederte der alte Herr, indem er den Kopf schüttelte. – »Was auch ein Mensch thut, es soll und darf niemals gegen seinen Willen geschehen; wenn dieser Mensch aber ein Kaufmann ist, so ist das um so übler, denn solche Geistesabwesenheit und Willenlosigkeit muß Verwirrungen hervorbringen, Verluste bewirken, Wortbrüchigkeiten, denen der Ruin des Geschäftes folgt.«
»Ich bitte nochmals um Vergebung,« sagte der Sünder demüthig. »Ich war im Aufräumen begriffen.«
Der alte Herr wendete sich nach der Uhr, und sein Gesicht wurde merklich sanfter.
»Es ist spät geworden,« begann er dann, »ganz über die Geschäftszeit hinaus, und wirklich, Stibs, man kann sich vertiefen in seiner eifrigen Pflichterfüllung und darüber allein fast vergessen, was Gesetz und Sitte fordern.« –
Er schlug das große Buch zu und setzte den Zeigefinger auf den schweren Deckel.
»Ich habe die Zahlen darin betrachtet, Stibs,« sagte er mit einem leisen, kaum merklichen Lächeln. »Es sind schöne, lange, volle Zahlen, man sieht sie mit Vergnügen an. Auch ist nicht daran auszusetzen, daß etwa eitel Wind und Schaum dahinter stecke, denn Alles ist solid und fest.«
»Wir machen nur Geschäfte mit prompten Leuten,« rief Herr Stibs mit einem seligen Grinsen, indem er sich die Hände rieb. »Unsere Firma wird auf allen Handelsplätzen mit Respect genannt.«
»So ist es,« sagte der alte Herr stolz; »aber weiß Er auch, wie ich dahin gelangt bin?« –
Herr Stibs horchte mit unterthäniger Aufmerksamkeit.
»Weil ich immer wußte, was ich that,« fuhr sein Vorgesetzter fort, »weil ich an alter Sitte und Satzung hielt und so, mit Gott, mein Werk vollbrachte, ohne auf Tand und Flitter zu achten.«
Der Buchhalter warf einen langen Blick über die berauchte Halle, den der alte Herr verfolgte. –
»Von innen und außen keine Änderung,« sagte dieser mit strengem Tone, »kein modernes, gelecktes Wesen, kein Sand- und Staubwerfen in ehrlicher Leute Augen, das ist das heiligste, erste Gesetz, und wer das nicht beachten kann, der mag seinen eigenen Weg gehen. Mit mir geht er nicht, mit mir nicht!«
Er sagte das langsam, Silbe nach Silbe mit besonderem Nachdruck, starr vor sich hinsehend, als spräche er mit einer Person, die er nebenher mit den zornigen Falten seiner Stirn und dem Schütteln seines Zeigefingers bedrohte.
Herr Stibs schien aber recht gut zu wissen, was es zu bedeuten hatte.
»Es ist freilich sehr betrübt, hochverehrter Herr Reike,« erwiederte er seufzend und mit halber Stimme, »Daß es immer schlechter und schlechter in der Welt wird, daß die Ehrlichkeit verschwindet mit der alten guten Zeit, daß Handel und Wandel gestört werden durch blutigen Krieg und Mord, und die Jugend verspottet, was die Väter thaten. Aber ist denn nicht, wie in der heiligen Schrift steht, Leichtsinn das Erbtheil derer, die das Leben nicht kennen?«
Der alte Herr blätterte schweigend unter den Papieren, welche vor ihm lagen, bis er nach einem Weilchen die Augen wieder erhob, auf den Platz am andern Pult deutete und mit seiner strengen Stimme fragte:
»Wo ist er hingegangen?«
»Weiß es eigentlich nicht,« erwiederte der Buchhalter. »Es kam ein Brief gerade sieben Minuten nach halb.«
»Wer brachte ihn?«
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Stibs demuthsvoll, »ich weiß es nicht, der Brief wurde draußen abgegeben. Der junge Herr las ihn wohl zwei oder gar drei Mal, schien sehr unruhig, nahm aber plötzlich seinen Hut, ging fort ohne ein Wort zu sprechen, und ist nicht wiedergekommen.«
»Mein Sohn ist ein Narr!« rief der alte Herr zornig. »Fortzulaufen aus den Arbeitsstunden, seinen Platz am Pult räumen, ist für den Kaufmann ein eben so schweres Verbrechen, als verläßt eine Schildwache ihren Posten.«
Der kleine Buchhalter machte ein süßes, bedauerliches Gesicht, indem er den alten Herrn kläglich anblickte und einige leise Worte über die außerordentliche tiefe Wahrheit dieses Ausspruches murmelte.
»Es ist allerdings nicht zu läugnen,« sagte er dann seufzend, »der junge Herr hat die nöthige Ruhe nicht, welche für unseren hochachtbaren Stand gehört. Möchte wohl lieber einen Degen in die Hand nehmen, als eine blanke, spanische Pose, kennt und achtet es nicht, daß eine goldmachende Kraft in ihr wohnt, und wenn ich bedenke, wie die leicht fertige Zunge lose Worte ersinnt, die so hitzig über Stock und Block dahin fahren ohne das rechte Nachsinnen, so wird mein Herz tief bekümmert durch meine Gedanken.«
»O! ich weiß,« rief der alte Herr, »Er übt seinen Witz auch zuweilen auf Seine Kosten, Stibs.«
»Schadet durchaus nichts, verehrter Herr Reike,« versetzte Stibs mit verbindlichem Lächeln »und ist sicher auch so böse nicht gemeint. Der junge Herr liebt den Spaß, aber Ernst will Ernst haben, das bedenkt er nicht; was jedoch Mademoiselle Marie anbetrifft .. Herr Stibs hielt plötzlich in seiner Rede inne, denn draußen klopfte es heftig an der schweren Thür. Die Schläge hallten in dem stillen Gemache wieder.
»Es klopft wirklich,« sagte der Buchhalter nach einer Pause sehr verwundert.
»Wer kann es sein?« fragte der alte Herr.
»Ich dächte,« sagte Stibs erbittert, »jeder vernünftige Mensch müßte wissen, daß wir niemals ein Geschäft nach Cassenschluß machen. – Da klopft es zum zweiten Male!«
»Es wird mein Sohn sein,« sagte der alte Herr. »Öffne Er ihm. Stibs.«
»Der junge Herr!« rief Stibs, »o nein, gewiß nicht. Der hat eine andere Art zu klopfen. Diese Manier ist wirklich befremdend.«
»Nun gleichviel,« sprach der alte Herr, »öffne Er.«
Stibs schob den schweren Riegel zurück, hielt die Thür dann am Ringe fest und fragte durch einen kleinen Spalt wer da sei? Gleich darauf öffnete er aber ein wenig weiter, denn die Lampe auf dem Hausflur zeigte ihm die hohe Gestalt eines Herrn, welcher in einen weiten dunkeln Mantel gewickelt war. Die Frage: was der Fremde wolle, erstarb dem Buchhalter auf den Lippen, denn jener faßte in den Spalt der Thür mit so kräftiger Hand, daß Stibs kaum schnell genug die Finger aus dem Ringe ziehen konnte. Hierauf trat der Herr in das Comtoir und sagte, indem er seinen Hut berührte und einen schnellen, musternden Blick über den ganzen Raum warf:
»Ich wünsche Herrn Reike zu sprechen.«
Der alte Herr richtete sich von seinem Pulte empor und sah den Fremden würdevoll an. Ein Kaufmann war dieser sicher nicht, denn er hatte den Hut noch auf dem Kopfe, was dem reichen Handelsherrn eine ärgerliche Empfindung erregte. Das stolze, sichere Wesen des Fremden, seine trotzig und keck blickenden Augen, seine hohe Gestalt und eine gewisse Geringschätzung, die sich in seinen Mienen ausdrückte, verstärkten den Widerwillen, den Herr Reike empfand.
»Ich bin der, den Sie suchen,« sagte er. »Was wünschen Sie von mir.«
»Ich habe ein Wort mit Ihnen allein zu sprechen,« versetzte der Fremde.
Der alte Herr wendete den Kopf zu dem aufhorchenden Stibs, der in verwunderter Erstarrung den Fremden betrachtete, welcher den verehrten Principal so ganz ohne Umstände behandelte.
»Hier ist nur mein Buchhalter,« sagte der alte Herr. »Ich bitte daher, sich zu erklären.«
»Ich habe keine Handelsgeschäfte mit Ihnen abzumachen!« rief der Fremde ungeduldig und spöttisch lächelnd. »Es handelt sich um eine Angelegenheit, die Sie allein betrifft und mich, folglich jeden Dritten, wer dieser auch sein mag, überflüssig macht.«
Herr Stibs war von gerechtem Abscheu erfüllt, denn der Fremde begleitete seine Worte mit einer halben Wendung gegen ihn hin und mit einer Handbewegung, welche deutlich ausdrückte, er möge das Comtoir verlassen. Aber er trotzte dieser Aufforderung und drückte seinen Entschluß durch ein kurzes, heftiges Kopfschütteln aus, indem er die rechte Hand festgeballt auf das Pult legte, seine Feder dolchartig zwischen den Fingern geklemmt hielt und den linken Arm in die Seite stemmte.
In seinem Innern war Herr Stibs jedoch ein wenig ängstlich, denn der fremde Herr sah ganz aus, wie Einer, der daran gewöhnt ist, seinen Willen ohne Widerrede befolgt zu sehen. Sein Gesicht hatte für Stibs etwas durchaus Fürchterliches und Abstoßendes. Diese mächtige Körperlichkeit, diese schnell rollenden Augen, diese plötzlich zuckenden Lippen waren ihm äußerst fatal.
Er fühlte sich daher sehr erleichtert, als der alte Herr, nachdem er mit durchdringender Schärfe den Fremden gemustert hatte, langsam auf eine Seitenthür zuging, die in das Heiligthum seines Arbeits-Cabinets führte, und, indem er dies öffnete, durch einen schweigenden, einladenden Wink den seltsamen Besuch hineintreten hieß.
Der fremde Herr that dies ohne alle Complimente, was einen abermaligen Anlaß zum Aufruhr in Stibs erregte.
»In meinem Leben,« murmelte er grimmig zwischen den Zähnen, als die Thür sich geschlossen hatte, »in meinem ganzen Leben ist mir ein solcher Grobian noch nicht vorgekommen. Es sind durch diese Thür Männer gegangen, ja, bei Gott! Männer von einer Schwere, von einem Gewicht, zehnmal größer, wie dieser aufgeblasene Hans Narr da. In jeder Tasche, wohin sie schlagen mochten, saß eine Tonne Goldes, und doch ging nie einer über diese Schwelle, ohne seinen respectvollen Diener vor Herrn Reike zu machen; denn Jeder wußte, wen er vor sich hatte.«
Der kleine Buchhalter schwieg aber plötzlich, denn er fiel aus einer Verwunderung in die andere. Die laute und heftige Stimme des Fremden drang durch die festen Fugen der Thür, und was der reiche, stolze Handelsherr antwortete, der sonst immer die anstandsvollste Ruhe behauptete, schien kaum minder lebhaft zu sein. Selten oder nie kam sonst ein Ton aus diesem geheimnisvollen Tempel der höchsten Weisheit. Was dort gesagt und abgethan wurde, verlor sich geräuschlos in dem dunkeln Gewölbe, um zuweilen erst nach Monaten oder Jahren in fernen Gegenden der Erde zur That zu werden.
Herr Stibs horchte daher mit der allergrößten Verwunderung auf die abgebrochenen, laut schallenden Worte, welche dumpf und verworren, bald leiser, bald vernehmlicher zu ihm drangen; aber sein tief eingeimpfter Respect erlaubte ihm nicht, sich vom Platze zu rühren, obwohl er für sein Leben gern auf den Zehen bis an die verhängnißvolle Thür geschlichen wäre. Dreimal nahm er einen Anlauf, und eben so oft kehrte er nach den ersten Schritten wieder um, bis er zornig auf den Reitbock am Pulte stieg und seine Perrücke rund um den Kopf drehte, damit die drei Locken auf jeder Seite nicht mehr seine Ohren zukleisterten. Um besser zu hören, legte er nun, den Ellenbogen aufgestemmt, beide Hände, wie große Muscheln, hinter die Ohrenränder, und lauschte angestrengt, ohne eigentlich doch zu etwas Rechtem zu kommen.
»Auf meine Ehre!« rief die Stimme des Fremden, »es ist nicht ein Wort falsch daran.«
Was der Principal entgegnete, konnte Stibs nicht verstehen, aber er glaubte die Worte: Bösewicht – unmöglich – unnatürlich zu hören. Gleich darauf aber sprach der fremde Herr:
»Es hängt von Ihnen ab, sich zu überzeugen.«
Dann wurde leiser gesprochen, bis ein lautes höhnisches Lachen durch die Thür schallte, vor dem der kleine Buchhalter erschrocken zurückfuhr.
»Er lacht, so wahr ich lebe, er lacht den Herrn aus!« flüsterte er, aber dies ungeheure Verbrechen hatte, wie es schien, gar keine Folgen.
»Sie müssen es mir danken!« rief die kräftige Stimme von Neuem, »daß ich Ihnen die Augen öffne, obgleich ich nicht sagen will, daß es Ihretwegen geschieht.«
»Und was können Ihre Absichten dabei sein?« fragte Herr Reike laut genug, daß es draußen gehört wurde.
»Das ist meine Sache,« antwortete der Fremde. »Wenn ich diesen Weg wähle, so können Sie denken, daß es wichtig auch für mich sein muß. Im übrigen hüten Sie Sich! die strengste Vorsicht ist nöthig, wenn …«
Zum größten Ärger hörte Stibs nicht das Ende dieses Satzes, der ihn außerordentlich neugierig machte.
»Es muß jedenfalls doch ein Geschäft im Spiele sein,« murmelte er, »bei dem der Gelbschnabel uns Vorsicht empfehlen will. Credit geben, so etwas, wie?«
Er spitzte die Ohren, aber die Stimmen der Redenden waren zum undeutlichen Gemurmel geworden; endlich schienen sie ganz zu schweigen, und eine tiefe Stille herrschte in dem weiten, öden Gemache, das von der einzigen Lampe nur unvollkommen erhellt wurde. Die schweren Schatten in den Winkeln und Ecken drangen siegend vor, je mehr der Docht verkohlte. Sie wälzten sich langsam über die hohen Wände und spitzen Bogen, über die vergilbten Papiere und über das Zifferblatt der Uhr, welche Stibs mit sorgenden Blicken betrachtete.
»So etwas ist mir noch niemals passirt,« sagte er, und wischte sich mit dem Ärmel seines Rockes die Stirn ab, nachdem er den Zopf wieder in den Nacken gedreht hatte. »Es ist ein merkwürdiger Abend, den ich nicht vergessen will.«
Er horchte von Neuem eine Zeit lang und fuhr dann leise fort:
»Ich ängstige mich beinahe, so allein, wie ich bin, was mir auf keinem Fall verdacht werden kann; denn ist es etwa nicht ängstlich, hier zu sitzen in dem alten Hause, wo die Finsterniß von den Wänden trieft? Auch die verwünschte Lampe scheint zu wissen, daß sie nicht länger zu brennen nöthig hat, als Sitte und Brauch ist.« –
Ein Geräusch, von dem er nicht wußte, woher es kam, machte, daß er sich erschrocken aufrichtete. Seine Augen fuhren nach allen Seiten umher, dann streckte er den Arm aus und drehte die Schraube an der Lampe, daß der Docht hoch aufstieg und ein blendendes Licht sich plötzlich verbreitete.
In diesem Augenblicke ging die Thür des Cabinets auf, und Herr Stibs sprang mit einem Satze von dem Reitbock, um, gelähmt vor Erstaunen, unbeweglich und mit offenem Munde seinen verehrten Principal zu betrachten, welcher mit dem fremden Herrn in das Comtoir trat.
Herr Johannes Reike, der selten des Abends seine Wohnung verließ, am wenigsten am Wochenschluß und zu dieser späten Stunde, hatte seinen blauen Rockelor umgehängt, den kleinen dreieckigen Hut auf die Patent-Perrücke gesetzt, den großen Bambus mit goldenem Knopf in der Hand; kurz, er hatte ganz und gar das Ansehen, als wollte er in Nacht und Nebel mit dem Fremden einen weiten Weg antreten. Dabei war sein Gesicht geröthet, und seine scharfen, strengen Züge drückten einen Grad von Unmuth und Aufregung aus, wie der kleine Buchhalter es kaum je gesehen hatte.
Er ging mit festen, großen Schritten bei Stibs vorüber, ohne ihn anzublicken, öffnete die Eisenthür des Comtoirs und stieg, von seinem Begleiter gefolgt, die Stufen hinunter in den Hausflur, noch ehe der dienstfertige, kleine Mann irgend wie sich bemerklich machen konnte.
»Meiner Seele!« sagte Stibs tief athmend, als er das große Drückerschloß draußen in die Haken springen hörte, »da ist er schon auf der Straße. Aber wohin will er? Was hat er vor? Es ist merkwürdig! Es ist wunderbar! Man könnte denken, daß er verrückt …«
Hier hielt Herr Stibs bestürzt inne, entsetzt über seine Verwegenheit. Dann sagte er langsam:
»Es ist ohne Zweifel etwas durchaus Fürchterliches; denn wenn ich denke, wie er sich vor zwölf Jahren bei den großen amsterdamer Fallissements benahm, die uns so viel kosteten, daß manche solide Häuser erklärten, wir würden es nicht überstehen können, so ist das in keinen Vergleich zu stellen.«
Hierauf zog Herr Stibs kopfschüttelnd sein Taschenbuch aus dem Rocke, nahm seine Feder und sagte zu sich selbst:
»Das ist das Letzte, was du heute thust, Stibs, denn gesagt hat er nichts, nicht eine Silbe, nicht einmal: Adieu, Stibs! was gegen alle Sitte ist und von der Abwesenheit seiner Gedanken, dem Schlimmsten, was einem Kaufmann passiren kann, ein unwiderlegliches Zeugniß giebt.« –
Der kleine Buchhalter lächelte maliciös vor sich hin, indem er über den abwesenden Principal dies vernichtende Urtheil fällte, dann schlug er das Taschenbuch auf und sagte schreibend:
»Sonnabend den sechsten Februar eintausend achthundert und sechs, um acht ein halb Uhr Abends, hat Herr J. Reike verstörten Gesichts mit einem Fremden das Comtoir verlassen, ohne mich anzusehen oder sonstigen Befehl zu geben.«
Er blickte auf und ließ die Feder fallen, denn ihm gegenüber rauschte es vernehmlich laut, und zwischen Lampe und Pult durchblickend, sah er eine Gestalt stehen, die er nicht erkennen konnte.
Herr Stibs that einen ziemlich lauten Schrei, denn ein eiskalter Schauder lief über seinen ganzen Körper.
»Pst!« sagte mit muthwilligem Ton eine klare Stimme, »warum schreien Sie so, Herr Stibs?«
Der Buchhalter blickte noch einmal hin. Eine junge Dame im häuslichen Gewande stand vor ihm, das blonde Haar zu hohen Puffen und Tollen aufgethürmt, den schlanken Körper in ein großes, blumiges Tuch gewickelt. Er schöpfte Athem, und das Blut kehrte in sein Herz zurück.
»Ach, Mademoiselle Marie,« sagte er, »Sie sind es! wie können Sie einen Menschen so fürchterlich erschrecken?«
»Warum erschrecken Sie?« erwiederte das Fräulein lachend. »Ich hoffe doch nicht, daß ich Ihnen so fürchterlich bin?«
»Gott bewahre!« rief Stibs, »durchaus nicht, aber wer kann denn denken, Sie hier zu sehen? Es ist erstaunlich, wie man überrascht werden kann.«
»Nehmen Sie sich in Acht!« sagte die Dame, an das Pult tretend und mit dem Finger drohend.
»In Acht nehmen?« versetzte Stibs. »Ich? O, daß ich nicht wüßte! Keineswegs! warum denn?«
»Man erschrickt nicht umsonst; man hat ein böses Gewissen.«
»Ach, so!« rief Stibs grinsend, »Sie belieben immer scherzhaft zu sein mit Ihrem unterthänigen Diener!«
Mademoiselle Marie stützte das Kinn in eine ihrer kleinen weißen Hände, deren Finger tiefe Grübchen in ihre schimmernden Wangen drückten. Dabei setzte sie den Ellenbogen rücksichtslos auf das mächtige Hauptbuch des Hauses Reike und ließ ihre dunkelblauen, schelmischen Augen schnell über alle Herrlichkeiten des Pultes und über das fettig runde und glänzende Gesicht des kleinen Buchhalters gleiten.
»Sie haben dennoch ein böses Gewissen, Stibs,« sagte sie und deutete auf ihn hin.
»Ich kann Ihnen den heiligsten Eid leisten, Mademoiselle Marie,« betheuerte Stibs mit feierlichem Ernst, die Hand aufs Herz legend. »Ich war erschrocken, nun ja, weil es ist albern, so etwas zu erzählen, und wenn Herr Reike es hören könnte, würde ich es auf keinen Fall thun. Denn er hört es nicht gern und hat mir einmal gesagt, es sei eine Dummheit; aber dennoch giebt es Menschen, die so dumm sind, die Dummheit nicht begreifen zu können, und wenn ich sagen sollte, es wäre nicht so, so müßte ich lügen, denn wahr bleibt es.«
Hier schlug Mademoiselle Marie ein lautes Gelächter auf und steckte beide Zeigefinger in ihre Ohren.
»Um Gotteswillen,« rief sie, »was bleibt denn wahr, Herr Stibs?«
»Für die Wahrheit,« versetzte Stibs, »kann ich allerdings auf keinen Fall Revers leisten, aber wie gesagt, es giebt Menschen, die es gesehen haben wollen mit ihren eigenen Augen und es beschwören, so oft man es haben will. Sie nehmen das Abendmahl darauf.«
Die junge Dame schüttelte mit einem bedenklichen Blicke auf Stibs den Kopf.
»Werden Sie jetzt endlich bekennen, was Sie entschuldigen kann,« sprach sie, »oder wollen Sie sich mit Ausflüchten helfen?«
»Ich versichere Ihnen, es ist so,« sagte Stibs betheuernd, »und wundere mich, daß Sie noch nichts davon gehört haben.«
»Ich habe nichts gehört, am wenigsten bis jetzt etwas von Ihnen.«
»Wirklich!« rief Stibs. »Es ist merkwürdig!«
»Sehr merkwürdig.«
»Es geht manches vor, was wir nicht wissen.«
»Richtig, aber was geht vor?« fragte Mademoiselle Marie, indem sie auf die Blätter des Hauptbuches schlug.
»Bitte recht sehr,« sagte Stibs ängstlich, »nehmen Sie sich in Acht, daß kein Schade geschieht.«
»So nehmen Sie das dumme Buch fort. Ich hätte Lust, ein paar Blätter auszureißen, um Sie zu strafen.«
Mit einem gewissen haarsträubenden Entsetzen zog der Buchhalter, der schnell nach dem Schatz gefaßt hatte, diesen auf seine Seite und brachte ihn in Sicherheit.
»Sie wissen also nicht,« sagte er dann, »daß hier von diesem Hause und ganz besonders von diesem Comtoir eine seltsame Geschichte erzählt wird?«
»Ich weiß kein Wort davon.«
»Dann kann ich mir freilich erklären, wie Ihr Verdacht gegen mich eine fälschliche Richtung nehmen konnte,« sagte Herr Stibs lächelnd. »Dies Haus ist im Jahre des Herrn 1680 erbaut und gehörte damals einem ausgewanderten Franzosen, einem Emigranten, wie wir zu Deutsch kurzweg sagen, der sehr reich gewesen sein soll und die Handlung stiftete, welche jetzt unsere allgemein geschätzte Firma trägt.
»Schnell weiter!« sagte die junge Dame ungeduldig.
»Herr Reike, der Vater, heirathete bekanntlich die Enkelin des alten Mathieu, was sehr wohl gethan war, denn er erhielt damit die ganze Erbschaft, weil er die einzige Erbin heimführte; allein Mathieu – Jean Renaud Mathieu war die Firma – hatte noch eine zweite Großtochter, und mit dieser sollen gar wunderbare Geschichten vorgegangen sein.«
»Nun?« fragte Mademoiselle Marie erwartungsvoll.
»Ich weiß nichts,« sagte Herr Stibs achselzuckend und mit einer Stimme, die nach und nach zum Flüstern hinabsank, »aber der alte Mathieu soll ein finsterer, stolzer Mann gewesen sein und eine böse That gethan haben; dort in dem Cabinet.«
»Was hat er denn gethan?« fiel die Zuhörerin ein.
»Er soll die eigene Enkelin mit seinen Händen erwürgt haben,« flüsterte Stibs scheu umherblickend, »und diese That hat ihm schweres Geld gekostet, so viel, daß bei seinem Tode weit weniger vorhanden war, als man vermuthete. Es geht jedoch die Sage, er habe den größten Theil irgendwo hier in dem alten Hause vergraben; denn er war ein arger Geizhals, und wer es entdecken könnte, würde Manches finden.«
»Ach, dummes Zeug!« rief Mademoiselle Marie spöttisch lachend.
»Nein, nicht dummes Zeug,« sagte Herr Stibs gekränkt. »Herr Reike selbst, so wenig er die Dinge zu beachten scheint, hat doch verschiedentlich Nachsuchungen veranstalten lassen, die leider fruchtlos blieben. Aber einige Male beliebte er vertrauensvoll zu mir zu äußern, es sei nach alten Papieren und Büchern allerdings ein Räthsel, wo Mathieu sein Vermögen gelassen habe.«
»Dann ist es eine entsetzliche Geschichte, die Sie da erzählen,« sagte die junge Dame. »Ich schaudere und fürchte mich.«
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Herr Stibs. »Sie wollten ja durchaus wissen …«
»Weßhalb Sie so jämmerlich schrieen,« fiel Mademoiselle Marie ein. »Nun weiß ich Alles. Sie sahen mich für das erwürgte, unglückliche Kind des alten Geizhalses an.«
»Ich muß es gestehen,« erwiderte der kleine Mann, »Daß ich von einem jähen Schrecken ergriffen war. Aber bedenken Sie selbst, liebe Demoiselle Marie, wenn man so einsam sitzt und sinnt und schreibt, und plötzlich …«
»Plötzlich in argen Gedanken überrascht wird!« rief sie lebhaft. »Ich glaube in der That, Sie haben mir doch nicht die Wahrheit gesagt.«
»Es wäre mir unmöglich, Ihnen etwas vorzulügen,« sagte Stibs, indem er drei Finger feierlich empor hielt.
»Soll ich Sie auf die Probe stellen, Herr Stibs?« fragte die Dame drohend.
»Ich kann jede Probe aushalten,« versetzte Stibs energisch, indem er aufstand und seinen Rock zuknöpfte.
»So sagen Sie mir denn, was war der Inhalt der Unterredung, welche Sie gestern mit meinem Vormunde hatten?«
»Unterredung?« erwiederte Herr Stibs, verlegen lächelnd, »ich? … ja, so … ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Dort in dem Cabinet. Es war von mir die Rede.«
»Mademoiselle,« sagte der kleine Buchhalter hustend, »ich kann wahrhaftig sagen – ich nehme Handelsachen aus – sonst jedoch bin ich ein Schwachkopf an Gedächtniß; es ist merkwürdig!«
»Es war aber von einem Handel die Rede, mein werther Herr!« rief das Fräulein spöttisch, »von einem Handel mit meiner armen, kleinen Person. Ich will Ihrem Gedächtnisse zu Hülfe kommen. Sie legten meinem gestrengen Vormunde, wenn ich nicht irre, mein Vermögens-Conto vor.«
»Ihr Vermögen, Mademoiselle Marie, ist durch Herrn Reike's unablässige Sorgfalt ganz ungemein gewachsen,« sagte Stibs ehrfurchtsvoll.
»Darum gefielen ihm auch die Schlußzahlen. – Er wandte sich zu Ihnen mit einem seiner scharfen Blicke. ›Wie alt ist sie, Stibs?‹ fragte er. – ›Am 14. October neunzehn, Herr Reike,‹ antworteten Sie mit einem ausgezeichnet tiefen Bückling. – ›Gut, so soll sie ihn heirathen.‹ – Er sah zu Ihnen hin, auch Sie lächelten beistimmend. – ›Die Speculation,‹ sagte er, ›ist, wie ich denke, richtig kalculirt.‹ – ›Sehr richtig,‹ sprachen Sie. – ›Außerordentlich günstige Conjuncturen bei großer Nachfrage. Es dürfte von Wichtigkeit sein, so bald als möglich abzumachen.‹«
»Mademoiselle Marie!« rief Herr Stibs, mit dem Ausdruck gränzenlosen Erstaunens, »mir schwindelt der Kopf! Wie ist es möglich, daß Sie das wissen können?!«
»Nun bin ich gekommen,« fuhr sie lachend fort, »um Sie zu fragen, wie viel so recht eigentlich jeder Zoll von mir werth ist. Was kostet die Elle, Herr Stibs, genau berechnet nach Ihrem besten doppelten, italienischen Calcul?«
»Lieber Himmel!« sagte Herr Stibs. »Jeder weiß zu gut, wie unschätzbar Sie sind, und Niemand weiß es wohl besser, als der glückselige junge Herr.«
»Vortrefflich, daß Sie den erwähnen. Erzählen Sie mir etwas von ihm. Er versäumt und verträumt die Zeit, ist zerstreut, leichtsinnig, unbeständig, ein schlechter Kaufmann.«
»Wie viele heftige Vorwürfe machen Sie ihm in einem Athem!« rief der kleine Buchhalter innerlich ergötzt.
»Bei Weitem nicht genug, Herr Stibs. Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, ich hasse diesen Leichtsinn. Er erhält, wie ich höre, oft Briefe?«
»Recht oft.«
»Und von wem?«
»Ich weiß es nicht,« sagte Stibs. »Sie werden von verschiedenen Personen abgegeben, worauf der junge Herr dann gewöhnlich aus dem Comtoir zu entwischen sucht und nicht wieder erscheint.«
»Welch entsetzliches Benehmen!«
»Ich kann es nicht entschuldigen,« betheuerte der Buchhalter seufzend.
»Pfui über ihn! Aber was denken Sie davon?«
»Ich fürchte leider …« versetzte Herr Stibs, »doch nein, ich schweige.«
»Ich will es aber wissen!« rief sie befehlend.
»Nun denn, ich fürchte … ja, ich fürchte sehr, daß der junge Herr sich in schlechter Gesellschaft befindet.«
Eine plötzliche Blässe bedeckte das Gesicht des jungen Mädchens.
»Wie meinen Sie das,« fragte sie lebhaft, »was wissen Sie davon? Haben Sie ihn je in solcher Gesellschaft gesehen? Hier vielleicht? Eine Dame im schwarzen Mantel. Sie war hier im Hause!«
»Gott behüte und!« rief Stibs erschrocken, »durchaus nicht; ich habe nichts gesehen, und hier im Hause ein Frauenzimmer, o nein! Eine solche Verletzung aller Ehrbarkeit würden meine Lippen nicht auszusprechen wagen. Was ich von schlechter Gesellschaft sage, bezieht sich auf die Manieren und Redensarten des jungen Herrn.«
»Er flucht und schwört, wie ein Cavalier?« fragte Mademoiselle Marie beruhigter.
»Das eben nicht, aber er schimpft, schmält, spottet und bekrittelt Alles und Jedes,« erwiederte Herr Stibs. »Er verachtet Sitten, Gesetze, Obrigkeiten und dergleichen, und sagt zuweilen Dinge, wovor man schaudern muß.
»Abscheulich! Ich bin empört; ich hasse ihn!«
»Oh!« sagte Stibs. »Sie? Es ist merkwürdig!«
»Mir gefallen nur anständige, gesetzte, vernünftige Männer, die Ehrbarkeit und Sitte lieben.«
Herr Stibs stieß einen langen, brummenden Ton aus, und sein lächelndes Gesicht verklärte sich. –
»Theuerste Mademoiselle Marie,« sagte er, »wie wohl thut es, so etwas von Ihren holdseligen Lippen zu vernehmen! Den Damen gefällt der Leichtsinn meist gar zu gut.«
»Sie glauben also, daß die Briefe an Gustav von Damen kommen?«
»O!« rief Herr Stibs, »natürlich … ich sollte meinen … nun ja … wo sollten sie denn sonst herkommen? Erst heut Abend, als er fort war, kam einer.«
»Wo ist er?« fragte das Fräulein hastig.
»Ich habe ihn in dies Pult geschlossen.«
»Zeigen Sie ihn mir, lieber Stibs.«
Der kleine Buchhalter zögerte einen Augenblick und schien zu überlegen, ob es wohlgethan sei, dies Verlangen zu erfüllen. Er wog in seinem Innern ab, was er vorziehen solle, Mademoiselle Mariens Zorn, oder den des Herrn Reike jun.? Aber das schöne Mädchen stand vor ihm und lächelte so freundlich, ihre großen Augen sahen so bittend und bestimmend ihn an; er konnte es unmöglich abschlagen. So öffnete er denn die Klappe des Pults, zog einen Kasten heraus und fischte mit der Hand in der Finsterniß umher, bis er ein schmales, langes Briefchen hervorbrachte, blaßroth und fein von Papier, das, kunstvoll zusammengelegt, mit einem kleinen Siegel geschlossen war.
Mademoiselle Marie nahm es ihm rasch aus der Hand und hielt es dem Lichte nahe, während Stibs sich neugierig auf das Pultbrett stemmte und seine Nasenflügel, so weit wie möglich aufklappend, in die Luft schnopperte.
»Alle Hagel,« sagte er leise, »das duftet, wie Veilchen und Rosen. Es ist aromatisches Papier, wie ich vermuthe, ausländische Fabrik, und um die Aufschrift zu lesen, hat man beinahe einen Tubus von der Sternwarte nöthig.«
Die Aufschrift war allerdings mit sehr feinen Buchstaben geschrieben, deren Zierlichkeit auffallend war. –
»Es sind französische Buchstaben,« sagte Herr Stibs. »Die verdammten Franzosen!«
Im Augenblick jedoch stockte seine Rede. Er machte eine hastige Bewegung nach dem Briefe, denn zu seinem Erstaunen ließ Mademoiselle Marie diesen zwischen Halstuch und Mieder gleiten und verschwinden, worauf sie mit vieler Gelassenheit sich umwendete und nach der großen Thür ging, die ins Haus führte.
»Um Himmels willen!« rief Stibs bittend, geben Sie mir den Brief zurück.«
»Diesen Brief werbe ich behalten,« erwiederte sie. – »Sagen Sie Gustav morgen … doch nein, morgen ist Sonntag, ich werde ihn eher sehen, als Sie; sagen Sie also nichts. Den Brief soll er durch mich empfangen, haben Sie deßhalb keine Sorge. Ihre Dienerin, lieber Herr Stibs; gute Nacht und vielen tausend Dank.«
Sie schlüpfte schnell hinaus und war verschwunden, noch ehe Herr Stibs einen Entschluß fassen konnte. Einige Augenblicke rieb er sich die Stirn und fluchte innerlich, wie ein Landsknecht, dann aber stieg eine rachsüchtige Freude in sein Herz und kitzelte sein Zwergfell.
»Wird ihm ein Streich damit gespielt, dem Herrn Gustav,« sagte er, »so ist es mir recht, denn wie manche Streiche hat er mir schon versetzt. Ich denke noch immer daran, wie er mich – Martini war es ein Jahr – des süßen Weines voll machte und dann überredete den Zopf abzuschneiden. Ein Schnitt mit der großen Scheere, bauz! da lag er. Seiner auch, aber es wurde ja damals eben Mode, die Zöpfe abzusäbeln, wie es der wilde Prinz, der Ludwig Ferdinand Louis Ferdinand, Prinz von Preußen (1772-1806). Er war Feldherr (er fiel als General am 10. Oktober 1806 im Gefecht bei Saalfeld, vier Tage vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt), spielte aber auch Klavier und komponierte., gethan hat, darum war er froh, daß er ihn los war. Ich allein hatte den Ärger, den Schaden und den Spott wegen dieser unanständigen, heidnischen Barbarei; mußte mir eine Perrücke anschaffen, um nur vor ehrbaren Leuten erscheinen zu können, und Herr Reike sen. kanzelte mich ab, wie einen Schuljungen. Also meinetwegen mag sie ihm den Brief geben. Das allerliebste Kind wird seine Sache schon machen. Es ist ein Engel! aber es ist merkwürdig, wie sie …«
Er hatte während dieses Selbstgesprächs Hut und Stock genommen, eine kleine Laterne angezündet, die Lampe ausgelöscht und die Thür erreicht, als er bei seinen letzten Worten still stand und verwundert sagte:
»Wie sie hereingekommen ist, das kann ich nicht begreifen? Ich möchte darauf schwören, sie kam aus dem Cabinet; das ist ja aber unmöglich. Es ist weder Ausgang noch Eingang da, und durch das stark vergitterte Fenster kann doch auch Niemand steigen. Sie ist also hier hereingekommen, mag es geschehen sein, wie es will, es ist nicht anders. Ach! die allerliebste kleine Hexe. Stibs, wie sieht es in Deinem Kopfe aus!! Es ist eine schändliche Verwirrung darin.«
Er rief den Hausdiener, ließ die Eisenthüren schließen, die großen Schlösser vorlegen, und nachdem er Alles wohl geprüft und befohlen, die Schlüssel sofort in des Principals Zimmer zu legen und wohl zu bewahren, bis Herr Reike heimkehre, trat er auf die Straße hinaus.
Düster und kalt war es da. Die dunkeln, schweren Wolken, welche beinahe auf den Giebeln der Häuser zu liegen schienen, ließen vermuthen, daß der feine Regenstaub, der das Gesicht des Buchhalters benetzte, sich bald in große Tropfen verwandeln würde.
Herr Stibs warf einige forschende Blicke nach oben, schlug den Rockkragen dicht um die Ohren, murmelte einige anzügliche Worte gegen die blinden, trüben Laternen, welche in weiten Zwischenräumen durch Nebel und Nacht, wie rothe Glühwürmchen, schimmerten, und sprang mit verwegenen Sätzen über Regenpfützen und abschüssiges Pflaster quer über den Damm, bis er jenseits an den Gebäuden sich die trockensten Stellen aussuchte.
So gelangte er auf den Kirchhof St. Nicolai, und eben trat er auf einen der alten Grabsteine, die, versunken und schief geworfen, ihr verwittertes Gefüge kaum noch über den Boden erhoben, als die Uhr zu schlagen begann. Herr Stibs stand still und zählte, indem er zugleich die gelben Stulpen seiner wachsgewichsten Stiefeln besichtigte und kopfschüttelnd einige Schmutzflecken abwischte.
Als aber der zehnte Schlag kam, sprang er jählings von dem Leichensteine und rannte zornig vorwärts.
»Es ist unerhört, daß es zehn Uhr sein kann!« schrie er erbost. »Es kann einem nichts Ärgeres passiren. Es fehlte nur noch, daß die Todten aus ihren Gräbern kröchen, und der alte Probst Spener etwa da in seiner finstern Ecke aufwachte und mich hinderte, endlich der Pflege meines Leibes zu gedenken.«–
Leise schaudernd schwieg Herr Stibs still, denn eben stand er an der schmalen Biegung, wo die Häuser des Kirchhofs dicht an die Kirchenpfeiler springen, in deren Schatten der gemüthliche Stifter des Pietismus Der zuvor genannte Philipp Jacob Spener (1635-1705), ein deutscher lutherischer Theologe; er war die zentrale Gründerpersönlichkeit des lutherischen Pietismus. Als »Vater« des reformierten Pietismus gilt allerdings Theodor Undereyck (1635-1693) nach langem, unruhigen Leben in Frieden schläft; und ohne rechts zu blicken, wo der Wind mit trockenem Gezweig wild an die marmorne Gedächtnistafel in der Kirchenwand klopfte, bog Stibs schnell links um die Ecke und dehnte seine kleinen Beine zu langen Schritten aus.
Diese Eile wäre jedoch fast verderblich für ihn gewesen, denn plötzlich stieß er an einen hindernden Gegenstand, von dem er abprallte, und fast zu gleicher Zeit hörte er einige lärmende und lachende Stimmen, die lustigen Leuten angehören mußten, welche von der andern Seite des finstern Kirchhofs kamen.
Der Gegenstand, von dessen Berührung der erschrockene Stibs zurücktaumelte, war inzwischen in eine rasche und keinesweges freundliche Bewegung gerathen, denn plötzlich fühlte sich der Buchhalter am Kragen festgehalten und unsanft geschüttelt.
»Warte,« rief eine heftige, rauhe Stimme, »ich will Dich lehren auf meine Füße treten, Du kleiner Halunke.«
»Um Gottes willen,« schrie Stibs, der sich mühsam auf den Beinen hielt, »Was wollen Sie? Es ist nicht meine Schuld … die Finsterniß … Herr Gott, er zerreißt mir den Rock!«
»Laß ihn flicken, Schelm,« rief der Andere; »Schneider giebt es genug in der Welt; oder sei vorsichtig. Du mußt einen Denkzettel haben, daß Du künftig vorsichtig bist.«
Stibs machte eine verzweifelte Anstrengung, sich der Hand seines Peiniger zu entziehen, was so weit gelang, daß es ihm glückte, sich halb herumzudrehen. Der Hut fiel ihm vom Kopfe, zugleich sprang die Blende der kleinen Laterne auf. Ein heller Lichtstrahl fiel auf einen Herrn im blauen Reitermantel und auf die blanke Agraffe seines Officier-Casquets.
Ein ungeheurer Schreck bemächtigte sich des armen kleinen Mannes. Er gab allen Widerstand auf, von dem er nur Schlimmes erwarten konnte, und zog es vor, seine Überredungskunst geltend zu machen.
»Bitte tausend Mal, ich will gewiß vorsichtig sein,« sagte er kläglich. »Ich bin ein friedlicher Mensch; ich beleidige keinen Wurm; lassen Sie mich los; o! ich bitte unterthänigst, thun Sie mir nichts.«
Inzwischen waren die lustigen Leute schnell herbeigekommen.
»Was ist das? Was giebts? Was hast Du vor, Gernhausen?« schrien sie durch einander.
»Ich habe einen Frosch gefangen, der hier zappelt,« erwiederte der junge Offizier lachend.
»Licht in die Höhe,« rief ein Anderer, »wir müssen ihn besehen.«
Herr Stibs befolgte zitternd den Befehl. Er hielt die Laterne vor sein Gesicht.
»Es ist ein tüchtiges, fettes Thier,« sagte der Eine.
»Grün-grau gesprenkelt, ein Ochsenfrosch,« rief der Zweite.
»Frösche muß man bei den Beinen fassen,« fiel der Dritte lachend ein.
»Richtig, bei den Beinen!«
»Und er muß schwimmen,« schrie der von den jungen Herren, welcher den unglücklichen Buchhalter am Kragen hielt.
»Da drüben ist eine hübsche, breite Gosse, Gernhausen.«
Herr Stibs war vernichtet. Mit stieren Blicken die Laterne noch immer hochhaltend, fragte er sich verzweiflungsvoll, ob es Ernst oder Spaß sei, was er schaudernd hörte; aber kein Strahl des Mitleids leuchtete aus diesen rothen, erhitzten, übermüthigen Gesichtern. Er verfluchte sein Schicksal, das ihn in die Hände dieser gewaltthätigen Nachtschwärmer brachte, und mit Entsetzen hörte er unter ihren Mänteln das Klirren ihrer Waffen.
Er hätte gern um Hülfe geschrien, allein er war ein viel zu besonnener Mann, um nicht zu wissen, daß ihm das ganz und gar nichts genutzt, vielmehr sein Schicksal nur verschlimmert haben würde. Die paar Nachtwächter, welche für die Sicherheit der damaligen Hauptstadt sorgten, waren alte, abgelebte, verspottete Leute; der Nachtwächterposten, wie allgemein bekannt, ein Ruheposten. Es waren Invaliden, die sich wohl hüteten, sich in einen Streit zu mischen, der sie nichts anging, sondern in irgend einem Winkel schliefen und sich auf die andere Seite drehten, wenn Lärm entstand. Vor Allem aber gingen sie den jungen, trotzigen Herren vom Militair aus dem Wege, die viel zu sehr an Schlagen, Stoßen und die Canaille zu mißhandeln gewöhnt waren, um mit einem Nachtwächter Umstände zu machen. Wenn sie Schwerter rasseln hörten, oder das Blitzen der goldenen Treffen an den Hüten sahen, nahmen sie eben so wohl Reißaus, wie die friedlichen Bürger jener Zeit, und jeder dankte Gott, daß er es nicht sei, der in die Hände der wilden Junker gefallen.
So hatte denn auch der arme Stibs nur den einen Gedanken, heiler Haut aus diesen Nöthen zu entkommen, vor denen er sein Leben lang gezittert; denn der blanke Hut war ihm ein Gräul, und was er oft gesehen von denen, die ihn trugen, hatte ihm stets Entsetzen eingeflößt.
»Ich hoffe nicht,« sagte er stotternd vor Angst, »daß Sie einem unschuldigen Manne Gewalt anthun wollen, meine gnädigsten Herren. Sie kennen mich nicht – ach! ich bitte – ich würde es nie überwinden – meine Ehre!«
»Ehre!« schrie einer der lustigen Herren, »Frosch, Du bist allerliebst. – Wir wissen wahrhaftig nicht, mit wem wir es zu thun haben. – Wie heißen Sie, Frosch? Wer sind Sie?«
»Ich heiße Stibs,« erwiederte der Gemißhandelte zitternd und sich heftig sträubend, denn er wurde über den Damm nach der breiten Gosse gezogen.
Die Herren brachen in ein schallendes Gelächter aus.
»Stibs, Stibs!« schrien sie, »das ist ein prachtvoller Name.«
»Ich bin der erste Buchhalter des hochachtbaren Hauses Johannes Reike,« fuhr der kleine Mann flehend fort. »Es wird Ihnen gewiß bekannt sein.«
»Krämergesindel!« rief der Herr von Gernhausen. »Wie kommt das Volk dazu, sich ein Haus zu nennen? Schon darum muß es gepeitscht werben!«
»Erbarmen Sie sich!« schluchzte Stibs. – Er verlor den Boden unter den Füßen.
»Nein, Frosch,« erwiederte der junge Officier in demselben weinerlichen Tone, »es geht wahrhaftig nicht, Du mußt schwimmen.«
In diesem Augenblicke nahm einer der Herren dem Gefangenen die Laterne aus der Hand und beleuchtete ihn scharf. Ein Hoffnungsstrahl fuhr wie ein Blitz durch den Kopf des Buchhalters. Nein, er täuschte sich nicht. Das war derselbe stolzblickende Fremde, den er vor ein paar Stunden im Comtoir des Herrn Johannes gesehen, und welcher darauf den Prinzipal zum Mitgehen bewogen hatte. –
»O, mein Herr!« schrie er, »nehmen Sie sich meiner an, Sie wissen, daß ich ein schuldloser Mann bin.«
Der Fremde ließ die Laterne sinken, und indem er den Buchhalter am Arm ergriff und ihn von dem Abgrunde zurückzog, sagte er:
»Halt ein, Gernhausen, ich will Dir ein Wort sagen.« –
Er hielt Stibs in seiner ausgestreckten Hand fest und flüsterte seinen Gefährten etwas zu, worüber sie, wie besessen, lachten.
»Das ist ein prächtiger Gedanke! Ein Hauptvergnügen!« riefen sie, und der Beschützer des zitternden Buchhalters wandte sich nun zu diesem und sagte begütigend:
»Herr Stibs, wir bitten alle um Verzeihung. Es war ein grober Irrthum in Ihrer werthen Person, den Sie uns vergeben werden, wenn wir versichern, daß es uns unendlich leid thut, einen so würdigen Mann beleidigt zu haben.«
Welche Beruhigung für den zwischen Angst und Hoffnung schwebenden kleinen Mann! Die Worte klangen wie Musik in seinen Ohren. Sein Gesicht erhielt das längst entwichene Lächeln wieder, die schreckliche Hand fiel von seinem Rockkragen; er knöpfte die aufgerissenen Knöpfe zu, faßte nach seiner durchnäßten Perrücke und legte den Zopf zurecht. –
»Ich verzeihe Ihnen Alles, meine verehrten Herren,« erwiederte er verbindlich, »bitte – Gott sei Dank! daß es ein Irrthum war! – Es hat durchaus nichts zu bedeuten; aber mein Hut – wo ist mein Hut?«
»Hier ist er, lieber Herr Stibs,« rief einer der Herren, der ihn vom Boden aufhob und schmutzig, wie er war, auf den Kopf des schaudernden Buchhalters drückte.
»Tausend Dank!« sagte Stibs lächelnd; »doch wenn Sie nun gütigst erlaubten, möchte ich Ihnen die beste gute Nacht wünschen.«
»Mein theurer Herr!« rief der große Fremde, »es ist unmöglich, daß Sie uns so schnell verlassen wollen. Wir sind Ihnen Genugthuung schuldig; nie könnten wir es uns vergeben, Sie ohne diese entlassen zu haben. Zum Zeichen Ihrer vollen Versöhnung müssen Sie uns daher begleiten und unser Gast sein.«
»Ein Glas Champagner, Herr Stibs!« rief der Herr von Gernhausen.
»Eine Trüffel-Pastete mit Austern,« fügte der Andere verbindlich hinzu.
»Etwas Caviar, Marionaise von Fasan, Pouletten und dergleichen vorher,« fiel der Dritte ein.
»Und allerliebste Kinder, die Ihnen zum Schluß den Ananas-Cardinal credenzen,« sagte der Vierte.
Bei jeder dieser lockenden Verheißungen machte Herr Stibs eine tiefe Verbeugung. Ein gewisser Stolz erwachte auf einen Augenblick in ihm und mischte sich mit dem schlimmen Verdachte, daß dies alles eine neue Falle zu seinem Verderben sei. Mit so edlen, freigebigen Herren lecker zu speisen, war allerdings nicht zu verachten: Herr Stibs. war ein genauer, doch nichts desto weniger begehrlicher Mann, und was konnte er nach überstandenem Abenteuer nicht alles erzählen!
Doch seine innerste Natur sträubte sich gegen diese Versuchung; er sagte daher demüthig:
»Meinen unterthänigsten Dank für diese große Güte, meine Herren, aber – ich möchte doch lieber nach Hause gehen. Ich bin gar nicht daran gewöhnt, spät aufzubleiben, auch nicht in der Verfassung, um in Gesellschaft erscheinen zu können. Meine Haushälterin, die gute Frau, erwartet mich gewiß längst mit dem Thee und ängstigt sich krank, wenn ich ausbleibe; viertens endlich – ich bin ein sehr simpler, stiller Mann, es schickt sich nicht, es schickt sich durchaus nicht für mich.«
»Ich hoffe nicht, Herr Stibs,« versetzte der Fremde mit erhöhter Stimme, »daß Sie meinen können, es schicke sich für uns, was sich für Sie nicht schickt.«
»O, keineswegs – nein, wahrhaftig nicht!« sagte Stibs betroffen.
»Also keine Umstände!« rief der Herr von Gernhausen und faßte den Buchhalter unter den Arm. »Glauben Sie mir, Herr Stibs, – mein Wort zum Pfande! – Sie sollen einen köstlichen Abend verleben, dessen Erinnerungen Ihr ganzes Leben, welches der Himmel noch lange erhalten möge, erfüllen werden.«
So führte er ihn fort, und mit allerlei Tröstungen und liebkosenden Worten folgten die andern Herren.
Ihr Weg ging quer durch die schmalen Gassen, welche Reihen von Straßen durchschneiden, in denen von jeher das Handels- und Gewerbsleben sich eingerichtet hat. Herr Stibs würde mit gerechtem Abscheu jede Zumuthung verworfen haben, in so später Stunde durch diese unehrbaren Schlupfwinkel der Armuth und leichtfertigen Sünde zu streichen, und selbst jetzt zitterte er fast eben so sehr vor Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, wie vor Besorgniß, daß irgend ein Mensch ihm begegnen und ihn erkennen möchte.
Er hatte daher auch nichts einzuwenden, als einer der Herren die Laterne ausblies, aber er stieß einen kläglichen Seufzer aus, als diese, seine treue Begleiterin seit so manchem Jahr, im nächsten Augenblick zertrümmert in einen Winkel geschleudert wurde. Zu sagen wagte er nichts. Die Gassen waren stockfinster, der Regen schlug in großen Tropfen in seine Augen, auch die Herren wurden davon belästigt. Sie lachten und scherzten nicht mehr, sondern steckten die Köpfe unter die großen Kragen ihrer Mäntel. Stibs hörte bald nur hinter sich das beängstigende Klirren ihrer Sporen, das Rasseln ihrer langen Degen, und dann und wann ein lärmendes Wort, einen Fluch oder einen unziemlichen Witz auf ein Mädchen, das an irgend einem erleuchteten Fenster stand, der ihm schaudernd durch Blut ging, bis er endlich, gänzlich ergeben in sein unabwendbares Schicksal, sich willenlos weiter schleppen ließ und zuletzt nicht mehr wußte, wo er sich eigentlich befand.
Er hielt die Augen eine Zeit lang geschlossen; als er sie aufschlug, war er in einer breiten Straße. Seitwärts stand ein großes Haus mit Doppellaternen am Portal, vor welchem Schildwachen auf- und abgingen. Noch ehe er jedoch eine Übersicht gewinnen konnte, ward er von seinem Führer in eine Seitenthür geschoben, über einen Flur geleitet, dann über einen großen Hofraum, endlich eine Treppe hinauf durch einen langen, erleuchteten Corridor, an dessen Ende hinter einer Flügelthür Stibs einen Lärm hörte, der von vielen laut durch einander redenden Menschen herzurühren schien.
Er wagte jedoch keine Frage mehr. Es war ihm zu Muthe, wie einem jener Unglücklichen, die von den Dienern der heiligen Vehme gefaßt, geknebelt und vor das geheimnisvolle, schreckliche Tribunal geschleppt wurden. Er zitterte am ganzen Leibe und stolperte vorwärts, als er an beiden Schultern ergriffen über die Schwelle gestoßen wurde.
Herr Stibs stand betäubt. Ein blendender Lichtglanz umfing ihn. Gestalten drängten sich herbei; er hörte lachen, lärmen, fragen, und Manches darunter zielte ganz offenbar auf ihn; aber er war wie bewußtlos; er sah nichts mit offenen, großen Augen.
»Wen bringst Du da, Gernhausen?« riefen zehn Stimmen. »Ein Lindwurm! Ein fabelhaftes Geschöpf! Ein Meerungeheuer!«
Und ein nervenerschütterndes Gelächter folgte.
»Ich habe die Ehre,« erwiederte der große Fremde mit seiner mächtig schallenden Stimme, die feierlich ernsthaft klang, »Ihnen hier meinen Freund, den würdigen Herrn Stibs, ersten Buchhalter des hochachtbaren Hauses Johannes Reike, vorzustellen, der mir das Vergnügen gemacht hat, mein Gast zu sein und unsere Gesellschaft zu verherrlichen.«
Herr Stibs fand sich durch diese Erklärung ungemein ermuthigt. Er hatte den Hut von seinem Haupte genommen und machte links und rechts tiefe Verbeugungen. Jetzt richtete er sich auf und sah sich in einem Halbkreise von Herren, welche größtentheils die glänzenden, goldgestickten Röcke der Officiere von der Leibwache des Königs trugen und mit schlechtverhehltem Spott die ehrfurchtsvollen Begrüßungen des Buchhalters nachahmten.
»Mein theurer Freund,« sagte sein Beschützer, dem ein Diener den Mantel abgenommen, »ich bitte sehr, machen Sie es sich bequem. Sie triefen, wie eine Ratte; also fort mit dem nassen Pelz, zeigen Sie sich in voller Schönheit.«
Auf einen Wink war Stibs Rock, Hut und Stock los, und nun stand er in seinem müllergrauen Frack, den grünlichen Beinkleidern und den Stulpenstiefeln vor der Versammlung, die ihn mit unendlichem Jubel betrachtete. Man drängte sich um ihn, zerrte ihn hin und her, richtete Fragen an ihn, die er nicht verstand, bot ihm Dienste an, wofür er unzählige Male sich verneigte, grinste und ängstlich stöhnte, und führte ihn zuletzt im Triumphe zu einer gedeckten Tafel, an der er auf einen großen Polsterstuhl sich niederlassen mußte.
»Befehlen Sie, Herr Stibs, was Sie wünschen,« rief der große Herr. »Ich denke, unsere Abenteuer haben uns alle hungrig und durstig gemacht. Befehlen Sie Champagner, oder ziehen Sie Rheinwein vor? Ist Ihnen Braten oder Pastete gefällig?«
»Bitte,« erwiederte Herr Stibs, »bitte sehr, ich richte mich ganz nach Ihnen.«
In der nächsten Minute war er in überschwänglicher Weise versorgt, und jetzt erst empfand er die erste Genugthuung für so viele überstandene Leiden. Es hatte ihm noch immer geheim gebangt, daß irgend ein schreckliches Ende aller Täuschungen ihm bevorstände, nun aber hielt er das schäumende Glas in der Hand, und vor ihm standen und dufteten die auserwähltesten Speisen. Von allen Seiten rief man ihm zu, er möge sich nicht nöthigen lassen; man stieß mit ihm an, und mit jedem Tropfen floß ein Strom von Muth in sein verzagendes Herz. Seine kleinen Augen gewannen Leben und funkelten, sein rothes Gesicht begann zu glänzen, und innerlich sagte er sich:
›Was wäre ich für ein Esel gewesen, wäre ich nicht mitgegangen! So etwas habe ich während meines ganzen irdischen Daseins nicht erlebt, noch je davon gehört; ja, ich hätte nicht geglaubt, daß es möglich wäre. Gänzlich dumm aber müßte ich sein, wenn ich das Conto Blanco, welches mir hier eröffnet ist, nicht so gut, wie ich kann, benutzte, und den edlen Herren, die auf solche Weise ihr Saldo decken, nicht bewiese, daß ich die Bilanz gänzlich zur Zufriedenheit auszugleichen verstehe.‹
In kurzer Zeit war Herr Stibs der liebenswürdigste Gesellschafter geworden. Er trank mit jedem, der ihn ermunterte; er schien ein Schwamm zu sein, der, seit seiner Erschaffung trocken, sich ungeheuer ausdehnt, je mehr er in Nässe getaucht wird, und zahllose Poren öffnet, die sich vollsaugen müssen, ehe er untersinkt. Der große, fremde Herr hatte sich an seine Seite gesetzt und schien nicht müde zu werden, sein Glas zu füllen. Stibs nickte ihm immer zärtlicher zu, und schwor endlich, daß ihm kein größeres Vergnügen jemals in der Welt gemacht worden sei, als an diesem köstlichen Abend.
»Ich glaube es, Herr Stibs,« sagte sein Beschützer lachend, »denn wie ich denke, ist Herr Johannes Reike nicht eben sonderlich geneigt, Ihre fleischlichen Gelüste zu befriedigen.«
»Herr Johannes Reike,« sagte der Buchhalter – und er wurde plötzlich ernsthaft und blickte scheu umher; der Name machte eine sonderbare Wirkung auf ihn, – »Herr Johannes Reike ist wirklich ein etwas genauer Mann.«
»Ein genauer Mann?« rief einer der Herren. »Ein Geizhals ist er, ein abscheulicher, alter, schäbiger, filziger Geizhals!«
»Meine Herren!« schrie Stibs mit beifälligem Kopfnicken, »ich sage nichts.«
»Trinken Sie, Herr Stibs,« sprach sein Nachbar, »und fort mit allen Bedenklichkeiten!«
»Lirum, Larum!« rief Stibs, »meinetwegen sei er ein Geizhals; so viel ist gewiß, Champagner habe ich nie bei ihm bekommen, und Trüffelpastete noch viel weniger, obwohl er Geld besitzt mehr, wie wir alle, und einen einzigen Erben dazu hat.«
»Der ein eben so filziger Schuft ist,« fiel der Herr von Gernhausen ein.
»Der!« rief der kleine Buchhalter heftig lachend, »Der ein filziger Schuft?! Donnerwetter, wenn er das hörte! Aber nein, meine Herren, ich sage Ihnen, darin irren Sie. Dieser junge Mensch, dieser Herr Gustav Reike jun., ist ganz das Gegentheil von dem Herrn Papa; darum ist er auch Gegenstand seines unausgesetzten Kummers und Zorns.«
»Geben Sie Gründe an, Herr Stibs,« sagte der große Herr, »wenn wir nicht glauben sollen, Sie verleumden den würdigen Herrn Reike jun.«
»Gründe sehr viele!« rief Stibs. »Erstens hat er keine Ruhe auf dem Drehbock; verrechnet sich, verschreibt sich, ist gedankenlos; so sinnlos, daß er neulich Herrn Reike sen. statt eines Briefes nach London ein Papier voll Verse reichte, die er gemacht hatte, und welches dieser voller Abscheu zerriß, dabei aber einen Blick auf ihn warf, einen Blick, wie eine Klapperschlange, daß ich zitterte und vom Bock fiel.«
Ein schallendes Gelächter belohnte Stibs, der sein Glas austrank und dann fortfuhr:
»Ich sage Ihnen, meine hochgeehrten Herren, es ist ein ganz absonderlicher junger Mensch, wie blind und toll; habe meine Liebe Noth mit ihm, predige vom Morgen bis zum Abend; aber wenn er mich nicht auslacht, läuft er davon, und das Ärgste ist, daß Niemand weiß, wohin er läuft. Mademoiselle Marie weiß es nicht, der Herr Principal weiß es nicht, ich weiß es aber auch nicht. Hehe! es ist unerhört!«
»Er hat vielleicht einer Putzmacherin ewige Liebe geschworen,« sagte der Herr von Gernhausen, »oder stellt anderen zarten Jungfrauen nach. Wie, Herr Stibs?«
»Es kann sein!« rief Stibs heftig lachend, »wahrhaftig, es kann sein; aber nein, er wagt es doch nicht.«
»Es ist so,« antwortete sein Beschützer, »ich weiß es bestimmt.«
»Sie!« schrie Stibs, »Sie – Sie wissen es?«
»Verlassen Sie sich darauf, Herr Stibs,« fuhr der Andere fort, »ich habe ihn selbst gesehen.«
»Wie ist mir denn?« sagte der kleine Mann und faßte sich an den schwankenden Kopf. »Sie waren im Comtoir, und Herr Reike ging mit ihnen. Wo ist er geblieben? Sapperment, wohin haben Sie ihn gebracht?«
»Pst! Herr Stibs,« flüsterte der große Herr ihm ins Ohr: »Herr Reike tanzt auf einem Balle.«
Der Buchhalter starrte seinen Freund einen Augenblick mit den gläsernen Augen an, dann gerieth er in ein krampfhaftes Lachen. Er streckte die Arme in die Höhe und schlug sie zusammen, legte den Kopf auf den Tisch und hustete bis zum Ersticken. Endlich jedoch sprang er auf seine Beine, stemmte die Hände in die Seite, machte ein paar graziöse Menuettschritte rechts und links und schrie aus vollem Halse:
»Herr Reike tanzt, es ist unerhört, es ist sein Ende! Wenn er aber tanzt, will ich auch tanzen. Ich hab's gelernt, so gut wie Einer, bei Monsieur Petitjean, mort de ma vie!«
Unter dem heftigsten Beifallgeklatsch endete Herr Stibs seine Sprünge und taumelte in die Arme seines Nachbars, dem Gernhausen zuflüsterte:
»Laß es genug sein, Reichenau, es ist Zeit.
»Wollen Sie wirklich tanzen, verehrter Stibs?« fragte der große Herr.
»Ob ich will? Freilich will ich!« schrie Stibs und schlug auf den Tisch.
»Gut, Sie sollen tanzen. Was ist die Uhr?«
»Gleich Mitternacht,« antwortete einer der Diener.
»So kommen wir eben recht. Sind die Wagen da?«
»Alles ist bereit, Herr Graf.«»
Wohlan denn, mein theurer Freund Stibs!« rief Gernhausen und zog den Buchhalter mit mächtigem Arm aus dem Lehnstuhle auf, »jetzt gilt es Ihre Kunst zu zeigen. Bringt die Mäntel und Hüte.«
Aus einem Nebenzimmer wurde ein Arm voll bunter, sonderbarer Kleider, Hüte mit Federn und. Agraffen und ein Kasten mit Larven herbeigetragen.
»O je!« schrie Stibs, »es ist merkwürdig!«
»Höchst merkwürdig,« erwiederte der junge Officier; »herunter mit dem Rock!«
»Meinetwegen,« sagte Stibs lachend.
»Hier ist ein vortrefflicher Anzug für unsern Freund. Er soll als Pantalon erscheinen, die Columbine wird sich finden. Schält ihn aus.«
Ein halbes Dutzend Hände griffen mit Freuden zu, und nach wenigen Minuten stand Stibs, weiß wie Schnee, mit einer spitzen Mütze auf seiner Perrücke, sein pustendes, rothes Gesicht unter einer dichten, weißen Maske verborgen, mitten im Saale. Vor ihm zu seinem Erstaunen sprang ein Harlekin umher, der leichten Fußes ihn umkreis'te und seine Pritsche auf Stibsens Rücken probirte, zum größten Ergötzen der Spanier, Türken, Matrosen und Juden, deren dröhnendes Gelächter sich mit dem Zetergeschrei des kleinen Buchhalters vermischte.
Wenige Minuten später lärmte die lustige Gesellschaft die Treppe hinunter, und noch konnte Stibs keinen rechten Gedanken über das, was eigentlich mit ihm vorging, fassen, als er sich in einen Wagen gehoben und gestoßen fühlte, der rasch mit ihm und drei der anderen Masken fortrollte.
Die Redouten im Opernhause waren der Sammelplatz der feinen Welt, und damals standen sie in ihrer höchsten Blüthe. Der Hof erschien bei diesen glänzenden Maskenfesten, der lebhafte und galante Adel umschwärmte die gefeierten Schönheiten, welche sich um eine junge, reizende Königin sammelten, deren vollendete Grazie dem Geschmacke der Zeit zum Muster diente.
Man strömte während des Carnevals nach der Residenz, um entweder wenn man durch Geburt, Geld und Stellung dazu berechtigt war, Theil an diesen Zaubernächten zu nehmen, oder, wenn man den stilleren Classen der Gesellschaft, dem simplen Volke, angehörte, wenigstens Einlaß-Karten zu den Zuschauerplätzen in den Logen zu erhalten, um von dort aus den Aufzügen und Quadrillen, den Hoftänzen und Hofpromenaden zuzusehen.
Alle Räume des großen Hauses, alle Säle und Gemächer waren daher auch heute bis auf den letzten Platz gefüllt. Unten wogte das bunte, lärmende Maskengedränge, und in jener Zeit war es fröhlicher, als jetzt. Wer die Maske vorband, warf alle Sorgen fort und versuchte so toll und neckisch, wie möglich, sich zu geberden. Niemandem fiel es auf, Niemand nahm es übel. Jeder war so witzig und spöttisch, wie er sein konnte, foppte, wer irgend zu foppen war, theilte aus und empfing oder bezahlte mit gleicher Münze, und nirgend war Streit, überall Gelächter, tolle Lustigkeit und Scherz, bis von Stunde zu Stunde die Trompeter bliesen und aus der goldblitzenden, königlichen Loge herab der Zug kam, ein Götterzug, ein Ritterzug oder ein Sultanzug von Indien und Persien, dem alles entzückt nach- oder voraneilte.
Draußen stand die Grenadierwache und hielt Ordnung aufrecht. In seinem Leben war Stibs noch nie mit Säbeln und Gewehrkolben in so ängstlich nahe Berührung gerathen, als jetzt, wo er rasch durch ihr Spalier gerissen, in den Saal bei den Buffets vorbeitaumelte, an denen mit königlicher Freigebigkeit jede mögliche Art kühlender Getränke, Wein, Kuchen, Gelees, Eis und viele andere Erfrischungen unentgeltlich verabreicht wurden.
Stibs gerieth in eine Art wildes Entzücken über alles, was ihm geschah. Er war noch nie auf einer Redoute gewesen. Heimlich hatte er wohl einige Male angesetzt, um zu einem Zuschauer-Billet zu gelangen, allein es war ihm immer wieder leid geworden, obwohl auch die Zuschauer an der Vertheilung der süßen Genüsse unumschränkten Antheil hatten, was ihn sehr reizte. Herr Johannes Reike hatte sich stets über diese Feste, auf welchen vernünftige Menschen sich zu Narren herabwürdigten, so verdammend ausgesprochen, daß ihm alle Lust verging, das Wagstück zu unternehmen; denn wenn er verrathen wurde, hätte er nie die Scham und den Ärger überwunden.
Jetzt aber in seiner langen, weißen Jacke unter der Maske, die wie ein Pechpflaster auf seinem triefenden Kopfe klebte, vergaß er Alles über die Lust und den Glanz, dessen Theilnehmer er war. Der Wein tobte in seinem Gehirn und klopfte in allen Pulsen, doch er fühlte es nicht. Es war ihm über die Maßen behaglich, und der furchtsame Mann, welcher sonst keinen Stein betrat, den er nicht genau kannte und vorsichtig geprüft hatte, stürzte sich ohne Bedenken unter den bunten Schwarm und sprang wie besessen, rechts und links Stöße austheilend, darin umher. Ohne Zweifel wäre er bald von seinen Begleitern getrennt gewesen, wenn ihn nicht Harlekin getreulich begleitet hätte, der dann und wann mit einem schallenden Schlage auf den Rücken ihn festhielt und seinen Jubel mäßigte.
Die groteske Gestalt, die seltsamen Bewegungen und die sonderbaren Laute, welche Stibs von Zeit zu Zeit ausstieß, erregten Lachen, Witz und Hohnworte bei Vielen; aber Pantalon kehrte sich an nichts, und erst als ein ungeheurer Hahn mit fünf oder sechs Hühnern ihn krähend anlief, seine Flügel schüttelte und die ganze gefiederte Gesellschaft gegen ihn aufflog, gerieth er in Angst, retirirte, duckte sich, sprang zurück und machte seine Sache so possirlich und natürlich, daß sich ein ganzer weiter Kreis von Zuschauern um ihn sammelte, die ihm unter heftigem Lachen Beifall klatschten.
Endlich ließ man ihn frei, aber vergebens sah er nach seinen Bekannten aus. Die seltsamsten Nasen, Schnäbel, Warzen und andere wunderliche Unförmlichkeiten umringten ihn. Fledermäuse schwirrten umher, ein Storch pickte ihn an, ein Wunderdoctor gab ihm eine Hand voll Pillen und eine schlanke Columbine eine Ohrfeige. Er sah allen Spaniern ins Gesicht, lief allen Harlekinen nach, die ihn statt der Antwort abbläuten, hielt einen fest, der ihm dafür einen derben Stoß versetzte, und sagte endlich ganz lustig:
»Gut, wenn sie mich nicht aufsuchen, ich sie noch viel weniger. Es ist ganz prächtig hier; Element, was bin ich durstig! Heda, Spanier oder Jude, was bist Du eigentlich, alter Graubart? Was siehst Du mich an? gefalle ich Dir vielleicht?«
Stibs richtete diese Worte an einen Herrn in spanischer Tracht, der in einer Maske mit langem weißem Bart langsam an ihm vorüberging, dann stehen blieb, ihn aufmerksam betrachtete und endlich den Kopf schüttelte.
»Ich gefalle Dir also nicht?« fuhr Stibs fort. »Auch gut; es ist merkwürdig, es geht mir eben so, Jude, Du siehst aus wie ein Kaspar, wie ein Geizhals, fast wie …«
Hier hielt Stibs ein, warf dann noch einen Blick auf die Gestalt und fing an ganz ungeheuer zu lachen. Es kam ihm vor, als hätte ihm Jemand ins Ohr gesagt, Herr Reike sei hier, und das sei er, der vor ihm stehe. Er wußte nicht, wer es eigentlich gesagt, aber der Gedanke war erschütternd komisch für ihn.
»Sapperment!« rief er, »es ist zum Todtlachen, aber wo ist mein Harlekin? Hast Du ihn nicht gesehen, Jude? Wenn Du wüßtest, was ich weiß; wenn Du wüßtest, was ich jetzt denke!«
Die Maske streckte den Arm aus und hielt den davon eilenden Stibs fest. Aus den hohlen Augen warf sie einen sonderbar starren Blick auf ihn, und unter dem Bart hervor sagte sie mit dumpfer Stimme:
»Es ist nicht möglich, daß wir uns kennen.«
»Nein, es ist ganz unmöglich!« rief Stibs. »Es ist merkwürdig!
»Man treibt, wie es scheint, ein falsches Spiel mit mir,« fuhr der Jude lebhafter fort, »und will sich durch die Darstellung solcher Gaukeleien auf meine Kosten belustigen. Aber man irrt sich; ich lasse mich nicht täuschen.«
»Kein verständiger Kaufmann wird sich täuschen, lassen,« sagte Stibs. »Valuta baar, das ist die Hauptsache.«
»Wer Sie auch sein mögen, Herr,« erwiederte die Maske, »Sie spielen Ihre Rolle ziemlich gut, doch seien Sie sicher, um der zu sein, der Sie sein wollen, fehlt Ihnen doch die rechte Haltung.«
»Um der zu sein, der ich sein will?« rief Pantalon nachdenkend. »Ich weiß wirklich nicht, wer ich sein will.«
»Ist es nicht Ihre Absicht, mir einzubilden, daß ich den Buchhalter Stibs vor mir sehe?« fragte die Maske.
Stibs starrte den Juden an. Ein Anflug seltsamer Ahnung kam über ihn, er konnte sie jedoch nicht in sich aufnehmen.
»Still!« rief er lustig, »machen Sie keinen schlechten Spaß, werther Herr. Allerdings Stibs. Gotthilf Samuel Stibs, so genannt in der heiligen Taufe, aber kein Wort davon, zu Niemandem, besonders nicht etwa zu Herrn Johannes Reike, dem alten Geizhals, Sie wissen – Geizhals. Wir sagten: schmutziger, nichtswürdiger Geizhals! Es ist merkwürdig! Wenn er das wüßte!«
Mit einer verächtlichen Handbewegung wendete sich die Maske ab.
»Wenn ich von solchen Bosheiten beleidigt werden könnte, so möchten Sie Ihren Zweck erreichen!« rief sie, »aber noch einmal, Sie verfehlen diesen bei mir. Gehe darum der Narr zu anderen Narren, oder ist das, weshalb ich hier bin, wirklich wahr, so eilen Sie, zeigen Sie mir, was ich zu sehen wünsche, und geben Sie eine Rolle auf, die nicht für Sie paßt, die Rolle des ehrlichen, albernen Stibs.«
»Herr Gott!« stammelte Stibs, denn es war ihm wirklich, als spräche der gestrenge Principal, ›mein würdigster Herr Reike‹.
»Es ist aber doch nicht wahr!« schrie er: »Sie wollen mich erschrecken, Sie Spaßvogel. Sie sind es ja auf keinen Fall, und ich glaube es Ihnen doch nimmermehr, bei aller Mühe Ihrer werthen Person.«
»Eine Viertelstunde bleibe ich noch in diesem Narrenhause,« sagte die Maske zornig. »Ist es Ihnen dann nicht gefällig, mir Aufschluß zu ertheilen, so nehme ich an, daß man freventlichen Spott mit mir und meinen väterlichen Schmerzen trieb; daß alles eitel Lüge und Bosheit war, und eine berechnete Nichtswürdigkeit Unehre auf mich und meinen Sohn werfen wollte. Lassen Sie mein Kleid los, und schämen Sie sich, wenn Sie das können. Als ein Possenreißer stehen Sie vor mir, der Unheil fördern will; denn wenn ich leichtsinnig glaubte, es sei in Wahrheit der Stibs ein solcher verpesteter, frecher Taugenichts, nie sollte sein Fuß wieder über meine Schwelle treten.«
Der kleine Pantalon stand wie angedonnert. Ein Schauer rann durch sein Herz, es war das Vorgefühl seines einstigen Erwachens. – Er sah sich um, und ein weinerlicher Gedanke überschlich ihn. Sein Rausch drohte zu zerreißen; allein es war ein einziger schrecklicher Augenblick, dann kehrte der heitere Leichtsinn in seine Brust zurück. Er lachte dem Juden nach, der ihn verlassen hatte. –
»Warte,« sagte er, »ich will Dir's gedenken; komm mir nicht wieder. Wenn ich nur nicht so müde wäre und irgend ein Plätzchen wüßte, wo ich sitzen und Athem holen könnte. Mein Kopf, meine Augen! O, Du verdammter listiger Jude!«
In diesen Augenblicke stieg der königliche Zug zum letzten Male die Treppe hinunter und hielt seinen Umzug durch den Saal. Mohren und Trabanten in goldgestickten Gewändern eröffneten ihn, eine Schaar von Odalisken in Silberzindel folgte, dann erschien die reizende Sultana an der Hand ihres Paladins, und nun ein Gefolge von Prinzen, Heerführern, Weisen, Zeichendeutern und Zauberern, die mit Goldschmuck, Perlen und köstlichem Geschmeide bedeckt waren.
Stibs wurde von dem Sturme der Masken fortgerissen, die den Zug begleiteten, und in dem Jubelruf, in dem Schmettern der Trompeten, in dem Wirbeln der Pauken und Becken verhallten seine Seufzer und seine Bitten um Nachsicht, wenn er getreten und zwischen großen Nachbarn gequetscht wurde.
Plötzlich aber hielt der Zug. Ein Seil von rother Seite wurde ausgeworfen und – ein Kreis damit gebildet. Hunderte von Händen hielten die Schnur ausgespannt, und irgend ein glücklicher Genius übernahm es, auch Stibs dicht an den Rand dieser seidenen Schranken zu bringen und seine Finger daran festzunesteln. –
»Es ist merkwürdig!« schrie Stibs; aber es war in der That so. Er stand ganz vorn, und dicht bei ihm bewegten sich nun die glänzenden, vornehmen Leute, deren er sonst auf Meilenweite mit einer Anwandlung tiefster Ehrfurcht gedachte; dicht an seinen Füßen tanzte die edle Sultana, und der Sultan trat ihm sogar auf den Fuß, daß die Zehen knackten. Es war ein wundervolles Schauspiel, das Alle begeisterte. Stibs fühlte die größte Lust, mit hinein zu springen, aber er konnte sich nicht rühren, denn dicht war der Kreis umringt von Masken.
Plötzlich änderte sich die Scene. Die Odalisken begannen eine Quadrille mit den Leibwachen. Die schlanken, blitzenden Gestalten, ihre weißen Nacken, ihre lieblichen Arme, welche Zweige von Silberblumen schwangen, ihre zarten und üppigen Körper, welche in seltsamen Windungen sich zu biegen und zu drehen wußten, machten einen ganz besonderen Eindruck auf den kleinen Buchhalter. Nie in seinem Leben war ihm ein solcher Anblick geworden.
Er fühlte eine wunderbare Regung; er starrte sie an, als suche er sie zu verschlingen, und ganz besonders war Eine darunter, die den Reigen führte, eine feine, edle Gestalt, so zierlich, so gewandt, so herrlich glänzend und von so anmuthiger Bewegung, wie er nie ein Mädchen gesehen hatte. Sie trug in Stibsens Augen den Preis davon. Er verfolgte sie durch alle Schlingungen des Tanzes; er staunte die Perlenbänder an, welche ihre schwarzen Locken zusammenhielten, die Perlentropfen, die in schweren Trauben an ihren Ohren hingen, und wenn sie an ihm vorüber kam, hätte er sein Salaire für drei Monate darum gegeben, wenn er ihr Antlitz gesehen hätte, das hinter der Halbmaske von Atlas seiner Neugier verborgen blieb.
»Es ist eine Prinzessin wenigstens« sagte er, »und sie muß unermeßlich reich sein, denn ich weiß, was Perlen kosten. Und schön muß sie sein, tausend Mal schöner, als Mademoiselle Marie, die doch auch nicht zu verachten ist.« –
Hier wurde Herrn Stibs das rothe Seil aus der Hand gerissen. Der Tanz war aus, ein Beifallsturm beschloß ihn, die Masken drängten dem Zuge nach. Stibs bekam einen heftigen Stoß, taumelte, richtete sich auf und empfing zum Willkommen einen schmetternden Schlag von der Pritsche seines Harlekin, der mit einer Columbine am Arme hinter ihm stand.
»Alle Wetter!« rief Stibs ärgerlich, »macht es nicht zu grob!«
»Soll ich ihm noch einen Denkzettel geben, Columbine?« fragte der Harlekin, indem er den Stab von Neuem schwang.
»Nein,« erwiederte sie mit feiner Stimme, indem sie den Arm ihre Begleiters los ließ und den des Buchhalters ergriff, »diesmal will ich ihn schützen, den armen geplagten Pantalon. Komm, Pantalon, wir wollen davon laufen; ich will bei dir bleiben und dir treu sein.«
»Nimm ihn mit, Columbine!« rief der Harlekin, »und hebe ihn gut auf, bis ich dich wiederfinde.«
»Willst Du mitgehen, Pantalon?« fragte sie.
»Wohin?« sagte Stibs, dem der Druck ihrer weichen Hand sehr wohl gefiel.
»Laß uns dort den Saal hinunter gehen in die kleinen Lauben. Wir wollen uns setzen und Eis essen.«
Sie zog ihn fort, und Stibs folgte gern. – Am Ende des Saales hatte man die Umfassungsgänge in Blumen- und Orangenlauben umgewandelt, Stühle und Tische hineingesetzt, und hieher zog die Columbine ihren Begleiter. –
»Geh und hole Eis, dort vom Buffet,« sagte sie.
Stibs ging gehorsam und holte, was sie begehrte. Als er zurückkam, saß die Columbine, den Kopf in die linke Hand gestützt, in der andern hielt sie, die losgebundene Maske einige Zoll von ihrem Gesicht und fächelte sich Kühlung zu. – Mit einem raschen Blick glaubte Herr Stibs zu bemerken, daß sie schön und jung sei. Er sah eine hohe, gewölbte Stirn und zwei blitzende Augen, welche sich schalkhaft von Neuem verbargen, nachdem sie ihm schelmisch zugelächelt hatten.
Der Himmel weiß, welche kecke Regungen sich in diesem Augenblicke bei dem kleinen Manne entwickelten, aber er setzte sich zu ihr und gebrauchte ein Maskenrecht und den Vortheil, den sein Pantalonskleid ihm gab. Er legte den Arm um ihren schlanken Leib und griff, ohne ein Wort zu sagen, mit seinen Fingern nach der neckischen In der Vorlage: »neidischen«. Verhüllung ihres Gesichts. – Eben so stumm hatte die Columbine inzwischen die Maskenbänder zugeknüpft, und plötzlich fühlte Herr Stibs zwei derbe Stiche auf seinen fleischlichen Tastwerkzeugen, die er mit einem lauten Au weh! zurückzog.
»Was fällt Dir ein, Pantalon?« sagte die Columbine, indem sie von ihm abrückte.
»O, zum Henker!« schrie Stibs erschrocken über die Stiche; »ich bitte tausend Mal um Verzeihung, aber Sie haben mich fürchterlich gestochen, theuerste Mademoiselle Columbine!«
»Und doch bin ich Dir sehr gewogen, Pantalon,« versetzte sie.
»Mir gewogen!« rief dieser. »Es ist ein sonderbarer Beweis von Gewogenheit, blutende Finger.«
»Blutende Finger und Nadelstiche sind Zeichen meiner besondern Gnade. Ich finde Dich entzückend, Pantalon.«
»Es ist merkwürdig!« lachte Stibs vergnügt, »Du allerliebste kleine Hexe, wie eine Marzipanpuppe siehst Du aus.«
»Pfui!« sagte die Columbine, »hübsch ehrbar, Pantalon! Ein so gesetzter, solider Mann muß nie vergessen, wer er ist.«
»O je!« schrie er, ganz außer sich über ihre Schelmerei, »ich ein gesetzter Mann? Alle Hagel! wer bin ich denn?«
Sie nahm seine Hand und sah hinein.
»Ich will Dir wahrsagen,«, sprach sie. »Ei, das sind feine Linien und Züge. Es ist eine glückliche, gute Hand, auf der allerlei Segen ruht, emsige Arbeit und Fleiß.«
»Weiter,« sagte Stibs wohlgefällig.
»Du schreibst viel und rechnest viel.«
»Deutsch und Englisch,« fiel Stibs stolz ein, »auch etwas Holländisch, und rechne dabei ohne alle Cours-Tabellen.«
»Richtig, hier steht es; aber, Pantalon, Du bist verliebt.«
»Ich!« schrie Stibs. »In meinem Leben ist es mir noch nicht passirt.«
»Hier steht es, und daneben erblicke ich eine junge Dame, blond, mit blauen Augen.«
»Es ist Mademoiselle Marie,« sagte Stibs. »es ist merkwürdig!«
»Nimm Dich in Acht,« flüsterte die Columbine, »sie hat ihr Auge auf Dich geworfen. Sie soll heirathen und will nicht.«
»Das ist nicht wahr,« erwiederte Stibs, »sie will, aber er will nicht.«
»Du lügst, Pantalon. Sie hat Dir selbst gesagt, daß sie nur verständige und gesetzte Männer leiden möge und Dir deshalb ihr Vertrauen schenke.«
Stibs blickte starr in seine Hand.
»Ist es denn möglich,« flüsterte er, »daß das alles da steht?«
»Noch mehr,« fuhr sie fort. »Dir droht Gefahr.«
»Was?« sagte er erschrocken. »Gefahr? Wie so?«
»Wenn man Dich erkennt, bist Du verloren. Du weißt es nicht, aber man sucht Dich.«
»Wer sucht mich?« fragte Stibs, zwischen Furcht und Lachen schwankend. »Der Jude etwa, der sich stellt, als wäre er Herr Johannes Reike? Es ist ein Spaß, es ist Alles Spaß; wer soll mich denn kennen?
»Höre,« erwiederte sie, und das neckische Lachen, das bis jetzt ihre Worte begleitet hatte, verschwand plötzlich: »so toll und betrunken Du bist, nimm den letzten Rest Deiner Sinne zusammen und sage mir, wo ist Dein junger Herr?«
»Ist der auch hier?« fragte Stibs. »Es ist ungeheuer lustig! Sapperment, ich wollte, daß er hier wäre!«
Die Columbine wendete sich rasch um und blickte durch das Blumengitter in die nächste Loge, wo eben ein Harlekin mit einer andern Columbine hereintrat.
»Laß uns einen Augenblick hier sitzen,« sagte die Fremde in französischer Sprache. »Ich bin müde, die Maske macht mich heiß, der Wirrwarr ist mir zuwider; ich möchte am liebsten nichts mehr davon hören.«
»Und ich immer nur bei und mit Dir sein,« versetzte ihr Begleiter.
Herr Stibs machte eine Bewegung, aber seine Nachbarin hob drohend die Hand auf und drückte ihn in die Ecke zurück, wo er saß.
»Ich denke, wir sind allein,« fuhr die Dame in der Nebenlaube fort.
»Ich sehe Niemanden,« sagte der Harlekin, »binden Sie die neidische In der Vorlage: »neidische«. Maske ab. Ich sterbe vor Sehnsucht, Sie zu sehen, geliebte Alice.«
»Da bin ich,« antwortete sie. –
Die Maske fiel. Stibs blinzelte hinüber, und es bedurfte des festen Druckes der Hand seiner Begleiterin, um sein unermeßliches Erstaunen zu mäßigen. Er sah die Perlenbänder, die großen Perlentropfen, welche er vorher schon so sehr bewundert hatte, und durch sein wüstes Gehirn floß die Erinnerung an jene liebliche, tanzende Odaliske in dem Aufzuge des Hofes. Nun sah er auch das Gesicht, ein wenig gebräunt und erhitzt, mit großen, dunkeln Augen, mit ausdrucksvollen Zügen, denen ein stolzes Lächeln eigenthümlichen Reiz verlieh.
Der Harlekin schlang kühn seinen Arm um den schönen Leib, und er wurde nicht, wie der arme Stibs, zurückgewiesen. Die Columbine ließ es willig geschehen, und plötzlich hatte der ungestüme Nachbar die eigene Larve entfernt; es schallte leise, wie von Liebesküssen. Zu seinem Mißfallen konnte Stibs wenig sehen, denn nur die bunte Rückseite des Frevlers war ihm zugewendet. Überdies lag die Hand der eigenen Freundin noch auf ihm und drückte ihn in die Ecke zurück, wo er ziemlich bewegungslos sein schweres Haupt mühsam aufrecht erhielt. –
In diesem Zustande spürte der kleine Mann bald ein sonderbares Schwinden seiner Sinne. Der Lärm der Musik im Saale, das Geschrei und Rufen übertäubte, was in seiner Nähe vorging. Er hatte vorher schon nur mit Anstrengung die Worte seiner Columbine aufgefaßt; jetzt war seine Kraft erschöpft. Er verstand keine Silbe von dem, was die Beiden neben ihm sprachen, es summte und brummte um ihn, und je weiter er die Augen öffnete, um so trübere Schleier spannten sich darüber aus. Endlich schloß er sie, und nun fielen unermeßlich schwere Gewichte darauf. Er suchte sie gewaltsam abzuschütteln, aber eine unsichtbare Macht drückte sie immer fester darauf. Der ganze Saal kehrte sich um, die Decke senkte sich, es drehte sich Alles wild mit ihm im Kreise umher, und sein Kopf mit der Maske fiel an die Wand. Er konnte ihn nicht wieder davon losreißen; so war es denn um ihn geschehen.
In der Minute aber, welche Herr Stibs brauchte, um in das Reich der Träume hinüberzugleiten, waren dicht neben ihm die zärtlichsten, heißesten Liebesworte gewechselt worden.
»Wie glücklich machen Sie mich, theure Alice!« flüsterte der Harlekin, »Liebe und Sehnsucht haben mich fast toll gemacht.«
»Ich bin Närrin genug, Ihnen das Alles zu glauben,« erwiederte sie, »und unbesonnen genug, mich diesem Glücke zu überlassen, ohne zu fragen, wohin es führt.«
»Klagen Sie dies selige Glück nicht an,« sprach er leidenschaftlich, »es ist zu schön, um zu denken, daß es je enden könnte.«
»Es soll und darf auch nicht enden, mein geliebter Freund,« lispelte sie zärtlich. »Menschenwille kann gebrochen werden, wenn der eigene Wille kühn genug zum Widerstande ist. Aber ist er das auch? Ist dieser Wille unwiderstehlich? Wird nichts im Stande sein, ihn zu erschüttern?« –
Sie richtete sich aus seinen Armen auf und sagte langsam:
»Man hat mir gesagt, daß Ihr Vater ein sehr strenger, unerbittlicher alter Herr sei, und daß er Ihre Verheirathung beschlossen habe …«
»Man hat ihnen die Wahrheit gesagt,« entgegnete der junge Mann mit fester Stimme, »allein ich werde nicht heirathen.«
»Und wer ist es, die man für Sie ausgewählt?« fuhr sie spöttisch lebhaft fort. »Eine reiche bejahrte Jungfrau, eine Witwe voll Sanftmuth in der Fülle ihrer Reize, oder eine blonde, häßliche Cousine?
»O nein,« erwiederte er, entzückt über diese eifersüchtige Regung. »Sie ist schön, reich und jung. Niemand kann das leugnen.«
»Und Sie scheinen mit vielem Antheil sich dieser Vorzüge zu erinnern,« fuhr die Dame fort.
»Ich habe Marien immer gern gesehen und Freundschaft für sie gehegt.«
»Sagen Sie: Liebe!« fiel die Columbine heftig ein und blickte ihn prüfend an.
»Wenn es wahr ist,« versetzte er, »daß zwischen Mann und Weib keine Freundschaft bestehen kann, die nicht einen Antheil des Herzens in sich schlösse, so mag es so sein, wie Sie sagen. Sie sehen, geliebte Alice, wie aufrichtig ich bin, weil ich weiß, daß Sie mich verstehen. Marie lebt seit einem Jahre im Hause meines Vaters; täglich und stündlich bin ich in ihrer Nähe gewesen, man hat mir vielfach angedeutet, welche Wünsche obwalteten, und vielleicht täuschte ich mich, vielleicht ist es so, daß ich glauben konnte, ich werde auch von ihr gern gesehen. Ich fand eine Theilnahme, ein wohlthuendes, offenes Gemüth, ein Herz voll Güte, und hätte ich, von meinem Glücke geleitet, nicht Sie gefunden, geliebte Alice, hätte der Zauber, den Sie übten, mich nicht erkennen lassen, was Liebe sei, ich wäre überzeugt gewesen, ihr, dem lebensfrohen Mädchen, gehöre mein Herz und mein Glück.«
Sie saßen beide einen Augenblick schweigend. Der junge Mann preßte die Hände der Dame an seine Lippen und sah sie bittend, lächelnd an. –
»Das ist eine gefährliche Hausgenossenschaft,« sagte sie endlich, »und haben Sie schon daran gedacht, was kommen wird, wenn man Ihre Weigerung vernimmt?«
»Ich werde meinem Vater offen sagen, daß mein Herz schon einer Anderen gehört.«
»Und dann?« sagte sie. »Was dann, wenn er auf seinem Willen besteht? wenn er den unfolgsamen Sohn im Zorne von sich stößt?«
»Er kann es thun. Er mag es, wenn er will.«
»Eure Sitten, eure Gesetze sind so barbarisch, wie euer Land und die Menschen, die es bewohnen!« rief die Dame. »Man wird nie mündig hier. Man kennt nur Vorurtheile, stößt bei jedem Schritt auf lächerliche Anmaßung und Unterjochung; fragt bei jedem Anlaß nach Schicklichkeit und Paßlichkeit, und verabscheut, was nicht zu dem Kastenwesen gehört, in dem bei Euch Fürst und Bettler aufgewachsen sind.«
»Aber auch wir werden diese unnatürlichen, verrotteten Verhältnisse zerbrechen,« sagte ihr Begleiter.
»O, ihr armen Leute!»erwiederte die Columbine lachend. Ihr kennt euch selbst nicht, wenn ihr das glaubt. Antworten Sie, Gustav, was wird Ihr Vater sagen, wenn Sie es wagen, seinen Segen für unsere Liebe zu erbitten? Was wird er sagen, mein Freund? reden Sie!«
»Er wird Einwendungen machen, versetzte der junge Mann zögernd, »aber …«
»Kein Aber!« rief sie. »Er wird sagen: ›Es paßt sich nicht, schickt sich nicht, es ist gegen alle Ordnung und Gesetze und soll darum nimmermehr geschehen!‹ Und denken Sie etwa, daß Stadt, Land, Hof, jeder vernünftige, jeder sogenannte anständige Mensch in diesem Lande nicht derselben Meinung sein wird?«
»Nein, Alice!« rief er leidenschaftlich, indem er sie umarmte, »nichts kann, nichts soll uns trennen. Sagen Sie doch selbst, daß der standhafte Wille Alles vermag, wohlan denn, lassen Sie uns sehen, ob es wahr ist. Mein Vater ist ein strenger an alte Satzungen hängender Mann, allein die Zeitumstände sind nicht ohne Einfluß geblieben; ich hoffe auf sein Einsehen und seine Gerechtigkeit.«
Das Fräulein schüttelte den Kopf.
»Ihr Deutschen seid alle Schwärmer,« sagte sie; »ich hoffe auf nichts, Gustav, als auf mich selbst und auf Sie. Wagen Sie nichts ohne Noth; aber wenn es Zeit ist, Alles zu verlieren oder Alles zu gewinnen, dann, mein Freund, dann zeigen Sie, ob meine Liebe Ihnen mehr gilt, als Welt und Menschen.«
In diesem Augenblicke warf sie rasch die Maske vor ihr Gesicht, denn plötzlich sprang ein neuer Harlekin in die Laube, der sie anblickte und lachend rief:
»Verstecke Deine holden Züge nicht, Columbine, ich kenne Dich und möchte Dir ein Wort im Vertrauen sagen, wenn Du mich begleiten willst.«
Die Columbine neigte sich zu ihrem Nachbar und flüsterte ihm ein paar Worte zu.
»Du mußt merken,« sagte dieser zu seinem Nebenbuhler, »daß Du hier ganz an unrichtiger Stelle bist. Sei also so gut und mache Dich davon.«
»Höre,« erwiederte der Andere, indem er dicht herantrat, »für Deinen Rath nimm den meinigen: Packe Dich selbst, so schnell Du kannst, lauf nach Hause und verstecke Deine Sünden. Der Herr Papa möchte sonst eine scharfe Abrechnung halten.«
»Nimm Dich in Acht,« sagte der Erste, »daß die Abrechnung nicht bei Dir beginnt.«
»Wärst Du ein Anderer, als der Du bist,« sprach der zweite Harlekin mit verächtlichem Tone, »ich würde Dir eine Antwort geben. Jetzt mache Platz und laß die Dame los, zu der Du so wenig passest, wie ein Sperling zum Paradiesvogel.« –
Mit einer raschen Bewegung drängte er den Gegner zur Seite, aber die Columbine sprang von ihrem Sitze, und ehe er sie ergreifen konnte, schlüpfte sie an ihm vorüber in den Saal, lief gegen den Juden, der ihr entgegenkam, und wand sich schnell durch ein Gedränge von Masken, während ihr Verfolger mit ihrem Begleiter rang, der mit beiden Armen seinen Leib umfaßt hielt.
Erst nach einigen Minuten hatte jener sich frei gemacht und schwang nun im vollen Zorn seine hölzerne Waffe, die laut schallend auf den Kopf seines Gegners fiel. Ein zweiter Schlag traf das Gesicht, von dem er die schlecht befestigte Maske abriß, und wahrscheinlich wäre diese schonungslose Züchtigung damit keinesweges beendigt worden, hätte der Betroffene nicht mit einem heftigen Stoße seinen Gegner auf einen der Stühle geworfen und die Pritsche aus seiner Hand gerissen.
Indem er jedoch das Vergeltungsrecht zu üben im Begriffe stand, fühlte er plötzlich seinen Arm von einer Hand umspannt, die ihn hinderte. Er blickte um und ließ Arm und Waffe sinken. Der Jude hatte die Maske abgenommen, und im Gefühl des schamvollsten Schreckens sah Gustav, daß es sein Vater war, der mit unbeschreiblich gramvollem Ernste sein zürnendes Auge auf ihn heftete.
»Mein Vater!« sagte er leise, »wie ist es möglich …?«
»Daß ich die argen Wege der Schande entdeckt habe, auf denen Du gehst?« fiel der alte Herr, ein. »Nie hätte ich geglaubt, meinen Sohn hier im Narrenkleide zu finden; aber fort mit Dir auf der Stelle!«
»Ich werde Ihnen in wenigen Minuten folgen,« erwiederte Gustav.
»Nicht einen Schritt!« rief Herr Johannes Reike empört. »Willst Du etwa der liederlichen Dirne nachlaufen, deren Buhlerei hier unterbrochen wurde? Nicht von der Stelle!« fuhr er mit größerem Nachdrucke fort, »ich habe draußen einen Wagen. Du fährst mit mir: das Weitere wird sich finden.«
Und ohne sich an die beweglichen Worte seines Sohnes zu kehren; schlang er dessen Arm in seinen und zog ihn unerbittlich fort. Das Gelächter des zweiten Harlekins schallte ihnen nach. –
»Recht so!« rief dieser, »recht so, alter Herr, führt diesen guten Jüngling fort auf dem Tempel der Sünde, näht ihn auf dem Drehstuhle fest, gebt ihm die Pose in die Hand, legt den Adam Riese neben ihn, damit er rechnen lernt, und straft ihn ab, wenn er sich rührt. O Alice! hättest Du doch gesehen, wie dieser Held, einem Schulknaben gleich, nach Hause gejagt wird! – Aber nehmt doch den Buchhalter auch mit, den Stibs! Wo ist der Stibs?«
»Hier,« sagte Stibs, im Traume den Kopf umwendend. »Sapperment! wer ruft?«
Nach einiger Zeit wachte Stibs auf, ihm schwindelte und schauderte. Der Rausch war zum Theil überwunden, und mit seltsamen, befremdlichen Blicken begann er um sich zu sehen. Er war allein, ganz allein. Eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß ein Mädchen hier bei ihm gewesen sei, die allerlei gefragt und prophezeit habe, als er plötzlich eingeschlafen sei. Vor ihm lag der Saal, die rauschende Musik ertönte, es wurde getanzt, und noch immer waren Masken in großer Zahl vorhanden.
Für Stibs hatte jedoch der Ball allen und jeden Reiz verloren. Ein eigenthümliches Frieren ging durch sein Gebein und zog alle Muskeln zusammen.
»Wenn ich nur erst zu Hause wäre!« sagte er leise, »nach Hause, nach Hause! Himmlischer Vater, welche merkwürdige Wege hast Du mich geführt!« –
Er stand auf, taumelte wüst ein wenig rechts und dann links, endlich kam er in die gerade Richtung, schob seine Maske höher und trat mit dem Vorsatze hinaus, seine Freunde aufzusuchen, die edlen Herren mit Sporen und Schwertern, welche ihn hieher geschafft, ihm so viel Vergnügen bereitet, und mit deren Beistand er nun, so schnell wie möglich, zu entrinnen hoffte.
»Wenn ich nur den Ausgang wüßte!« sagte Herr Stibs ängstlich, »aber ich kenne hier weder Steg noch Weg, und auch mich kennt Niemand, was allerdings sehr gut ist.«
Wie zum Hohne seiner Rede sprach in diesem Augenblicke eine Stimme hinter ihm ganz vernehmlich:
»Guten Abend, Herr Stibs!« –
Herr Stibs drehte sich um, ein großer Türke grins'te ihn an.
»Guten Abend, Herr Türke!« erwiederte Stibs höflich. –
»Guten Abend, Herr Stibs!« rief es von der andern Seite.
Stibs fuhr herum, eine kleine Gärtnerin machte ihm laut lachend einen Knix. –
»Guten Abend, guten Abend, Herr Stibs!« schrie ein ganzer Chor von Masken. –
»Guten Abend, meine verehrten Damen und Herren,« sagte Stibs ängstlich flehend. –
»Stibs! Stibs! Da kommt Herr Stibs!« schrie der Haufe hinter ihm, und der ganze Saal gerieth in Bewegung und eilte ihm nach.
»Allmächtiger Gott!« rief der arme Buchhalter, »was habe ich gethan! Ich bin verrathen, ich bin verloren, ich bin erkannt, es ist keine Hülfe!«
Eine Hand hielt ihn fest; er schlug verzweiflungsvoll um sich. Eine andere Hand faßte ihn an den Kragen, er wehrte sich wie ein Rasender.
»Herr Stibs!« schrie eine Stimme in sein Ohr, »machen Sie, daß Sie fortkommen.« –
»Hinaus mit dem Stibs! fort mit dem elenden Stibs!« schrieen Andere, und plötzlich war Herr Stibs an der Thür auf einem Gange zwischen dem Spalier der Soldaten, wo er, sechs oder sieben Mal rundumgedreht, sich endlich unter dem kalten, nassen Nachthimmel erblickte. –
Schaudernd stand er, und doch war er froh und verzweiflungsvoll zugleich. In seinem dünnen Kleide, dem rauhen Wetter Preis gegeben, mitten in der Dunkelheit allein, hinausgeworfen, verspottet, von Allen erkannt, von seinen Verführern verrathen, war er plötzlich ganz nüchtern, und sein Herz füllte sich mit namenlosem Jammer. Er riß die Maske von seinem Gesicht, ballte die Fäuste und hätte sich sicher ein Leid gethan, wäre er nicht ein so gesetzter, nachdenkender Mann gewesen.
So kam es denn, daß, als er eine Minute lang an der Brücke gestanden, die über den Strom führt, und seufzend ins Wasser gesehen hatte, er ganz gelassen sagte:
»Ich will nach Hause gehen, aber es ist merkwürdig! … Stibs, was hast du gethan? Welche Schande erwartet dich! und mein Rockelor, mein Hut, mein Rock, meine Stulpenstiefeln – gerechter Himmel! Alles ist verloren. Nichts habe ich, als diesen vermaledeiten Anzug! Die Spitzbuben, die Galgenvögel! sie haben mir alles abgenommen.«
»Haben Sie keinen Mantel, Herr Stibs?« fragte eine Stimme neben ihm mit unterdrücktem Lachen.
Der Flüchtling sah sich erschrocken um; eine dunkle, verhüllte Gestalt stand neben ihm.
»Kennen auch Sie mich?« rief er mit zornigem Entsetzen, »kennt mich denn die ganze Welt? Ja, ich bin Stibs, der unglückliche Stibs, und habe nichts, gar nichts, um meine Blöße zu bedecken.«
»Dann wird man Sie auffangen und einsperren,« sagte der Andere.
Der trübe Schein einer Lampe fiel auf Stibs, er sah eine Maske tief eingehüllt in einen weiten, schwarzen Überwurf. Mehr konnte er nicht erkennen; da aber zu gleicher Zeit, nicht fern von ihm, die Schritte einiger nahenden Personen hörbar wurden, deren schrecklicher Ruf: »Stibs, holla Stibs!« ihn Alles fürchten ließ, faßte er flehend nach ihrem Gewande und sagte zitternd:
»Helfen Sie mir, schützen Sie mich, in meinem ganzen Leben will ich es nicht vergessen!«
Statt der Antwort ergriff die Maske seine Hand und zog ihn rasch über die Brücke. Dort am Platze stand ein Wagen, der sie erwartete. Sie öffnete den Schlag.
»Steigen Sie ein,« sagte sie schnell.
Stibs leistete mit einer jähen Anstrengung Folge; im nächsten Augenblick saß die Unbekannte neben ihm.
»Da ist er!« schrieen die Verfolger. »Stibs im Wagen, halt! halt!« –
Die Räder rasselten über das Pflaster, mit einen Dankgebete fiel Stibs in die Kissen zurück.
Gerade als es am Sonntag Mittag Zwölf schlug, öffnete Herr Johannes Reike die Thür seines Cabinets und trat in das Wohnzimmer, wo der Tisch gedeckt war, wie es die Sitte mit sich brachte. Mademoiselle Marie trat auf der andern Seite mit dem Silberkorbe herein, in dem die schweren Gabeln und Löffel lagen. Als sie ihren Vormund erblickte, blieb sie stehen und machte einen tiefen Knix.
Heute waren ihre frischen Wangen ein wenig blaß, oder machte es das Corset von rosigem Seidendammast, dessen Kragen, mit schwarzen Kanten besetzt, Hals, Brust und Körper umschloß? Der blumige, schwere Stoff ihres Kleides rauschte ihr auf dem Fußboden nach.
Herr Reike seufzte leise, als er ihr nachblickte, wie sie bei ihm vorüberging, die Füßchen in den zierlichen, rothen, goldigen Saffianschuhen mit zollhohen Hacken und ihre weißen Hände in Handschuhen von schwarzem Seidenfilet. Er runzelte seine hohe Stirn und sah seitwärts in ihr Gesicht, das still und bedächtig über den Tisch blickte, abwägend, wo noch etwas fehle.
»Sie scheinen mißgestimmt zu sein?« sagte sie nach einem Weilchen, als sie den Kopf aufhob und den alten Herrn neben sich sah.
»Ich bin, wie ich immer bin, mein Kind,« erwiederte er sanft, ihr Kinn berührend, »möchte jedoch sagen, daß ich Deine hellen Augen trübe und, wie es scheint, ein wenig roth finde.«
»Das macht, weil ich nicht ausgeschlafen habe!« rief die junge Dame lachend, »denn, Gott steh' uns bei! was gab es heute Nacht für Lärm im Hause! Es kam und ging, die Thüren knarrten, es polterte über meinem Kopf, Schritte eilten hin und her, kurz, ich wachte zwei, drei Mal auf, und, wie man so furchtsam ist, es fielen mir Geschichten ein, so daß ich mich ängstigte und nicht wieder einschlafen konnte.«
Herr Reike hatte sich gegen das Fenster gewendet und suchte feinen Verdruß und seine Verlegenheit zu verbergen.
»Gustav ist spät nach Hause gekommen,« sagte er nach einem Weilchen; »er muß das abstellen, und Du, mein Kind, mußt dabei das Beste thun.«
»Ich?« rief das schöne Mädchen erstaunt, »ich, lieber Papa? Wie könnte meine arme, kleine Person ein so großes Wunder bewirken?«
»Es ist ein altes, wahres Wort,« erwiederte der Handelsherr, indem er sich umwendete und sie freundlich betrachtete, »daß Weiberlist über alle List geht. Siehst Du wohl, Mädchen, da färben sich nun Deine Lippen und Wangen; Du weißt recht gut, was ich meine; das Blut kommt roth vom Herzen her und schreit den Verrath in alle Welt. Deine Stimme allein soll läugnen und folgt doch auch nur widerstrebend. Wäre nicht heute Sonntag, ein heiliger, stiller Tag, der ungestört bleiben soll durch irdisches Dichten und Trachten, ich würde Dir offen sagen, was ich weiß und was ich will. Nur das Eine merke Dir: Wir alle müssen sorgen, daß dieses Hauses Glück und Friede wohl erhalten bleiben und nicht etwa ein böser Feind sich einschleicht, der uns in Kummer und Sorge bringt.«
»In Wahrheit!« rief Mademoiselle Marie, den hübschen Mund zum Lachen zwingend, »ich weiß nicht, was des lieben Papa's Sorge so sehr erregen kann.«
»Es ist auch Sorge um Dich dabei,« versicherte er, ihre Hand drückend.
»Tausend Dank dann für diesen Beweis Ihrer väterlichen Güte.«
Herr Reike legte die Hand auf ihre hochgewölbte Stirn und sah ihr mit Wohlgefallen in die klaren Augen.
»Du bist meine liebe Tochter,« sagte er, »und sollst es immer bleiben. Wenn aber ein Gärtner ein Bäumchen hat voll herrlicher Blüthen und Früchte, wem möchte er solchen Schatz am liebsten zuwenden, als seinem Erben? Verstehst Du mich nun, mein Kind?«
»Sie haben ziemlich deutlich gesprochen,« versetzte sie, die Augen niederschlagend und leise lächelnd. »Wenn aber der Erbe das Bäumchen nicht beachtet und wie schlechtes Unkraut in den Winkel wirft?«
»O!« rief Herr Reike, und eine zornige Röthe stieg in sein Gesicht, »das kann und darf niemals geschehen. Unwillkürlich haben wir das Gespräch weiter geführt, als es meine Absicht war, allein da es geschehen, so muß ich hinzufügen, daß Du kein hartes Urtheil sollst. Ich weiß, wie der Erbe das schöne Bäumchen schätzt, und wenn ich recht berichtet bin, so hat diese auch nichts dagegen, ihm gern und ganz anzugehören.«
Die junge Dame warf den Kopf schelmisch auf und sagte:
»Vielleicht ist es wahr, was Sie denken, ich habe selbst einmal etwas davon gehört, aber die Zeiten rauschen über Land und Meer, und schneller, als Blätter fallen und kommen, verändern sich die Gedanken und Wünsche vieler Menschen. Wir wollen wachen und in Tagen der Prüfung gerüstet sein; vor allen Dingen aber den heutigen Sonntag in Frieden vollbringen, wie es Ihr Wille ist.«
Sie entfernte sich aus dem Zimmer, und Herr Reike sah ihr ernsthaft nach.
»Sonderbar,« sagte er, »sie ahnet mehr, als gut ist, aber das feinfühlende Kind muß es natürlich längst bemerkt haben, welch verderblicher Leichtsinn diesen unbesonnenen Menschen von ihr entfernt.« –
Auf und niedergehend, fuhr er dann leise fort:
»Ich muß es geheim halten und meine Maßregeln schnell und nachdrücklich treffen. – Wo nur der Stibs heute bleibt. – Die elenden Bursche! – Welche Nichtswürdigkeit liegt darin, einen Unschuldigen so hämisch nachzuäffen, um Schmach und Schande über ihn zu bringen! Aber man konnte nichts Ähnlicheres sehen, und viel fehlte nicht, so ging ich in die Falle.«
Im Augenblicke ging die Thür auf, und über die Schwelle herein trat der kleine Buchhalter in einem blauen, stattlichen Sonntagsfrack mit großen Perlmutter-Knöpfen und seidenem Futter. Vom Kopf bis zum Fuß war er nobel; sogar einen neuen Hut hatte er in der Hand.
Sein Hereintreten erfolgte unbemerkt, denn Herr Reike blieb am Fenster stehen, und Stibs wagte es nicht, sich vernehmbar zu machen. So trübselig und verlegen wie heut hatte er vielleicht noch nie ausgesehen. Die kleinen, verschwollenen Augen irrten ängstlich umher und glitten prüfend über seine Gestalt hin. Er faßte mit der Hand nach den Locken seiner Perrücke, als wollte er sich überzeugen, ob diese auch noch vorhanden; endlich stieß er einen leisen Seufzer aus und murmelte in sich hinein:
»Der Herr erbarme sich, daß alles gut abläuft! Kein zum Tode Verurtheilter steht dergleichen Qualen und Gewissensbisse aus, und doch bin ich unschuldig, total unschuldig.«
Hier lachte plötzlich Herr Reike am Fenster laut auf; zugleich wendete er sich um, erblickte seinen Buchhalter, und obwohl er ein äußerst ernsthafter, würdevoller Mann war, schien es ihm doch unmöglich zu sein, den Reiz zur Lustigkeit, der ihn ergriffen hatte, zu unterdrücken.
Diese heitere Stimmung des Principals war eine wahrhafte Erleichterung für den unglücklichen Stibs. Herr Reike wußte nichts, er ahnte nichts, das war eine unermeßliche Tröstung, die den Widerschein ihrer Freude auf das Gesicht des Verzagenden, ausbreitete. Er machte drei tiefe Diener, ließ die Arme dabei sinken und richtete sich majestätisch auf, was das herzliche Lachen des alten Herrn wesentlich zu vermehren schien.
»Er muß es mir vergeben, Stibs,« sagte Herr Reike, »wenn ich mich so vergnügt zeige.«
»Bitte ganz unterthänigst, es ist mein höchstes Glück,« erwiederte Stibs.
»Eigentlich,« fuhr der Handelsherr fort, »habe ich wirklich wenig Anlaß dazu; allein ich erinnerte mich so eben eines Traumes, den ich in dieser Nacht gehabt, eines gar seltsamen, lächerlichen Gaukelbildes.«.
»Träume sind oft sehr merkwürdig,« sagte Stibs unterthänig.
»Ich habe Ihn in der Nacht gesehen,« fuhr Herr Reike fort.
»Mich« rief Stibs mit klopfendem Herzen, »oh! wie so?«
»Ihn,« sagte der Principal, »gerade solche Bücklinge machend, die Arme vorgestreckt, den Kopf nach oben gebogen, und wie sah Er aus, Stibs! Er steckte in einer weißen Jade, dazu in langen, weißen Beinkleidern. Er sah aus wie ein Hans Narr aus der Reiterbude; so sprang Er auch um mich her, lachte und tanzte.«
»Ich tanze nie,« sagte Stibs erblassend; »ich kann es nicht gewesen sein.«
»Es war ja auch nur ein Traum,« entgegnete der Principal. »Beruhige Er sich. Er wird auf keinen Ball gehen.«
»Sie waren also auf dem Ball?« fragte Stibs in sichtlich großer Verwunderung.
Herr Reike warf einen unmuthigen, scharfen Blick auf ihn.
»Was weiß Er denn, wo ich gewesen bin?« rief er, die Stirn zusammenziehend.
»Ich weiß nichts, durchaus nichts,« sagte der Buchhalter schnell. »Ich meinte nur einen Ball im Traume, und wenn ich an gestern Abend denke … merkwürdige Vorfälle, störende Aufregungen.« –
Er murmelte einige unverständliche Worte und zuckte heftig mit den Schultern.
Der Kaufmann schwieg einen Augenblick, dann trat er dicht an seinen Vertrauten, legte die Hand auf dessen Schulter und sagte vertraulich:
»Hör' Er, Stibs.«
»In tiefster Devotion,« erwiederte Herr Stibs, sich neigend.
»Was gestern Abend vorgegangen, davon kein Wort. Hat Er den Herrn gekannt?«
»Durchaus nicht,« versetzte der Buchhalter.
»Es ist gut,« fuhr Herr Reike fort, »man muß sich vor solchen Bekanntschaften hüten.« –
Stibs seufzte tief.
»Ich kenne Seine Ergebenheit und muß Ihm sagen: ich habe gestern traurige Nachrichten erhalten.«
»Fallissement?« murmelte Stibs erschrocken.
»Ja,« sagte Herr Reike schmerzlich bewegt, »ein Fallissement, ein Bankerott, bei dem Ehre und Vermögen verloren gehen können, wenn nicht energisch eingegriffen wird. – Sei Er ruhig, noch ist nichts verloren, und hoffentlich läßt sich dem Schaden abhelfen. Sei Er munter, es darf Niemand etwas merken; mein Sohn, Marie, Keiner eine Silbe.«
Stibs legte die Hand betheuernd aufs Herz, dann blickte er vergnügt auf, denn so eben trat Mademoiselle Marie herein, der er seine Verbeugung machte und der die Dienerin mit der Suppe auf dem Fuß folgte. Zugleich polterte es draußen auf der Treppe, die Thür wurde geöffnet, und Herr Reike jun. erhielt eine zweite Verbeugung, die mit einem prüfenden, halb lächelnden Blick verbunden war.
Der Sohn näherte sich dem Vater, der ihm ernsthaft die Hand bot, und nach einigen Minuten, in welchen Herr Johannes Reike ein kurzes Tischgebet gesprochen, saßen die vier Personen vor den gefüllten Tellern. Mademoiselle Marie legte vor und wußte durch einige scherzende Fragen dann und wann die Heiterkeit anzuregen; im Allgemeinen aber herrschte tiefes Schweigen, als ein unheimlicher Gast, welcher ungesehen seinen Platz am Tische genommen.
Der junge Herr war unruhig und zerstreut. Von Zeit zu Zeit hob er die Augen auf und betrachtete seinen Vater, oder er verfolgte die kleinen, geschäftigen Hände seiner Nachbarin, und richtete dann schnell wieder seine Aufmerksamkeit auf die Brotkugeln, welche er knetete und zum gerechten Mißfallen des Buchhalters dessen Teller so nahe brachte, daß es scheinen konnte, er habe Theil an diesem Frevel.
Erst nach einiger Zeit entwickelte sich aus den abgerissenen Bruchstücken der Unterhaltung ein zusammenhängendes Gespräch, das vornehmlich zwischen Stibs und Herrn Reike geführt wurde, da Handelsverhältnisse seinen Inhalt bildeten. –
Es war von einem Geschäft die Rede, das, seit langer Zeit schwebend, einen wichtigen Streitpunkt zwischen dem Handelshause in Berlin und einem großen, englischen Hause bildete. Herr Stibs ließ sich weitläufig über die Vergleichsvorschläge aus, welche vor Kurzem eingelaufen waren, und sprach mit mancherlei Gründen für die Vermuthung, daß eine unbillige Übervortheilung stattfinde, die man sich nicht unterstehen würde, wenn es möglich wäre, an Ort und Stelle Beweise zu sammeln.
»Er hat sehr Recht,« sagte der alte Herr beistimmend, »und wenn diese Angaben, wie ich glaube, die Probe halten, so könnte ich mich wohl bewogen fühlen, die Sache genau untersuchen zu lassen.«
Der Buchhalter schüttelte bedenklich den Kopf.
»Ich sage nicht, verehrter Herr Reike,« erwiederte er, »daß es nicht von uns ausgeführt werden könnte, allein wir würden auf manche große Schwierigkeiten stoßen. Die Reise nach England, welche von einem mit allen Vollmachten versehenen Disponenten gemacht werden müßte, reicht dabei nicht aus. Sehr wahrscheinlich würde es nöthig werden, daß derselbe die Colonieen besucht, und diese weitläufige, gefährliche Untersuchung sammt hohen Spesen, mannigfachen Wechselfällen und Schicksalen scheint mir dem Werthe nicht ganz angemessen.«
»Auch hierin, Herr Stibs,« versetzte der Principal, »kann ich Ihm nicht ganz abstehen; dennoch aber können Umstände eintreten, wo, mit andern Dingen verbunden, eine solche Reise ihre Vortheile bringt. Ein Kaufmann lernt dabei den Handel der Welt kennen; er schüttelt die Unreife der Jugend und viele Vorurtheile ab, kommt zu Nachdenken und Verstand, und kehrt nach Jahr und Tag als ein klarsehender Kopf zurück.«
»Es ist aber auch sehr möglich,« sagte Stibs, »daß von einer so grausamen Schifffahrt durch wilde Meere und von Küsten, wo Jahr aus, Jahr ein mörderische Fieber hausen, er nie wiederkehrt.«
»Besser ist es oft, Wellen oder Fieber raffen einen Menschen schnell hin,« sagte Herr Reike mit Nachdruck, »als daß dieser etwa in der Heimath unnütz und unbrauchbar ein langes, schändliches Leben führt.« –
Er blickte seinen Sohn fest an, der bei diesen Worten rasch und stolz die Augen aufschlug und dann schweigend erröthete. Die stark ausgeprägten Züge seines Gesichts drückten einen hohen Grad von Unruhe aus; seine Lippen zitterten leise, und mit einiger Anstrengung zwang er sich, sein Glas zu ergreifen und seiner Nachbarin zum Anstoßen hinzuhalten.
»Wir wollen die armen Seefahrer und Schiffbrüchigen leben lassen,« sagte Mademoiselle Marie lächelnd, »welche, muthig in Stürmen kämpfend, endlich das sichere Land erreichen.«
»Wissen Sie auch gewiß,« fragte Gustav, indem er anstieß, »daß diesen Entkommenen wohler ist, als jenen, die im Sturm blieben?«
»Es ist merkwürdig,« rief Stibs, »daran zu zweifeln; denn sicherlich ist es kein Vergnügen, so elendiglich umzukommen.«
»Und doch vielleicht noch weniger Vergnügen, ein armseliges Leben zu erhalten, wenn alles andere verloren gegangen ist,« rief der junge Reike mit bittrem Tone.
»Wer sollte glauben,« sprach die junge Dame lächelnd, »daß mein Herr Vetter in jungen Jahren schon den Verlust an Geld und Gut höher schätzt, als die Erhaltung des Lebens«
»Wie dies ein acht- und ehrbarer Kaufmann immerdar thun muß,« fiel Stibs stolz ein. »Wir haben der glorreichen Exempel viele, daß in erschrecklichen Krisen nicht allein die Chefs berühmter Häuser, sondern auch ihre ersten Commis es vorzogen, lieber zu sterben, als den Sturz der Firma zu überleben.«
Hier schlug Mademoiselle Marie ein lautes Gelächter auf, vor welchem Stibs verlegen und unwillig erröthete.
»Ich weiß nicht,« murmelte er, »aber ich muß sagen, ich finde diese Conjunctur durchaus nicht spaßhaft.«
»Ich bitte um Verzeihung,« entgegnete sie, »die Conjunctur ist höchst ernsthaft, mein Entsetzen machte sich nur in verfehlter Art Luft, weil ich in Ihren Augen eine überaus schreckliche, selbstmörderische Kühnheit funkeln sah. Und doch kann ich mir nicht denken,« fuhr sie, ihr Gesicht bezwingend, fort, »daß es etwas Anderes sein könnte, als Spaß. Sie sind ein christlicher Mann, Herr Stibs; Sie haben ihren Stuhl in der Kirche zu St. Nicolai und können unmöglich, auch als Kaufmann betrachtet, solchen unchristlichen Gedanken Raum geben, die nur ein Schwächling oder ein Verbrecher haben kann.«
Herr Johannes Reike nickte mit dem Kopfe dazu und sagte dann beifällig:
»So ist es recht, mein Kind. Ein Kaufmann vor Allen soll nicht verzweifeln, mag der Sturm blasen, wie er will. Es soll dies auch kein anderer Mensch thun. Jeder wird davor bewahrt bleiben, der Kopf und Herz auf der rechten Stelle hat und getreulich seine Pflicht erfüllt. Unordnung, Unredlichkeit, Verwirrung, Leichtsinn und sündige Verlockung zu schlechten Streichen, das sind die Triebfedern zu vielem Bösen, und leider ist in dieser schlimmen Zeit gar Vieles aus Rand und Band gerissen. Die alte Ehrfurcht und Scheu vor Sitte und Gesetz ist aufgelöst, die Einfachheit des Lebens geht immer mehr verloren. Schwelgerei und Schlemmerei nehmen überhand, Dünkel und Genußsucht erzeugen Leidenschaften, welche Befriedigung suchen um jeden Preis. So geht denn Ehre und Gewissen von dannen; man eilt der Luft nach in jeder möglichen Verkleidung; jedes Mittel ist recht, um sich in den bunten, tollen Schwarm zu stürzen, bis endlich die Larve abfällt und uns mit Entsetzen erkennen lehrt, wer darunter steckte.«
Der alte Herr blickte zu Stibs hinüber, welcher einen eiskalten Schauer am ganzen Körper empfand und vor Schreck die Gabel fallen ließ; dann betrachtete er seinen Sohn, der mit der Miene eines Geistesabwesenden die Strafpredigt anhörte. Von einem bittern Gefühle erregt, fuhr er dann fort:
»Leeren wir also unsere Gläser. Mögen alle redlichen und guten Menschen Freude am Leben und Glück auf Erden haben; den Leichtsinnigen und Schlechten folge jedoch die verdiente Strafe; sie sind nichts Besseres werth.«
Als die Stühle gerückt waren, wischte sich der Buchhalter den Angstschweiß von der Stirn und fühlte nach seinem brennenden Kopfe, der heftig schmerzte. Er wäre am liebsten in aller Stille auf- und davongegangen; aber das Maß seiner Leiden war noch nicht gefüllt. Die feststehende Sitte des Hauses gebot ihm, jetzt ein Stündchen der Selbstbetrachtung zu widmen oder, wie er es für gut erachtete, zu plaudern, am Fenster zu sitzen oder in der Ecke eines Sophas die Augen zuzudrücken, während der gestrenge Herr Principal sich ebenfalls seinem Nachmittagsschlummer überließ, dann aber mit dem Wiederauferstandenen eine Tasse Mocca zu schlürfen und, unter den blauen Ringeln des feinen holländischen Canasters auf- und abwandelnd, lehrreiche Gespräche zu führen, bis er mit dem fünften Glockenschlage sich empfehlen konnte. –
Herr Stibs hatte dies stets für eine hohe Ehre und Auszeichnung gehalten, da Niemand sonst im Comtoir sie mit ihm theilte; diesmal würde er jedoch mit Freuden selbst ein Geldopfer gebracht haben, wenn ein Stellvertreter damit erkauft werden konnte. Seine Unruhe zu vermehren, wollte der alte Herr sich auch heute gar nicht entfernen. Er ließ den chinesischen Kasten holen, worin der Canaster unter einem Bleideckel lag, sammt neuen Thonpfeifen mit besponnenen Posen, und während dies Alles auf den Tisch gestellt wurde, ging er selbst, die Hände auf dem Rücken, wie es seine Art war, auf und nieder, nur von Zeit zu Zeit einen Blick unter seinen weißen, buschigen Augenbrauen hervorschießend, der die innere Angst des kleinen Mannes jedesmal von Neuem aufweckte. Es kam ihm vor, als ob Herr Reike bald seine Perrücke, bald seinen Rock, bald seine Beinkleider musternd betrachte, und mit jedem Augenblick zitterte er vor einer verhängnißvollen Frage.
Diese erfolgte jedoch zu Stibsens Erstaunen nicht; denn plötzlich deutete Herr Reike auf den Tabackskasten und sagte gütig:
»Stopf' Er sich eine Pfeife, lieber Stibs. Ich habe mit meinem Sohne einige Worte zu reden. Er kann in dem blauen Zimmer auf uns warten, bis wir Ihm Gesellschaft leisten.«
Stibs verbeugte sich, stopfte und folgte dann Mademoiselle Mariens einladenden Winken, die an der Thür auf ihn wartete. –
Als diese sich schloß, befanden sich Vater und Sohn allein. Herr Reike ging von Neuem durch das Zimmer; sein Sohn lehnte sich an den Ofen und schien die herannahende Erklärung vorläufig zu überdenken. –
Endlich blieb der Handelsherr vor ihm stehen, und indem er ihn mit seinen strengen Augen forschend anblickte, sagte er:
»Was ich Dir sagen will, Gustav, hat Zeugen zu scheuen, weil es Vorwürfe sind, die Niemand hören soll, außer Du selbst. Ich wollte schweigen bis morgen, des heiligen Sonntags wegen, aber wie ich Dich finde, hat sich mein Wille geändert. Du hast mich gröblich getäuscht und herben Kummer über mich gebracht. Ändern läßt sich an geschehenen Dingen nichts, Reue aber bessert die Irrthümer, gute Vorsätze helfen zu gutem Thun und decken die Vergangenheit zu. Ich verspreche Dir, einen dichten Schleier darüber zu werfen; dies Conto soll auf immer cassirt sein, kein Wort weiter davon. Dagegen erwarte ich von Dir Einsehen und Besonnenheit, ein Ablassen von allen Deinen Thorheiten, die mir zu großen Ekel und Schaam einjagen, um sie auszusprechen.«
»Was Sie meine Thorheiten nennen, lieber Vater,« erwiederte der Sohn gelassen, »ist innig verbunden mit meinem ganzen Lebensglücke und allen meinen Hoffnungen
.
»Ich will keine Entschuldigungen!« rief Herr Reike mit der ganzen Heftigkeit seines Wesens, »und verbiete Dir jede Erörterung über einen Gegenstand, der niemals bei mir in Betracht kommen kann. Hier ist meine Hand, nimm sie und sage: ich gelobe, wie ein Mann, verständig und würdig zu handeln! – so will ich alles vergessen, was ich gestern hörte und sah.«
»Ich gelobe gern, was so sehr meinen Wünschen entspricht,« sagte Gustav, »aber …«
»So thu danach,« fiel der Vater streng ein. »Du hast Dein sechsundzwanzigstes Jahr erreicht, ein Alter, wo man Selbstständigkeit wünscht. In Deinen Jahren war dies mein sehnsüchtiges Streben, dem ich alle Kräfte widmete und doch langer Zeit und unablässigen Fleißes bedurfte, ehe es mir gelang. Ich war ohne Vermögen; Dir wird es besser geboten. Durch meine Heirath mit Deiner Mutter öffnete ich mir den Weg zum Besitz. Jean Mathieu, mein Schwiegervater, gab mir das einzige Tochterkind, welches er damals besaß, und übertrug mir das Geschäft. Meine Neigungen waren nicht ganz mit dieser Heirath einverstanden, allein mein verständiges Nachdenken sagte mir, daß nur ein Narr einen solchen Antrag ablehnen könnte. Ich heirathete und bin glücklich geworden in einer achtungswerthen Häuslichkeit, die der Tod allein zu meiner Betrübniß beendete.«
»Eine achtungswerthe Häuslichkeit!« rief der junge Mann schmerzlich. »Und fühlten Sie sich ganz damit abgefunden, Vater, für die Liebe, die Sie entbehren mußten? Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß meines Großvaters jüngere Enkelin Claudia eigentlich Ihre Neigung besaß.«
Eine graue Röthe überdeckte mit mattem Schein das faltenvolle Gesicht des Greises. –
»Claudia!« sagte er. »Man hat gelogen. Es war ein leichtsinniges, eitles Mädchen, verloren in sinnlichen Gelüsten, die sie elend und unglücklich enden ließen. Wenn eine solche Neigung jemals in mir war, so wurde sie mit der Wurzel ausgerissen von besserer Erkenntniß, und wohl kann ich es dem Schöpfer danken, der meine Wege nach seiner Weisheit lenkte. Ich bin nicht unglücklich, ich bin zufrieden gewesen. Eine Ruhe war in meinem Herzen, die mir immer sagte, daß ich gehandelt hatte, wie ich mußte, und so konnte ich freudig das Wachsthum meines Fleißes betrachten, der mein Gut mehrte. Ich konnte meine Hoffnungen auf Dich richten, der meinem Leben eine Zukunft bot.«
Er reichte seinem Sohne die Hand, die dieser bewegt in die seine schloß, dann fuhr er mit seiner gewöhnlichen Kälte fort:
»Du siehst, Gustav, daß mein ganzes Mühen nur dahin ging, für Dich zu sammeln, und daß alle Plane, welche ich machte, stets Dein Wohl zum Zwecke hatten. Alt, wie ich bin, hat der Himmel mir doch die Kraft gegeben, im Geiste thätig und rasch zu sein; doch billig ist es wohl, daß ich einen Theil meiner Last auf Deine jungen Schultern werfe. Kannst Du mir es nun verargen, wenn ich sehnlich wünsche, Dein Leben geregelt und mein Werk so gesichert zu sehen, daß es nicht leicht zerstört werden kann? Marie …«
»Hören Sie mich, lieber Vater!« rief Gustav in bittendem Tone, ihn unterbrechend.
»Marie,« fuhr Herr Reike ruhig fort,»ist die Tochter meines alten Freundes und Verwandten. Sie ist ein schönes, frommes, tugendsames Kind, dessen Lob ich Dir nicht weiter zu preisen habe.«
»O, nein, nein!« fiel der junge Mann ein, »ich ehre, ich achte sie. Ich weiß, wie edel ihr Herz, wie klar ihr Verstand ist, und doch …«
»Du weißt nicht Alles,« sagte Herr Reike rasch, »Du weißt nicht, daß auch Marie Dich hochschätzt, daß mein Herzenswunsch sich bei ihr nährt, und da nun auch ihr Vermögen und alle ihre Verhältnisse sich den Deinen anpassen, so ist es mein Wille, sie Dir zur Lebensgefährtin zu geben.«
»Das ist unmöglich, Vater!« rief der Sohn laut und bestimmt.
»Was ist unmöglich?« fragte Herr Reike mit bitterer Schärfe.
»Ich kann Marien nie, niemals heirathen!«
Der finstere, starre Blick, mit dem der alte Herr den ungehorsamen Sohn betrachtete, hatte in der That etwas von dem Fürchterlichen, das Stibs mit dem Blick der Klapperschlange verglich. Die greise, große Gestalt stand aufrecht, stolz und bewegungslos; die eckigen Züge seines Gesichts schienen versteint und unbarmherzig.
»Nicht?« sagte er, »Du kannst nicht? Und niemals? Warum?«
»Weil ich liebe!« antwortete Gustav, »weil mein Herz einem andern Weibe gehört.«
Eine zweite, eben so lange Pause folgte, dann sagte Herr Reike kalt:
»Dies Geständniß beweist mir, daß Du heute und in diesem Augenblicke noch derselbe Narr bist, Der Du gestern in der bunten Jacke warst. Ein Thor von innen und außen,« fuhr er fort; »aber, junger Mensch, hoffe nicht, mit diesem schamlosen Bekenntniß meinen Willen um ein Haar breit zu verrücken. Wer den Weg der Ehre nicht mit mir gehen will, der bleibe, wo er bleiben mag. Ich halte ihn nicht, ich hindere ihn nicht; aber wäre er auch mein Sohn, mein einziger Sohn, ich risse ihn aus meinem Herzen für alle Zeiten. Sein Leichtsinn soll nicht verderben, was ich mühsam baute; mag er in Schande und Sünde untergehen, ich habe nichts mit ihm gemein.«
Er wendete sich um und ging das Zimmer entlang; als er zurückkehrte, war die Aufregung aus seinem Gesicht verschwunden. –
»Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns,« sagte er. »In drei Tagen werde ich Dich wieder fragen, überlege Dir die Sache; meine weiteren Entschlüsse sollst Du dann erfahren.«
»Ich habe Alles überlegt,« betheuerte der junge Mann.
»In drei Tagen also,« rief Herr Reike zurück. »Bis dahin Adieu!«
Er verließ das Gemach und ließ seinen Sohn allein, der einige Minuten still auf der Stelle stand, wo er sich befand, dann aber mit Festigkeit die Hände zusammenballte und leise Worte vor sich hin murmelte.
»Unerträglich!« rief er endlich Lauter. »Es giebt eine Gränze des Gehorsams, die kein Mensch überschreiten darf, ohne sein heiligstes Recht zu vernichten. Ich will nicht gehorchen! ich kann nicht, und müßte ich alles meiden und missen; ich kann nicht! O Alice!«
Er hörte die Thür leise knarren und das Rauschen eines Gewandes. Ein unwillkürlicher Schrecken übergoß sein Gesicht mit Röthe; eine leise Hand berührte seine Schulter; als er sich umwandte, sah er in Mademoiselle Mariens klare, freundliche Augen.
»Pst!« sagte sie, »seien Sie still, Gustav. Der arme, kleine Stibs schläft nach manchen Qualen den sanften Schlaf der Gerechten, der Papa aber dürfte noch nicht so weit sein, und was ich Ihnen sagen will, soll er und Keiner stören. Sehen Sie mich an, Vetter,« fuhr sie lächelnd fort. »Ich verlange kein Urtheil eines Paris von Ihnen, doch hart ist es immer, das müssen Sie bekennen.«
Sie sah so spottlustig und übermüthig aus, daß er mit schlecht verhehltem Mißmuth sich halb von ihr zum Fenster wandte und mit leiser, abweisender Stimme sagte:
»Lassen Sie mich, liebe Marie, Sie wissen nicht, was mich mit Trauer und Schmerz erfüllt.«
»Nein, mein schöner Herr,« versetzte sie, »dem Himmel sei Dank! ich weiß nichts und doch genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Nur ein einzig kleines Wort zu
Ihrer Beruhigung. Ich gefalle Ihnen nicht? Sie antworten keine Silbe. Sagen Sie Nein! und legen Sie die Hand auf mein Herz, ob es stärker klopft.«
»Sie haben das unglückliche Gespräch also gehört, das hier geführt wurde?« fragte er, indem er ihre Hand ergriff.
»Ein Bruchstück vielleicht, und gegen meinen Willen, weil Sie zu laut wurden. Aber nein, Vetter Gustav, ich will nicht lügen und heucheln, ich weiß mehr.« –
Sie zog aus dem Corset den kleinen Brief, welchen sie Stibs gestern Abends abgenommen, und hielt ihn dem Erschreckenden hin.
»Hier ist ein Brief, der in meine Hände gerieth.«
»Sie haben ihn gelesen?« fragte er, hastig ihn annehmend.
»Was muthen Sie mir zu? welches Recht habe ich an Ihren Geheimnissen, Vetter Gustav? Meine Neugier weiß ich zu zähmen; wollen Sie jedoch aufrichtig sein, so werden tausend irrige Vermuthungen ihr bestimmtes Ziel finden.«
Der junge Mann senkte den Kopf, und die Arme über seine Brust gekreuzt, schien er einen Augenblick zu überlegen.
»Sie haben Recht,« sagte er dann, »was auch geschehen mag, Sie sollen Alles wissen. Nehmen Sie, lesen Sie, es kann nichts darin sein, was schlimmer wäre, als was ich Ihnen zu sagen habe.« –
Hastig brach er das Siegel des Briefes auf und hielt ihn Mademoiselle Marien hin, die ihn gelassen nahm und mit halblauter Stimme las:
»Jetzt erst kann ich Ihnen genau sagen, mein theurer Gustav, wie ich erscheinen werde. Ich tanze in der Quadrille des Hofes. Mein Herz sagt mir, Sie würden mich unter Allen finden, auch wenn ich nicht die Perlenschnüre trüge, welche Sie kennen. Ich habe den Anzug einer Columbine in Bereitschaft; Sie werden, wie wir verabredet, dazu passend erscheinen. Erwarten Sie mich an der vordern Eingangsthür. Welche Sehnsucht bewegt und beängstigt mich! doch welch Entzücken überflügelt alle Furchtsamkeit, die mich beschleichen will! Tausend, tausend Küsse! – Alice.«
Die junge Dame ließ den Brief sinken und zeigte schelmisch ihre blitzenden Zahnreihen. –
»So steht es also mit Ihrem Herzen, mein armer Vetter,« sagte sie tröstend. »Ums Himmel willen, daß der Papa nichts erfährt!«
»Er weiß Alles,« erwiederte Gustav. »Irgend ein Verräther hat ihm die genauesten Nachrichten gegeben. Er überraschte mich.«
»Er war auf dem Maskenballe!« rief Mademoiselle Marie heftig lachend. »Darum also der Lärm und die Unruhe im Hause während der Nacht! Es muß ein köstliches Erkennen gewesen sein! Was aber nun beginnen?«
»Ich weiß es nicht,« versetzte er finster vor sich hinblickend.
Plötzlich röthete sich sein Gesicht, und mit einer Regung der Scham und Verlegenheit, die in ein Lächeln sich zusammendrängte, sagte er:
»Nichts kann sonderbarer sein, als meine Geständnisse in Ihr Ohr. Sie wissen Alles, Marie, Sie wissen, daß ich liebe. Sie wissen auch, welche Absichten mein Vater hegt; können Sie mir verzeihen, daß mein ungehorsames Herz einem solchen Glücke sich nicht fügen will, weil es …«
»Still, still, mein verliebter Vetter!« rief Mademoiselle Marie, mit dem Finger drohend, »kein Wort mehr, denn ich habe nichts zu verzeihen. Ich weiß allerdings,« fuhr sie mit gesenkten Augen fort, »welche Absichten mein Herr Vormund und gütiger Verwandter mit mir hatte, allein beruhigen Sie sich und nehmen Sie die Versicherung, daß ich von Herzen gratulire.«
»Sie sollten keinen Spott mit mir treiben in dieser Stunde,« sagte er leise seufzend.
»Wenn ich nie in meinem Leben ernsthaft war, so bin ich es jetzt, versetzte sie. »Muth, Vetter Gustav, ich lobe, ich preise Ihre Kühnheit. Sie lieben! Vertheidigen Sie diese Liebe gegen eine ganze Welt. Dulden Sie es nicht, daß nüchterne Verständigkeit, Vorurtheile, die bevormundende Weisheit der klugen Rechenkunst des Alters einen schwarzen Strich durch Ihr glänzendes, schönes Luftschloß ziehen. Was aber mich betrifft, mein schöner Herr, so fordern Ehrbarkeit und Achtung vor dem Willen meines Vormundes, wenigstens vorläufig neutral zu bleiben. Unsere Stellung ist die, Vetter Gustav: Sie eröffneten dem Papa, daß Hand und Herz meiner armen Person Ihnen durchaus verwerflich erschienen, und hiefür nehmen Sie meinen aufrichtigsten Dank. Wer unterfängt sich, mich wie eine Waare zu verhandeln? und obenein an einen Käufer, der – mit Gunst, mein Vetter – nie etwas davon verstanden hat! Eine zornige Empörung ergreift mich. Sie haben Recht gethan, Gustav; wir paßten durchaus in keiner Sache zusammen, Niemand konnte das besser wissen, als wir, und so lassen Sie uns in Frieden und Freundschaft unseren Lebensweg wandeln, erlöst von Beängstigungen, die, heimlich empfunden, um so schmerzlicher waren.«
Sie reichte ihm die Hand und stolz und freudig richtete sich die schlanke Gestalt vor ihm auf. Ihre schimmernden, trotzigen Augen strahlten eine unmuthige Regung aus, welche von dem Lächeln, das ihren Mund umschwebte, aufgehoben wurde.
»Friede und Freundschaft zwischen uns, das ist es, was ich sehnlich wünsche,« rief Gustav mit Wärme.
»Gut, Vetter, und nun zu Alicen. Was Sie mir etwa mittheilen wollen, muß schnell geschehen, denn so eben nieste Herr Stibs dort, und von der andern Seite höre ich das Räuspern des Papa's.«
»Alice ist schön und gut,« flüsterte ihr Geliebter. Wenn Sie sie kennen sollten, Marie …«
»Diese Ehre werde ich mit später vorbehalten,« fiel sie ein, »doch weiter.«
»Sie lebt seit einigen Monaten hier; ihr Vater, der Chevalier de Brisson, ist Emigrant von altem, französischen Adel.«
»Und diese vornehme, junge Dame hat Gnade über Sie ergehen lassen!« rief Mademoiselle Marie erstaunt. »Wir haben so viele junge, schöne, stolze Cavaliere! Welch ein Glück!«
»Ein Glück, das der Zufall mir gab. Fragt die Liebe nach Rang, Geburt, Reichthum, Schönheit, Tugend?!«
»Nein,« sagte Mademoiselle Marie, »sie ist, wie man behauptet, das ewige große Räthsel. Sie haben Recht. Es ist Gefahr dabei, das ist abenteuerlich und reizt noch mehr.«
»Ich achte es nicht!« rief Gustav. »Was kümmern mich ihre Vorurtheile! Alice liebt mich.«
»Es kann nicht anders sein. Sie sehen sie oft?«
»Mit Hülfe ihrer Dienerin, ja.«
»Und der Vater?«
»Er weiß nichts. Er hat einen Theil seines Vermögens gerettet und ist häufig in vornehmer Gesellschaft aus dem Hause entfernt.«
»O weh!« sagte Mademoiselle Marie. »Das ist übel. Ich wollte, daß er arm wäre. Er wird sich sträuben, und Nebenbuhler haben Sie gewiß, das beweist der Verrath.«
»So scheint es,« erwiederte Gustav: »Alice ist zu schön, zu liebenswerth; doch ich fürchte keinen.«
»Wie ein Paladin dies soll. Allein wie wird es enden?«
»Ich setze Alles daran, was ein Mensch zu geben hat,« entgegnete er mit leidenschaftlichen Feuer. »Mag mein Vater thun, was er will, ich bin bereit, mit ihm zu brechen.«
»Still!« rief Mademoiselle Marie, und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand in plötzlichem wahrem Ernst. »Auch die feurigste Leidenschaft darf nicht ungestraft die Bande der Natur zerbrechen. Seien Sie vorsichtig, Vetter Gustav; vorsichtig muß auch die Liebe fein. Mißtrauisch ist sie immer, so lange sie nicht zur blinden Thorheit wird; und davor hüten Sie sich. Mir scheint es, als hätten Sie ein doppeltes und dreifaches Recht, genau zu prüfen, was Sie thun. Und dies ist der letzte Rath Ihrer gehorsamen Dienerin,« fuhr sie fort, als er schwieg, und machte einen tiefen Knix, den ihre Reifröcke im weiten Kreise begleiteten, »denn hier kommt unser liebwerthester Herr Stibs, der Ihnen die Wahrheit meiner Rede besser erklären wird, als ich es vermag.«
Das rothe, schläfrige Gesicht des Buchhalters guckte durch die Thürspalte; als er jetzt jedoch seinen Namen nennen hörte und den schmeichelhaften Beisatz, trat er herein und sagte:
»Wenn es irgend in meiner Macht steht, so weiß die holdselige Mademoiselle Marie, daß ich in allen Dingen ihr ganz unterthänigster Diener bin.«
»Meinen allerschönsten Dank für die Höflichkeit des Herrn Stibs,« erwiederte sie mit einem neuen Knix und einem Wesen und Lächeln, das Stibsens innerste Seele rührte. »Da mein Herr Vormund sogleich erscheinen wird, so ist es meine Pflicht, den Kaffee zu bestellen; übernehme es der löbliche Herr daher, diesem jungen Menschen, meinem Vetter, der ein sehr miserabler Kaufmann ist, die goldene Regel gründlich darzustellen, nach welcher, ehe man ein wichtiges Geschäft abschließt, dasselbe vorsichtig in allen möglichen Chancen wohl observirt und calculirt, auch mehr als einmal repetirt werden muß, um im selbstverschuldeten Malheur nicht später von Neue molestirt zu werden.«
»Mit dem größten Vergnügen, theuerste Mademoiselle Marie,« rief Stibs entzückt, »erfülle ich Ihren mir gewordenen Auftrag. Es ist merkwürdig, unerklärbar, wie Herr Gustav daran zweifeln kann.« –
Er setzte sich dem Herrn Reike jun., der die Hände über sein Gesicht deckte, gegenüber, legte den Zeigefinger seiner Rechten an den Daumen seiner Linken und begann seine Belehrung.
Der Abend dämmerte tief, als Herr Stibs das Gesellschaftszimmer des gestrengen Principals verließ und nach den letzten respectvollen Abschiedsverbeugungen raschen Schritte die Treppe hinabstieg. Mit der einen Hand hielt er die Rockschöße fest, damit sie nicht in das schnörkelige Eisengitter des alterthümlichen Geländers gerathen möchten, an dem sein schöner, grauer Rock, dessen Andenken er einen bangen Seufzer widmete, einst einen erklecklichen Schaden erlitten, mit der andern winkte er dem alten Hausdiener zu, ihm die Thür zu öffnen, durch welche er gleich darauf auf die Straße trat.
Es nebelte eiskalt, und mit einem zweiten Seufzer klagte Stibs dem Himmel sein Weh, daß er heute ohne Roquelor gehen mußte, gegen alle Sitte, weil Bosheit und höllische Büberei ihn um dies edle Kleidungsstück gebracht hatten. Und heut hatte er den Mangel desselben, als Herr Reike sen. danach fragte, damit entschuldigen können, daß das Wetter am Mittage schön gewesen, auch seine Devotion ihm nicht erlaubt habe, den ein wenig verbrauchten Überwurf mitzubringen; wie aber sollte es morgen werden, wenn entdeckt würde, daß Rock, Hut, Roquelor, o Himmel! selbst das herrliche spanische Rohr mit dem Goldknopf fehlten?
Das haarsträubende Entsetzen kam wieder, das ihn ganz verlassen, so lange er in der beglückenden Nähe Mademoiselle Mariens sich befunden, welche auf wunderbare Weise mit ihren blauen Schelmenaugen Muth in sein geängstetes Herz zu träufeln wußte. Jetzt fiel ihm alles wieder ein, was ihm gestern geschehen war, und seine Kniee knickten zusammen, als plötzlich ein paar Finger ihm in den Arm zwickten und eine leise Stimme seinen Namen nannte.
Stibs warf einen scheuen, schnellen Blick hinter sich, und die Empfindung der Dankbarkeit kam über ihn. Eine Dame, dicht eingehüllt in einen dunkeln Mantel, dessen Kappe über ihren Kopf gezogen war, stand neben ihm. Er konnte nicht in Geringsten zweifeln, daß es die Unbekannte sei, welche als Samariterin an ihm gehandelt und in ihrem Wagen ihn gnädiglich errettet hatte.
»Nun, Herr Stibs,« sagte die Dame, »wie befinden Sie sich heute?«
»O, meine edle Wohlthäterin,« rief der kleine Buchhalter mit Rührung, »ich weiß, welchen Dank ich Ihnen schulde; in Übrigen befinde ich mich wohl. Denn als Ihre Güte mich in die Nähe meiner Wohnung entließ, gelang es mir, schnell in diese zu entschlüpfen, wo meine Haushälterin, die gute Margarethe, mich ängstlich erwartete. So bin ich denn durch Fliederthee und Schlaf leidlich wieder hergestellt.«
»Schön, mein Herr,« fuhr die Dame fort, »und jetzt kommen Sie von Herrn Reike?«
»Allerdings,« sagte Stibs verwundert. »Ich komme jedes Mal Sonntags daher.«
»Sie sahen auch den jungen Herrn Reike?«
»Ich sah ihn,« antwortete Stibs. »Kennen Sie ihn?«
»Wohl möglich. Bemerkten Sie nicht, daß Vater und Sohn ungewöhnlich ernst waren?«
Stibs wurde immer erstaunter.
»Es kam mir allerdings so vor,« sagte er, »als wäre eine geheime, ganz ungewöhnliche Unterredung sehr stürmisch gewesen, und wenn ich sagen soll – ich setze voraus, es interessirt Sie.«
»O, sehr, sehr,« versicherte die Fremde, ihre Hand auf Stibsens Arm legend.
»Herr Reike jun. kam mir außerordentlich confus vor,« flüsterte Stibs. »Er sprach kein Wort, oder doch nur sehr wenige, saß da, wie ohne Gehör, und wollte endlich auf und davon, wenn es der Papa geduldet hätte.«
»Er mußte also bleiben?« fragte die Dame.
»Mußte bleiben, sagte Stibs, »und wird eine Partie Tarok spielen, oder Mademoiselle Marien am Clavier begleiten, bis es Zehn läutet.«
Die Unbekannte ging schweigend neben dem Buchhalter weiter, der ungewiß schien, ob er sich entfernen solle, bis sie ihn von Neuem festhielt.
»Ich verlange von Ihnen eine Gefälligkeit, Herr Stibs,« sagte sie.
»Mit dem größten Vergnügen, Madame, oder Mademoiselle,« erwiederte Stibs; »denn obgleich ich nicht die Ehre habe, Sie zu kennen, so weiß ich doch, was ich Ihnen verschulde.«
»Sie werden mich kennen lernen. Wann sind Sie allein in dem Comtoir?«
»Ich?«, fragte Stibs verwundert – »allein?«
»Sie allein, ohne daß irgend ein zweiter zugegen wäre.«
»Es könnte sein,« versetzte der Buchhalter verwirrt, »daß dies Mittags, oder Abends, gegen sieben Uhr, der Fall wäre; allein, wenn ich fragen darf – es ist merkwürdig! ich wüßte nicht, weßhalb ich allein sein soll!«
»Weil ich Sie aufsuchen will, um weiter mit Ihnen zu sprechen,« fuhr die Dame fort.
»Bitte sehr,« sagte Stibs, »dies wäre eine höchst schmeichelhafte Ehre. Das Comtoir – Damenbesuch – es ist ein bedeutendes Risico bei dieser Angelegenheit man– könnte uns unterbrechen, und selbst Herr Reike …«
»Fürchten Sie nichts,« sagte die Unbekannte,«jeder falsche Verdacht wird verschwinden. Aber sein Sie aufmerksam; merken Sie morgen auf alles, was im Hause vorgeht; verschweigen Sie mir nichts. Ich weiß, Sie besitzen das ganze Vertrauen des alten Herrn.«
»Aber, mein Himmel!« sagte Stibs ängstlich, »welchen Nutzen kann es ihnen gewähren, zu wissen, was Herr Reike sagt oder thut?«
»Schweigen Sie gegen Jedermann,« fuhr die Dame fort. »Sie werden Alles erfahren und dann erst verstehen, was mich dazu bestimmt. Schwören Sie, daß Sie schweigen wollen.«
»Ich schwöre,« sagte Stibs feierlich, »wenn Sie das beruhigen kann, aber …«
»Auf Wiedersehen« flüsterte sie, indem sie seine Hand los ließ. »ich rechne auf Ihre Dankbarkeit, zählen Sie auf die meine.«
Sie entfernte sich, und Stibs stand betroffen noch eine volle Minute still. Die unerfaßlichsten Vorstellungen drehten sich vor ihm umher und verwirrten ihn, je mehr er nachsann. Die Art und Weise der Unbekannten hatte etwas durchaus Seltsames. Der Ton ihrer Stimme war befehlend und überredend, es lag etwas darin, das Gehorsam forderte, und doch war er auch süß und schmeichelnd, und der Druck ihrer weichen Hand ein Zauber, der Stibs sehr neugierig und mild stimmte. Das Gesicht hatte er nicht deutlich gesehen, sie verbarg es zu sehr unter Mantelkappe und Schleier, aber es schien sehr artig zu sein. Stibs versank in die wunderlichsten Träumereien.
»Was will sie von mir? Wer kann sie sein?« murmelte er vor sich hin. Plötzlich stand er still und sagte: »Jetzt habe ich's. Herr Gustav Reike jun. war ihre erste Frage. Herr Johannes Reike hinwieder die zweite. Briefschreiberei – Unfrieden – Zank – Aufpassen – Vertrauen! – Es ist alles richtig! – Das ist die Mamsell, welche die wohlriechenden Briefchen schreibt und Herrn Reike jun. den Kopf verdreht hat. Sapperment! aber« – er stand wieder still und faßte sich an die Stirn. »Wie kam sie auf die Redoute, in die Quadrille, in die Laube, wo ein Harlekin sie zärtlich umfaßt hielt? Es ist nicht möglich!« schrie er, »es ist durchaus unmöglich, ich kann es nicht begreifen.«
»Was meines Erachtens Ihnen seit gestern mehrmals passirt ist,« sagte eine Stimme hinter ihm, zum tödtlichen Schrecken des Buchhalters, der erblassend sich umwendete.
»O, o!« rief er, »nein, ich irre mich nicht, ich habe die Ehre, Sie zu kennen, – gestern, gestern Abend …«
Die Stimme versagte ihm den Dienst, denn da stand der entsetzliche Plagegeist, welcher alles Unheil über ihn gebracht hatte, der große Officier in seinem blauen, unheimlichen Mantel; und wie von Stein gehauen sah er aus, es regte sich nichts an ihm.
In diesem Augenblicke fiel es Stibs ein, was er gelitten und verloren, und mit der Energie der Verzweiflung fuhr er fort:
»Ich will es nicht untersuchen, ob es recht war, einen schuldlosen Mann so zu verlocken und zu martern, wie Sie es gethan, sein Gehirn zu betäuben und ihm endlich dem Spotte und der Schmach Preis zu geben; denn leider mußte ich sehen, als ich endlich gerettet und in Sicherheit war, daß eine ruchlose Hand einen Zettel auf meinen Rüden befestigt hatte, auf welchem deutlich zu lesen stand: Guten Abend, Herr Stibs!«
»Ich betheure Ihnen, daß ich nichts von diesem Scherze weiß,« sagte der große Herr.
»Ein Scherz,« schrie Stibs; »ein Scherz?! Gehorsamer Diener, ein allerliebster Scherz!«
»Es entrüstet mich Ihre Schicksale zu hören,« fuhr der Fremde fort, »und gern will ich vergüten, was ich vermag.
»Mein gnädiger Herr Graf,« sprach Stibs bittend, »ja, Herr Graf, ich erinnere mich jetzt, nur eine Bitte und einen Anfang dazu habe ich gehorsamst vorzutragen. Geben Sie mir meine Kleider zurück und dann dann lassen Sie uns für immer vergessen, daß es einen Stibs in der Welt giebt.«
»Sie sind zu bescheiden, mein theurer Herr,« sagte der Graf lächelnd. »Ihre Kleider sollen Sie noch heute zurückerhalten; Ihre werthe Bekanntschaft jedoch werde ich so schnell nicht aufgeben können. Sie sind ein verständiger Mann, Herr Stibs,« fuhr er fort, »lassen Sie uns daher verständig reden. Sie können denken, daß ich besondere Absichten haben muß, die mir Ihre Person werth machen, sonst« – er warf den Kopf stolz in den Nacken und betonte dies Wort so wunderlich, daß Stibs erschrack – »sonst würde ich Ihren Wunsch gewiß erfüllen.«
»Es kommt mir vor,« entgegnete der Buchhalter kläglich, »als lebte ich nicht mehr, oder ich lebte und wäre verzaubert, gestohlen oder umgetauscht; denn es ist merkwürdig, wie viele Personen ein plötzliches Wohlgefallen an mir finden …«
»Gehörte etwa die Dame auch dazu, welche Sie aufhielt?« fragte der Officier.
»Die Dame? O ja, allerdings.«
»Sie sprachen mit ihr?«
»Eine Viertelstunde lang, ich kann es nicht läugnen.«
»Und sie gab ihnen Aufträge, einen Brief!« rief der Fremde, indem er hastig den Arm des Buchhalters faßte.
»Um Gottes willen, nein!« sagte Stibs, »sie gab mir nichts.«
»Nichts?! Was sprach sie? was begehrte sie? Lügen Sie nicht!«
Stibs theilte in größter Furcht mit, was ihm bei seinem Eide verboten war, und schweigend hörte der Herr es an.
»Zu Ihnen will sie kommen?« sagte er dann vor sich hinsprechend; »bei Gott, das ist seltsam! Es ist unmöglich, daß die Gemeinheit solche Anziehungskraft für sie haben kann, um Alles zu vergessen, einem elenden Krämer zu Gefallen. Wenn ich das wüßte, wenn ich es wüßte!«
Er faßte unter dem Mantel den Korb seines langen Schwertes und stieß es mit solcher Gewalt auf den Boden, daß Stibs zurücksprang. –
»Hören Sie mich an, Herr,« fuhr er fort, den Arm des Buchhalters fest drückend und sein stolzes, von Leidenschaft erhitztes Gesicht zu diesem neigend, »ich bin Ihnen vielen Dank schuldig.«
»Es hat durchaus nichts zu sagen;« erwiederte Stibs ängstlich höflich.
»Diesen Dank will ich einst reichlich abtragen.«
»O, bitte!« sagte der kleine Mann, »ich verlange durchaus nichts.«
»Allein ich erwarte, daß Sie sich mit mir verbünden, mir genaue Nachricht von Allem mittheilen, was jene Dame will, was dieser Schelm beginnen mag, der Mittel benutzt, die ich nicht kenne, nicht begreife, die aber vom höllischen Teufel selbst stammen müssen, weil sie Natur, Gesetz, Scham und Pflicht überwinden. Sie sollen mir Alles berichten, was vorgeht; selbst der Herr, dem Sie dienen, wird es Ihnen einst danken.«
»Wenn Herr Reike in seiner gestrigen Rücksprache mit Ihnen derselben Ansicht war,« sagte Stibs, »und Ihre beiderseitigen Interessen darin zusammenfallen, so würde ich prompt Ihre gütigen Aufträge unter Mitwirkung ausführen können.«
Ein wilder Fluch des jungen Herrn war die Antwort. –
»Ich könnte ja sagen, ich könnte Ihnen drohen, ich könnte dem alten, nichtswürdigen Geizhals, wie Sie ihn nannten, Manches mittheilen; doch nein, was schiert mich das krämerhafte Gesindel! Was ich bezwecke und will, ist meine Sache, und dieser sollen Sie dienen! Sie werden sich nicht weigern,« fuhr er nachdrücklich fort, »ich habe Sie in meiner Gewalt, und, bei meiner Ehre! Herr, Sie haben die Wahl: entweder Sie empfangen goldenen Lohn, oder eisernen, dem Sie nicht entgehen können.«
Die furchtbare Gestalt, deren drohende Bewegungen das Schlimmste vermuthen ließen, machte auf den ängstlichen, kleinen Mann den stärksten Eindruck.
»Gern, sehr gern will ich zu Ihren Diensten sein, mein Herr Graf,« sagte er zitternd.
»Ich erwarte das von Ihnen,« rief der Officier höhnisch lachend, »und werde Sie morgen Abend hier an dieser Stelle finden, wo ich das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft zuerst hatte. Es ist ein hübsches Erinnerungsplätzchen für Sie, Herr Stibs, und ruft Ihre Verpflichtungen gegen mich wach.«
Bei diesen Worten verließ er den Buchhalter, der, so schnell er konnte, diesen schrecklichen Ort floh und athemlos seine Wohnung erreichte. An der Thür sah er sich nochmals scheu um, denn es kam ihm vor, als hätte er das Rasseln eines Schwertes gehört, und dankend blickte er zu dem erleuchteten Fenster empor, wo er von der sorgsamen Pflegerin seines irdischen Daseins erwartet wurde.
Während nun Herr Stibs einen höchst merkwürdigen Abend verlebte, ganz eingesponnen von Zweifeln, Hoffnungen, Vermuthungen und Täuschungen, eilte Graf Reichenau unruhig vor der Thür Alice's auf und ab. Den Hut hatte er tief ins Gesicht gedrückt, so stand er in der finstern Ecke eines Hauses und blickte nach dem Zimmer hinauf, hinter deren Fenstern dann und wann ein Schatten an den weißen Vorhängen hinglitt.
Alle Qualen der Liebe und der Eifersucht wurden nach und nach in ihm aufgeregt. Bald war es ihm, als stehe ihm gegenüber die Gestalt seines bevorzugten Nebenbuhlers, den er verachtete und haßte; bald entdeckte er einen zweiten Schatten hinter den Gardinen, der die Adern an seiner Stirn feurig auftrieb. Ungeduldig und gereizt verwünschte er alles, was ihn vermochte, hier mit Herzklopfen zu harren, und doch war es ihm unmöglich den Platz zu verlassen, auf den er nach wenigen Schritten immer wieder zurückkehrte.
Endlich konnte man die Ursache begreifen, die ihn so hartnäckig machte. Drüben öffnete sich die Thür, und eine weibliche Gestalt schlüpfte hervor, welche rechte und links umhersah und sich halb zurückzog, als der junge Officier sich näherte.
»Jeannette!« flüsterte er. »Guten Abend, Du schöner Engel, da bin ich.«
Er legte vertraulich den Arm um ihren Leib; so sprachen sie zusammen, und viele Überredung schien es dem Grafen zu kosten, das Mädchen nach seinen Wünschen zu stimmen. Erst als Geld klang und seine Börse in ihre Hand glitt, gab sie nach; gleich darauf verschwanden Beide in dem Hausflur, und an der Hand der pfiffigen Kammerjungfer fand der verliebte, junge Edelmann leicht den Weg zu dem Zimmer ihrer Gebieterin.
Mit der Kühnheit eines Cavaliers der damaligen Zeit drehte er das Schloß und trat hinein. Mantel, Degen und Hut hatte er im Vorgemach leise abgelegt, und lauschend blieb er an der Schwelle stehen, als er das Fräulein von Brisson erblickte, die, den Arm auf den Schreibtisch gelegt, nachdenkend in einer großen Mappe mit Papieren blätterte. Viele Briefe hatte sie auf den Tisch gelegt und mehrere davon aufgeschlagen. Graf Reichenau sah ein welkes Sträußchen auf einem derselben liegen, auf einem andern ein Miniaturbild in goldener, mit Perlen besetzter Fassung, das seine eifersüchtigen Blicke zu erkennen suchten; bis eine Bewegung, welche die Räder seiner Sporen klingen ließ, ihn verrieth.
Als Alice sich erschreckt aufrichtete, und, Bild und Papiere mit Hast zusammenraffend, einen fragenden, stechenden Blick auf den kecken Mann warf, glaubte dieser sie noch nie so schön gesehen zu haben. Mit dem leichten Anstande und der Sicherheit, die gewohnt ist, sich nie beirren zu lassen, näherte er sich ihr.
»Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein, Ihre Verzeihung zu erhalten, begann er lächelnd, »wenn ich unangemeldet und unerwartet vor Ihnen stehe.«
»Jeannette war nicht im Vorzimmer, und die Thür stand offen, ich kann es denken,« erwiederte sie. »Setzen Sie sich, lieber Graf, mein Vater muß bald zurück kommen.«
»Sie haben den Maskenball fröhlich gefeiert?« fragte er, indem er ihrem Gebot folgte.
»Ich habe wenig getanzt und bin bald nach Hause gefahren. Maskenfeste sind meine Sache nicht.«
Reichenau lächelte.
›Wer es nicht besser wüßte,‹ sagte er zu sich selbst, ›würde sich täuschen lassen.‹ »Sie lieben Maskenfeste nicht,« fuhr er dann laut fort. »Macht es Ihnen kein Vergnügen, unbekannt und geheimnisvoll umherzuschweifen oder in wechselnder Verkleidung Ihre Freunde zu täuschen?«
»Ich denke,« antwortete sie mit einem schnellen, scharfen Blicke ihrer glänzenden Augen, »man täuscht seine Freunde genugsam auch ohne Maske.«
»Wahr!« rief der Graf überrascht. »Auf Ehre, Sie haben Recht! Und wer täuscht seine Freunde mehr, als die schönen Frauen, deren Launen zuweilen seltsam mit unserer Gläubigkeit scherzen!«
»Ein Mann,« sagte sie mit einem spöttischen Anklange, »soll die Launen einer Frau nicht dulden; er soll den Muth und die Macht besitzen, jene zu zerbrechen.«
»Das heißt,« rief Reichenau feurig, indem er ihre Hand ergriff, »er soll sein Herrenrecht gebrauchen und sie besiegen.«
»Wenn er es kann,« fiel sie ein.
Die Augen des Grafen glühten, das Fräulein von Brisson blickte ihn herausfordernd an. –
»Man kann Alles!« rief er, »was man will, theuerste Alice! Was hält mich ab, den Versuch zu wagen?«
»Man soll nichts wagen,« versetzte sie zurücktretend und warnend, »wo man nicht Aussicht hat, etwas zu gewinnen.«
»Und wo,« rief er leidenschaftlich, »wo gäbe es einen höheren Preis zu erringen, als hier!«
»Mein Herr Graf,« sagte das Fräulein, und das Lächeln verschwand von ihren Lippen, »ich denke, wir haben gestern Scherz genug gehabt.«
»Was ich sage, ist heiliger Ernst!« rief Reichenau betheuernd. »Hören Sie mich an, Alice. Ich bin reich, unabhängig, mein ganzes Leben soll Ihnen gewidmet sein. Diese Hand, Alice, und Ihr Herz, so verlange ich nichts mehr von der Welt und ihrem Glück. Ich werfe dies Kleid von mir, ich führe Sie auf meine Güter; wohin Sie wollen, gehe ich mit Ihnen, und was Sie beschließen; soll mir Befehl sein.«
Alice hatte still gehört, was er sagte, jetzt unterbrach sie ihn.
»Ich könnte in langen Wendungen reden,« sprach sie, »in allen Höflichkeitsformen für die Ehre danken, die ich so unerwartet erfahre, aber ich will kurz und bestimmt sein. Ich weiß, daß Sie mich auszeichnen, Herr Graf, daß überall, wo wir uns finden, Ihr Blick auf mir ruht, daß Ihre Besuche in diesem Hause mir gelten. Ein Mädchen erkennt die Neigung bald, welche ihr so gewidmet wird; doch können Sie behaupten, daß ich jemals Ihre Hoffnungen nährte?«
Der junge Mann ließ ihre Hand los.
»Nein,« sagte er langsam, »Hoffnungen nicht, doch Wünsche um so mehr.«
»Kann ich den Wünschen befehlen, daß sie sich vernichten? Lieber Graf, ich habe Ihnen nicht mehr zu sagen.«
»Sie verwerfen mich also, Alice?« rief er, zwischen Liebe und Zorn ringend; »Sie nehmen mir jede Hoffnung? Warum?«
»Ich habe viele triftige Gründe,« erwiederte sie.
»Lassen Sie mich einen wissen,« sagte er erregt. »Was mißfällt Ihnen? Ich, mein Name, mein Stand?«
Das Fräulein von Brisson stand auf.
»Sie sind als ein Musterbild der jungen Cavaliere dieses Landes bekannt,« sprach sie. »Meine Gründe sind anderer Art; sie betreffen mich selbst.«
»Ihr Herz und dessen Launen.«
»Auch diese,« versetzte sie lächelnd.
»O, ich weiß Alles, Alles,« fuhr er fort; »ja, ich weiß mehr von Ihnen, als Sie ahnen.«
»Was wissen Sie?« fragte sie schnell.
»Läugnen Sie nicht,« flüsterte Reichenau; »ich weiß, welch lustiges Spiel Sie mit einem lächerlichen Thoren treiben. Ich kenne diesen Menschen; ich weiß, daß er gestern auf dem Maskenballe an der Seite einer schönen Columbine saß, als der Papa, der Krämer, ihn am Ohr nach Hause schleppte.«
»Wirklich!« rief Alice lachend, »und Sie finden es ergötzlich?«
»Als Posse, ja, doch auch diese hat ihre Gränzen.
»Ich hoffe,« sagte die Dame stolz, »daß Niemand mir diese vorzeichnen will.«
»Die Gränzen beginnen von selbst am Rande der Gemeinheit,« versetzte Reichenau. »Sie sind zwischen zwei Welten gezogen und dürfen nicht überschritten werden. Wer zur Gesellschaft gehört, steht rechts, der Pöbel hat auf der anderen Seite seinen Platz. Man kann sich mit ihm einlassen des Vergnügens oder der Langenweile wegen; man darf sich aber nicht wegwerfen, sich nicht mit ihm vermischen oder gar ihn zu sich heraufheben wollen.«
»Mein Herr!« rief Alice mit blitzenden Augen; »doch nein,« fuhr sie gelassen fort, »das ist die Sprache, die ich hören muß, um meine ganze Ruhe zu bewahren.«
Sie wandte sich von ihm und räumte die zerstreuten Papiere in die große Mappe, während Reichenau seine zitternde Hand auf den Tisch stützte und sie betrachtete. –
»Trifft mich Ihr Zorn,« sagte er nach einer Pause, so mild er konnte, »so geschieht es unverschuldet. Himmel! welchen stärkeren Beweis meiner Liebe und Ergebenheit kann ich Ihnen geben, als den, daß ich diese Verirrung, nein, diese Laune Ihres Herzens kenne und doch nur darüber spotte?«
»Und mit welchem Rechte?« fragte sie, indem sie ihm zürnend gegenübertrat. »Was giebt Ihnen den Muth, sich in meine Angelegenheiten zu mischen? Ich werde mich nicht mißhandeln lassen; ich bin kein Wesen das geboren wurde, um ungestraft beleidigt zu werden. Meine Neigungen, meine Launen und Thorheiten sind mein; Sie, mein Herr Graf, stehen entfernt von diesen. Verschonen Sie mich.«
Jedes ihrer Worte drang tief in Reichenau's Brust. Er stand bewegungslos mit funkelnden Augen und festgeballter Hand. Eine blutige Röthe der Scham färbte sein Gesicht, und seine trotzige Sicherheit machte einer Schwäche Platz, die schnell in den wildesten Zorn und Hohn überging. – Der stolze Graf von Reichenau, in Liebe glühend für ein armes, fremdes Weib, hatte ihr alles geboten, was er geben konnte; er hatte viele Bedenklichkeiten fortgekämpft, ehe er zu dem Entschlusse gelangte; jetzt sah er sich verächtlich abgewiesen. Das war mehr, als er zu ertragen vermochte.
»Wenn es wirklich Ernst wäre mit diesem Scherz,« sagte er sich fassend, »dann freilich würde ich Sie gern und für immer verschonen; aber ich will nicht gehen ohne die vollständigste Erklärung.«
»Und diese,« erwiederte Alice, »habe ich Ihnen gegeben, Herr Graf. Blicken Sie mich nicht so wild und drohend an; hier giebt es keinen armen Bürger, der gepeitscht, gequält und gehegt werden kann. Ich bin eine schwache Frau und allein, aber ich bin in meiner Schwäche muthig genug, mich nicht im Geringsten zu fürchten, und befehle Ihnen, mich zu verlassen.«
»Hüten Sie sich!« rief Reichenau außer sich über diese Sprache, »hüten Sie sich, mein schönes Fräulein, daß die Welt nicht die geheime Geschichte Ihrer zärtlichen Triebe und die Abenteuer eines Maskenballes erfährt, welche werth sind, in Verse gebracht und zur Leier gesungen zu werden.«
»Und Sie wären im Stande, das prächtige Lied unter meinem Fenster singen zu lassen,« sagte sie verächtlich, »um diese Heldenthat zu anderen Heldenthaten zu legen, welche den Ruhm dieser tapferen Elite einer ganzen Nation ausmachen. O, versagen Sie sich dies köstliche Vergnügen nicht. Die Zeit ist kurz,« fuhr sie stolz und drohend fort, »die Tage sind gezählt, auch der wird kommen, wo euer Reich zusammen bricht; wo der Rächer erscheint, welcher diese Schmach mit vielen anderen in eurem Blute abwäscht.«
Die prophetische Düsterheit in Alice's Augen und die unermeßliche Verachtung in allen ihren Mienen brachte eine plötzliche Verwirrung in dem jungen Officier hervor. Zum ersten Male in seinem Leben fand er die rechten Worte nicht, um seinen Spott fortzusetzen, das freche Lachen verschwand von seinen Lippen.
Plötzlich hörte er draußen Schritte; die Thür wurde leise geöffnet; er sah sich um und schlug ein schallendes Gelächter auf.
»Da ist er ja,« schrie er, »der liebenswürdige Harlekin, der innig erwartete Rächer und Retter. Auf Ehre! er ist den Händen des würdigen Papa's entkommen, sammt allen Tarokkarten, um hier mit der Mantille die Spadille zu stechen!«
»Was geht hier vor?« fragte der Eintretende erstaunt, und im nächsten Augenblicke stand er dicht vor dem Officier, der, die Arme auf der Brust gekreuzt, seinen Nebenbuhler mit dem beleidigendsten Hohn betrachtete.
»Mein guter Freund;« sagte Reichenau verächtlich, »wendet Euch an die Dame Eures Herzens, statt mich so unverschämt anzugaffen.«
»Eine Erklärung dieses seltsamen Auftrittes begehrt am besten der Mann vom Manne,« erwiederte Gustav ruhig.
»Dann kommt morgen zu mir!« fuhr der Graf fort, »und Ihr sollt haben, was Ihr verdient. Heut möchte ich um keinen Preis Euch um den Genuß der Schäferstunde bringen.«
»Alice!« rief der junge Mensch empört; »wer ist dieser Mensch?«
Das Fräulein von Brisson faßte seinen Arm, und indem sie mit dem Finger auf Reichenau deutete, sagte sie:
»Rühren Sie ihn nicht an; wagen Sie nicht, die Hand gegen ihn aufzuheben; erlauben Sie sich um des Himmels willen keine Beleidigungen, denn Sie haben es mit dem Stolz und der Blume der Ritterschaft zu thun. Er würde sein Schwert nehmen und Sie durchbohren, den Fuß auf Ihren blutenden Körper setzen, und eben so lächeln, wie er es jetzt thut. Mit demselben Lachen würde er die Richter empfangen, und diese, wie alle die glänzenden Herren und Damen, würden ihn preisen, daß er seine Ehre gegen einen Menschen so tapfer bewahrte; der die Verwegenheit hatte, sich nicht mit Füßen treten zu lassen.«
»Das Alles soll mich nicht abhalten, Rechenschaft für Sie zu fordern!« sprach Gustav.
»So gebiete ich Ihnen, meinetwegen, Ruhe und. Beherrschung,« sagte die Dame. »Will der edle Graf dies Zimmer durchaus nicht räumen, so mag er uns Gesellschaft leisten; ich werde gern zu seiner weiteren Unterhaltung beitragen.«
»Treiben Sie die Güte nicht zu weit,« versetzte Reichenau, indem er aus seiner nachlässigen Stellung sich aufrichtete. »ich habe genug gehört und gesehen und bin von dieser Gesellschaft übersättigt. Aus meinem Wege!« sprach er finster, »indem er einen Blick tödtlichen Hasses auf den jungen Mann warf. »Sie aber, mein gnädiges Fräulein de Brisson, Sie haben mehr hier zu verantworten, als dieser Mensch da. So fein auch Ihre Netze sind, hüten Sie sich daß sie nicht reißen!«
Stolz wendete er sich um und ging rasch hinaus. Draußen raffte er Mantel und Degen zusammen und sprang die Treppe hinunter. Er bis die Zähne zusammen, als er einen Blick, den letzten, auf die Fenster warf.
»Pöbelbrut!« murmelte er vor sich hin; »Schmach und Schande über mich, wenn ich es euch nicht vergelte!«
Am nächsten Abend saß Herr Stibs in seinem grauen Rock und allem, was dazu gehörte, am Pulte vor Briefen und Rechnungen, aber die Feder ruhte nachlässig in seiner Hand; er wendete sie zürnend hin und her und warf manchen ängstlich forschenden Blick nach der Uhr, die noch immer nicht voll schlagen wollte. –
Mit einem Lächeln betrachtete er sich und sein gerettetes Kleid, das richtig spät Abends, sammt dem Übrigen, in seiner Wohnung abgeliefert worden war; dann sah er in den kleinen Comtoir-Spiegel und rückte die Perrücke, endlich seufzte er tief auf und flüsterte sich zu:
»Was ich doch für ein Narr bin! das Herz schlägt mir, wie ein Hammer. Wird sie kommen, wird sie nicht kommen? Es ist doch eine eigene Sache, Stibs, um so eine Bestellung mit einem holdseligen Frauenzimmer.«
Plötzlich aber fuhr er zusammen, denn ganz leise öffnete sich die Thür, und die schwarze, hohe Gestalt der unbekannten Dame trat rauschend herein. –
»Gott im Himmel!« murmelte Stibs, ängstlich mit beiden Händen die Feder umspannend, »da ist sie!«
Die Dame legte den Finger an den Mund, indem sie den Schleier von ihrem Gesichte schlug und den erstarrten Stibs ihr blasses, schönes Gesicht zeigte, aus dem die großen Augen befehlend leuchteten.
»Ich bin gekommen,« sprach sie leise, »um von Ihnen zu erfahren, wie die Angelegenheiten dieses Hauses stehen.«
Der Buchhalter sah die Fremde erstaunt an.
»Die Angelegenheiten unseres Hauses, Madame?« rief er. »O, was das anbelangt, so seien Sie unbesorgt. Es ist wunderbar, aber ich versichere Ihnen auf Ehre und Gewissen, unser Haus steht fester, als irgend eines am Platze.«
Ein leises Lächeln lief über die Lippen der Unbekannten.
»Sie verstehen mich nicht,« fuhr sie fort; »ich will deutlicher sein. Man hat mir gesagt, es sei die Absicht des Herrn Reike, seinen Sohn zu verheirathen.«
»Allerdings, mit Mademoiselle Marie, man kann es nicht läugnen,« sagte Stibs.
»Aber es wird nicht geschehen,« sagte die Fremde hastiger. »Verlassen Sie sich darauf.«
Stibs starrte die Dame an. –
»Es wird nicht geschehen?« versetzte er. »Es wird allerdings geschehen; Denn erstens hat Herr Reike diese Mariage beschlossen, und zweitens ist Herr Reike jun., wenn ich so sagen darf, verliebt bis über die Ohren.«
»Woher glauben Sie das?« fragte die Unbekannte.
Stibs schlug verschämt die Augen nieder und sagte dann:
»Bitte sehr, nichts Böses von mir zu denken, aber Liebe macht froh und betrübt nach allen probaten Erfahrungen. Herr Gustav hat dies sichtlich vor meinen Augen bestätigt. Als Mademoiselle Marie ins Haus kam, war er vor Glück und Wonne aus Rand und Band; jetzt ist er traurig, zerstreut, ein Mann des Jammers, was sich jedoch alles geben wird, wenn er sie als Eheliebste erst heimgeführt, und diesem steht nichts im Wege.«
»Meinen Sie?« erwiederte die Dame, spöttisch lächelnd; »doch weiter.« –
Sie richtete einige rasche Fragen an den Buchhalter über die Verhältnisse zwischen Vater und Sohn, und wie der heutige Tag vergangen, welche Stibs, so gut er konnte beantwortete.
»Es ist kein Zweifel,« sagte er dann, »daß allerdings eine wichtige Speculation die Seele des verehrten Principals beschäftigt. Äußerlich ist er zwar so gelassen, wie es seiner Würde und seiner Erfahrung geziemt, aber wer ihn kennt, wie ich ihn kenne, sieht an der Art, wie er die Feder faßt und den kunstvollen Zug unter seinen Namen verschlingt, wie er den Elnbogen aufstemmt, kurz, an Allem, daß in ihm eine innerliche Unruhe brennt.«
»Und er hat Ihnen nichts davon vertraut?«
»Nichts,« sagte Stibs, »kein Wort, keine Sylbe; das ist es ja eben, was mich so schwer bekümmert. Sonst besaß ich dies kostbare Vertrauen durchaus, aber seit Sonnabend Abend …«
Hier schüttelte Herr Stibs seufzend den Kopf, und erst nach einer Pause fuhr er feierlich fort:
Mademoiselle oder Madame, ich weiß noch immer nicht, wie ich sagen darf, aber glauben Sie mir, es gehen einige unnatürliche, merkwürdige Dinge hier vor. Dinge, die ins Unglaubliche fallen, wenn nicht …«
Hier hielt Herr Stibs plötzlich inne, und ein Zittern lief durch seine Glieder; er konnte blaß werden, der kleine, rothwangige Mann, denn draußen knarrten Schritte, die er unter Tausenden heraus gekannt hätte. –
»Um Gottes willen!« flüsterte er, »er kommt. Was sollen wir sagen? Verstecken Sie sich, da – dort, hinter den Kisten.«
Die Dame ging mit leichten, schnellen Schritten durch das große Gewölbe; aber statt in einer der dunklen Ecken sich zu verbergen, öffnete sie plötzlich die angelehnte Thür des Cabinets und schlüpfte hinein. Stibs sperrte den Mund zu einem Angstschrei auf, allein er drückte ihn krampfhaft zusammen, denn in dem Augenblicke trat Herr Reike in das Comtoir.
Hätte der alte Herr den verzagenden Stibs in diesem Augenblicke gesehen, wie er mit stieren Augen und mit den Mienen eines zum Tode Verurtheilten bewegungslos auf dem Reitbocke saß, er würde sogleich erkannt haben, daß hier irgend ein schreckliches Verbrechen begangen wurde. Aber Herr Meike hielt ein brennendes Wachslicht in der einen Hand, in der andern trug er mehrere Papiere; so schritt er, seinen Buchhalter keines Blickes würdigend, an diesem vorüber gerade auf sein Arbeits-Cabinet zu, ohne daß Stibs auch nur im Stande gewesen wäre, einen Laut der Verzweiflung auszustoßen.
In krampfhafter Betäubung preßte er die gefaltenen Hände zusammen, und ohne einen bestimmten Gedanken zu fassen, richtete er seine Augen nach der Decke; aber hätte sich statt des Himmels die Erde unter seinen Füßen geöffnet, Stibs wäre mit Vergnügen in den Abgrund gesprungen
Eine, zwei, drei Minuten wartete er, gefaßt darauf, im nächsten Augenblicke die donnernde Stimme des alten Herrn zu hören, der den nächtlichen Eindringling in dies Heiligthum ergriffen hatte; allein Alles blieb still, und als fünf und zehn Minuten vergangen waren, schwindelte Stibsens Kopf von den wildesten Phantasien.
Wie war es möglich, ohne den Beistand eines allmächtigen Wesens, oder ohne geheime Zauberkünste der schönen, unbekannten Frau, daß diese in dem engen Gemache verschwinden konnte? Sie mußte die gefährliche Eigenschaft besitzen, sich unsichtbar zu machen, oder Stibs hatte in seiner Todesangst ein Wunder bewirkt und ein Gott sich seiner erbarmt.
Plötzlich entstand drinnen ein Geräusch, und mitten in seiner neu aufsteigenden Verwirrung hörte der kleine Buchhalter seinen Namen rufen. Aber es klang keineswegs nach Schrecken und Überraschung, sondern ganz so, wie er es gewohnt war. –
»Sogleich, mein Herr Reike,« erwiederte er dienstfertig, indem er aufsprang; doch an jedem seiner Füße schien ein Centnergewicht zu hangen, das immer schwerer und furchtbarer ihm nachschleifte. Die Ungewißheit, die Furcht, die Angst vor dem, was ihm bevorstand, lähmte seine Glieder; sein Gewissen vernichtete den Sünder, und bebend blieb er vor der verhängnißvollen Thür stehen, welche er nicht aufzudrücken wagte.
»Stibs!« rief Herr Reike drinnen zum zweiten Male mit ärgerlicher Festigkeit; da siegte der Gehorsam über das Entsetzen.«–
»Im Namen Gottes!« murmelte Stibs, »es gehe, wie es gehe, da bin ich.«
Er riß die Thür auf und warf einen wilden Blick über den Raum. Herr Reike saß an seinem großen Pulte, in Papiere vertieft. Der matte Schein des einsamen Lichts fiel auf den mächtigen, mit Eisenbändern und Schnörkeln bedeckten Geldschrank, auf die beiden Lederstühle, auf die dunkeln festen Gewölbe, aber nirgend war eine Spur der Unbekannten zu entdecken, nirgend auch ein Ort, wo sie sich verbergen konnte. –
Stibs empfand einen eisigen Schauer vom Wirbel bis zur Zehe. Seine Perrücke sträubte sich empor; dennoch aber fühlte er sich erleichtert, und als der alte Herr grämlich und ohne ihn anzusehen fragte, ob er etwa im Herrn entschlafen gewesen, als er ihn zuerst gerufen, erwachte ein stolzes Selbstbewußtsein wider diesen Verweis in ihm. Er machte eine tiefe Verbeugung und sagte mit leiser Stimme:
»Ich denke nicht, verehrter Herr Reike, daß ich jemals Veranlassung gegeben, ein so ehrenrühriges Benehmen mir zuzumuthen.«
Der alte Herr antwortete nicht; nach einem Weilchen jedoch wendete er den Kopf zu dem ängstlich Wartenden und sprach milder gestimmt:
»Nehme Er den Stuhl da, Stibs, und setze Er sich hieher; ich habe mit Ihm zu reden.«
Der Buchhalter befolgte erstaunt den Befehl und saß aufhorchend neben seinem Principal, als dieser endlich begann:
»Ich habe hier die Papiere, welche das Vermögen meines Sohnes betreffen; sein Erbtheil von Seiten seiner Mutter. Er weiß, Stibs, daß mein Sohn mündig ist; es kann daher der Fall eintreten, daß er von mir sich zu trennen wünscht, um seinen eigenen Weg zu gehen.«
»Gott« möge es verhüten, werther Herr Reike!« fiel Stibs. erschrocken ein.
»Das ist auch mein Gebet,« fuhr der alte Herr fort, »allein wenn es sein soll, vermag ich es nicht zu ändern. Nun sehe ich hier, daß sein Erbe zwar völlig genügt, um eines thätigen Mannes Zukunft zu begründen, dennoch aber nicht so bedeutend, ist wie er dies vielleicht selbst glaubt.«
»Herr Gustav wird nicht an der Richtigkeit des Saldo zweifeln,« sagte Stibs eifrig. »Das Vermögen der Frau Mutter war, wie die genaue Untersuchung ergab und Jedermann weiß, keineswegs so groß, als nach der Leute Gerede. Zudem kauften Sie, verehrter Herr, in böser Zeit die liegenden Gründe nach der Taxe an sich; aus unsern Büchern aber läßt sich erweisen, daß, was der Herr Ihnen gegeben an reicher, irdischer Gabe, durch Fleiß und wohlerwogene Speculation gewonnen wurde, unter tausend Mühen und Sorgen, Arbeit und schlaflosen Nächten mit aller Anstrengung des Leibes und der Seele.«
Herr Reike hatte, während Stibs sprach, sich in den Stuhl zurückgelehnt und seinen Kopf in beide Hände gestützt. Ein tiefes Schweigen folgte, das endlich von dem alten Herrn unterbrochen wurde, der sich aufrichtete, die Papiere zusammenlegte und sie dem Buchhalter hinreichte.
»Ich vertraue Ihm diese Sache, Stibs,« sagte er. »Rechne Er Alles nochmals sorgsam durch, und wenn etwa mein Sohn Zweifel erhebt oder Nachweise begehrt, so ist es mein Wille und meine Bitte, Stibs, daß Er dies mit ihm abthut.«
»Ich befolge Ihre Befehle,« erwiederte Stibs, »aber ich muß sagen, es ist merkwürdig und traurig zugleich, dies zu erleben.«
Das Licht flackerte über die eckigen, harten Züge des Greises, der vor sich hin blickte, bis er die Hand auf den Arm seines Vertrauten legte und in gedämpftem Tone weiter sprach:
»Was ich Ihm jetzt sage, Stibs, soll verschwiegen bleiben; also keinem Menschen ein Wort. Hier hört uns Niemand, darum mag er erfahren, was mich mit schwerem Kummer belastet.«
»Hier hört uns Niemand,« murmelte Stibs, scheu umherspähend.
»Mein Sohn, der Narr,« rief der alte Herr mit Heftigkeit, »er zerstört das Glück, das ich ihm gründen wollte; er verschmäht das Ehebündniß mit Marien. So mag er denn verderben, im Schlamme des Lasters und des Elends! Bald werde ich ein kinderloser Vater sein.«
»Ich kann es nicht denken,« sagte Stibs, entsetzt die Hände faltend.
»Ich dachte es auch nicht,« fuhr Herr Reike fort; »allein ich habe mich von seiner tiefen Verderbniß überzeugt. Am Sonnabend, Er erinnert sich, daß ich spät noch ausging. Ich war auf dem Maskenballe, dort fand ich ihn.«
»Wen?« flüsterte Stibs athemlos.
»Meinen Sohn, in den Armen eine leichtfertigen Weibes, die ihn bethört und unermeßliches Unglück über ihn, über mich, über meine letzten Tage gebracht hat.«
Der alte Herr neigte den Kopf tief auf die Brust; Stibsen kam es vor, als ginge ein leiser Seufzer durch den öden, todtenstillen Raum. Plötzlich aber erhielt Herr Reike seine ganze Energie wieder, und als ob er sich der Schwäche schäme, die ihn überkommen, sagte er mit strenger, bitterer Kälte:
»Unkraut soll der Gärtner ausjäten und aus seinem Garten werfen. Fort mit ihm auf immer! Mathieu, Gott habe ihn selig! er hat den bittern Kelch auch getrunken, und hier auf dieser Stelle, in diesem engen Raume – ich sehe ihn noch mit seinen blutunterlaufenen, starren entsetzlichen Augen – und es war erbarmungslos, unerbittlich – die Menschen haben es verdammt, aber seine Ehre war mit Füßen getreten, sein Name gebrandmarkt, sein heiliges Recht niederträchtig gestohlen – was er that, was er thun mußte. Jetzt erfahre ich selbst, was es heißt, ungehorsame Kinder zu haben.«
»Mein theurer Herr,« sagte der kleine Buchhalter ängstlich, »wecken Sie die Todten nicht auf!«
»Wollte Gott,« erwiederte Herr Reike, »die Todten ließen sich erwecken; wollte Gott, daß sie auferständen, um warnendes Zeugniß abzulegen, wie sie ihren Leichtsinn büßten! Doch was helfen diese klagenden Worte? Ein Mann muß tragen, was ihm auferlegt ist, wie schwer die Last auch drückt, sonder Schwäche und sonder Murren. Geh Er, lieber Stibs, es ist spät geworden; für feine treuen Dienste soll der Lohn sich schon finden.«
»Geehrter Herr Reike,« sagte Stibs aufstehend und sich verbeugend, »ich kenne meine Pflicht.« –
Der alte Herr reichte ihm die Hand, und seine grauen Augen: drückten Wohlgefallen an dieser unterwürfigen Ergebenheit aus.
»Wir kennen uns,« sprach er.
»Seit beinahe dreißig Jahren,« antwortete Stibs.
»Eine schöne, lange Zeit der Prüfung,« fuhr der Handelsherr fort. »Wie alt ist Er jetzt, Stibs?«
»Wie alt?« fragte der Buchhalter ein wenig verlegen. »Wie ich vermeine, werben es am Martinstage achtundvierzig Jahre.«
»Ein kräftiges Mannesalter, in welchem man vielen Jünglingen Trost bieten kann, die ihre Gesundheit in Ausschweifungen vergeuden.
»Dem Herrn sei Dank, gesund bin ich,« versetzte Stibs, indem er sich stolz erhob und seine Beine betrachtete.
Herr Reike musterte den kleinen Mann vom Kopf bis zur Zehe, dann fragte er vertraulich lächelnd:
»Ist Ihm denn bei seiner volblütigen Constitution nie der Gedanke eingekommen, in den Stand der heiligen Ehe zu treten?«
Stibs schlug verwirrt die Augen nieder.
»Verehrter Herr Reike,« sagte er stotternd, »ein Begehren nach dem Weibe – ach ja! – es ist wohl keiner, der nicht von Zeit zu Zeit ein süßes Gelüst danach empfände – und wenn man älter wird – das Alleinsein ist ein trauriges Ding – es ist nicht gut, einsam zu wohnen, so spricht die heilige Schrift – aber was können verwegene Wünsche frommen, wenn die Conjuncturen sagen, es müsse ein schlechtes Geschäft daraus folgen?«
Der alte Herr warf einen langen Blick auf den verlegenen Bekenner seiner Schwächen, dann wendete er sich von ihm ab.
»Es ist gut für Ihn, daß er so rechtschaffen und vernünftig denkt,« sagte er. »Gute Nacht, Stibs, gehe Er jetzt nach Haus.«
Stibs athmete auf, als er draußen war. –
»Was ist das für ein Mann!« flüsterte er von Ehrfurcht erfüllt; »was ist das für ein Mann! Seine Augen bohren sich bis in die Seele hinein; was er denkt, ist unergründlich, und sterben will ich auf der Stelle, wenn ich weiß, was das alles bedeuten soll.« –
Dann fiel ihm die Unbekannte und ihr Verschwinden wieder ein, und seine Todesangst kehrte damit zurück. Daß es ein Wesen sei, welches in Luft und Wasser zerfließe, verwarf er mit aller Anstrengung, denn er war ein aufgeklärter Mann, der häufig schon gesagt hatte, er glaube weder an Hexen noch an Gespenster. Aber hineingegangen ins Cabinet war sie doch, und wo sie geblieben, war ihm unerklärbar.
Tausend Räuber- und Spitzbubengeschichten gingen ihm plötzlich durch den Kopf. Es konnte auf einen Diebstahl ankommen, auf einen Einbruch, und drinnen in dem großen Eisenspinde lagen schwere Summen und wichtige Papiere, deren Verlust einen ungeheuren Schaden über Herrn Johannes Reike bringen mußten. Es war klar, Stibs konnte und durfte das Comtoir nicht verlassen, bis er die Vermißte gefunden und aus dem Hause gebracht.
Er zog seinen Rock an und wieder aus und wieder an, steckte das brennende Licht in seine neue Laterne und pustete es wieder aus, stülpte den Hut auf den Kopf und riß ihn wieder herunter, endlich aber wußte er in seiner Unruhe und Verzweiflung nirgends mehr Rath, und in äußerster Verwirrung aller Sinne war er nahe daran, mit der Laterne zu Herrn Reike hineinzustürzen und eine Haussuchung zu beantragen, als plötzlich von innen ein langer, wilder Schrei des Schreckens erschallte, der sein Blut erstarren ließ.
»Gott der Erbarmens!« rief Stibs. »Was ist geschehen?«
Im Augenblick öffnete sich die Thür, und wie ein Schatten flüchtig und verschwindend streifte die Unbekannte an ihm hin. Sie sprach kein Wort, aber den Finger legte sie auf die Lippen, und ihre unheimlichen, dunkeln Augen glühten auf den kleinen Buchhalter.
»Sie ist fort!« flüsterte er, und mit dieser Gewißheit kam sein Muth zurück. Er horchte einen Augenblick an der Thür, es war Alles still; dann öffnete er diese leise und blieb entsetzt auf der Schwelle stehen.
In dem Lehnstuhl am Pulte saß Herr Reike, die Augen weit geöffnet, die Hände fest um die Arme des Stuhle gekrampft, als wolle er sich aufrichten und vermöge es nicht; denn in allen seinen Mienen lag ein lähmender Schrecken, eine so leichenhafte Erstarrung, als sei alles Leben von ihm gewichen.
»Gerechter Himmel!« schrie Stibs, »verehrtester Herr Reike, was ist Ihnen widerfahren?! Soll ich Hülfe rufen?«
Mit großer Anstrengung streckte der alte Herr die Hand aus und sagte mit dumpfer, bebender Stimme:
»Keinen Lärm machen, nichts! Es wird vorüber gehen. Dort, das Wasser.«
Stibs füllte ein großes Glas und hielt es dem Leidenden an den Mund, der, als er getrunken, schwer athmend den Kopf in die Stuhllehne drückte. Erst nach einer langen Pause, die Stibs dann und wann mit einigen jammernden Lauten unterbrach, erholte sich Herr Reike. Seine Glieder erhielten die Bewegung zurück, er schien über das Erlebte nachzudenken und in Zweifel zu versinken. Schaam und Zorn rangen in seinen Augen, in welche das Entsetzen von Zeit zu Zeit wiederkehrte. –
»Es ist unmöglich!« sagte er endlich halb vor sich hin, »wer könnte sich unterfangen, sich hier einzuschleichen? Aber dennoch; wenn es Betrug wäre, ein nichtswürdiger, schändlicher Betrug! oder Täuschung der Sinne,« fuhr er gelassen fort, indem er die Hand an seine Stirn legte.
Plötzlich blickte er Stibs streng und fest an, und vor seinem durchdringenden Auge entfärbte sich der Sünder.
»Wer ging aus der Thür des Cabinets?« fragte er.
»Wer?« sagte Stibs, indem er sich umdrehte, denn er konnte den alten Herrn nicht ansehen. »Ich weiß wirklich nicht, wer hier hinausgehen könnte, verehrter Herr Reike.«
»Er weiß es, Er muß es wissen!« rief der alte Herr heftig. »Er hat es gesehen.«
»Gesehen?« schrie Stibs, »gütiger Himmel, mein theurer Herr! was soll ich gesehen haben? Wo? Wen? Sie starren so tief erschrocken den alten Schrank an, was ist Ihnen widerfahren?! Hier ist nirgend ein lebendiges Wesen; doch halt, da, was liegt dort?« –
Herr Stibs bückte sich mühsam zur Erde und nahm etwas auf, das er verwundert gegen das Licht hielt.
»Es ist merkwürdig!« rief er, »es ist ein Bouquet alter Blumen aus Seide und Gold; ein Sträußchen von Rosen und Vergißmeinnicht mit silbergewebten Stielen.« –
Er reichte es dem strengen Principal hin und verstummte, denn Herr Reike zitterte und schwankte, was er nie für möglich gehalten hätte. Der Mann, von dem er oft behauptet, kein Sturm und kein Schicksal könne ihn beugen, er stand da wie ein Schatten, grau und blutlos, ohne Kraft, ohne Willen.
Plötzlich nahm er die Blumen aus der Hand des Buchhalters, und indem er sie dem Lichte näher brachte, beugte er sich darüber hin, daß sie seine Stirn berührten. Die großen, dürren Hände des alten Herrn falteten sich über den knisternden Goldblättern zusammen; sein Kopf sank darauf nieder, und zu Stibsens grenzenlosem Schrecken hörte er deutlich ein tiefes Schluchzen und Ächzen, das von Niemandem anders herrühren konnte, als von dem verehrten Principal.
»Er weint!« murmelte er, »so wahr ein Gott lebt, er weint! O, mein theurer Herr,« sprach er bebend vor Schrecken und innerer Angst über das Unerhörte, »ich vermag es nicht länger zu ertragen, und was ich thun kann, Ihr Gemüth zu beruhigen durch meinen Aviso – selbst wenn es mein zeitliches und ewiges Verderben wäre …«
Hier richtete sich der alte Herr auf, und Stibs verstummte vor der geisterhaften Ruhe, die ihn anleuchtete.
»Was hier vorgefallen ist,« sagte Herr Reike streng und feierlich, – »brauche ich Seiner Verschwiegenheit nicht zu empfehlen. Es gibt Stunden, in denen Gott und prüft, wie unsere Werke beschaffen sind; wo Zeichen und Wunder über uns kommen, und zu mahnen an Vergangenes und Zukünftiges, damit wir sorgsam erwägen, was wir thun, ehe Reue zu spät ist. Ja, fuhr er mit erhobener Stimme fort, ich unterwerfe mich dieser Prüfung. Ich zage nicht, ich bange nicht, ich will auch deine Mahnung nicht gering achten, denn ich habe dich angerufen, unglückliches Wesen. Ich verstehe deinen kummervollen, ernsten Blick, aber Recht und Vernunft dürfen niemals gebeugt werden durch Unvernunft und Schwäche. Ich will es vertreten vor dir, mein Herr und Gott, dort oben, wenn einst Rechenschaft von mir gefordert wird!«
Stibs hörte erschüttert und mit gefaltenen Händen zu. Nach einem Weilchen nahm Herr Reike das Licht und ging mit langsamen Schritten nach der Thür. Dort blieb er stehen und sah forschend umher; endlich entfernte er sich, und Stibs sprang ihm nach, zog in höchster Eile den Rock an, blies die Lampe aus, schloß das Comtoir und stürzte aus dem Hause, wie ein Dieb, der die Verfolger im Nacken hat.
Nach einem raschen Laufe befand er sich in der Nähe seiner Wohnung und schöpfte zum ersten Male ein wenig freien Athem, den Himmel preisend, so vielen Gefahren entgangen zu sein, als ein neues Unglück ihn ereilte; denn eben, als er die Hausthür öffnen wollte, fühlte er sich am Rockschoß erwischt und festgehalten.
»Auf ein Wort, Herr Stibs,« sagte eine tiefe Stimme, an der er sogleich den großen Officier erkannte, der in seinen Mantel gehüllt hinter ihm stand.
Der Buchhalter hatte große Lust, um Hülfe zu rufen, aber er erinnerte sich bei Zeiten aller Schrecken der Ballnacht und der gefährlichen Drohungen des Grafen.
»Was wünschen Sie von mir?« sagte er mit einem Seufzer.
»Die bewußte Dame ist bei Ihnen gewesen,« flüsterte der Officier. »Läugnen Sie nicht, ich sah sie kommen und gehen.«
»Ich läugne auch nicht,« brummte Stibs verdrießlich.
»Und was wollte sie, was sagte sie?« fuhr der große Herr fort.
Stibs war entschlossen, durchaus nichts von der Gespenstergeschichte zu erzählen.
»Was sie wollte?« fragte er. »Ja, wer das wüßte!«
»Herr Stibs,« fiel der Officier drohend ein; »ich rathe Ihnen, keinen Scherz mit mir zu treiben. Ihr Glück und Leid liegt in meiner Hand. Heraus also mit der Sprache. Was wollte sie von Ihnen?«
»Ich schwöre Ihnen,« sagte Stibs betheuernd, »daß ich es nicht weiß. Sie fragte nach den Verhältnissen des Hauses, nach Herrn Reike jun. und dessen bevorstehender Vermählung mit Mademoiselle Marie, nach dem Benehmen des jungen Herrn und dergleichen.«
»Und sie gab Ihnen Aufträge an den schmachtenden Cicisbeo Der Begriff Cicisbeo bezeichnete ursprünglich im 17. Jh. in Italien die legalisierte Institution des Hausfreunds. Im 18. und 19. Jahrhundert wird aus ihm ein galanter Höfling, der der Dame des Hauses bei Abwesenheit des Hausherrn zu gesellschaftlichen Anlässen als Begleiter diente. Mit der Zeit gewann die Figur eine frivole Konnotation. Bei erotischen Eskapaden fiel ihm eine Schlüsselrolle zu; auch eine sexuelle Beziehung zwischen Dame und Cicisbeo ließ sich so letztlich relativ problemlos führen. Schließlich wurde der Begriff zum Synonym für ›Liebhaber‹.!« rief der Officier höhnisch lachend. »Reden Sie.«
»An wen?« fragte Stibs. »Ich kenne keinen Herrn dieses Namens, weiß überhaupt nichts – denn unser Gespräch wurde durch Herrn Reike sen. unterbrochen und die Dame entfloh.«
Der Graf schwieg einen Augenblick, als überlege er die Wahrheit der Aussage.
»Können Sie das beschwören?«' sprach er dann.
»Ich kann den heiligsten Eid leisten,« sagte Stibs.
»So folgen Sie mir, befahl der Graf, und ehe Stibs eine Antwort gab, hatte er ihn ergriffen und zog ihn mit sich fort.
Die leisen Wehklagen und Bitten des Buchhalters waren durchaus vergebens; sie mochten einen Stein rühren, aber nicht diesen tyrannischen Herrn.
»Schweigen Sie endlich still!« rief er, Stibsens Arme gewaltthätig zusammenpressend, »und seien Sie vernünftig zu Ihrem eigenen Wohle. Alles, was ich von Ihnen heute fordere, besteht darin, daß Sie diesen Brief, den ich hier in der Hand halte, in jenes Haus tragen. Sehen Sie, dort, wo das Licht brennt. Sie steigen die Treppe hinauf und finden ein hübsches Kammermädchen. Sie nennen Ihren Namen, bitten diesen Brief dem gnädigen Herrn zu geben, und erwarten, was geschieht. Wünscht man Sie selbst zu sprechen, so beantworten Sie alle Fragen, welche man an Sie thut, nach Pflicht und Gewissen. Was man sagt, was Sie hören und sehen, merken Sie genau und berichten es mir. Ich werde Sie hier erwarten.«
Er drückte dem kleinen Manne den Brief in die Finger, und Stibs folgte mechanisch dem befehlenden Winke und dem Stoße, der ihn in der bezeichneten Richtung vorwärts trieb. Als er die Stufen hinaufstieg, blieb er noch einmal zögernd stehen und sah sich um. Ein verwegener Gedanke der Flucht ergriff ihn, aber sein Peiniger war ihm gefolgt. Raum zehn Schritte von ihm stand er, riesenhaft groß und unbeweglich, wie ein schwarzes Gespenst, an der Mauer; als er jedoch sein Schwert leise klirrend auf die Pflastersteine stieß, machte Stibs einen jähen Satz durch die Hausthür und eilte mit kläglichem Seufzen über sein hartes Loos die Treppe hinauf.
Als Herr Stibs oben war, öffnete er eine zweite Thür und stand tief athmend in einer Art Corridor. Eine Glaslampe brannte in einem Ringe und warf ihr schwaches, flackerndes Licht auf drei verschiedene Eingänge und auf die tackende Hausuhr. Doch nirgend war ein Mensch zu sehen, den er fragen konnte, nirgend ein Klingelzug, nach dem er umherspähte, nirgend ein Ton zu hören, der die Nähe eine lebendigen Wesens verkündete. Stibs hob sich auf die Zehen, und seine scheuen Blicke in die Hunde werfend, schlich er, wie ein Dieb, auf die nächste Thür zu, an der er horchte.
Als er nichts vernahm, klopfte er; dann, als er ohne Antwort blieb, drehte er den Drücker und setzte seinen schleichenden Weg fort, als er sich überzeugt hatte, Schloß und Riegel sei ihm durchaus hinderlich. Sein zweiter Versuch erhielt denselben Erfolg, und mißmuthig wandte er sich der dritten, großen Thür zu, wo er ohne lange Umstände die Messingklinke bewegte. Die Thür ging auf, und Stibs stand erschrocken still, dann steckte er den Kopf durch den Spalt und schob behutsam den Körper nach.
Er befand sich in einem so schön geschmückten Gemache, wie er kaum je eines gesehen; doch er war auch hier allein. Zur rechten und zur linken Hand führten hohe Flügelthüren in unbekannte Räume. Tapeten mit bunten Vögeln, Palmbäumen und Mohren, von jener alten, niederländischen Arbeit, die man selten jetzt mehr findet, bekleideten die Wände. Eine Ampel von Rubinglas warf ihr süßes, träumerisches Licht auf Polster von geblümtem Atlas und auf den venetianischen Teppich, der über den Fußboden gebreitet lag.
Die eingeschlossene Luft beklemmte Stibsens Brust, und doch duftete es rings nach Wohlgerüchen. Blühende Hyacinthen standen an den Fenstern in vergoldeten Porzellantöpfen, sie lehnten sich an die schweren Seidengehänge, welche in dichten Falten von der Decke niederflossen, und zierten vermischt mit allerlei bunten und wunderlichen Figuren die Gesimse und Ecken des großen Marmorkamins. Stibs betrachtete und musterte diese Herrlichkeiten, welche Herr Reike bei allen seinen Schätzen sich nicht gestattete, mit wechselndem Erstaunen.
»Wo bin ich denn?« fragte er sich. »Es muß ein sehr gewaltiger Herr sein, der hier wohnt, ein General, ein Prinz; lieber Gott, und ich soll mit ihm sprechen!« –
Im Augenblicke fiel es ihm ein, daß er gar nicht wisse, an wen die Aufschrift des Briefes laute. Er faßte in die linke Tasche, dann in die rechte, dann nach vorn, dann zur Seite, aber er konnte den Brief nicht finden, und wie er suchend sich ängstlich umher bewegte, wurde es plötzlich hinter der Flügelthür zur Rechten lebhaft. Es traten zwei sprechende Personen in jenes Zimmer, deren Rede und Widerrede sich rasch folgte, und deren heftige Äußerungen Stibs zuweilen sehr wohl begriff, zuweilen aber nichts als Gemurmel und Bruchstücke auffaßte.
Der kleine Mann war, wie zur Salzsäule gebannt, die Hände in den Taschen, dicht an der Thür stehen geblieben und wagte kaum zu athmen; aber welch ein Glück für ihn, daß er im Schweiße seines Angesichts, unter Mühen und Kasteiungen seines Leibes, großer Kosten nicht zu gedenken, Französisch gelernt hatte, so daß er, wenn auch nicht zierlich parliren, doch die Correspondenz seines Hauses bestreiten und trefflich die fremde Sprache verstehen konnte! Hier hatte er seine ganze Kunst nöthig, denn die beiden Streitenden sprachen das Wälsche mit großer Geschwindigkeit.
»Nein, Mademoiselle, nein!« rief die harte, knarrende Stimme des Einen; »verlassen Sie Sich darauf, ich will es nicht länger dulden.«
»Ich frage wenig nach Ihrem Borne, mein Herr,« war die spöttische Antwort einer Dame.
»Aber bedenken Sie nicht, welches die Folgen Ihres unsinnigen Abenteuers sein können?« fuhr der Herr gemäßigter fort. »Bedenken Sie nicht, welche Verantwortlichkeit Sie auf sich laden?«
»Ich habe keine Zeit, mich mit Bedenklichkeiten einzulassen,« erwiederte sie.
»Und wohin soll es führen, Mademoiselle?« fragte der Herr. »Heirathsplane zu machen, wäre lächerlich; der Tag der Entdeckung wird und muß kommen, gewiß aber werden Sie diese hier nicht abwarten wollen. Sie hören, was diese Briefe sagen, wissen auch, wie meine Befehle lauten. Unser Aufenthalt ist gemessen, von unserer äußersten Vorsicht aber hängt allein unsere Sicherheit ab.«
»Ich bin es müde, durchaus müde, ein Werkzeug für Eure Plane zu sein,« sagte die Dame im nachlässigen Tone
.
»Dann hätten Sie sich nicht dazu benutzen lassen müssen,« versetzte der Herr kalt.
»Gottes Mutter!« rief sie leidenschaftlich, »nie hätte ich es gethan, wenn meine eigenen Zwecke mich nicht in dies abscheuliche Land zogen. Hofft nicht, daß ich diesen entsagen und über mich gebieten lassen will, wie es Euch beliebt.«
Es entstand eine Pause, in welcher der Herr, wie es schien, auf und nieder ging, bis er endlich leiser sagte:
»Wenn die Gefahr Sie nicht zur Vernunft bringen kann, so fürchten Sie die Strafe. Hier, wie dort, erwartet Sie diese, und, bei meinem Leben! Sie sollen ihr nicht entgehen, wenn Ihr Leichtsinn Unheil über mich bringt.«
»Ich bin kein Kind, mich vor der Ruthe zu fürchten!« rief die weibliche Stimme verächtlich.
»Weil Sie diese noch nicht gefühlt haben,« antwortete er. »Hoffen Sie nicht auf den Schutz eines zärtlichen Freundes. Der Arm, welcher die Ruthe schwingen wird, ist zu mächtig, und die Donjons von Vincennes Das Staatsgefängnis im Donjon von Vincennes existierte im Ancien Régime bis zum April 1784. Im 19. Jh. dienten die Räume des östlich von Paris liegenden Donjons nur noch sporadisch als Gefängnis. haben Raum genug, um Ihnen Jahre der Reue zu gewähren.«
Die Dame lachte laut auf.
»Allerliebst!« sagte sie, »ich liebe die Einsamkeit mehr, als diese ekelhafte Heuchelei, zu der ich verdammt bin.«
»Thörichtes Mädchen!« versetzte der Herr, »kann denn wirklich nichts Sie bewegen, einzusehen, welche Narrheit Sie begehen? Was wollen Sie hier, was kann Sie hier fesseln? Sie können und dürfen nicht die Absicht haben, irgend ein verwegenes Spiel mit Ihrem Herzen zu treiben. Der Gimpel, der Sie anbetet, wie der alberne Geck von Graf, der Sie erheben will, beide würden schaudern, wenn sie wüßten …«
Hier sank seine Stimme zum Geflüster hinab, und Stibs, der mit der gespanntesten Neugier gehorcht hatte, konnte nichts mehr verstehen.
»Es ist merkwürdig!« murmelte er, »es ist fürchterlich! Ich kann es nicht begreifen!«
»Sie sehen,« sagte der Herr jetzt lauter, wohin Ihre Abenteuer führen müssen: zum Verderben, zur Schande, zum Kerker, ja, vielleicht noch weiter! Hüten Sie sich, oder Sie zwingen mich zur plötzlichen Abreise, deren Folgen Sie tragen werden. Ich gebe Ihnen Alles zu bedenken. Sie sind schlau, Sie besitzen Verstand und werden begreifen, daß Lohn oder Strafe Ihren Gehorsam oder Ungehorsam begleiten. Morgen wollen wir weiter darüber reden. Gute Nacht!«
Zu Stibsens unsäglichem Schrecken legte sich eine feste Hand auf den Drücker der Thür, und diese öffnete sich eine Spanne breit. Er konnte nicht entweichen, nicht zurückspringen, ohne sich zu verrathen, und welchen Grund hätte er angeben sollen für sein Erscheinen, da ihm selbst der vermaledeite Brief fehlte, der ihn allein rechtfertigen konnte!
Plötzlich aber ward die Thür wieder zugezogen. Die Dame war dem Herrn nachgeeilt und hielt ihn fest.
»Noch ein Wort,« sagte sie. »Halten Sie mich nicht für so sinnlos, daß ich vergessen könnte, was ich übernommen und beschworen, oder vergessen dürfte, wer ich bin und was ich hier zu hoffen habe. von meinem Herzen kann die Rede nicht sein, es würde so ruhig schlagen, wie am ersten Lage, wenn nicht andere Leidenschaften, andere Entwürfe es bewegten, als die Aussicht auf einen Ring am Finger und einen Mann am Arme. Hier – hier in diesem barbarischen Lande! Es wäre beleidigend, wenn Sie das glauben könnten. Ich weiß genau, wie es mit mir steht; aber was ich will, indem ich, wie Sie sagen, ein verwegenes Spiel mit meinen Neigungen treibe, das geht Sie nichts an, das ist ganz meine Sache, und Niemand soll mich davon zurückhalten. Nicht Sie, kein Mensch auf Erden! ich selbst werde wissen, wann es genug ist, und wenn Sie mir wirklich einige Schlauheit oder Klugheit zutrauen, so mögen Sie annehmen, daß ich nicht plötzlich diese guten Eigenschaften verloren habe.«
»Wollen Sie mir den Zusammenhang dieser dunklen Worte aufklären?« fragte der Herr nach einem kurzen Schweigen.
»Nein,« antwortete sie, nicht jetzt; »aber einst, wenn es Zeit ist.«
»So bleibe ich dabei, dringend vor jeder Unbesonnenheit zu warnen, welche Sie, wie ich glaube, mit aller Klugheit nicht vermeiden. Gute Nacht, leichtsinnige Tochter.«
»Gute Nacht, langweiliger Papa.«
Sie lachten beide.
Stibs war mit leisen Schritten zurückgetreten, und jetzt entdeckte er einen Zufluchtsort, fast unwillkürlich, denn mit der Schulter stieß er an den Kaminschirm, der ihm einen Rettungsgedanken einflößte. Mit diebischer Hast schlüpfte er in den Versteck, der der ihn kaum verbarg, als die Thür sich abermals aufthat und ein stattlicher, alter Herr heraustrat. Dicht am Schirme blieb er stehen, sah nach der Ampel hinauf, dann nach der Thür, die auf den Corridor führte, und plötzlich drehte er den Schlüssel um, prüfte, ob das Schloß, eingeschlagen, und kehrte zurück zur unbegreiflichen Angst des Buchhalters, der sich entdeckt und verloren glaubte und im Begriffe war, auf seinen Knieen um Erbarmen zu flehen.
Allein der Herr ging an dem Schirme vorüber, bis er an dem Paneelwerke zur rechten Seite stillstehend eines der Polster zur Seite schob, dann sich bückte, einen kleinen Schlüssel aus der Tasche zog und einen Wandschrank voller Fächer und Kasten öffnete. Stibs konnte deutlich sehen – und er that es mit unverrücktem Auge –, wie der Herr mehrere Papiere aus seiner Tasche nahm und zu andern Papieren legte; dann richtete er sich auf, schloß den Schrank zu, rückte den schweren Sessel wieder an seine Stelle, und nun wendete er sich um und zeigte dem Versteckten sein Gesicht mit langer, gebogener Nase, zwei blitzenden Augen und einer schmalen Stirn, über der ein Wald von grauen, starken Haaren aufstieg. In seinem betreßten Kleide und der goldgestickten Weste sah er aus wie ein Herr vom Hofe. Ein Ordenskreuz funkelte auf seiner Brust, und Stibs blieb noch immer lautlos zusammengeduckt hinter dem Schirme, als der Herr längst durch die entgegengesetzte Thür das Zimmer verlassen hatte.
Endlich schlich er behutsam dem Ausgange zu, schob den Riegel zurück und verwünschte seine knarrenden Stiefeln, die verrätherisch jeden Schritt verkündigten. Mit stockendem Athem glitt er an der Wand hin, und als er die Treppe erreicht hatte, ohne entdeckt zu sein, fiel eine ungeheure Last von seiner Brust, in welche die Wonne der Erlösung einzog. Mit Entzücken blickte in die nebelnde Nacht, und selbst als er die lauernde Gestalt seines schrecklichen Freundes entdeckte, die aus der Liefe eines nahen Thorweges auf ihn zu trat, milderte sich die Freude kaum zu einem Gefühl der Besorgniß, denn er erlag unter dem Eindrucke dessen, was er gehört und gesehen, und fühlte das Bedürfniß sich mitzutheilen.
»Nun, Herr Stibs,« sagte der Officier, »Sie sind lange geblieben. Ich brenne vor Verlangen Ihr Abenteuer zu hören.«
»Mein Gott!« antwortete Stibs mit begeistertem Tone, »ja, es giebt Wunder und Seltsames, Merkwürdiges, Unerhörtes in der Welt! Ich kann es bezeugen, mein Herr Graf, und möchte um vieles Geld nicht noch einmal die Angst ausstehen, die ich empfunden habe. Nein, um keinen Preis,« fuhr er energisch fort, »denn ich bin überzeugt, daß ich morgen im Fieber liege, und wer weiß, was die weiteren Folgen sein können: Geschäftsvernachlässigung, Krankheit, Elend, Tod!«
»Reden Sie endlich, wie ein vernünftiger Mensch!« fiel der Graf ein.
»So hören Sie,« sagte Stibs, und mit leiser Stimme erzählte er seinem Begleiter alles, was er behalten, verwirrt zwar und ohne Zusammenhang, aber dennoch in den Hauptsachen durchaus richtig, denn Herr Stibs erfreute sich auch jetzt eines trefflichen Gedächtnisses. Je länger er erzählte, mit um so größerer Theilnahme hörte der große Herr zu; kaum unterbrach er dann und wann den Buchhalter, um durch kurze, hastige Fragen dessen Mittheilungen zu vervollständigen. Dann schwieg er lange nachdenkend, bis er endlich mit unverkennbarem Erstaunen rief:
»Ja, das ist seltsam, bei meiner Ehre, das ist unerhört und bedarf der genauesten Überlegung!«
»Ich habe nicht das Geringste davon begriffen,« entgegnete Stibs.
»Aber Sie haben doch die Wahrheit erzählt?« fragte der Officier drohend.
»Nach bestem Wissen und Gewissen,« versetzte Stibs feierlich.
»Und der Brief, wo haben Sie den Brief gelassen?« fragte der Andere.
»Hier ist er,« sagte Stibs, indem er den Brief aus der Tasche seines Rockelors zog. »Ich konnte ihn da oben nicht finden, es war mir unmöglich in meiner Angst, und so stand ich, wie ein armer Sünder, und mußte mich zuletzt verkriechen und verbergen, statt anzuklopfen und Ihren Auftrag zu vollbringen.«
»Sie sind ein Glückskind, Herr Stibs,« rief der Graf, »denn nichts konnte glücklicher sein, als was Sie mit Gottes Hülfe vollbracht haben. Gehen Sie jetzt nach Hause, aber hüten Sie sich, ein Wort von dem mitzutheilen, was Sie erfuhren.«
»Ich wüßte nicht,« sprach Stibs kläglich, »was und wem ich davon erzählen sollte; denn erstens schwirrt Alles wüst in meinem Kopfe, und zweitens bin ich froh, selbst nicht daran zu denken, wie schrecklich das Schicksal mich verfolgt.«
»Sie wissen nicht.« erwiederte der Herr, zu welchen wichtigen Dingen Sie das Schicksal ausersehen hat, und was es Ihnen, als Lohn Ihrer Treue, bietet. Aber noch einmal, schweigen Sie, denn ein Schwert schwebt über Ihrem Haupte.«
»Allmächtiger Gott!« rief Stibs, erschrocken in die Höhe blickend.
»Schwören Sie, daß Sie schweigen wollen,« sagte der Graf gebietend, indem er ihn anfaßte.
»Ich schwöre es!« murmelte Stibs zitternd.
Der Graf ließ ihn los, und sagte dann:
»Jetzt wissen Sie Alles, und nun gute Nacht.«
»Ich weiß nichts!« rief Stibs verzweiflungsvoll, als er fort war; »ich weiß durchaus nichts! Mein Himmel! was ist mit mir geschehen? Ach, ich Armer! Ich, der ruhigste, friedlichste aller Menschen, bin hinausgestoßen in eine unermeßliche Unruhe, in Gram, Schande, Spott, Verlegenheiten aller Art, die kein Ende nehmen. Wie oft habe ich nun seit drei Tagen geschworen, habe Geheimnisse erfahren, bin getreten, geschlagen, gemißhandelt worden, bin des süßen Weine trunken gewesen, habe sogar – o, pfui, Stibs! – habe sogar an eines Weibes Busen gelegen, und nun hängt ein Schwert über meinem unschuldigen Haupte! Es ist nicht zu ertragen!« seufzte er, »nein, es ist nicht zu ertragen, und wenn es noch lange dauert, wäre es besser für mich … Nein, Stibs,« sprach er sich selbst verdammend, »sei ein Mann; Alles geht vorüber in dieser Welt, und der Rechtschaffene siegt, darum Muth; ich glaube, die gute Frau Margarethe wird den Thee längst bereit halten.« –
So stieg er getröstet die Treppe hinauf.
Am zweiten Tage darauf, zur Mittagszeit, stand Herr Stibs mitten in seinem Wohnzimmer und musterte seine kleine Person mit sorgsamen Kennerblicken. Er hatte seinen himmelblauen Frack angezogen und erschien ganz und gar festlich angethan, denn von Herrn Reike war am Abend vorher eine Einladung ihm zugegangen, die ihn außerordentliches erwarten ließ.
So stand er denn hier in dem engen, finsteren Gemache, pustete und bürstete die Staubkörnchen und Fäserchen von den Ärmeln, wischte mit dem Taschentuche die goldgeränderten Perlmutterknöpfe des Rockes ab und betrachtete mit Hochgefühl das weiße Atlasfutter der mächtigen Schöße. Das schöne, theure Kleid, dazu die Weste von Drap d'Argent, welche bis auf die Mitte des Leibes reichte, die feingefaltete, ungeheure Hemdkrause, die sein Kinn beschattete, die Manschetten, das grelle Beinkleid von lichtgrauem Casimir So damals bisweilen für ›Kaschmir‹., am Knie mit breiten Silberschnallen genestelt, endlich die röthlichen Seidenstrümpfe und blank lackirten Schuhe; Alles vereint, machte den kleinen Buchhalter heute zu einer gar stattlichen Erscheinung, an der er selbst offenbar die größte Freude hatte.
Als er vor den Spiegel trat und die sechste widerspenstige Locke an der linken Seite seiner neuen Patent-Perrücke nach vorn bog, kam er sich selbst ungemein liebenswürdig und vornehm vor. Er warf einen Blick der Verachtung über die einfache Räumlichkeit, über das Himmelbett mit vergilbten Vorhängen, das in der Ecke stand, und über den schwarzbraunen Nußbaumschrank, der melancholisch auf drei Beinen sich an die abgestoßene Wand lehnte und nachdenkend seinen Herrn anzustarren schien.
Der Großvaterstuhl, durch dessen zersprungenes Leder sich eine Pflanzung von weißen und rothen Roßhaaren drängte, wackelte dazu gar bedenklich hin und her, als Herr Stibs zurücktrat und gegen ihn anstieß; allein der Buchhalter beachtete dies nicht; er blickte sogar gleichgültig auf die Stiele und Scherben einer noch sehr brauchbaren holländischen Thonpfeife, welche er bei seiner emsigen Verschönerungsbeflissenheit auf der Marmorplatte der Kommode zerbrochen hatte.
»Stibs,« sagte er halblaut und lächelnd, »du siehst aus, wie ein Graf, und ich weiß eigentlich auch durchaus nicht, weshalb du nicht eben so gut ein solcher sein könntest, wie jeder Andere, was leider die Natur in ihrem Eigensinne nicht zugelassen hat. Wenigstens aber könntest du heute sicherlich mit Prinzen und Baronen speisen, statt mit den Herren Reike sen. und jun., nebst dero holdseligen Anverwandtin sammt Honoratiores achtbarer Börse; denn, aller Spaß bei Seite, es dürfte nicht leicht ein niederländisches Tuch oder Casimir gefunden werden, das diesem gleicht, welches gegenwärtig deinen Leib ziert.«
Er strich behaglich über die feinen Gewebe und fuhr dann mit einem leisen Seufzer fort:
»Dieser Leib hat allerdings seit einiger Zeit in jämmerlicher Weise Schaden gelitten, durch böse Buben, die, Gott sei Dank! mich nun seit zwei Tagen nicht mehr turbiren, aber es doch mit ihren Ränken dahin gebracht haben, daß Mademoiselle Marie mir gestern Abend sagen konnte: ›Gütiger Himmel, Herr Stibs! was fehlt Ihnen? Sie vergehen sichtlich, wie der Mond.‹ Aber sie fügte sogleich hinzu: ›Blaß und mager werden ist interessant. Es ist schön von Ihnen, werther Herr Stibs, daß Sie die Mode mitmachen; ich thue es auch.‹ Dabei deutete das schelmische Kind auf ihr eigenes, schlankes Figürchen, und es kam mir wahrhaftig vor, als sei dies noch reizender und appetitlicher geworden.«
Herr Stibs hatte während dieses Selbstgespräches den Rockelor umgehangen, den kleinen dreispitzigen Castorhut Ein aus Biberhaar gefertigter Filzhut, vom 17. Jh. bis etwa Mitte des 19. Jh. getragen, ein Vorläufer des Zylinders. sorgfältig aufgesetzt, das spanische Rohr ergriffen und einige zusammengebundene Papiere in die Tasche gesteckt. Im Augenblicke schlug die Thurmuhr Eins, und mit jähem Erschrecken eilte er der Thür zu.
»Sapperment!« sagte er, »da schlägt es, ich werde fünf Minuten zu spät kommen und von Herrn Reike ganz sicher mit einem seiner bekannten Blicke empfangen werden.« –
Er sah noch einmal im Zimmer umher, nickte gegen den Schrank hin, wie zum Abschiede, zog den Stuhl dicht an den Tisch und stopfte die Haare in den Sitz, faßte dann an alle feine Taschen und trat auf den Flur hinaus, nachdem er nochmals durch den Spalt der Thür zurück geblickt hatte. Als er das Zimmer verschlossen und zweimal auf die Klinke gedrückt, ob auch alle Sicherheit beobachtet sei, stieg er langsam hinunter und warf einen dankbaren Blick zum Himmel, der hell und freundlich heut niederschaute und mit frischem Luftzuge die Straßen getrocknet hatte.
»Es ist ein Glück, sagte Stibs, »daß man trockenen Fußes in vollster Galla sich fortbewegen kann; ich hätte sonst einen Wagen nehmen müssen, um bei dem Gastmahle zu erscheinen, das Herr Reike mit ganz besonders feierlicher Miene mir angezeigt hat. Es wird diese Zusammenkunft für uns Alle von hoher Wichtigkeit sein,« sagte er, »vielleicht ahnet er, was ich meine, Stibs? – Allerdings, werthester Herr Prinzipal. – Aha, wir sind nicht auf den Kopf gefallen! Herr Reike jun.; Mademoiselle Marie – Vermögensconto nicht umsonst zusammengestellt – Stibs, merkst du das? Aber es geht Alles durchaus wild und toll in meinem Gehirn umher, und wenn ich bedenke, was ich weiß, was Alles hier vorgegangen in der Zeit weniger Tage– geheime Liebschaften – Ärgerniß, verkehrte Welt – Zauberspuk und gräuliche Sinnenverblendung – so begreife und ahne ich eigentlich wieder gar nicht.« –
Hier stieß Herr Stibs mit der Hand an den großen Messingknopf der Hausthür, und diese that sich auf, von dem Hausdiener geöffnet, der mit ehrerbietigem Gruße das stolze Kopfnicken des Buchhalters erwiederte und dann heimlich lächelnd ihm nachstarrte, als jener hastig die Treppe hinaufstieg. Oben blieb Stibs stehen und horchte.
»Ich weiß nicht,« sagte er, »wer geladen ist, aber jedenfalls wird es ein pompöses Fest sein, bei dem die ersten Männer der Stadt nicht fehlen dürfen.« –
Es ließ sich jedoch kein Ton vernehmen, der auf die Anwesenheit mehrerer Gäste deutete, und dies sonderbare Schweigen erregte in der Brust des Buchhalters einige Zweifel und bange Gedanken, man möge das Essen schon begonnen haben, bis er endlich mit dem Muthe des guten Gewissens den Roquelor auszog, seinen Hut in die Hand nahm, klopfte, die Thür öffnete und an der Schwelle stehen blieb, als er Niemanden erblickte, als Mademoiselle Marie, die, in der Nische eines Fensters sitzend, den Arm auf das Kissen stützte und ihr Gesichtchen halb in der Hand verbarg.
Stibs athmete leichter, denn es war ihm lieber, der Erste, als der Letzte zu sein. Leisen Schrittes trat er näher, und so sehr war Mademoiselle Marie in Gedanken vertieft, daß sie nichts von dem Nahenden vernahm, bis dieser wenige Schritte von ihr ein Räuspern hören ließ, das ein plötzliches Aufblicken und Erkennen zur Folge hatte.
Stibs hatte sich zu einem unterthänigen Diener tief niedergebeugt, aber er wußte nicht, was er denken sollte, als er das laute, lustige Gelächter der jungen Dame hörte, welches einen empfindlichen Schmerz in seinem Herzen verursachte.
»In der That,« sagte er, als er wieder gerade stand und einige Minuten vergangen waren, in welchen das Lachen noch immer nicht aufhörte, »es ist gewiß etwas sehr Lustiges und Vergnügliches, was diese Heiterkeit bei Mademoiselle Marie erwecken kann! Ich schätze mich glücklich, wenn ich im Stande bin, eine solche hervorzurufen; allein ich weiß nicht …«
»Sie werden mir verzeihen, Herr Stibs,« begann sie, »ich war in so tiefen, und, ich versichere Ihnen, schwermüthigen Gedanken, die sich zum guten Theil auch mit Ihnen beschäftigten.«
»Mit mir?« sagte Stibs, »ich kann es kaum glauben.«
»Ich schwöre es, mit Ihnen!« fuhr Mademoiselle Marie fort. »Sie standen vor meinen inneren Augen in merkwürdiger Vollendung da, wie ich gewohnt bin, Sie zu sehen; in Ihrem grauen, vortrefflichen Röcken, Schreibfedern hinter den fleißigen Ohren, das unübertreffliche Bild eines würdigen Kaufmannes; und wie ich plötzlich den Blick aufschlage, sehe ich Sie vor mir, gleich dem ersten Cavalier des Reiches, geschmückt wie zu einem großen Feste, wie ein Bräutigam zur Hochzeit. So wunderbar greift dies Alles in mein geheimes Denken, daß ich glauben muß, es walte eine zauberische Macht, eine Fee oder Hexe hier im Hause, die allerlei Bethörung über uns bringt.«
»O!« sagte Stibs leise schaudernd, »es ist mir wirklich auch schon so vorgekommen.«
»Unsere Empfindungen sympathisiren noch in Allem,« entgegnete das Fräulein. »Es ist höchst merkwürdig, wie Sie zu sagen pflegen, Herr Stibs; aber was in aller Welt führt den werthen Herrn heute, zu dieser Stunde, in so auserwählt prächtiger Tracht zu seiner unterthänigen Dienerin?«
»Was mich herführt?« fragte Stibs.
Er betrachtete jetzt erst Mademoiselle Marien und bemerkte mit Bestürzung, daß sie im einfachen Hauskleide vor ihm saß. –
»Was mich herführt?« wiederholte er. »Sie dürfen versichert sein, meine theure Mademoiselle, daß nur der Wille des verehrten Prinzipals, der mich mit einer Einladung zum heutigen Feste beglückte, mir den Muth gegeben hat, also an diesem Orte zu erscheinen.«
»Eine Einladung, ein Fest!« rief die junge Dame, »wahrhaftig, Herr Stibs, ich weiß nicht eine Sylbe davon; aber halt, warten Sie – ja, so, jetzt verstehe ich, o, vortrefflich! Allerdings ein Fest; und mein Herr Vormund sagte Ihnen, es würde von so besonderer Art sein, daß Sie in Ihrem vollsten Glanze erscheinen müßten?«
»Ich sollte meinen,« antwortete Stibs, »daß einige Andeutungen mich berechtigen konnten, einige Sorgfalt auf meine arme Person zu verwenden, um der Einladung des verehrten Herrn Reike Ehre zu machen.«
Herr Stibs ließ einen langen, wohlgefälligen Blick über sich hingleiten, und Mademoiselle Marie schien diesen zu verfolgen, denn sie erwiederte nichts; aber um ihre Lippen schwebte ein sonderbares Zucken, und ihre Augen füllten sich mit Hohn, Stolz, Mitleid und endlich mit einer unbesiegbaren übermüthigen Laune, die ein abermaliges heftiges Lachen hervorrief.
»Ich kann nicht glauben,« sagte Stibs verwirrt, »daß ich mich geirrt haben sollte!«
»Gewiß nicht!« rief Mademoiselle Marie, ich versichere Ihnen, es ist so, und wenn mich nicht Alles täuscht, werden Sie als ein beglückter Mann den heutigen Tag segnen.«
»Ich kann sagen,« entgegnete der Buchhalter mit würdevollem Ernst, »daß ich noch nie ohne einen innigen Dank für den Geber aller Gaben aus diesem Hause gegangen bin.«
»Wen meinen Sie?« fiel das Fräulein ein. »Meinen Sie damit den Herrn aller Welten oder den verehrten Prinzipal? Aber ich glaube, Beide fallen so sehr in Ihren Überzeugungen zusammen, daß ihr Cultus unmöglich getrennt werden kann.«
»Bitte sehr, Mademoiselle Marie,« sagte Stibs lächelnd, »ich denke, ein guter Christ zu sein.«
»Ein vortrefflicher Christ, ganz ohne Zweifel,« sagte die junge Dame, »aber wie steht es mit dem Glauben?«
»Was den Glauben betrifft,« betheuerte Stibs, »so muß ich gestehen, von Herrn Reike häufig schon den Vorwurf gehört zu haben, daß ich allzu leichtgläubig sei.«
»Out, Herr Stibs!« rief Mademoiselle Marie, indem sie ihre kleine Hand auf den Ärmel des blauen Fracks legte, »ich will glauben, daß Sie die Wahrheit sagen.«
»Ich lüge nie,« sagte Stibs feierlich.
»Sie sollen es mir durch den heutigen Tag beweisen,« fuhr das Fräulein fort. »Ich befehle Ihnen, Alles zu glauben, was sich heute hier zutragen könnte; und selbst, wenn man Sie der Leichtgläubigkeit beschuldigte, sollen Sie, wie ein Fels mitten im stürmischen Meere, stehen, ohne Weichen und Wanken.«
»Ich verstehe nicht recht, was Sie meinen, theuerste Mademoiselle Marie,« sagte Stibs.
»Ich verstehe es selbst nicht!« rief die Dame heftig lachend; »aber versprechen Sie es mir.«
»Alles, was Sie wünschen und befehlen können,« sagte Stibs, indem er die Hand aufs Herz legte und eben so laut lachte, wie seine scherzhafte Nachbarin.
In diesem Augenblicke trat Herr Reike aus der Nebenthür herein, und vor seiner ernsten, Ehrfurcht gebietenden Nähe verstummte die Lustigkeit. Der alte Herr hatte etwas in seinem Wesen, das seinem vertrauten Buchhalter sogleich auffiel, und seit jenem merkwürdigen Abende im Arbeits-Cabinette sich anhaltend gezeigt hatte. Die eisige Ruhe, welche seine Erscheinung gewöhnlich umgab, war in eine Art Versteinerung übergegangen, wie Stibs sich ausdrückte, in ein stieres In- sich-versunken-sein, das ganze Stunden andauerte und wie Gedankenlosigkeit aussah, bis es der gewöhnlichen klaren Regsamkeit von Neuem Platz machte. –
Stibs hatte den verehrten Prinzipal am gestrigen Tage studirt, wo er ihm gegenüber zwei Stunden lang bildsäulenartig am Pulte gestanden und ihn angestarrt hatte, was einen so unheimlichen Schauder in ihm erweckte, daß er zuletzt die Feder fallen ließ und einen ungeheuren Tintenflecke auf ein eben vollendetes Conto-Finto Fingierte Rechnung; im Warenhandel eine mutmaßliche Berechnung des wahrscheinlichen Erfolgs eines Unternehmens. machte. Allein Herr Reike hatte nichts davon bemerkt, und jetzt war es eben dieser todte, nachtwandelnde Blick, mit dem er seinen unterwürfigen Buchhalter beschaute, als er hereintrat.
»Ist Er da, Mosje Stibs?« sagte er; »es ist mir lieb, Ihn zu sehen. Marie, ah, da bist Du, mein Kind.« –
Herr Reike strich mit der Hand über seine Augen und wendete sich zu seiner hübschen Mündel, wie Einer, der plötzlich aus einem Traume erwachte. –
»Wo ist mein Sohn,« fuhr er fort; »wo ist Gustav?«
»Ich habe ihn nicht gesehen, lieber Papa!« antwortete sie.
»So laß uns zu Tische gehen,« sagte der alte Herr, »es ist Zeit.« –
Er öffnete das große Zimmer, und Herr Stibs sah mit Verwunderung, daß der Tisch nur mit den nöthigen Geräthen für drei Personen versehen war – ein Beweis, daß Niemand hier erwartet wurde. Mademoiselle Marie zog die Klingel, und nach einigen geflüsterten Worten brachte die Dienerin ein viertes Gedeck, während Stibs in höchster Verlegenheit und Scham seine kostbare Tracht musterte, die seltsam gegen diese Alltäglichkeit der Verhältnisse abstach. Mit jedem Augenblicke fürchtete er eine Frage des Principals über dies ungewöhnliche Äußere; aber Herr Reike hatte keine Augen dafür.
In größter Stille klapperten die Löffel, die Teller wurden gewechselt, die Speisen kamen und verschwanden, und selbst in einigen Pausen, wo Mademoiselle Marie ein paar gleichgültige Fragen that, die Stibs mit halblauter Stimme beantwortete, blickte Herr Reike vor sich hin, ohne die Unterhaltung zu verbessern. Plötzlich aber wandte er den Kopf nach der Thür, als diese sich aufthat und sein Sohn eilig eintrat. Er maß ihn mit einem mißbilligenden Blicke, den Gustav wohl verstand.
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, »wenn ich auf mich warten ließ.«
»Wir haben nicht gewartet,« entgegnete der Vater.
Der Sohn setzte sich, und plötzlich sah er mit fragendem Erstaunen den Buchhalter an, dem eine brennende Hitze über Kopf und Nacken lief. In seiner Angst machte er eine Verbeugung und verzerrte sein Gesicht zu einem Grinsen, welches von einem so finsteren und drohenden Blicke des Herrn Reike jun. erwiedert wurde, daß es auf der Stelle erstarb. Nun trat die alte Stille ein, welche nach und nach unleidlich für Alle zu werden schien. –
Stibs wischte sich heimlich mit dem theuren Rockärmel zu seinem eigenen tiefsten Schrecken den Schweiß und Puder von der Stirn; der junge Herr sah durch die Fenster zu den Wolken auf und drückte von Zeit zu Zeit seine innere Ungeduld und Unruhe durch krampfhafte Bewegungen der Hände und Füße aus. Mademoiselle Marie allein wandte ihr freundliches, bewegliches Gesicht nach allen Seiten, und endlich hatte sie die Gefälligkeit, ihren Vetter zu bitten, ihr ein Glas Wein einzuschenken.
So laut Marie ihre Bitte auch vorbrachte, Gustav schien es nicht zu hören. Stibs ergriff mit größter Artigkeit statt seiner die Flasche, und Mademoiselle Marie nickte ihm dafür lächelnd Dank. –
»Ich glaube wirklich, werther Herr Stibs,« sagte sie, »daß Sie in vielen Dingen meinem zerstreuten Vetter zuvorkommen, der, wie es scheint, noch immer nicht bei uns verweilt.«
»Ich beklage mich nicht über diese Zurechtweisung, liebe Marie,« entgegnete Gustav, »denn in der That, mein Gedächtniß ist nicht in der besten Ordnung.«
»Man merkt es Ihnen an, mein liebenswürdiger Vetter,« versetzte sie. »Und wo ist dies Gedächtniß, wenn man fragen darf?«
»Es ist in diesem Augenblicke noch immer von einer ziemlich seltsamen Geschichte in Anspruch genommen.«
»Eine Gespenstergeschichte?« fragte Mademoiselle Marie.
»Wenigstens etwas ihr Ähnliches,« antwortete er.
»Ich hoffe zu Gott, man hat Ihnen keinen Eid der Geheimhaltung auferlegt,« sagte die junge Dame.
»Das hat man nicht, auch läuft das Ganze ohne Zweifel auf Täuschung oder Spaß hinaus.«
»Lassen Sie uns den Spaß hören, Vetter Gustav.«
Der junge Mann sah fragend und scharf zu seinem Vater hinüber, der diesem Gespräche keinerlei Theilnahme zu schenken schien. –
»Gestern Abend,« begann er dann, »kehrte ich ein wenig spät nach Hause aus dem Kreise einiger Freunde zurück. Es war finster und kalt; ich ging, fest in meinen Mantel gewickelt, langsam die Straße herauf, manchen Betrachtungen hingegeben, als plötzlich eine Gestalt an mir vorüberstrich, die in flüsterndem, aber festem Tone sagte: ›Nimm Dich in Acht, Du bist in Gefahr!‹ Ich blickte auf, der Warner war schnell fortgegangen. Ich sah in der Dunkelheit nur die Umrisse eines menschlichen Wesens vor mir, das den Kragen seines Mantels über sein Gesicht geschlagen hatte und einen breitgekrempten Hut trug, beinahe wie Herr Stibs.«
»Ich kann betheuern, daß ich niemals nächtlich auf der Straße bin,« fiel Stibs erschrocken ein, »aber diese Ähnlichkeit ist merkwürdig.«
»Sie können denken, daß ich neugierig war, obwohl ich halb und halb zweifelhaft blieb, ob ich recht gehört hätte. Ich verdoppelte meine Schritte, allein mein unbekannter Freund wollte sich nicht einholen lassen. Er bog von meinem Wege ab in eine Seitengasse; als ich ihm folgte, wendete er sich rechts und links, und da ich sah, er wünschte meine Annäherung nicht, hielt ich es nicht der Mühe werth, ihm weiter zu folgen. Ich blieb stehen, kehrte dann gemächlich auf dem nächsten Wege um, und befand mich nahe an unseren Hause, als es mir schien, die Thür desselben werde geöffnet, und irgend Jemand, der davor stand, trete hinein.«
»Mir scheint es,« sagte Mademoiselle Marie lachend, »daß mein vortrefflicher Vetter sich in sehr fröhlicher Gesellschaft befunden haben muß.«
»Hier ins Haus hinein?« rief Herr Stibs zu gleicher Zeit. »Es ist unmöglich!«
»Ich sage nicht, daß ich es mit Gewißheit behaupte,« fuhr Gustav fort, »aber ich sprang über den Damm und fand allerdings die Thür fest verschlossen. Indem ich öffnete, entstand ein Geräusch auf der Straße. Mehrere Männer näherten sich mir in raschem Laufe. Ein Gefühl wirklicher Gefahr überkam mich, ich weiß nicht warum, aber ich trat rasch in den Flur und warf sie Thür ins Schloß, als sie ein paar Schritte noch von mir waren.«
»Ein höchst weiser Entschluß Herr Stibs,« sagte Mademoiselle Marie zu ihrem Nachbar.
»Wohl dem, der Nachtschwärmern stets zeitig aus dem Wege geht!« seufzte dieser.
»Ich hörte, wie sie draußen still standen und halb laut sprachen. ›Er ist uns entwischt,‹ sagte der Eine, ›wie konnte er auch von jener Seite kommen?‹ – ›Sollen wir klopfen?‹ fragte eine andere Stimme. – ›Nein,‹ erwiederte ein Dritter, ›morgen ist auch ein Tag, und vielleicht ist es besser, wenn …‹ Hier entfernten sie sich, und ich hörte nur undeutliche Laute.«
»Ein förmlicher Überfall also!« rief die junge Dame. »Das ist eine schreckliche Geschichte. Man hat Sie entführen wollen, Vetter Gustav.«
Herr Stibs schüttelte bedenklich den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, das wie Abenteuer, Officiere und heillose Gewaltthaten klang.
»Es kann sein,« sagte der junge Mann, »daß ich den Faden für das, was man beabsichtigte, wie auch die, welche mich verfolgten, ziemlich gut kenne; aber wer war der unbekannte, warnende Freund? Und hören Sie weiter. Als ich nichts mehr vernahm, suchte ich die Treppe, um nach meinem Zimmer zu gelangen. Die Lampe war erloschen, eben als ich die Thür geöffnet hatte; ein rothglimmender Punct ohne Licht war allein übrig geblieben, der seinen letzten Funken knisternd versprühte. Plötzlich kam es mir vor, als befände sich jemand vor mir auf der Treppe, ich hörte ein leises Rauschen, wie von einem schweren, schleppenden Gewande; die Stufen knisterten, der Sand knarrte darauf. Ich stand still und hörte nichts. Aber der Ton kehrte zurück, sobald ich weiter ging, und als ich nun oben stand und den großen Gang hinuntersah, an dessen Ende das Fenster in den Hof geht, hätte ich schwören mögen, daß irgend ein dunkler Körper an den alten Wandschränken hingehe, die dort noch aus der Zeit meines Großvater in den Nischen der Mauer stehen.«
Herr Stibs hatte Messer und Gabel niedergelegt; ein Schauer der Geisterwelt kam am hellen Mittage über ihn; der alte Herr machte eine unruhige, unwillige Bewegung. –
»Leise fragte ich, wer da sei,« fuhr Gustav fort, »und als ich keine Antwort erhielt, lief ich mit ausgebreiteten Armen den Gang hinunter, daß mir Niemand entgehen konnte; allein ich fand nichts, als leere Luft.«
»Und eben schlug die Geisterstunde,« sagte Mademoiselle Marie feierlich.
»In der That, ja,« antwortete Gustav. »Die Uhr der Nicolaikirche hob aus und schmetterte zwölf dumpfe Schläge herab, die alle Gespenster aufwecken mußten.«
»Allgütiger Gott!« sagte Stibs, seine Perrücke umspannend, »es ist entsetzlich, ich verliere den Kopf!« –
Im Augenblick aber ließ er die Hände sinken und starrte bestürzt den alten Herrn an, der mit derselben leichenhaften Blässe des Antlitzes auf seinem Stuhle saß, wie damals im Cabinet. –
»Mein theurer Herr!« schrie er. »O, Herr Gustav, hören Sie auf, von dem schrecklichen Wesen zu erzählen, und helfen Sie dem Herrn Vater hier; Sie wissen nicht, was er selbst schon gesehen hat.«
Die Stühle wurden zurückgestoßen, und Alle eilten hülfreich zu dem alten Herrn, der ihrer jedoch nicht bedurfte; denn mit Kraft richtete er sich auf und wandte sein zürnendes Gesicht dem geschwätzigen Buchhalter zu.
»Schweig Er still!« rief er streng und heftig, »was will Er mit seinen Dummheiten sagen? Ich habe diese Possen angehört und gewürdigt, wie sie es verdienen. Wenn nächtliche Umhertreiber mit anderen ihres Gleichen in Händel gerathen, gejagt oder gemißhandelt werden, so geschieht ihnen recht, Niemand hat sich darüber zu beklagen; was aber die sonstigen Thorheiten und Hirngespinnste betrifft, die wir hier vernehmen mußten, so ist leicht zu ermessen, aus welchen Dünsten diese entsprangen.«
»Sie beurtheilen mich sehr hart, lieber Vater,« sagte Gustav erröthend und so ruhig er vermochte, während er mit seinen verletzten Gefühlen rang.
»Ich beurtheile Dich, wie Du es verdienst,« versetzte Herr Reike.
»Ich muß es bestreiten,« erwiederte der Sohn, »weil ich mich Ihren Vorwürfen gegenüber unschuldig weiß.«
»Und mit dieser eingebildeten Unschuld bemäntelst Du Deine kindischen Albernheiten!« rief der alte Herr erbittert.
»Ich dächte wohl,« sagte der junge Mann mit einem stolzen, beleidigten Lächeln, »daß mein Alter mich endlich wenigstens vor dem Vorwurf des Kindischen schützte.«
Herr Reike warf schweigend einen Blick auf die große Wanduhr, dann sagte er mit kältester Gelassenheit:
»Du hast darin Recht, Gustav, daß Deine Jahre Dich über das Kindesalter erheben. Vor drei Tagen habe ich Dir eine Frage gestellt und Dich ersucht, die Zeit zur Prüfung anzuwenden. Du bist mündig und selbstständig, so erwarte ich denn jetzt Deine Antwort.«
»Meine Antwort?« versetzte der Sohn verwirrt, »Darf ich Sie bitten, zuvörderst Alles zu hören, was ich Ihnen zu sagen habe?«
»Hier ist nur ein Ja oder Nein möglich, alles Andere ist überflüssig,« fiel der alte Herr ein. »Mein Wille ist bestimmt und unabänderlich, es kommt auf Dich an, ob Du ihm beitreten willst.«
»Aber geben Sie denn wirklich nicht zu,« rief Gustav bittend, indem er die Hand seines Vaters ergriff, »daß das Kind trotz alles Gehorsams gegen verehrte Eltern den Weg gehen muß, den Herz und Gewissen ihm vorschreiben?«
Der Handelsherr schüttelte mit strenger Miene den Kopf.
»Glaubst Du den Ungehorsam vorziehen zu müssen,« sagte er, »so folge ihm und sage Nein.«
»Zu welcher schrecklichen Wahl zwingen Sie mich!« erwiederte der Sohn erregt. »Kann es Ihr Wille sein, mich unglücklich zu sehen oder aus Ihrem Herzen zu reißen?«
Herr Reike machte eine unwillige, abweisende Bewegung.
»Sagte ich es nicht,« rief er mit verächtlicher Schärfe, daß diese kindische Schwäche immer zwischen Gut und Böse schwankt, ohne einen männlichen Entschluß fassen zu können?! Hier stehst Du an der Thür Deiner Zukunft, Gustav. Öffne sie, wie Du willst, aber öffnen mußt Du sie. Thu es, wie ein Narr, meinetwegen, aber thu es wenigstens mit fester Hand, um nicht obenein als Feigling behandelt zu werden.«
Vater und Sohn standen sich gegenüber und sahen sich fest an, Auge in Auge. Ein Feuer des Zornes und der Scham brannte in Gustavs Blicken, heftige und stolze Entschlüsse schienen auf seiner breiten Stirn zu liegen, deren schwellende Adern die Glut seiner Empfindungen ausdrückten, und doch war es, als ob ein Theil der eisernen, unbeugsamen Kälte des Greises plötzlich auf den Sohn übergegangen wäre.
»So setze ich denn ohne Umschweif mein unabänderliches Nein Ihrem Willen entgegen,« sagte er, »und habe damit erfüllt, was Sie begehren.«
Er verbeugte sich und wollte das Zimmer verlassen, als Herr Stibs in der Angst seines Herzens einen höchst jämmerlichen Seufzer ausstieß und seine Hände bittend nach dem Entweichenden ausstreckte. Der Augenblick gab ihm Muth, eine ungeheure That zu wagen; denn er ergriff mit seiner Linken den Arm des Herrn Reike sen., mit seiner Rechten preßte er die Finger seines Zöglings zusammen, und so halb gewaltsam Beide zusammenführend, rief er mit klagender Stimme:
»Da sei Gott für, daß so Arges hier geschehe. Verehrtester Herr Reike! theuerster Herr Gustav! Bedenken Sie Ihr Gewissen vor Gott und Menschen! Blut von Deinem Blut, das sollst Du ehren und lieben, so steht es geschrieben. Es kann nicht sein, es ist unmöglich. Nein, nein! Sie werden dem Herrn Vater den großen Gram nicht machen.«
Der alte Herr blieb nachsinnend vor seinem Sohne stehen, der keine Bewegung zur Annäherung und Nachgiebigkeit machte. Endlich zog er seinen Arm aus Stibsens Hand und sagte langsam:
»Du hast es abgeschlagen, mein Compagnon, der Gefährte meiner Sorgen und Mühen und der Erbe meines Vermögens zu sein. Es ist Deine Sache, dies niemals zu bereuen; ich habe Dir jedoch noch einen Vorschlag zu machen. Es ist nothwendig, in meinen Geschäften sogleich einen Bevollmächtigten nach England, vielleicht nach Amerika zu senden. Heute noch sollst Du fort, und wenn Du wiederkehrst, werde ich meine Frage wiederholen. Willst Du?«
»Ich kann nicht,« antwortete der junge Mann, »ich will und kann Berlin nicht verlassen.«
Der Kaufmann wendete sich von ihm ab, und mit derselben Ruhe sagte er zu seinem Buchhalter:
»Er sieht, Stibs, daß ich vor Gott und Menschen wohl bestehen kann. Er wird meinem Sohne die Nachweise über das Vermögen seiner Mutter vorlegen, auch die Sache in kürzester Zeit ordnen, ihm zahlen, was er zu empfangen hat, und die Ausgleichung für immer beenden. – Jetzt aber richte ich meine Frage an Ihn, Mosje Stibs. Er hat seit dreißig Jahren mein Vertrauen genossen, redlich und fleißig gestrebt und gesorgt für das Wohl und Gedeihen der Firma; ich biete Ihm hiermit die Theilnahme an dem Geschäft, als eine wohlverdiente Belohnung an. Sind Sie zufrieden, Herr Stibs, wenn ich Sie als Compagnon an die Stelle dessen setze, der diesen Platz verschmäht?« fragte er mit erhöhter Stimme.
»Herr Reike, mein verehrter, theurer Herr!« rief Stibs zitternd und erstarrt, »es ist unerhört!«
»Ich weiß, was ich thue,« fuhr der alte Herr bedächtig fort, »und habe mehr mit Ihnen vor. Was Undankbarkeit verschmäht und verkümmern läßt, blüht um so schöner unter sorgsamer Hand auf. Ich glaube bemerkt zu haben, Herr Stibs, daß eine sittsame Neigung Ihr Herz bewegt; als mein Compagnon ist es Ihnen nicht allein erlaubt, diese offen zu erklären, Sie dürfen auch meiner vollen Billigung und Unterstützung gewiß sein. Meine Schmerzen würden sich stillen, und mein schönster Wunsch wäre erfüllt, wenn wir dereinst ganz eine Familie bilden könnten.«
Er blickte zu Mademoiselle Marie hinüber, die ein so freundlich einladendes Lächeln auf den Lippen trug und so unbefangen heiter aussah, daß ein wonniger Schauer den kleinen Buchhalter ergriff.
Es war zu viel für ihn, er glaubte zu träumen. Er drückte die Hand auf sein Herz und stotterte einige Worte ohne Zusammenhang, bei denen seine Augen einen verklärten Glanz ausstrahlten. Dann machte er eine tiefe Verbeugung und fuhr zusammen, wie ein Verbrecher, als plötzlich eine Hand ihn unsanft berührte, und er dicht neben sich den thörichten Menschen stehen sah, der solche Schätze freventlich verschmäht hatte
.
Gustav war ohne Theilnahme bei dem raschen Acte geblieben, der Stibsen zu seinem Erbe half; aber Entsetzen faßte ihn an, als er die weiteren Worte seines Vaters hörte.
»Um Gottes willen!« rief er, »was thun Sie, Vater? Geben Sie ihm Alles, was Sie wollen, stoßen Sie mich von Ihrem Herzen, aus diesem Hause, aber verlangen Sie kein anderes Opfer! Marie?! Es ist lächerlich, es ist abscheulich, aber hoffen Sie nicht, das es gelingen kann. Ich werde es hindern, ich werde sie schützen. So weit reicht Ihre Gewalt nicht.«
»Du?« sagte der alte Herr verächtlich, »Du hast von diesem Augenblicke an hier keinen Raum mehr für Dein unsinniges Geschwätz.«
»Ich werde dennoch bleiben!« rief Gustav mit Heftigkeit, »und keine Macht der Welt soll mich daran hindern. Marie,« fuhr er fort, indem er die Hand seiner Cousine ergriff, »Sie wissen, was mich bewegt, einem Glücke zu entsagen, dessen Größe ich erst jetzt ganz empfinde. Um so inniger ist mein Antheil für Sie, um so stärker meine Freundschaft, die nie dulden wird, daß man Sie mißhandelt.«
»Und wer denkt daran, dies zu thun?« fiel Mademoiselle Marie lebhaft ein. »Glauben Sie nicht, Vetter Gustav, daß ich ein Wesen bin, das geduldig sich Mißhandlungen unterwirft. Beruhigen Sie sich und nehmen Sie meinen Dank für Ihr Mitgefühl; doch in Wahrheit, ich sehe nichts, was im Stande wäre, Ihnen dies hier einzuflößen. Mein gütiger Vormund, der mein zweiter Vater ist, kann und wird nichts über mich beschließen, was nicht in seinem klaren Geiste, als mein Glück und Wohlergehen reiflich erwogen wurde. Ich bin eine Waise, verdanke ihm meine Erziehung und tausend zärtliche Sorgen, weiß, wie sehr er mich liebt, und war immer entschlossen,« setzte sie mit halb gesenkten Augen hinzu, »mich Allem, was er wünschte, demüthig zu unterwerfen. Jetzt hat sich die Bestimmung über meine arme Person geändert, doch ich finde nicht, daß es schlimmer geworben wäre. Es ist, wie es war, mein theurer Vetter, nur daß sich ein anderer Käufer einstellt. Oft aber habe ich es gesagt und wiederhole es laut, ich liebe nur die gesetzten, verständigen Männer, welche Ehrbarkeit und Sitte besitzen.«
Bei jedem ihrer Worte richtete sich Stibs höher auf, und mit unermeßlichem Triumph blickte er jetzt auf seinen Widersacher, dessen Hand schlaff von seiner Schulter fiel, während die Röthe seines Gesichts auffallend erblich. Seine Augen, welche er forschend auf die junge Dame heftete, verdunkelten sich und mit schwankender Stimme sagte er leise:
»Unmöglich! Ist das in Wahrheit Ihr Ernst, liebe Marie?«
»Es kommt aus meiner innersten Überzeugung,« antwortete sie.
»Dann, ja, dann!« rief er bewegt, »habe ich nichts mehr zu sagen. Und doch« – seine Augen ruhten einen Augenblick auf der schönen jungen Gestalt mit leidenschaftlicher Macht –, »doch ist es mir unmöglich, es zu denken.« –
Er wandte sich rasch nach der Thür und ging hinaus. –
Mademoiselle Mariens lachende Lippen zuckten ein wenig, sie that einen Schritt vorwärts, als wollte sie ihn festhalten, aber sie drehte sich plötzlich gegen den alten Herrn, machte ihm einen tiefen Knix und drückte ihren Kopf an seine Brust, als er sie in seinen Armen hielt und zärtlich sagte:
»Du bist mein liebes, geliebtes Kind. Jetzt habe ich nur Dich allein, als meines Alters Stolz und Freude.«
»Herr Stibs,« fuhr er dann fort, »gehen Sie gefälligst meinem Sohne nach, bringen Sie ihm die Vermögens-Nachweise, dann kommen Sie zu uns zurück und verleben Sie den Abend mit mir und – Ihrer Braut!« –
Stibs hörte bei diesem Worte alle Zimbeln und Harfen der Hochzeit von Kanaan erklingen.
Es war spät geworden, als der neue Compagnon des Hauses Reike endlich den Weg nach seiner alten Heimath suchte. Er hatte einen seligen Abend verlebt und alle Genüsse de Paradieses gekostet. Herr Reike sen. hatte seinen Keller geöffnet und mehr als Eine bestaubte Flasche ans Licht befördern lassen, deren duftender, feuriger Inhalt jetzt in Hirn und Eingeweiden des beglückten, kleinen Mannes rumorte.
Mademoiselle Marie hatte, an seiner Seite sitzend, den Fasan zerlegt, dessen leckerste Stücke sie auf den Teller ihres Nachbars zu bringen wußte, und Stibs hatte ihre Fingerspitzen geküßt, ja, er hatte sogar Worte in ihr Ohr geflüstert, die noch jetzt mit süßer Schwärmerei in seinem Herzen wiederhallten.
»Theuerste Mademoiselle Marie,« hatte er gesagt, »Ihre holdselige Gegenwart und Nähe hat die schrecklichen Folgen für mich, daß aller Appetit verschwindet, derweil ich nur immer in Ihre Betrachtung versunken bin.«
Und das spaßhafte Kind hatte sich zu ihm hingebeugt, und eben so leise geantwortet:
»So muß ich fürchten, daß mein liebster Herr mir elendiglich verhungern wird;« worauf Herr Stibs eine feierliche Betheuerung des Gegentheils machte, indem er mit einem energischen Biß die ganze Brust des Fasans verschluckte.
Unter Trinken und Essen verging dann die Zeit in zunehmender Fröhlichkeit, und Stibs fühlte ein sehnsüchtiges Verlangen, seine Arme um die reizende Braut zu schlingen oder zu ihren Füßen zu sinken, um seiner Liebesglut, die mit jedem Augenblicke höher stieg, Ausdruck zu verschaffen. Als aber Herr Meike sich einige Minuten entfernte, sank ihm plötzlich der Muth; denn wie er mit seinem rothen, zärtlichen Gesicht Mademoiselle Marien nahte, verwirrte ihn ein einziger ihrer sonderbar stechenden und spöttischen Blicke so sehr, daß das begehrliche Wort ihm in der Kehle stecken blieb. Er zog die ausgestreckte Hand zurück und schlug die Augen nieder, wie ein ertappter Dieb; sogleich aber erhellte sich seine Sonne von Neuem, denn die weichen Finger der schönen Nachbarin legten sich auf die seinen, und ihre klingende Stimme fragte zutraulich:
»Nun sagen Sie mir rasch, mein lieber Freund, wie es mit dem unnatürlichen, halsstarrigen und leichtsinnigen Menschen geworden, der seines leiblichen Vaters Güte, wie Ihre eigene Sorgfalt, mit so vielem Undanke belohnt.«
Es that Stibsen wohl, diese Aussprüche zu hören; er erzählte daher auch gern, wie Herr Gustav mit Gleichgültigkeit seine Erläuterungen gehört, die Papiere in Empfang genommen und ohne eine Bemerkung, ja, ohne einen Blick darauf zu thun, die Richtigkeit attestirt habe, was deutlich beweise, wie unfähig für jedes wichtige Geschäft er sei. Zahlung, welche Herr Stibs ihm auf der Stelle angeboten, habe er zurückgewiesen und kurzweg bemerkt; er werde heute Abend, morgen oder in den nächsten Tagen an der Casse erscheinen. Dann habe er ihn angesehen, auf eine höchst unwürdige Weise gelacht und endlich sich mit Hut und Stock entfernt, ohne Gruß, Verbeugung und sonstige Höflichkeit
.
»Der Bösewicht!« hatte die junge Dame hierauf gerufen, »es ist entsetzlich! Und Sie wissen nicht, wohin er gegangen ist?«
»Nicht eine Sylbe,« erwiederte Stibs entzückt, »aber beruhigen Sie sich, theuerste Mademoiselle, ich bin gewiß, er wird seinen Leichtsinn einst bitter bereuen.«
»Das ist mein einziger Trost; allein jetzt, liebwerthester Herr, eilen Sie nach Hause, Sie bedürfen der Ruhe, und lassen Sie mich hoffen, Sie morgen in strahlender Gesundheit zu erblicken.«
Mit einem süßen Lächeln reichte sie ihm die Hand, und Stibs schmatzte verklärt mit den Lippen, weil er an den Kuß dachte, den er auf diese sammtenen, kleinen Finger drücken durfte. Die Königin seines Herzens verschwand mit einer letzten guten Nacht; als er jedoch Hut und Stock genommen, und Herr Reike wiederkehrte, sagte dieser:
»Gut, gehen Sie, lieber Stibs, ruhen Sie ein wenig aus oder erholen Sie sich wie es Ihnen behagt; allein ich habe den Wunsch, Sie heute noch wieder zu sehen, um unsere neue Vereinbarung zu ordnen und die Entwürfe unseres Vertrages zu machen. Wir sind jetzt in der neunten Stunde, kommen Sie nach zehn Uhr zurück ins Comtoir und lassen Sie uns dort gemeinsam arbeiten. Keinen Augenblick Zeit verloren, das ist die Seele aller Geschäfte und mein Wahlspruch seit frühester Jugend.«
Herr Stibs verbeugte sich ohne Widerstreben. Der alte Herr drückte ihm die Hand und entließ ihn, indem er ihn bis zur Thür begleitete, was Stibsens Stolz nicht wenig vermehrte. Aus dem abhängigen Verhältnisse, aus dem Er und der befehlenden Vorschrift sah er sich plötzlich wie durch Zauberei auf die Stufe der Gleichheit gehoben. Er hätte es allen Menschen sagen mögen, daß nicht mehr der Mosje Stibs, Buchhalter u. s. w., hier durch die finsteren Gassen spaziere, sondern Herr Stibs von der Firma Reike und Compagnie, und als er an die Börse dachte, an die öffentlichen Ankündigungen, an die Avisobriefe, an das Staunen seiner bisherigen Collegen, that er einen jähen Freudensprung und runzelte dann die Stirn, daß Herr Reike durchaus heut noch die Sache gänzlich ordnen wollte, weil er sonst wohl noch einem oder dem anderen Freunde sein Glück in höchst mystischen Andeutungen hätte bemerklich machen können.
Aber er war doch auch vergnügt, daß auf der Stelle der Compagnie-Contract zu Stande kam. Seine Zukunft lief in reizenden Bildern an ihm vorüber. Er sah sich in dem großen Hause wohnen; die schönen Gemächer, die bequemen Polster, die Tapeten und das schwere Silbergeräth schwirrte an ihm hin, und wenn er an Mademoiselle Marie dachte, schwindelte ihm der Kopf vor ängstlichen und seligen Empfindungen. Es war ihm, als ob ein Wesen mit einer schwarzen und einer weißen Hand vor ihm stehe, das ihm drohe und zu gleicher Zeit winke, so daß er nicht wußte, was er davon denken solle.
Er fürchtete und begehrte zu gleicher Zeit und überließ sich dabei so verwirrenden Betrachtungen, daß er gar nicht merkte, wie, rechts und links, ein wenig hinter ihm schon seit einiger Zeit zwei Männer gingen, die ihn aufmerksam betrachteten. Eben jedoch, als er den letzten Gedanken gefaßt hatte, es sei gut, wenn er bei der Frau Margarethe einspreche, eine Tasse Thee trinke, auch den Hausschlüssel zu sich stecke, und nun einbiegen wollte in das Gäßchen, das nach seiner Wohnung führte, vernahm er ein starkes Räuspern neben sich, das alte, fatale Erinnerungen in ihm weckte.
Er wandte den Kopf, allein er beruhigte sich sogleich, denn weder ein Officier noch die hohe Gestalt seines alten Verfolgers war zu erblicken. Zwei in graue Mäntel gehüllte, breitschultrige, wohlgenährte Herren gingen dort, deren dreieckige Hüte mit goldener Borte Herrn Stibs obrigkeitliche Personen vermuthen ließen. Ein gewisses stolzes Gefühl der Sicherheit und des guten Bewußtseins, erfüllte den kleinen Mann in der Nähe dieser achtbaren Leute. Er legte die Hand an seine Krempe und sagte in freundlichster Weise:
»Wünsche Ihnen einen guten Abend, meine Herren.«
»Guten Abend, Herr Stibs,« entgegnete der Vorderste sogleich.
Stibs blieb verwundert stehen. –
»Sie kennen mich also?« fragte er lächelnd.
»Ohne Zweifel, wenn Sie der Buchhalter Stibs sind,« war die Antwort.
»Ja und nein,« versetzte Stibs launig. »Ich bin der Buchhalter Stibs, oder vielmehr ich war es, denn morgen werde ich es nicht mehr sein, oder besser gesagt, ich bin es schon jetzt nicht mehr.«
»Sie scheinen sich einen Scherz mit uns machen zu wollen,« sagte der eine der Männer in rauhem Tone.
»Bitte recht sehr,« fiel Stibs erschrocken ein, »nicht im Geringsten, es ist so.«
»Dann erklären Sie sich deutlicher,« sprach der Andere, indem er dem Buchhalter den Weg vertrat.
»Das ist ein Geheimniß, meine Herren!« rief der kleine Mann; »allein ich begreife gar nicht, wie Sie es übel deuten mögen.«
»Aha, merkst Du wohl,« sagte der Eine zum Anderen, »ein Geheimniß, das gesteht er also ein.«
»Was gestehe ich ein?« fragte Stibs. »Ich gestehe nichts ein, nicht das Geringste.«
»Das wird sich finden, Herr Stibs,« erwiederte der Mann, »aber ich versichere Ihnen, je eher Sie eingestehen, um so besser für Sie. Folgen Sie uns.«
»Folgen?!« schrie Stibs erblassend. »Wohin? Weßwegen? Wie so? ich denke nicht daran.«
»Nöthigen Sie uns nicht, Gewalt zu brauchen,« sprach der dicke Herr mit großer Bestimmtheit, Stibsens Arm fassend.
»Meine werthen Herren,« sagte dieser zitternd, »nehmen Sie alles, was ich besitze; meine Börse steckt in der rechten Tasche, meine Uhr trage ich unter der Weste, meine silberne Dose …«
»Sie sind wahnsinnig!« rief der Herr lachend, »wofür Halten Sie uns? Ich bin der Commissar des Viertels, und dies ist mein Wachtmeister.«
Stibs holte tief Athem.
»Dann,« sagte er erleichtert, »dann ist es jedenfalls ein Irrthum, der mein schuldloses Haupt trifft.«
»Ich will es Ihnen wünschen,« meinte der Commissar, »allein Ihrer Person muß ich mich versichern.«
»Es ist unmöglich!« schrie Stibs mit aller gesammelten Energie. »Ich kann Sie nicht begleiten; ich habe die dringendsten Geschäfte, an denen mein Glück und Leben hängt!
»Geschäfte, mitten in der Nacht, an denen Glück und Leben hängt!« fragte der Commissar spöttisch. »Sie verrathen sich selbst, Herr; ich ersuche Sie aber jetzt, keine Umstände mehr zu machen.«
»Ich glaube, wir thun am besten, wenn wir ihn knebeln,« sagte der Wachtmeister, und zu Stibsens unaussprechlichem Schauder zog er plötzlich ein paar feste Stricke aus der Tasche, die er rasch zu einer Schlinge drehte.
»Ich bin beauftragt, Sie höflich zu behandeln, wenn Sie sich danach benehmen,« fuhr der Viertelsmeister fort, »und dort an der Ecke steht ein Wagen, der Sie an den Ort Ihrer Bestimmung führen soll. Wissen Sie sich frei von Schuld, so haben Sie nichts zu fürchten, allein ich wiederhole Ihnen. Sie müssen mir folgen, oder, ich lasse Sie binden, knebeln und fortschleppen.«
Diese Gründe, mit großer Festigkeit ausgesprochen, thaten endlich ihre Wirkung. Der unglückliche Buchhalter senkte den Kopf und sagte seufzend:
»Herr, Dein Wille geschehe! Ich habe nichts Böses gethan; den Bösewichtern, die mich verfolgen, verdanke ich auch diese Schmach; und was wird Herr Reike sagen, was wird Herr Reike sagen! Ich bin ein verlorener Mann, Alles ist vorbei, Alles vergebens ich werde kein Compagnon nicht; es ist aus, gänzlich aus!«
Während dessen hatten seine Begleiter ihn links und rechts unter die Arme gegriffen und rasch fortgeführt. Als sie um die Ecke bogen, stand wirklich ein Wagen dort, eine große, ganz stattliche Kutsche, in deren Polster Herr Stibs fiel und in ein trostloses Brüten versank, das seine beiden Begleiter selbst dann nicht störten, als er in seiner Herzensangst zu ächzen und zu weinen begann und laut seine Unschuld betheuerte. Sie mochten dergleichen Scenen wohl oft erlebt haben und nichts davon halten. –
Inzwischen rollte der Wagen schnell fort, Stibs bedeckte seine Augen mit dem feuchten Taschentuche – er wollte nichts sehen und nichts hören, Welt und Menschen waren ihm entsetzlich. – Aber die Fahrt war von keiner langen Dauer. Der Hufschlag der Pferde wiederhallte in einem hohen Portal, dann in einem von Gebäuden umschlossenen, weitläufigen Hofplatze.
Der Wagen wurde geöffnet, und der erste Ton, den Stibs vernahm, war ein Dolchstoß für sein gequältes, erbittertes Gemüth; denn eine Stimme, die er unter allen Stimmen der Billionen Teufel der Hölle erkannt hätte, die Stimme seines unermüdlichen Verfolgers und Feindes, des Grafen, rief mit erwartungsvoller Begier:
»Haben Sie ihn? Wo ist er? Sogleich heraus mit ihm!«
Der Commissar faßte den widerstrebenden Stibs beim Kragen und stieß ihn gewaltsam der Öffnung zu, durch welche er von mehreren Händen weiter spedirt und auf den Boden gestellt wurde. Ein Bedienter in reich besticktem Rocke stand oben auf der Vortreppe und hielt einen Armleuchter mit brennenden Kerzen, deren Schein den Buchhalter überzitterte. Sein Rockelor war in Unordnung gerathen und aufgerissen, die Perrücke hatte sich verschoben, doch mit angeborenem Instinct suchte der Gefangene seine Festkleider vor dem Schmutze der Wagenräder zu schützen.
Man ließ ihm jedoch wenig Zeit dazu, denn der ungestüme Graf hatte ihn kaum erblickt, als er sich seiner bemächtigte.
»Ich schätze mich glücklich, Sie zu sehen, Herr Stibs!« rief er, »und bin doppelt erfreut, Sie in so anständiger Bekleidung zu finden.«
»Was begehren Sie von mir?« entgegnete der Buchhalter verzweiflungsvoll. »Weshalb verfolgen Sie mich? Was habe ich gethan, um mir, wie einem Diebe, aufzulauern, mich zu fangen und in dies Gefängniß zu führen.«
»Mäßigen Sie Ihren Zorn,« antwortete der Graf lachend, »ich wette darauf, Sie werden finden, daß es in diesem Gefängnisse so übel nicht ist. Alles, was hier von Ihnen verlangt wird, Herr Stibs,« fuhr er fort, »ist, daß Sie einigen versammelten Herren das wiederholen, aber genau wiederholen, was Sie in dem bewußten Hause sahen und hörten.«
»Und weiter verlangt man nichts,« rief Stibs ermuthigt.
»Durchaus nichts, auf meine Ehre!«
»Und ich kann mich sofort nach Hause begeben?«
»Sie sollen nach Hause gefahren werden in der nächsten Viertelstunde, und nicht unbelohnt bleiben.«
»Ach!« rief Stibs mit Abscheu, »ich will nichts, durchaus nichts, als die Erfüllung der einzigen Bitte, daß ich … ja, daß ich nie wieder in Ihrer angenehmen Gesellschaft zu sein brauche.«
»Auch das verspreche ich Ihnen aufs feierlichste!« entgegnete der Graf; »aber jetzt merken Sie auf. – Ich führe Sie an einen Ort, wo Sie durchaus ohne Furcht die Wahrheit sprechen müssen; höflich, einfach, zusammenhängend und ausführlich. Lassen Sie sich nicht verwirren, und Alles wird zu Ihrem Glücke ausschlagen.«
»Gütiger Gott!« murmelte Stibs, »wo bin ich denn?« –
Er sah in dem Vorsaale umher. In den Nischen der breiten Treppe standen Marmorstatuen, mehrere Doppelampeln erhellten den Raum, hohe Flügelthüren führten zur Rechten in eine Reihe prächtig geschmückter Gemächer, aber der staunende Buchhalter hatte nicht Zeit, irgend eine nähere Betrachtung zu machen; denn theils wurde er zu schnell über die blumigen Teppiche und Parquets fortgeführt, theils war er zu aufgeregt und verwirrt, um alles, was er sah, zu begreifen. –
Endlich aber heftete sich der Rest seiner Gedanken erwartungsvoll auf das, was ihm bevorstand, denn mit bangen Ahnungen sah er am Ende der Zimmerreihe helles Licht und hörte laute Stimmen, die ihn mit neuen Schauern übergossen. –
Als er dicht an dem lichten Raume war, hieß ihn sein Begleiter still stehen, und Stibsen mußte es auffallen, wie der hochfahrende Mann plötzlich ein ganz anderes Wesen annahm. Er rückte an seiner Halsbinde, knöpfte den Rock, strich mit der Hand das Haar glatt und warf musternde Blicke auf seine Gestalt. Dann grüßte er einen Herrn in gesticktem Kleide, der ihm entgegentrat, mit einer höflichen Verbeugung, und nachdem er einen Augenblick leise mit ihm gesprochen, dieser den Buchhalter betrachtet und dann lachend dem Grafen etwas zugeflüstert hatte, gingen sie beide in das Zimmer mit so vorsichtigen, abgemessenen Schritten, wie Stibs sie je dem gestrengen Principal gegenüber gemacht hatte.
Einen Augenblick nach ihrem Verschwinden hörte der lautlos Harrende den Namen des Grafen drinnen nennen, dann wurde leise gesprochen, endlich kam es ihm vor, als sage Jemand: »Stibs!« mit besonders hartem, kurzem Tone, und er hätte beinahe »Hier!« geantwortet; allein er besann sich noch zur rechten Zeit und hörte nun, wie jene erste Stimme von Neuem begann:
»Soll herein kommen – will ihn selbst hören – klingt viel zu abenteuerlich, um es ohne Weiteres glauben zu können.«
Der Graf eilte herbei und ergriff den Buchhalter bei der Hand.
»Nehmen Sie jetzt Ihren Muth zusammen,« sagte er, »und sprechen Sie dreist; wir sind alle nur Menschen.«
Mit dieser philosophischen Schlußerinnerung führte er ihn hinein, und Stibs bemerkte mit nicht geringem Staunen die anstandvolle Förmlichkeit, mit welcher der wilde, raufsüchtige Officier sich hier bewegte.
»Dies,« sagte er, »ist Herr Stibs, der Buchhalter, von dem ich unterthänigst zu sprechen die Ehre hatte und dem ich selbst meine Nachrichten verdanke. Ich glaube überzeugt zu sein, daß er auf Befragen wiederholen wird, was er mir damals mittheilte.«
Stibs hatte verschiedene tiefe Verbeugungen gemacht, ehe er einen Blick zu thun wagte; jetzt sah er scheu empor, und sein Auge fiel auf einen Herrn, von hoher, stattlicher Gestalt, kahler Stirn und ernsthaftem, strengem Gesichte. Er war in einen Officierrock gekleidet und lehnte an der Ecke des Kamins, in welchem ein schwaches Feuer brannte. –
Zur Seite standen mehrere andere Personen, die den Buchhalter zittern machten, denn nicht allein waren sie alle ersichtlich sehr vornehmen Ranges und ihre prachtvollen Röcke mit Orden geziert, es befanden sich darunter auch sogar einige Herren in Uniformen, deren dicke silberne Schulterstücke offenbar nur Generalen angehören konnten.
Herr Stibs war ein mit der Welt und deren Verhältnissen durchaus unbekannter Mann. Seine Welt war stets das Comtoir und die Börse gewesen, und wunderbarer Weise hatte er immer eine solche Geringschätzung gegen alles, was weiter auf Erden wandelte, in sich gefühlt, daß er kaum einen nothdürftigen Begriff von dem Zusammenhange der damaligen Staats- und Gesellschaftsordnung, aber nicht die geringste Kenntniß über die Lenker und Leiter derselben besaß. Er wußte wohl, daß es Minister, Generale und dergleichen in Menge gab, aber von Angesicht und Namen kannte er nicht Einen, und so sah er denn auch hier nur fremde Gesichter mit Ausnahme des Herrn am Kamin, dem er irgendwo erst kürzlich begegnet sein mußte; nur erinnerte er sich nicht recht, wo dies gewesen sein konnte.
Der Herr am Kamin ließ ihm auch nicht Zeit, seine Gedanken zu ordnen.
»Treten Sie näher,« sagte er in seiner strengen Weise, »und erzählen Sie, was Sie wissen.«
»Was soll ich erzählen?« fragte Stibs halblaut und eingeschüchtert.
Der Herr richtete sich ungeduldig auf.
»Die volle Wahrheit!« rief er mit drohendem Tone, »die Wahrheit ohne alle Ausschmückung.«
»Ich sollte meinen,« stammelte Stibs achselzuckend und erschrocken, »ich weiß sehr wenig, lieber Gott! und wenn ich bedenke – ich habe nicht die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein – ich weiß selbst nicht, wo ich bin.« –
Er sah sich mit scheuen, bittenden Blicken nach seinem Führer um; seine Gedanken verwirrten sich vollkommen.
»Nun, was sollen wir mit diesem einfältigen Menschen?« fragte der Herr zornig. »Beruht, was man erfahren haben will, auf ihm, so ist das Ganze nichts als bare Thorheit.
»So schnell wollen wir ihn nicht aufgeben,« sagte eine klare Stimme, die den unglücklichen Buchhalter in lieblicher Weise an Mademoiselle Marien erinnerte. Ein Hoffnungsfunken entzündete sich in ihm, und was er bisher nicht bemerkt hatte, entdeckte er jetzt. Zwei Damen saßen im Hintergrunde des Zimmers auf einer Ottomane; die eine im vorgerückten Alter, mit stolzem Anstande, die andere jung, lieblich und schön und so freundlich lächelnd, daß Stibs einen Strom von Beruhigung bei ihrem Anblicke empfand.
»Kommen Sie her zu mir,« sagte die Dame. »hegen Sie keine Furcht. Sie müssen ohne Zweifel sich beunruhigt und verlegen fühlen, da Sie nicht wissen, wo und in welcher Gesellschaft Sie sind.«
»In der That, Madame,« versetzte Stibs ermuthigt, »ich bin von sehr vielen Feinden und Leiden bedrängt worden.«
»Aber Sie sind jetzt unter guten Freunden, die Sie schützen werden.«
»Glauben Sie wirklich, daß ich darauf rechnen kann?« fragte Stibs dringend.
»Seien Sie unbesorgt,« sagte die Dame, lächelnd umherblickend. »Sie heißen Stibs?«
»Gotthilf Samuel Stibs, so heiße ich.«
»Und sind der Buchhalter eines Kaufmannes?«.
»J. P. Reike, Mathieu selige Erben,« entgegnete Stibs mit der gewohnten Ehrfurcht vor der hochachtbaren Firma, »ja, das war ich bis jetzt, allein von heute ab bin ich Compagnon dieses allgemein geehrten Hauses.«
Die Dame verneigte sich ein wenig und sagte freundlich:
»Ich gratulire, Herr Stibs.«
»Meinen unterthänigsten Dank, versetzte Stibs mit tiefem Diener. »Ihr holdseliger Glückwunsch, Madame, ist der erste, den ich empfange, was mir immer unvergeßlich sein wird.«
Die Dame schien ungemein von diesem Gespräche belustigt. Sie lachte laut, und ihre Fröhlichkeit theilte sich selbst dem ernsthaften Herrn mit, der sichtlich viel milder gestimmt war, als vorher.
»Das ist allerliebst!« rief die Dame, »ich rechne darauf, Herr Stibs, daß Sie Wort halten. – Aber setzen Sie sich, hier ist ein Tabouret; Sie scheinen angegriffen, und vielleicht trinken Sie eine Tasse Thee?«
»O, bitte sehr!« entgegnete Stibs, »Ihre Güte entzückt mich, Madame; aber, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, ich bin wirklich erschöpft und innerlich aufgelöst, einem gänzlichen Bankerott nahe.«
Die Dame hatte eine Tasse genommen und goß aus der Theekanne von Vermeil Verfahren für Gegenstände aus Silber, das nur von einer dünnen Goldschicht überzogen ist. den duftigen Trank ein, den sie dann selbst ihrem Schützlinge reichte.
»Stärken Sie sich zuvörderst,« fuhr sie fort, »und dann erzählen Sie uns Ihre entsetzlichen Abenteuer im Hause des Chevalier de Brisson, von denen ich etwas gehört habe, was meine ganze Theilnahme rege macht.«
»Ich werde gern alles thun, was Ihnen Vergnügen bereiten kann,« versetzte Stibs verbindlich.
»Aber ausführlich und durchaus wahrhaft.«
»Ich lüge nie!« rief der Buchhalter, und seine feierliche Miene war so überzeugend, daß die Dame sich zu dem ernsten Herrn wandte und mit Nachdruck sagte:
»Ich übernehme die Bürgschaft, das nichts von dem, was wir hören werden, erfunden ist.«
»So reden Sie denn ohne Umschweife,« sagte der Herr.
»Seien Sie so gefällig, Herr Stibs,« setzte die Dame verbindlich hinzu, »und nehmen Sie an, wir wissen, daß Sie einen Brief an den Chevalier abzugeben hatten.«
»Sehr wohl,« entgegnete der kleine Mann, »ich sehe, Sie kennen dies Geschäft, das von mir ganz gegen meinen Willen acceptirt werden mußte.« –
Mit diesen Worten begann er seine Erzählung, und als er im Zuge war, konnte Niemand behaupten, seine Darstellung sei verworren, mangelhaft und umschweifig. Mit kaufmännischer Genauigkeit und Ordnung wickelte er den Faden ab, ohne irgend stecken zu bleiben; eben so genau und bestimmt beantwortete er einige Kreuzfragen des ernsthaften Herrn, und seiner ganzen Mittheilung war so überzeugend die innere Wahrheit anzumerken, daß er kaum das letzte Wort gesagt, als seine Beschützerin lebhaft ausrief:
»Niemand wird zweifeln können, daß hier der Zufall eine Entdeckung veranlaßte, die ein grelles Licht auf die abscheulichen Machinationen wirft, mit denen uns Menschen umringen, welche unsere ganze Verachtung verdienen. Ist es so weit gediehen, daß die großen Verbrecher und Intriganten ihre Creaturen ungestraft bis in unsere Nähe bringen, um uns zu beobachten, auszuhorchen, und Lüge und Verleumdung geschäftig beizufügen, so muß ein immerwährendes Mißtrauen unsere Ruhe vergiften; hier aber ist die Gelegenheit, zu zeigen, wie dergleichen Kundschafter ihren Lohn empfangen. Wir sind in infamster Weise getäuscht und betrogen worden.«
»Zuvörderst,« sagte der ernste Herr, »kommt es darauf an, in Besitz der Papiere zu gelangen.«
»Und diese elenden Spione zu verhaften,« fügte die Dame mit blitzenden Augen hinzu.
»Es wäre dabei Manches zu bedenken,« fiel einer der Anwesenden ein, der einen großen Stern auf der Brust trug. »Das Aufsehen, die Art der Täuschung, die Form, unter welcher dieser Chevalier und seine sogenannte Tochter in hohen Kreisen Zutritt fanden, endlich der gegenwärtige Augenblick.« –
Er neigte sich zu dem Herrn nieder und flüsterte ihm einige Worte zu, welche dieser mit einer zustimmenden Bewegung des Kopfes beantwortete.
»Nein, Sie haben Unrecht, Haugwitz!« rief die Dame erregt, »es darf keine Nachsicht walten. Stellt die Betrüger an den Pranger, gebt sie der Verachtung der Welt Preis, handelt schonungslos gegen diese nichtsachtenden Menschen; so gewinnt man die öffentliche Meinung durch ein gerechtes Selbstvertrauen. O! der ewigen Rücksichten und dieser Friedensliebe, die uns endlich ins Verberben reißen muß!«
»Führen Sie den Mann hinaus,« sagte der Herr in tadelndem Tone, indem er auf Stibs deutete. »Wir wollen sehen, was sich thun läßt.«
Ein ängstliches, beklommenes Gefühl hatte den Buchhalter ergriffen. Er verstand von diesem Gespräche nichts, aber es ward ihm unheimlich dabei, denn plötzlich kehrte in sein Gedächtniß zurück, was er auf kurze Zeit vergessen hatte: daß diese Gesellschaft ohne alle Ausnahme aus Personen bestand, welche ganz andere Wesen zu sein schienen, als er selbst, und zwischen denen und ihm eine Kluft lag, deren dunkle Ahnung ihn zittern machte.
Er stand daher auch eilig auf, um dem Winke des Grafen nachzukommen, der aus der Thürnähe zu ihm herangetreten war, als seine Beschützerin noch einmal ihn anredete. Ihr schönes Gesicht hatte den Zug des Zornes verloren und lächelte ihm zu, als sie ihm die Hand reichte, die er ehrerbietig mit seinen Lippenspitzen zu berühren wagte.
»Leben Sie wohl, Herr Stibs,« sagte sie, »und nehmen Sie unsern Dank mit. Sollte ich je etwas thun können was Ihnen angenehm wäre, so rechnen Sie darauf, daß es gern geschieht.«
»Ihr unterthänigster Knecht, Madame, entgegnete Stibs verwirrt. »Jeder Ihrer Befehle wird mein wahrhaftes Glück sein.«
»Und bis dahin behalten Sie uns in guter Erinnerung,« fuhr die schöne Dame lachend fort.
»Bis zu meinem letzten Athemzuge!« rief Stibs mit Begeisterung und einer graziösen Verbeugung, bei der er sich gegen den ganzen Kreis drehte. »Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Eine allgemeine Lustigkeit schien die Gesellschaft zu ergreifen, denn lautes, vielstimmiges Lachen schallte ihm nach, als er sich entfernte.
»Sie haben Ihre Sache vortrefflich gemacht, mein theurer Freund,« sagte der Graf, der ihn begleitete, »nehmen Sie meine Bewunderung und meinen aufrichtigen Dank.«
»Aber jetzt, da ich mein Versprechen gelöst habe,« entgegnete der Buchhalter zuversichtlich, »erfüllen Sie auch das Ihre: Lassen Sie mich jetzt nach Hause gehen.«
»Nur noch einen Augenblick gedulden Sie sich,« antwortete der Officier. »Bleiben Sie hier im Vorzimmer, aber machen Sie keinen unnützen Versuch, sich zu entfernen. Man würde Sie augenblicklich festhalten, und es sollte mir leid thun, wenn Sie Unannehmlichkeiten hätten. Ich kehre zurück und bin sogleich wieder bei Ihnen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sich der Graf, und Stibs blieb in Trauer versenkt stehen. – Er zog seine Uhr heraus, sie zeigte auf zehn; mit einem tiefen Seufzer dachte er an Herrn Reike.
»Was ich Alles erlebt habe in einer einzigen Stunde!« murmelte er, »es ist merkwürdig! Und noch wäre es Zeit, noch könnte sich Alles zum Guten wenden, ich käme zurecht, und wollte vergessen, was mir widerfahren. – Vergessen?« sagte er mit Pathos, »nein, Stibs, das ist unmöglich; aber ich würde es nach und nach in meinem Kopfe beherbergen können, der jetzt wie eine Kaffeemühle rasselt und nichts fassen kann. Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich? Und was wird aus mir werden, wenn ich noch länger in dieser Ungewißheit bleibe!« –
Er lauschte an der Thür und öffnete sie leise, aber er drückte sie schnell wieder zu, als er draußen wohl ein halbes Dutzend in Mäntel gehüllte Männer erblickte. Sein Herz schlug heftig, und seine Angst mehrte sich mit jedem Augenblicke.
»Es muß ein mächtiger Herr sein,« flüsterte er sich zu, »der hier wohnt, und ich hätte wirklich Furcht, wenn die schöne Dame nicht wäre, die mir auf keinen Fall ein Leid thun lassen wird. – Ich habe sie auch schon gesehen irgendwo, nein, ich irre mich nicht – wo war es? himmlischer Vater! – Auf dem Maskenballe!« sagte eine Stimme mitten in seinem Kopfe, und ein lähmendes Entsetzen erschlaffte alle seine Glieder. – Er stand wie vom Blitz getroffen; plötzlich holte er tief Athem und schlug sich vor die Stirn.
»Narrenpossen, wahnsinniger Gedanke!« schrie er halblaut, »ich glaube wirklich, es ist aus mit meinem Verstande. Es ist ja unmöglich, ich – ich – o ich Esel, wie kann ich mir einbilden … haha! es ist luftig, ganz ungeheuer lustig.«
Mitten in seinem Lachen erblickte er den Grafen, der rasch zurückkehrte, von einem anderen, älteren Herrn gefolgt, dessen Uniform und strenge Amtsmiene einen vornehmen Beamten verkündigte.
»Jetzt, Herr Stibs,« sagte der Graf, »stehe ich zu ihren Diensten und werde die Ehre haben, Sie selbst zu begleiten.«
»Es würde mir weit angenehmer sein,« entgegnete der Angeredete bedenklich, »wenn ich …«
»Auf keinen Fall,« fiel der Graf ein, »Sie dürfen nicht allein gehen, wir begleiten Sie beide, ich und dieser Herr, der sich unendlich auf Ihre Bekanntschaft freut.«
Er leitete den fügsamen Mann hinaus und in aller Eile über den Vorsaal zum Hofe, wo der Wagen, der ihn hergeführt, noch an derselben Stelle stand. Während er einstieg und der Graf sich an seine Seite setzte, flüsterte der unbekannte Herr mit den verdächtigen Personen, welche als Polizeibeamte den Buchhalter verhaftet und in diesen Palast geschafft hatten, was einen abermaligen traurigen Verdacht und argen Aufruhr in Stibsens Seele erregte.
»Ich kann nicht denken,« sagte er bittend, »daß man von Neuem mich beschädigen will, mein gnädigster Herr.«
»Auf mein Wort, Sie sind so sicher, wie in Abraham's Schooße,« entgegnete der Graf.
»Aber,« fuhr Stibs fort –
Doch er schwieg, denn der unbekannte Herr, nachdem er sich in seinen Mantel gewickelt, sprang in den Wagen und rief dem Kutscher ein befehlendes Vorwärts! zu, das den Buchhalter einschüchterte. Er wagte nicht weiter zu fragen und sank in seine Ecke zurück. Seine beiden Begleiter sprachen leise, und das Rasseln der Räder hinderte den ängstlich Horchenden, das Geringste zu verstehen. –
Plötzlich aber wendete sich der Fremde zu ihm hin.
»Ich werde es ihm begreiflich machen,« sagte er laut und ein wenig rauh. »Herr Stibs, Sie schlafen doch nicht?«
»Keineswegs, ich bin ganz erstaunlich munter, mein theurer Herr!« schrie der Buchhalter zurück.
»Sie wünschen ohne Zweifel, nach Hause zu fahren?« fragte der Herr.
»O, von Grund meines Herzens!.« rief Stibs erfreut.
»Ich bürge Ihnen dafür; allein zuvörderst bitte ich um eine geringe Gefälligkeit.«
»Mit dem größten Vergnügen,« sagte der höfliche Mann.
»Sie sollen uns selbst den Wandschrank zeigen, in welchen Ihrer Angabe nach der Chevalier die bewußten Papiere legte.«
»Gerechter Gott!« schrie Stibs vernichtet in seinen Hoffnungen, »soll ich denn immer wieder ein Spielball des Schicksals sein? Ach, mein Herr Graf, Sie haben mit Ihrem Ehrenworte mir zugeschworen, daß ich frei von dannen ziehen kann, und ich habe Geschäfte der wichtigsten Art, an denen mein ganzes irdisches Glück hängt; wollen Sie nun,« rief er verzweiflungsvoll, »Ihr gegebenes Wort brechen und mich in neues Unglück stürzen?«
»Ich verzeihe Ihnen diese Beleidigung, mein werther Freund,« entgegnete der Officier gelassen, »und versichere Ihnen, hinge es von mir ab, so sollten Sie keine Minute länger aufgehalten werden; allein dieser Herr …«
»Was will dieser Herr?« rief Stibs zornig; »wer ist dieser Herr? Ich gehe nicht, ich will nicht, ich habe nichts mit ihn zu schaffen.«
»Seien Sie still,« sagte der Herr im Mantel, »Sie sollen nur wenige Minuten aufgehalten werden. Eine hohe Person,« fuhr er fort, »hat mir den Befehl ertheilt, Sie zu ersuchen, lieber Herr Stibs, uns Allen diesen kleinen Dienst zu erweisen, den Sie als ein rechtschaffener Mann und guter Bürger nicht verweigern werden. Im übrigen, damit Sie wissen, wer diese Bitte an Sie stellt: ich bin der Polizei-Präsident von Berlin.«
Bei dieser unerwarteten Enthüllung prallte Stibs zurück; er war gänzlich fassung- und sprachlos geworden, und ehe er sich, besinnen konnte, hielt der Wagen still. In einem Augenblicke waren seine Begleiter auf der Straße, der Graf half ihm heraus; von Bock und Tritt sprangen zu Stibsens Schrecken vier Bewaffnete. Ihm blieb kein Zweifel, daß er sich dicht vor dem Hause befand, in welches er den Brief getragen hatte.
Als er den Kopf emporhob, kam es ihm vor, als sähe er an den Scheiben des einen matt erleuchteten Fensters ein Gesicht, das aus dem verschobenen Vorhang blickte und dann schnell verschwand. Aber nach einer Minute wiederholte sich die Erscheinung, und wunderbarer Weise glaubte Stibs jetzt die Umrisse eines bekannten Kopfes zu erkennen, oder seine Phantasie spiegelte ihm eine Ähnlichkeit vor.
»Es ist Herr Reike jun.!« rief er halblaut, »gütiger Himmel, wie kommt der hieher?«
»Was giebt es?« fragte der Präsident hastig.
»Es sah Jemand durch den Vorhang auf die Straße,« sagte der Graf mit dem Fuße stampfend. »Sie sind wach; bei allen Teufeln, der Spaß ist halb verdorben! Wir hätten diese tugendhafte Madonna in den Armen ihres Joseph überraschen können.«
»Schafft den Schlüssel herbei!« rief der Beamte, »rasch! wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Man hatte den Nachtwächter aufgesucht, der jetzt die Thür des Hauses öffnete. Zwei der Polizeidiener blieben dort stehen, die beiden anderen zogen kleine Laternen unter ihren Mänteln hervor und leuchteten die Treppe hinauf.
»Sobald dieser Herr zurückkehrt,« flüsterte der Präsident, indem er auf Stibs deutete, »so laßt ihn seine Wege gehen. Niemand weiter kommt aus dem Hause.« –
Leise und vorsichtig stieg man die Stufen hinauf; der Graf folgte dem Präsidenten, Stibs schritt dicht hinter ihm, die handfesten Wächter machten den Schluß. Alles war nächtlich still, und schweigend deutete der Graf auf die Hauptthür, durch welche er häufig als Gast und Freund eingetreten war. Sein schönes, stolzes Gesicht war von einem Hohne erfüllt, der kaum den Augenblick erwarten konnte, von dem er volle Sättigung hoffte; die rachsüchtigen Blitze seiner Augen zuckten spähend nach allen Richtungen.
»Die Thür ist verschlossen,« sagte der Präsident, indem er mäßig stark klopfte und an dem Drücker rüttelte. »Wenn man uns wirklich gesehen hat, wird man so lange wie möglich zögern.«
»Und verbergen oder vernichten, was wir suchen!« rief der Officier laut und heftig. »Ich denke, wir sind fertig mit der Vorsicht. – Aufgemacht im Namen des Königs!« fuhr er fort, indem er mit dem Degengefäß gegen die Thür stieß, daß sie wankte.
»Im Namen des Gesetzes, öffnet!« fügte der Präsident auf Französisch hinzu. Es erfolgte keine Antwort.
»Stoßt die Thür ein,« sagte er, »wir dürfen ihnen keine Zeit lassen.«
Die beiden Polizeidiener rannten mit voller Macht dagegen an; krachend sprangen die Flügel auf, Alle drangen ein.
»Dort hinter dem Lehnstuhle ist das Spind!« rief Stibs.
Der Graf riß den Stuhl fort; von einem Stoße seines mächtigen Fußes brach der Wandschrank zusammen, eine Menge Papiere fiel heraus.
»Da haben wir die Briefe!« rief er, »aber wo sind die edlen Empfänger und Schreiber!«
Er klopfte an Alice's Zimmer zur Rechten.
»Zum zweiten Male muß ich Ihre Schäferstunde stören, mein holdseliges Fräulein, und wie tief beklage ich es!«
Mit diesen Worten öffnete er und schrie mit wildem Laden:
»Das Nest ist dunkel und leer, wir müssen die Vögel weiter aufsuchen. Eine Jagd! Holla! aber ich kenne die Schlupfwinkel, nur mir nach!«
So eilte er durch das Zimmer, hinter ihm folgten die Häscher und ihre Anführer mit derselben Begier; nur Stibs blieb zurück, und nach einem Augenblicke stand er mitten in der Finsterniß, zwischen gesprengten Thüren und umgeworfenen Stühlen, voller Schrecken und Besorgniß. Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke.
»Ich habe alles gethan, was sie von mir verlangten,« murmelte er, »Doch jetzt …«
Er tappte an der Wand hin und erreichte die Thür. Die Bewohner des Hauses waren aufgewacht; Geschrei und Lichtschein zeigte von mehreren Seiten des Gebäudes die herrschende Unruhe, unten auf dem Flur scheuchten die beiden Polizeisoldaten mit gezogenen Säbeln einige halbbekleidete, erschrockene Mägde und Diener zurück, welche, aus den Betten gesprungen, wissen wollten, was hier vorgehe; als jedoch Herr Stibs die Treppe hinunterschlüpfte, machten sie ihm Platz, öffneten die Thür und ließen ihn ohne den geringsten Widerspruch, ja, ohne ein Wort zu sagen, heraus, worauf er seine Rockschöße zusammennahm und mit aller ihm zu Gebote stehenden Schnelle davonrannte.
Erst als er völlig athemlos war, blieb er stehen und lehnte sich an ein Gemäuer, während er mit beiden Händen seine heftig stechenden Seiten hielt. So erschöpft er sich fühlte, so beglückt und dankbar war sein Gemüth; denn er sah sich entronnen den Händen der Verfolger und Sbirren, die, Gott weiß, welche Bosheit und schadenfrohe Lust noch an ihm verübt hätten.
»Ich Danke Dir, mein Herr und Vater,« murmelte er mit halbgeschlossenen Augen, »der Du mich erlös't hast aus den Händen der Rotte Korah, vor der ein Jeder gnädiglich behütet sein möge; aber, ach! wohin bin ich gerathen?«
Herr Stibs raffte sich plötzlich in die Höhe, denn hoch über seinem Haupte ertönte ein dumpfes Summen, und ein Glockenschall erschütterte die Luft, der wie Musik in sein Ohr drang.
»So wahr ich lebe!« rief er, »das ist der Thurm von St. Nicolai; da drüben steht er, und dort liegt der Kirchhof. Die Hand des Erbarmens hat mich geleitet, und nun …«
Er zählte die Glockenschläge, und als sie mit dem elften schwiegen, sprang er entzückt auf, lief an dem Kirchhofe hin und stand in zwei Minuten vor dem mächtigen Hause des verehrten Compagnons.
Im oberen Stockwerk brannte noch Licht, und durch das Fenster des Thorweges brach der Schimmer der Flurlampe. –
»Es fügt sich Alles noch in Gnaden, »sagte Stibs, zum ersten Male wieder lächelnd; »es wäre merkwürdig, wenn ich trotz aller dieser schrecklichen Commercien doch zur rechten Zeit käme.«
Mit furchtsamer Hand ergriff er den Klopfer, und kaum hatte er einige leise Schläge gethan, als die Thür geöffnet wurde.
»Guten Abend, Christian,« flüsterte Herr Stibs, »ist Herr Reike im Comtoir?«
Bei der Verneinung seiner Frage fühlte sich der Buchhalter ganz erleichtert.
»Der Herr hat so eben die Schlüssel heruntergeschickt,« sagte der alte Mann, »ich soll es ihn wissen lassen, wenn Sie hier sind.«
»Dann gehe Er hinauf, lieber Christian, versetzte Stibs sehr freundlich, 2aber erst schließe Er auf.«
Das Comtoir wurde geöffnet, Christian zündete eine der Lampen an, und während Stibs sich auf den Reitbock setzte und sein sorgenvolles Haupt mit beiden Händen stützte, warf der alte Diener von Zeit zu Zeit Blicke der Verwunderung und Neugier auf ihn; da er aber keine Frage wagte, ging er endlich mit stillen Betrachtungen über das Unerhörte davon.
Erst nach einer langen Pause fuhr Stibs aus seinem Brüten empor, und sah verstört über den großen, öden Raum. Die Ampel schwankte hin und her und flackerte im wilden Wechsel von Licht und Schatten über die verschiedenen Gegenstände. Stibs hielt sie fest, und wie er kühn in alle Winkel und Ecken blickte, kam ein beseligendes Gefühl über ihn: das Gefühl der heimathlichen Ruhe, des Besitzes und der inneren Zufriedenheit.
Alles, was er sah, sollte mit Eigenthumsrechten ihm künftig angehören, er war der Erbe von Allem, der Herr dieser großen Zahlenbücher, Herr von Gold und Schätzen, die ihm dienten, und alle Thore der Zukunft sprangen vor ihm auf und ließen ihn einen Blick in ein geheimnißvolles Jenseits thun, welcher Thränen der Rührung und Freude ihm abpreßte.
»Ich glaube wahrhaftig, ich weine,« sagte er, »aber ich wünsche allen Menschen diese Art Thränen. – Still, – er kommt,« fuhr er dann fort, »kein Wort, Stibs, keinen Laut von dem, was du erlebt hast! Er soll es erfahren, aber nicht heut, später … vielleicht morgen, oder am heiligen Christabend nach der Hochzeit. Hochzeit? Es ist merkwürdig!
Der alte Herr trat mit einem Lichte in der Hand und mehreren Schriften herein. –
»Nehmen Sie es nicht übel, Herr Stibs, daß ich Sie warten lasse,« begann er; »ich war bis jetzt mit unserer Angelegenheit beschäftigt.«
Der kleine Mann verbeugte sich und versteckte dabei die unbezwingliche Freude, welche seine Mienen ausdrückten.
»Ich denke, wir wollen rasch zu Stande kommen,« sagte Herr Reike; »denn ich hoffe bestimmt, Sie werden mit mir zufrieden sein. Nehmen Sie das Hauptbuch und folgen Sie mir.«
»Mit dem größten Vergnügen,« erwiederte Stibs, indem er das große Buch ergriff, und Beide traten in das mysteriöse Cabinet.
Der scheue Blick, den Stibs über die dunklen Wände warf, weil ihm alte Geschichten einfielen, blieb dem Handelsherrn nicht unbemerkt.
»Sie fürchten sich doch nicht?« fragte er mit seinem kalten Lächeln, das noch mehr erschrecken konnte.
»Ich?« rief Stibs, »durchaus nicht, nicht im Geringsten.«
»Es ist auch nichts hier geschehen, was Sie beängstigen könnte, mein lieber Freund,« sagte der alte Herr, »denn Freund muß und will ich Sie von jetzt an nennen. Was Sie mit mir an dieser Stelle erlebten, betrifft mich allein; eine Mittheilung, welche mir selbst wohl thun wird, will ich Ihnen nicht vorenthalten; zuvörderst aber lassen Sie uns das Geschäft abschließen.«
Er schlug das Hauptbuch auf und betrachtete den letzten General-Abschluß über sein Vermögen.
»Sie wissen genau, Herr Stibs, wie es mit mir steht,« sagte er, und deutete mit dem Finger auf die vollwichtige Zahl.
»Ich weiß es aufs allerbestimmteste,« versetzte Stibs.
»Nun, wohlan,« fuhr Herr Reike fort, »von hier aus schließt sich mein Saldo ab, und aller Gewinn entsteht künftig für uns gemeinsam zu gleichen Theilen unter der Bedingung, daß die Hälfte des Vermögens Ihrer zukünftigen Eheliebsten im Geschäfte bleibt. Sind Sie damit zufrieden?«
»Vom Grunde meines Herzens,« entgegnete Stibs.
»Der Vermögensnachweis meines bisherigen Mündels ist hier,« sagte der alte Herr …
Er suchte unter den Papieren und fand ihn nicht.
»Es ist in meinem Zimmer geblieben,« sprach er sich anklagend, »ich muß ihn vergessen haben; so schwach kann uns der Kummer machen.«
Er nahm das Licht und stand auf.
»Ich werde ihn sogleich holen, verziehen Sie einen Augenblick.« –
Stibs wagte nicht zu widersprechen, als aber Herr Reike hinaus war, rieb er sich erfreut die Hände.
»Es geht Alles vortrefflich,« flüsterte er halblaut; »Herr Stibs – Ihr Vermögen – Ihre Eheliebste – Ihr Saldo – glückseligster Stibs! Es ist merkwürdig, wie ein paar Stunden einen ganz neuen Menschen machen können; und Mademoiselle Marie, mein himmlisches Mariechen – mein kleines Weibchen! mein herzallerliebstes Engelchen! mein Zuckeräffchen …«
Hier sprang Stibs auf und lauschte mit angehaltenem Athem, vorgebeugt und tödtlich erschreckt.
»War es mir doch,« sagte er leise, »als hörte ich etwas rauschen und neben mir lachen, und ich hätte in Versuchung gerathen können, zu glauben, es sei Mademoiselle Marie selbst.«
Mit zwei raschen Sprüngen war er aus dem Cabinet und stand in dem erleuchteten Comtoir.
»Ich bin ein Narr,« sagte er, sich Muth einsprechend, »aber es ist ein unheimliches Gemach, das da mit seinem spitzen, düstern Bogengewölbe. Der alte Mathieu hat, wie eine Unke, darin sein Leben lang gesessen; er rumort dort zu Zeiten,« fügte er leise schaudernd hinzu, »und noch kann ich nicht begreifen, wie es möglich war, daß die unbekannte Dame … dem Himmel sei Dank! Da kommt Herr Reike zurück, ich glaube wirklich, ich könnte es nicht länger allein hier aushalten.«
Herr Stibs wußte nicht, ob das Geräusch, das er hörte, auf der Straße oder auf dem Hausflur war, aber er sprang nach der großen Eisenthür und stieß sie in dem Augenblicke auf, wo sie von außen hastig geöffnet wurde.
»Gott sei mir gnädig!« murmelte er erbleichend und zurücktaumelnd, »was ist das? Barmherziger Himmel! ich kann nicht mehr!«
Er hielt sich mit beiden Händen an dem Reitbocke, und, war es Geisterspuk der Mitternachtstunde, die so eben sich ankündigte, war es ein höllisches Traumbild, das ihn berückte, er glaubte leibhaftig die unbekannte Dame vor sich zu sehen, in ihren schwarzen Mantel gehüllt, an der Hand einen Herrn führend, im Nachtgewande, ein Tuch um den Kopf gewickelt, dessen auffallende Gesichtsbildung ihn sogleich an den Mann erinnerte, dessen Geheimniß er verrathen hatte. Und hinter diesem Paare stand Herr Reike jun., erhitzt, mit flatterndem Haar und rollenden Augen.
Ganz dicht an dem tödtlich entsetzten Buchhalter streifte die Dame hin, und drohend hob sie den Arm aus der dunkeln Umhüllung. Stibs wollte schreien, aber eine dumpfe Stimme flüsterte ihm zu:
»Sie sind des Todes, wenn Sie einen Laut wagen!«
Im Augenblick erlosch die Lampe über Stibsens Kopfe, und wirklich mußten ihm die Sinne entschwunden sein, denn er sah und hörte nichts mehr, und empfand erst von Neuem eine Art Bewußtsein, als Herr Reike sen. vor ihm stand und ihn ziemlich unsanft an den Schultern rüttelte.
»Sind Sie so müde, Herr Stibs,« sagte der alte Herr verdrießlich, »so thäten wir besser, unser Geschäft abzubrechen.«
»Die Lampe,« flüsterte Stibs mit Anstrengung.
»Sie ist ausgegangen,« fiel der Kaufmann ein, »und wahrscheinlich sind Sie eingeschlafen und haben sogleich entsetzliche Dinge geträumt.«
»Ja, es muß ein Traum gewesen sein,« sagte Stibs, die zitternden Hände an seine Stirn legend, »es ist unmöglich!«
Der alte Herr sah ihn mit einem seiner forschenden, durchdringenden Blicke an, aber er fragte nicht weiter. Es war gewiß, daß irgend etwas Schreckliches hier vorgegangen war, er wollte es jedoch nicht wissen. Er faßte den bebenden Arm des Buchhalters und sagte beruhigend:
»Kommen Sie, lieber Stibs, wir haben keine Zeit zu verlieren, es soll baldigst abgethan sein zwischen uns; dann ruhen Sie aus, daß Übrige morgen.«
Stibs folgte, wie ein Opferlamm. An der Thür des Cabinets ergriff ihn neuer Schauder. Das einsame Licht glitt mit mattem Schein über die enge Halle, und in jeder ihrer düstern Ecken glaubte der arme, kleine Mann den fürchterlichen Spuk zu entdecken, der sich unbeweglich an die Wand schmiegte.
»Ah, mein Gott!« stöhnte er, »verehrtester Herr Reike, Sie wissen nicht, was mir geschah.«
»Still,« gebot der alte Herr mit tiefem Ernst; »setzen Sie sich hier, so; hier ist das Papier, das uns die nöthigen Aufschlüsse giebt. Die Hälfte der Mitgift Ihrer Eheliebsten bleibt also im Geschäft; es wird die Summe sein, welche wir hier angegeben finden, und nun frage ich Sie nochmals, ob Sie damit völlig einverstanden sind.«
»Durchaus völlig einverstanden, liebwerthester Herr,« flüsterte Stibs, unstät umherblickend.
»So wären wir mit dem Hauptpuncte im Reinen, mein theurer Freund,« fuhr Herr Reike bewegt fort, »und jetzt nehmen Sie meinen aufrichtigsten Glückwunsch. Ich hoffe, die Zukunft wird reichen Segen für Sie haben; an der Seite einer treuen, guten Hausfrau, werden Sie noch lange und frohe Lage erleben.«
Stibs murmelte eine Danksagung, die von seiner tiefen Angst halb verwirrt und halb erstickt wurde. Er war in einem Zustande von Furcht und Entsetzen, der es ihm leicht gemacht hätte, Mademoiselle Marien, die Compagnonschaft und alle seine Hoffnungen und Entwürfe für sein augenblickliches Entkommen aufzugeben. Die tonlose Stille der Mitternacht, welche alles Leben verschlungen hatte, war gar zu grausig. Nichts regte sich, und doch mußten Wesen, Bewohner des Himmels oder der Hölle, hier umherschweben, die kein menschliches Auge entdecken konnte.
Eine schmerzliche Sehnsucht nach seinem Bette mit den gelben Vorhängen, nach dem alten Großvaterstuhle, nach dem Nußbaumspinde mit den drei Beinen, nach der guten Frau Margarethe, ach nach seinem ganzen behaglichen, verlorenen Frieden ergriff ihn, und in einem Anfalle von Delirium sprang er plötzlich auf seine Beine und wäre davongelaufen, wenn ihn der befehlende Wink des alten Herrn nicht festgebannt hätte.
»Setzen Sie sich noch einen Augenblick,« begann dieser; »ehe Sie scheiden, hören Sie noch einige Worte.« –
Der Gehorsam siegte über das inbrünstige Verlangen des kleinen Mannes, er fiel in den Sessel zurück, und die kalte knöcherne Hand seines Wohlthäters legte sich eisig auf seine glühenden Finger. –
»Es geschieht nicht oft in der Welt,« sagte Herr Reike langsam und laut, »daß das Glück den Menschen erst in der letzten Hälfte seines irdischen Daseins sucht und findet. Gewöhnlich steht es schon an der Wiege der auserwählten Sterblichen, giebt ihnen zärtliche Eltern, sorgsame Freunde oder Reichthum, Ehren und Geburtsvorzüge, und während es tausend Arme und Elende unter Noth und Thränen durch ein trübseliges Dasein verlassen umherirren und in Hunger und Schande enden läßt, weiß es seine unwürdigen Lieblinge mit unverdienten Kränzen zu schmücken. Wir beiden, mein lieber Stibs, haben ein verwandtes Loos gezogen, und darum sind Sie mir werth geworden. Im Schooße des Elends und der Armuth geboren, verwais't in früher Jugend und in die Welt gestoßen ohne Hülfe, rang ich mit dem Schicksale, das auch mich, wie so viele Andere, verderben wollte. In diesem fortgesetzten Kampfe gingen vierzig Jahre meines Lebens dahin; aber meine Thätigkeit, mein Muth, meine Ausdauer trotzten endlich dem launenhaften Glück eine unverhoffte Gunst ab. Fünfzehn Jahre lang war ich in diesem Hause das, was Sie mir bis jetzt waren, der Buchhalter des alten, strengen Mathieu, eines Mannes von hoher Ordnungsliebe, unerschütterlicher Redlichkeit und einer eisernen, unbeugsamen Willenskraft. Ich diente ihm mit Eifer und Treue, und wenn Mathieu überhaupt einem Menschen auf Erden sein Vertrauen schenken konnte, so war ich vorzugsweise damit belohnt. Seine Tochter und sein Schwiegersohn waren früh gestorben, zwei Enkelinnen wurden im Hause erzogen, und ich läugne nicht, daß die jüngste derselben, Claudia genannt, als sie zur Jungfrau heranwuchs, große Unruhe in mein Herz brachte.«
Die Neugier, mit welcher Stibs diese geheime Geschichte des Hauses Reike hörte, verminderte seine Angst. Er betrachtete forschend den alten Herrn, der einen Augenblick inne hielt und dann mit gedämpfter Stimme fortfuhr:
»Was ich war, war ich durch mich selbst geworden, unter Arbeit, Sorgen und Mühen. Der Ernst des Lebens hatte meine Stirn gefaltet, mein Haar dünn gemacht und mir die leichte Beweglichkeit der Jugend vorzeitig abgestreift. Mit solchen Eigenschaften konnte ich einem jungen, thörichten Mädchen nicht gefallen, wenn es auch wahr sein mag, daß ich durch andere Vorzüge Achtung erringen mochte. Es verging ein Jahr, und Mathieu merkte, was in mir vorging. Claudia war sein Liebling, es reifte ein Plan in ihm, der ihm Freude machte. Sonntags saß ich an seinem Tische, nun lud er mich öfter ein, und mit einigen hingeworfenen Worten suchte er mich zu ermuntern; allein ich zögerte. Denn erstens war ich arm, und ich sagte mir, der Antrag müsse von ihm kommen; zweitens wollte ich Gewißheit haben, ob Neigung für mich in Claudia sei, und drittens konnte ich diese nicht entdecken. So ging ein Jahr hin, in welchem ich ihr wenig näher trat; obwohl ich dann und wann Hoffnungen schöpfte und in kleinen Geschenken, in Blumensträußen und dergleichen meine Neigung zu erkennen gab. Da erschien ein junger Franzose in diesem Hause, einer jener Abenteuerer, welche damals scharenweise in unser Land strömten, um bei dem großen Könige Friedrich, der ihr Volk so seltsamlich bevorzugte, Gold und Glück zu suchen. Diese Menschen waren eine Plage für Preußen geworden; sie drängten sich überall ein, wurden überall begünstigt, angestellt, mit Ehren belohnt, und brachten als Gegengeschenk uns ihre leichtfertigen Sitten, ihre Verderbtheit, Aufgeblasenheit und ihre raffinirten Projecte für Handel und Staatsverwaltung mit, die so viel Schaden anrichteten und Mißmuth erregten. Was mir in Jahren nicht gelingen wollte, gelang diesem Fremdling in wenigen Tagen und Wochen. Er machte eine alte Verwandtschaft seiner Familie mit den Mathieu's geltend, wurde freundlich aufgenommen und vergalt die Arglosigkeit damit, daß er ein Liebesverständniß mit Claudia anspann. Ich sah es eher, als der Großvater, aber ich schwieg und zog mich zurück.« –
Hier verstummte Herr Reike. Sein düsterer Blick irrte in dem öden Raume umher, die bleichen, faltigen Züge seines Gesichts rötheten sich von schmerzlichen Erinnerungen.
»Ich habe entsetzliche Dinge von jener Entdeckung erzählen hören, mein theurer Herr,« sagte Stibs furchtsam.
»Schande zur Sünde!« murmelte der alte Herr mit hohler Stimme, »so will es Gottes Strafgericht! – Eines Abende arbeitete ich hier spät, als aus diesem Cabinet Geschrei und Hülferuf erscholl. Ich riß die Thür auf, da stand der alte Mathieu einem Rasenden gleich. Claudia lag vor ihm auf dem Boden, ihr langes Haar hatte er um seine eine Hand gewunden und sie niedergerissen, mit der andern umklammerte er ihren Hals. Seine Augen waren weit hervorgetreten, in wahnsinniger Mordlust glänzend auf ihre blutig starren Augen gerichtet; er wußte nicht, was er that. Ich riß das Opfer aus seiner Macht und wehrte ihn ab; aber nur mit Mühe gelang es mir. Mehr als einmal versuchte er, sich von Neuem auf sie zu stürzen, und nur verworrene Schmähungen und Verwünschungen kamen über seine Lippen. Endlich trug ich sie hinaus und übergab sie ohnmächtig und blutig, wie sie war, der Pflege ihrer Schwester und ihrer Dienerin. Mathieu blieb in dem Cabinet, ich wartete vergebens; er hatte es von innen verriegelt und verschlossen und antwortete nicht auf mein Klopfen. – Welche schreckliche, traurige Nacht verlebte ich! Als ich am Morgen hier wieder erschien, ward ich hinaufgerufen in das große Wohnzimmer. Mathieu erwartete mich, und neben ihm stand seine zweite Enkelin, die älteste der Schwestern, Jungfrau Catharine. Ich habe ihm einen Vorschlag zu machen, Mosje Reike, sagte er mit seiner harten, strengen Stimme. Ich bin alt und habe keinen Erben, als dies Mädchen. Will Er mit ihr in den Stand der heiligen Ehe treten und mein Compagnon werden?«
»Was ist aus Claudia geworden, Herr Mathieu?« rief ich von Angst erfüllt.
»Sie ist davongelaufen mit ihrem Galan,« sagte er kalt. »Sie hat mich bestohlen, betrogen und verrathen; ihr Name ist ausgelöscht aus meinem Gedächtnisse, nicht einmal mein Fluch soll sie begleiten. Will er meinen Vorschlag annehmen, so schlage Er ein.
Ich schlug ein,« fuhr der alte Herr fort, »und ich bin Catharinens Gatte, der Erbe und Nachfolger Mathieu's geworden, wie dies wohl bekannt ist.«
»Überall wohl bekannt, an allen Handelsplätzen,« sagte Stibs, »der unbestritten einzige Erbe, auf den die Firma überging, da höchst wahrscheinlich jene leichtsinnige, junge Dame auf immer verschollen war.«
»Nie hat Mathieu ihren Namen wieder ausgesprochen,« entgegnete Herr Reike. »Claudia, so erfuhr ich von meiner Frau, war in der Nacht verschwunden. Sie hatte Alles mit sich genommen, was ihr Eigenthum war, vielleicht sogar manches, was ihr nicht gehörte, an Gold und Schmuck und werthvollen Dingen. Der Großvater schwieg und ließ sie sammt ihrem Buhlen entfliehen, der sie mit sich nach Frankreich führte. Aber böse Gerüchte verbreiteten sich. Man flüsterte sich zu, der strenge, stolze Mann habe sie erwürgt und heimlich verscharrt. Bald sagte man es laut, das Gericht schritt ein, er mußte sich vertheidigen; es war eine schmähliche, tief kränkende Untersuchung, die seinen Haß aufs Höchste steigerte. Der Proceß ward durch einen Cabinetsbefehl des großen Königs, an den sich Mathieu persönlich wandte, niedergeschlagen, aber die schändenden Gerüchte dauerten fort und nagten an seinem Leben. Zwei oder drei Briefe sind, so viel ich weiß, aus Frankreich an ihn gekommen, er warf sie ungelesen ins Feuer, und immer menschenfeindlicher und unzufriedener mit Aller Welt, nahm er zu in Zorn und Bitterkeit, so daß wir Alle viel zu leiden hatten von seinem Eigensinne und seiner heftigen Gemüthsart, bis er eines Tages hier in diesem Sessel todt gefunden wurde.«
Der alte Herr deutete auf den Lehnstuhl, in welchem Stibs begierig horchend saß, der jetzt erschrocken sich erhob und mit ungewissen Blicken das verschabte Lederpolster anstierte. –
»Hier,« sagte er mit ängstlicher Stimme, »hier ist er also gestorben?«
»Plötzlich gestorben,« entgegnete Herr Reike, »um uns in mancherlei Wirrsal zurückzulassen. Solange er lebte, war er mißtrauisch und bewachte sein Ansehen und Vermögen mit übermäßiger Eifersucht und Gier. Als er gestorben war, ließ sich mancherlei nicht enträthseln. Bedeutende Summen fehlten, es fand sich kein Nachweis, wo sie geblieben, auch ist mein späteres Bemühen, irgend eine Kunde zu erhalten, wo und wie Claudia geendet hat, stets fruchtlos geblieben.«
»Es ist eine schreckliche Historie,« sagte Stibs; »aber da kein Mensch weiß, wie es mit ihm endet …«
Hier wurde seine Rede durch ein heftiges Poltern und Schlagen unterbrochen, das von draußen hereindröhnte.
»Was ist das?« rief er entsetzt, »da geht es von Neuem los! Um Gottes willen, wir sind verloren!«
Herr Reike war aufgestanden und horchte auf den Lärm. Stibs klammerte sich in Todesangst an ihn fest.
»Gehen Sie nicht!« schrie er, »theuerster Herr, gehen Sie nicht hinaus, höllische Geister und Hexen treiben da ihr Wesen!«
»Er ist von Sinnen!« sagte der alte Herr. »Man schlägt an den großen Klopfer, und wie es scheint, sind mehrere Menschen vor dem Hause.«
Mit dem Lichte in der Hand schritt er durch das Comtoir und öffnete die Thür. Der Hausdiener war aus seinem Schlafe erwacht und stand verstört und horchend an der inneren Seite.
»Was giebt's da, Christian?« fragte Herr Reike laut.
»Aufgemacht!« rief eine drohende Stimme draußen, »wir müssen hinein.«
»Wer da?« fragte Christian, so wild er konnte.
»Die Polizei!« war die Antwort. »Macht keinen unnützen Lärm und öffnet.«
»Es ist die Polizei,« flüsterte der alte Mann, indem er nach seinem Herrn umblickte und die Hand. an den Riegel legte.
»Schließe auf,« sagte dieser ruhig.
Die Thür öffnete sich weit, und mit Verwunderung erblickte Herr Reike einen ganzen Trupp bewaffneter Männer, der rasch in sein Haus drang. An ihrer Spitze war der Graf, den er erkannte, und dessen Begleiter, der den Mantel zurückschlug und grüßend seinen Hut lüftete.
»Es ist ein später, überraschender Besuch, den wir Ihnen machen müssen,« sagte der Herr, »allein er ließ sich nicht vermeiden.«
»Ich bitte mich zu belehren, was diese nächtliche Friedensstörung bedeutet,« entgegnete der Handelsherr mit Würde.
»Ich denke, Sie kennen mich, Herr Reike,« fuhr jener fort, indem er ins Comtoir trat und sich vor den Kaufmann stellte.
»Herr Präsident,« sagte dieser erstaunt, »ja, ich kenne Sie jetzt, obwohl ich nicht begreife, was die Ursache Ihres Besuches sein kann.«
»Wirklich nicht?« fragte der Beamte scharf und lächelnd. »Mein lieber Herr Reike, es wäre mir in der That lieb, wenn Sie sich darauf besännen.«
»Sie sprechen in Räthseln,« entgegnete der alte Herr, ihn prüfend; aber eine sichtliche Unruhe machte seine Stimme unsicher, denn plötzlich kam ein Gedanke über ihn, der ihn blitzartig erschütterte. Er dachte an seinen Sohn.
»Mein werther Herr,« sagte der Präsident, zutraulich lächelnd, »Sie sind einer der achtbarsten, reichsten und trefflichsten Bürger; wahren Kummer sollte es mir daher machen, wenn ich mit Amtsstrenge gegen Sie verfahren müßte. Sie glauben vielleicht lebendigen Antheil an einem unschuldig Verfolgten nehmen zu müssen, allein Sie irren sich: seine Verbrechen sind klar erwiesen, und ich sage Ihnen gerade heraus, ich muß ihn aufsuchen, wo er auch versteckt sein mag. Es ist der directe Befehl des Königs, mich seiner Person zu bemächtigen.«
»Wenn Sie meinen Sohn suchen …« entgegnete der alte Herr mit wankender Stimme.
»Ihr Herr Sohn wird allerdings wohl den besten Aufschluß geben,« fiel der Präsident ein. »Schon gestern Abende machte man einen Versuch, sich seiner zu versichern, um wo möglich ihn zu warnen und ihm die Augen zu öffnen über Personen, die ihn mißbrauchten. Reden Sie, junger Mann, und Sie, Herr Stibs, helfen Sie, wenn etwa die Sprache stockt.«
Herr Reike wendete sich rasch um, und zu seinem höchsten Erstaunen sah er seinen Sohn wirklich hinter sich neben Stibs stehen, der sich an ihn festklammerte.
»Ich habe nichts zu antworten,« sagte Gustav mit Festigkeit.
»Nichts?« versetzte der Präsident, »das thut mir leid. Und Sie, Herr Reike, wollen Sie sich wirklich zum Mitschuldigen Ihres Sohnes machen und dessen leidenschaftliche Verblendung theilen?«
»Ich theile nichts mit ihm,« entgegnete der alte Herr stolz, »aber ich verstehe Sie ganz und gar nicht.«
»Und ich,« rief der Präsident, »lasse mich nicht mit Redensarten abspeisen! Sie wollen nichts von der Sache wissen, und doch treffe ich Sie hier nach Mitternacht vollständig angekleidet in Ihrer Geschäftsstube, mit Ihrem Sohne und Ihrem Buchhalter, der tief in das Gewebe verwickelt ist und dem wir die eigentliche Entdeckung verdanken.«
»Stibs!« rief Reife, »wie wäre das möglich?«
»Er hat Sie nicht verrathen, nein,« fuhr der Präsident fort; »aber hören Sie mich an und fragen Sie sich dann selbst, ob Sie Menschen solcher Art noch ferner schützen und verbergen wollen. Dieser sogenannte Chevalier de Brisson ist ein Spion des Polizei-Ministers Fouché Joseph Fouché (1759-1820), französischer Politiker während der Zeit der Revolution und Polizeiminister im Kaiserreich und in der Restauration. Stefan Zweig zeichnete ihn 1929 in seinem Buch ›Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen‹ als genialen Opportunisten, der aufgrund seiner Charakterlosigkeit zur dämonischen Figur des vollkommsten Macchiavellisten der Neuzeit geworden sei. in Paris, abgesandt, um unter der Maske eines vertriebenen Anhängers des Königthums hier umherzulauschen, sich in vornehme Gesellschaften zu drängen, und was er vernommen, seinem Meister zu berichten. Dies ist ihm auch eine Zeit lang gelungen, denn er wurde durch Geld und persönliche Eigenschaften bei seinem niederträchtigen Geschäfte eben so wohl unterstützt, wie durch seine Begleiterin, die unter dem Namen seiner Tochter, durch Schönheit und Schlauheit ausgezeichnet, noch leichter, als er selbst, in hohen Kreisen Eingang fand. Diese Tochter, mein junger Herr, welche auch Sie in ihre Nähe zu locken wußte, ist aber nichts, als eine höchst gefährliche Intrigantin, welche ihre Kunst auf den Brettern der Theater erlernte. Es ist eine Schauspielerin, im Dienste der hohen Polizei von Paris seit Jahren gebraucht und endlich ausersehen, ihren würdigen Pseudo-Vater hieher zu begleiten, um vereint mit ihm zu agiren. Papiere, die in unsere Hände gefallen sind und welche ich flüchtig durchgesehen habe, lassen keinen Zweifel übrig, daß Alles so ist, wie ich es Ihnen mittheile.«
Die dunkelste Röthe der Scham und, des Schmerzes färbte das Gesicht des jungen Reike. Er ballte die Hände krampfhaft fest zusammen und senkte seine Augen.
»Sie sehen, wie es steht,« fuhr der Präsident fort, »auch hilft Läugnen hier nichts mehr. Um Ihrer selbst willen müssen Sie die Wahrheit sprechen. Sie waren in Gesellschaft der Dame und ihres Begleiters bis zum Augenblicke, wo wir jene Wohnung besetzten; mit Beiden zusammen haben Sie die Flucht durch eine Hinterthür in den Hof des Nebenhauses und von dort weiter auf die Straße bewerkstelligt. Man hat bemerkt, daß vor einer Viertelstunde drei Personen in dies Haus eingingen, die eine von diesen waren Sie selbst, die anderen das verbrecherische Paar. Wo haben Sie diese Menschen versteckt? Ich frage zum letzten Male; noch können Sie schwerer Schuld und Strafe durch ein offenes Bekenntniß entgehen.«
»Ich habe nichts zu bekennen, entgegnete Gustav mit Bestimmtheit.
»Dann müssen wir uns selbst helfen,« sagte der Beamte entrüstet. »Eine strenge Haussuchung, die Verhaftung sämmtlicher Bewohner, die schärfste Untersuchung verschulden Sie. Es thut mir leid, Herr Reike, Sie so behandeln zu müssen. Bedenken Sie die Folgen, wenn Sie alle als Mitschuldige solcher Landesverrätherei und Majestäts-Beleidigung behandelt werden.«
Bei Nennung dieser furchtbaren Verbrechen ließ Stibs ein klägliches Ächzen hören. Er faltete die Hände und sagte zitternd:
»In Ketten und Banden sitzen, das Comtoir geschlossen, es ist gräßlich! Hochverehrter Herr Reike, das überlebt Keiner von uns!«
»Mit welchem Rechte,« fragte der alte Herr, ohne auf dies Gewimmer zu achten, erzürnt und würdig, »ja – ich sage es nochmals: mit welchem Rechte, Herr Präsident, beliebt es Ihnen, meine Ehre und meine unbescholtene Redlichkeit anzutasten? Ich erkläre ihnen wiederholt, daß ich nichts von Allem weiß und kenne, was Sie sagen, und protestire gegen jede gewaltthätige Handlung, die mein Eigenthum oder meine Person verletzt. Noch giebt es Gesetze und Gerichte, die eben so wohl, wie die laute Stimme meiner Mitbürger, mich vor Ihren Anschuldigungen schützen werden.«
»Das wird sich finden,«entgegnete der Beamte kalt. »Jetzt gilt hier mein Wille als Gesetz; die Verantwortung nehme ich auf mich.«
»Noch einen Augenblick,« sagte Graf Reichenau, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Er trat vor seinen bisherigen Nebenbuhler, den er mit mehr Freundlichkeit betrachtete, als je vorher.
»Sehen Sie nicht so böse auf mich,« sagte er; »bei meiner Ehre, ich hege nicht den geringsten Zorn mehr gegen Sie, und Sie haben keine Ursache, mich zu hassen. Mir allein danken Sie es, daß diese Betrüger entlarvt wurden, ich habe ihnen die Maske abgerissen, und noch zur rechten Zeit können Sie mit heiler Haut entkommen. Geben Sie jetzt das saubere Fräulein heraus und lassen Sie uns Freunde sein. Beim Himmel! mir wollen gemeinsame Sache machen, denn nun sind wir quitt; sie hat uns beide arg angeführt.«
Er streckte die Hand aus, aber der junge Reike trat einen Schritt zurück.
»Ich bin weder ein Büttel noch ein Helfershelfer der Polizei,« sagte er verächtlich.
»Herein, da draußen!« rief der Präsident, »diese Scene muß ein Ende nehmen. Sie sind sämmtlich verhaftet, Ihre Genossen werde ich finden ohne Ihre Mithülfe. Herr Stibs!«
Er richtete sein Auge auf den kleinen, zitternden Mann, der beim Anblicke der eintretenden Polizeidiener in unaussprechliche Angst gerieth.
»Ich wende mich an Sie,« fuhr der Beamte fort, »Sie müssen die Wahrheit wissen. Ich frage Sie auf Ehre und Gewissen: wo sind die beiden Verbrecher.«
»Da, da!« schrie Stibs, indem er auf das Cabinet deutete.
»Haben wir sie endlich!« rief der Graf entzückt. »Heraus aus der Höhle, alter Fuchs!«
»In Ihrem eigenen Arbeitszimmer also?« sagte der Präsident zu gleicher Zeit vorwurfsvoll zu dem alten Herrn.
»Er ist toll geworden!« entgegnete dieser zornig und entsetzt, »eine andere Erklärung giebt es nicht.«
Der Graf hatte die Thür aufgestoßen, Alle eilten ihm nach.
»Kommen Sie hervor, mein schönes Fräulein, versagen Sie uns nicht länger ihre holde Gegenwart!« rief er hinein, aber es blieb still, wie, es war.
»Zum Teufel mit Eurer Ziererei!« fuhr er heftig fort, indem er suchend mit dem Lichte umherfuhr, und seinen Worten folgte ein wilder Soldatenfluch, denn er entdeckte keine Spur von denen, die er suchte.
»Schurke!« schrie er dem unglücklichen Stibs zu, »Du hast uns betrogen, wo sind sie?«
»Verschwunden!« sagte Stibs, die Hände faltend. »Es ist eine Hexe, ein Gespenst, sie kann sich unsichtbar machen; aber hier ist sie hineingegangen, mit meinen eigenen Augen habe ich sie gehen sehen; zweimal, dreimal, so wahr ich selig zu werden hoffe.«
Der zitternde, feierliche Ton seiner Stimme hatte etwas Überzeugendes. Der Präsident sah ihn zweifelhaft an, dann den alten Herrn, der mit einem sonderbar stieren Blicke seinen Buchhalter betrachtete.
»Sind Sie fest davon überzeugt, Herr Stibs?« fragte der Beamte.
»So wahr ich lebe!« entgegnete er, »ich kann es beschwören!«
»Dann muß, es hier irgend einen Versteck oder einen geheimen Ausgang geben. Wissen Sie nichts davon, Herr Reike?«
»Nein,« antwortete dieser.
»Allerdings giebt es einen solchen,« sagte jetzt plötzlich eine Stimme hinter dem alten Herrn.
Alle wendeten sich erstaunt nach der Sprecherin um. Mademoiselle Marie stand in ihrem großen, blumigen Tuche ganz unbefangen lächelnd vor dem Präsidenten und machte ihm einen tiefen Knix.
»O, Mademoiselle Marie!« schrie Stibs, »Sie wissen also …«
»Ich weiß Alles,« sagte die junge Dame, »und komme als Parlamentair. Die beiden Personen, welche Sie suchen, mein Herr, sind hier, und wollen sich Ihnen überliefern, wenn sie die Gewißheit haben, vor Hohn und Schmach sicher zu sein.«
»Wo sind sie?« fragte der Beamte.
»Ich verberge sie,« entgegnete die junge Dame mit kühner Bestimmtheit, »und werde sie nicht anders herausgeben, als unter Bedingungen.«
»Welche Bedingungen stellen Sie uns denn, mein schönes Kind?« fragte der Präsident, belustigt von dieser Forderung
»Ich verlange, daß dieser Herr Officier sich entferne, der keine Verpflichtung hat hier zu bleiben, und appellire dabei,« fuhr sie fort, indem sie ihre leuchtenden Augen auf Reichenau heftete, »an sein eigenes Herz. Wenn dies jemals eine gewisse Neigung für die Dame empfand, welche nun eine Verbrecherin sein soll, dann kann er unmöglich so wenig Edelmuth und so viel Rachsucht besitzen, sie demüthigen und verhöhnen zu wollen.«
»Ist Ihre Forderung beendet?« fragte der Präsident.
»Noch nicht,« entgegnete Mademoiselle Marie, »es knüpft sich daran eine zweite, nämlich: mir zu sagen, was das Schicksal der beiden Personen sein wird.«
»Und wenn ich diese Frage unbeantwortet lasse?«
»Dann,« entgegnete die junge Dame entschlossen, »mögen Sie thun, was Ihnen beliebt; doch seien Sie versichert, Sie werden einen Selbstmord verschulden.«
Der Präsident maß Mademoiselle Marien mit einem forschenden Blicke. –
»Über die erste Ihrer Bedingungen, begann er, »hat der Graf zu entscheiden; ich irre mich aber wohl nicht, wenn ich glaube, er wird derselben entsprechen, denn in der That ist es tiefpeinlich und traurig, ein Wesen, an dem man irgend einen Antheil genommen, in solcher Lage zu erblicken; überdies« –
Er führte den Grafen einen Schritt zurück und flüsterte ihm etwas zu, was dieser aufmerksam anhörte und dann mit Freundlichkeit sagte:
»Sie haben Recht, Herr Präsident. Mademoiselle Marie, ich danke Ihnen für die gute Lehre. Ich bin nicht so rachsüchtig, um nicht die Wahrheit dessen, was Sie sagten, zu empfinden. Ich gehe daher, leben Sie wohl und glauben Sie so wenig Böses von mir, wie möglich.«
Als er hinaus war, sagte der Präsident:
»Jetzt zu Ihrem weiteren Verlangen. Lassen Sie die beiden Sünder erscheinen, und ich gebe Ihnen mein Wort, sie werden mit dem, was über sie beschlossen ist, sehr zufrieden sein.«
Mademoiselle Marie zögerte einen Augenblick, bis sie mit einem plötzlichen Entschluß sagte:
»Ich nehme Ihr Wort an, nehmen Sie dafür das meine, daß in fünf Minuten die Gefangenen sich Ihnen überliefern sollen; doch nicht hier, sondern im Comtoir. Haben Sie die Güte, dort zu verweilen.«
»Verbürgen Sie sich dafür?« fragte der Präsident lächelnd.
»Mit meiner eigenen Person,« entgegnete sie in derselben Weise.
»So nehme ich diese Bürgschaft an und vertraue Ihnen durchaus.«
Er trat über die Schwelle, und plötzlich schlug Mademoiselle Marie die Thür zu und schob den großen Riegel vor. Sie war mit ihren Verwandten und Stibs allein.
»Lieber, theurer Vater,« sagte sie leise, den alten Herrn umfassend, »es ist manches hier vorgegangen, was Kummer und Noth über Sie gebracht hat.«
»Und wie es scheint,« entgegnete Herr Reike bitter, »ist Niemand unbetheiligt dabei.«
»Wir haben keine Zeit zu Vorwürfen,« fiel sie ein; »was geschah, läßt sich nicht ändern; komme, was kommen muß.«
»Öffne die Thür!« rief der alte Herr zornig, »was sollen diese unwürdigen Ränke und Lügen?«
Aber Mademoiselle Marie hielt ihn bei der Hand fest und sagte ruhig:
»Still, lieber Papa. Sehen Sie den alten Schrank dort, den Geldschrank, welcher in der Mauernische feststeht seit vielen Jahren. Der alte Mathieu hat ihn dahin gestellt, und Niemand wußte, daß hinter ihm ein hohler, schmaler Raum sei, durch den man zu einer Treppe gelangt, die zwischen der dicken Wand in das obere Stockwerk führt und in einer der Nischen auf dem Corridor verborgen endet. Mathieu stieg zuweilen nächtlich mittels dieser Treppe in sein Cabinet hinab, um zu rechnen und in seinem Gelde zu wühlen, wenn Alles schlief. Dies Geheimniß hat er mit ins Grab genommen; ich entdeckte es vor einiger Zeit ganz zufällig, als ich den Wandschrank im Corridor öffnete und das alte Gerümpel darin neugierig untersuchte.«
In Stibsens Kopf kam ein plötzlicher Lichtstrahl, denn es fiel ihm ein, was ihm unerklärbar geschienen; allein er schwieg, weil Herr Reike ganz starr und still stand und Mademoiselle Marie sogleich fortfuhr:
»Ich sagte Niemandem etwas von meiner Entdeckung, die Zeit erwartend, wo ich sie Ihnen allein mittheilen konnte; aber ich fand, daß Mathieu's Geheimniß nicht so ganz verborgen geblieben war. Jene Flüchtlinge, die man sucht, kannten es, und durch sonderbare Umstände begünstigt, gelang es ihnen, sich in dem Versteck zu verbergen.«
»Wer?« rief Herr Reike. »Unmöglich! Du träumst oder bist von Sinnen!«
Die junge Dame ließ seine Hand los und näherte sich dem mächtigen Eisenspinde. Ein Gitterwerk von metallenen Rosetten faßte die obere Kante ein, und kaum hatte sie zwei derselben nach außen gezogen, als eine verborgene Feder den mächtigen Schrank seitwärts schob und einen Spalt in der Mauer öffnete, durch den bequem ein Mensch schlüpfen konnte.
»So wahr ich lebe!« rief Stibs, »jetzt weiß ich Alles. Die unbekannte Dame … o! werther Herr Reike …«
Er faßte den Rockschoß des alten Herrn; denn plötzlich taumelte dieser zurück und sagte mit hohler Stimme:
»Claudia! Ihr himmlischen Mächte, Claudia!«
Seine Füße wankten, der Sohn sprang zu seiner Hülfe herbei und hielt ihn in seinen Armen. Langsam stieg eine Gestalt aus dem finsteren Spalte, wie aus einem Grabe; leicht und leise that sie einige Schritte und sagte dann in heftiger Bewegung:
»Nicht Claudia, aber deren unglückliche Tochter ist es, die hier eine Zufluchtsstätte suchte. Verdammen Sie mich nicht, urtheilen Sie nicht und brechen den Stab über mich, ich kann mich nicht vertheidigen. Meine Mutter, ausgestoßen und enterbt, ließ mich verlassen in der Welt zurück, als sie starb. Ihre Bitten und Briefe blieben ohne Antwort, Hunger und Elend waren unser Loos; daran seid Ihr Schuld, Ihr, die Ihr uns verschmachten ließet.«
Ein starkes Klopfen an der Thür unterbrach ihre Rede.
»Nur einige Minuten noch,« sagte sie verächtlich, »dann sollt Ihr mich haben.«
»Unglückliche!« rief der alte Herr, »so ist es wahr, was Deine Verfolger sagen?«
»Ganz unzweifelhaft wahr,« entgegnete sie ruhig; »aber wer trägt die Schuld? Eure Härte und Unmenschlichkeit! Meine Mutter sollte zu einer Ehe gezwungen werden, sie beschloß, mit dem Manne zu entfliehen, den sie liebte. Sie kannte den finstern, starren Sinn ihres Großvaters und seine Habgier; sie kannte auch diesen heimlichen Weg in seine Geldkammer und benutzte ihn, um am Abend vor der Flucht sich hier einzuschleichen und einen Theil ihres rechtmäßigen Erbes mit sich zu nehmen. Sie wurde überrascht und starb beinahe unter den Mißhandlungen ihres nächsten Verwandten. Am nächsten Morgen war sie verschwunden; glücklich erreichte sie die fremde Erde; allein bald waren die Mittel erschöpft, die sie besaß, und nun begannen Noth und Sorgen ihr fürchterliches Spiel. Ich schweige davon,« fuhr sie stolz fort, »Niemand hat über mein Leben und Schicksal Rechenschaft zu fordern; doch was ich that und was ich wurde, ward ich durch Euch. Endlich erhielt ich den Auftrag, eine Rolle in dieser Stadt zu übernehmen, welche Feinheit und Klugheit erforderte, und ich nahm sie an, weil mich der Gedanke ergriff, dabei mein Recht und mein Erbe zu gewinnen, mich an denen zu rächen, die, noch ehe ich geboren war, mir Böses gethan hatten, und wunderbar begünstigte mich der Himmel.«
»Der Himmel,« rief der alte Herr mit Abscheu, »hat keinen Theil an solchen Thaten und deren Gelingen.«
»So tröstet Euch damit,« entgegnete Alice mit derselben stolzen Verachtung, »Daß der Himmel sich einmischte und die Werke der Finsterniß zerriß. Was ich wollte, bezweckte nichts, als mich dessen zu bemächtigen, was mir gehörte, die Summen, welche meiner Mutter Großvater heimlich dort in seinem Versteck verwahrte, wo Ihr sie nun finden werdet, von denen Niemand etwas wußte, und die einst meiner Mutter bestimmt waren. Alles Andere diente diesem Willen. Mit Hülfe jenes einfältigen Menschen dort« – sie deutete auf Stibs, der eine tiefe Verbeugung machte – »gelangte ich zuerst in dies Cabinet und überzeugte mich, daß alles noch so war, wie meine Mutter mir es beschrieben hatte; ich entfloh und hinterließ bei Ihnen den Eindruck einer Geistererscheinung, vermehrt durch den alten Blumenstrauß, welchen ich zurückließ. Nur einmal noch bedurfte ich eines glücklichen Zufalles, um eine Viertelstunde lang hier zu verweilen, dann würde ich für immer verschwunden sein.«
»Mit dem, der, von den Grundsätzen des Rechtes und der Ehre verlockt, Helfershelfer und Genosse dieses schändlichen Planes war!« fiel Herr Reike ein, indem er feindlich heftig sich aus den Armen seines Sohnes frei machte.
»Mit diesem jungen Manne?« sagte die Dame. »Nein, mein Herr. Er ist jung, unbesonnen, sein Kopf war erhitzt, er lag zu meinen Füßen; allein, ich schwöre es Ihnen, ich wäre gegangen ohne ihn, denn wie hätte ich ihn enttäuschen sollen? Um dies zu versuchen,« fuhr sie mit einem schwachen Lächeln fort, »gehörte mehr, als er besaß: eine blind fanatische Liebe, die, wenn nichts von dem Fräulein von Brisson übrig blieb, als ich selbst, nur mich begehrt hätte. Und in seinem Herzen wohnte und lebte neben dem meinen ein anderes Bild, gegen dessen Macht er vergebens kämpfte. Es war meine Absicht, ihm einen Brief zurückzulassen, der ihm Alles enthüllen, ihn bitten sollte, den Vater zu versöhnen und zu den Füßen der Geliebten Versöhnung zu erflehen, die, wie ich hoffe, sie ihm auch jetzt noch gewähren wird.«
Ein neues, heftiges Klopfen an der Thür erschütterte diese, und die Stimme des Präsidenten ließ sich hören.
»Öffnen Sie jetzt,« sagte er, »wenn ich nicht glauben soll, daß man mich täuschen will.«
»Sogleich!« entgegnete das Fräulein. »Kommen Sie, mein Herr Chevalier!« rief sie laut und befehlend, »man erwartet uns; wir haben diesen guten Leuten viel Unruhe und Sorgen gemacht, es ist Zeit, den Scherz zu beenden.«
Der Chevalier in seinen Nachtkleidern kam mit gesenkten, verlegenen Blicken zum Vorschein, und mit einem Druck an der Feder schloß sich der geheime Gang.
»Wir haben das Spiel verloren!« rief Alice, »es ist recht, daß wir unsere Schuld bezahlen ohne Zittern und mit fester Hand. Mademoiselle, ich danke Ihnen für Ihre Güte und Theilnahme. Ich gebe Ihnen den Mann zurück, den Sie lieben; seien Sie glücklich, Sie verdienen es zu sein. Wir anderen wollen uns gegenseitig verzeihen, was wir verbrochen haben.«
Sie wendete sich grüßend, schob den Riegel zurück und öffnete die Thür, vor welcher der Präsident sie erwartete.
Er war allein und erwiederte ihren Gruß mit einer kleinen Verbeugung.
»Hier bin ich und mein Begleiter,« sagte Alice, »wir sind bereit, unser Schicksal zu hören und unser Haupt jedem Streiche zu beugen.«
Eine Minute lang ließ der Beamte die Missethäter in Ungewißheit, indem er sie schweigend und streng betrachtete. Dann deutete er mit dem Finger gegen das Fenster.
»Vor der Thür dort hält ein Wagen,« sprach er, »in diesem werden Sie Alles finden, was Ihr Eigenthum sein kann. Die hohen Personen, von deren Willen Ihr Schicksal abhängt, wollen in ihrer Gnade, daß das strenge Schwert des Gesetzes nicht auf Ihre schuldigen Häupter falle. Man wird Sie über die Landesgrenze führen; sollten Sie jedoch jemals wagen, hieher zurückzukehren, so fürchten Sie das Äußerste.«
»O, seien Sie sicher,« fiel das Fräulein ein, »ich werde diese Gnade dankbar erkennen.«
»Um so besser für Sie,« sagte der Präsident. »Folgen Sie mir.«
Alice wendete sich noch einmal zu dem Kreise ihrer Begleiter. Ihre hohe Gestalt hob sich anmuthig empor, ihr schönes Gesicht war von einem Lächeln belebt; die großen dunkeln Augen glänzten darin mit der alten Kühnheit.
»Leben Sie wohl, Gustav, und verzeihen Sie mir,« sagte sie bittend und bewegt; »was ich auch verschuldete, Sie werden versöhnt werden durch Ihr künftiges Glück.«
Sie reichte ihm die Hand, die er halb widerstrebend ergriff; aber plötzlich fühlte er, daß sie in Mariens Hand ruhte.
»Diese gehören zusammen,« rief Alice dem alten Herrn zu, »seien Sie mild und gütig, das ist mein letzter Wunsch.«
»Noch ein Wort,« sagte Herr Reike. »Nehmen Sie dies Papier, es giebt Ihnen, was Sie durch böse Mittel zu erreichen strebten, ja vielleicht mehr noch, als Sie erwarten durften; ich zahle den Inhalt demjenigen, der es mir vorzeigen wird.«
Er hatte einige Zeilen geschrieben, welche er ihr hinreichte; sie las diese, bog das Papier zusammen, riß es plötzlich mitten durch und ließ die Stücke fallen.
»Nehmen Sie meinen Dank und leben Sie wohl!« rief sie mit fester Stimme. »Folgen Sie mir, Chevalier.«
Sie eilte rasch aus dem Comtoir. Eine Minute später hörten die Zurückbleibenden das Rollen des Wagens.
* *
*
Am nächsten Morgen trat Herr Stibs mit sehr verstörtem Gesicht, den Kopf voll schrecklicher Gedanken, in das Haus des verehrten Prinzipals.
»Der Herr,« sagte der alte Christian, »läßt den Herrn Stibs bitten, sich zu ihm herauf zu bemühen.«
»Sogleich?« fragte Stibs ängstlich.
»So wie der Herr Stibs erscheinen,« antwortete der alte Mann, und es kam dem Fragenden vor, als sehe er ihn sehr sonderbar dabei an.
Er stieg die Treppe hinauf; aber seine Füße schienen an den Stufen festzukleben, er mußte sie gewaltsam davon losreißen.
»Mein Gott,« sagte er seufzend, »was soll das werden! Als er mich gestern entließ, hieß es: morgen werden wir weiter darüber sprechen, und was kann ich antworten, wenn er sagt: ›Er hat mich belogen, verrathen, betrogen! packe Er sich auf der Stelle!‹ Es bleibt mir nichts übrig, als weinend mein Haupt zu senken; aber wo soll ich es verbergen vor aller Scham und Schande?!« –
Er war bis auf die letzte Treppenstufe gekommen und seufzte kläglich, als er plötzlich den Principal vor sich stehen sah, der ihn zu erwarten schien. Er riß seinen Hut ab und wußte nicht recht, was er denken sollte, als Herr Reike seinen Gruß mit einer gewöhnlichen kalten Würde erwiederte, zugleich aber ihn bei der Hand nahm und schweigend die Thür des großen Wohnzimmers öffnete.
Stibsens erster Blick fiel auf Mademoiselle Marie, die auf ihrem Sessel am Nähtischchen saß, doch nichts weniger that, als etwa nähen oder stricken; denn ihre beiden Hände ruhten in denen des jungen Herrn Reike, welcher zu Stibsens Erstaunen vor ihr auf den Knieen lag und, wie es ihm vorkam, ihre Finger mit seinen Küssen bedeckte.
Er wußte nicht, ob er recht gehört, allein es war ihm wirklich, als habe der junge Herr, indem die Thür aufging, gerufen: »Meine geliebte Marie, Du kannst nicht länger zürnen!« und als habe Mademoiselle Marie zu gleicher Zeit geantwortet: »Nein, Gustav, und ich will es auch nicht länger versuchen.«
Stibs ließ sich geduldig von Herrn Reike weiter führen durch das Zimmer bis ganz in die Nähe der beiden Überraschten, die aufgestanden waren, sich aber noch immer umfaßt hielten und gar nicht thaten, als ob dabei etwas zu scheuen und zu fürchten wäre.
Jetzt aber streckte der Sohn die Arme gegen den alten Herrn aus, und indem er sich an ihn schmiegte und Mademoiselle Marie von der anderen Seite ihre Händchen um seine Brust legte, rief er mit kindlicher Herzlichkeit:
»Verzeihung, mein Vater! nein, Sie werden Ihren Sohn nicht verstoßen, der reuevoll zu Ihnen wiederkehrt und um die verlorene Liebe fleht.«
Der alte Herr sah einen Augenblick so stolz und streng aus, wie immer; plötzlich aber schmolz diese Rinde von Eis und Härte; ein Strahl von Zärtlichkeit blitzte aus seinen grauen Wimpern, und mit schwankender Stimme, die vergebens ihre Festigkeit zu erhalten strebte, sagte er:
»Ich wiederhole Dir heute die Frage noch einmal, Gustav, welche ich gestern an Dich richtete:
›Willst Du einen Theil meiner Sorgen und Mühen auf Deine jungen Schultern nehmen und mein Gefährte im Geschäft durch Deinen Antheil werden?‹«
»Alles will ich thun, um Ihr Vertrauen zu rechtfertigen,« antwortete der Sohn gerührt.
»Und willst Du,« fuhr Herr Reike fort, »auch weiter erfüllen, was ich beschlossen, um einen Ehebund zu stiften zwischen Dir und meiner lieben Tochter Marie?«
»O, von ganzem Herzen!« rief Gustav. »Von meinen verblendeten Augen sind ja die Binden gefallen. Heute noch, sogleich, so bald als möglich, lieber Vater, wünsche ich diesen gesegneten Augenblick herbei.«
»Ich glaube nicht,« versetzte der alte Herr lächelnd, »daß Marie sich so bald entschließen kann, Deinen schweren Leichtsinn zu verzeihen; darum ist eine Reise nach London eine gerechte Strafe und eine Probe, die Du bestehen mußt.«
»Wenn es Ihr Wille ist,« sagte Gustav, »so unterwerfe ich mich ihm, weil ich weiß, daß ich Strafe verdiente; aber …«
»Allerdings,« fiel Mademoiselle Marie ein, »diese Strafe wäre durchaus gerecht; indeß wir wollen überlegen, lieber Papa, ob es nicht besser ist, wir halten den Vogel am Flügel fest, weil wir ihn einmal haben.«
»Herr Stibs,« sprach der alte Herr, seinem Vertrauten die Hand reichend, »Sie sehen, wie es mit Ihrer Liebes-Affaire steht. Der Cours dieses Papiers ist auf Null gefallen.«
»Es ist eine durchaus verunglückte Speculation, mein verehrter Herr,« erwiederte Stibs achselzuckend, indem er den Prinzipal demüthig angrinzte.
»Ihre Conduite hat jedenfalls dabei sehr viel verschuldet,« fuhr Herr Reike fort, »und wenn ich bedenke …«
Er erhob drohend den Finger.
»O, bitte sehr, recht sehr,« fiel Stibs flehend ein; »wenn Sie wüßten, o, wenn Sie wüßten, werthester Herr, welche Leiden und Trübsale ich ertragen habe!«
»Es soll Alles vergessen sein!« rief der alte Herr fröhlich aus, »wir wollen Alle einen dichten Mantel über diese Tage decken; nur das steht fest, es bleibt bei unserem Contract, mein lieber Herr Stibs: Reike, Sohn und Compagnie soll die Firma unseres Hauses sein.« – –
Drei Monate später trat Herr Reike jun. mit Mademoiselle Marie an den Altar. Herr Stibs im himmelblauen Frack von niederländischem Tuche führte ihm die schöne Braut zu. Er tanzte bis tief in die Nacht, bis er endlich des süßen Weines voll und selig von der guten Frau Margarethe ins Bett mit den gelben Vorhängen gelegt wurde. Aber noch nach Jahren, wenn er von seinen Abenteuern erzählte und an jene Hochzeit dachte, schwur er, es seien die schönsten Stunden seines langen, an Merkwürdigkeiten reichen Lebens gewesen. –
Vor einigen Jahren erst ist Herr Stibs gestorben, aufrichtig betrauert von der zahlreichen Nachkommenschaft des einzigen Weibes, die je sein Herz in Unruhe gesetzt hatte, und der er immer die treueste Verehrung bewahrte. –
Von Alice hat man nie wieder gehört.