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Sylvia.


1.

Mitten in einer stürmischen finstern Nacht näherte sich vor einigen Jahren ein leichter Reisewagen der Hauptstadt, und schon fuhr der Postillon zwischen den Landhäusern hin, die zerstreut den Weg einfaßten, als plötzlich die Pferde, durch irgend einen Gegenstand scheu gemacht, zur Seite sprangen, und ehe ihr schlaftrunkner Lenker sie meistern konnte, den Wagen an einen Baum warfen, von dem er abprallend mit zerbrochener Achse in den ziemlich tiefen Graben stürzte. –

Der Diener des Reisenden ward vom Bock aufs Feld geschleudert, wo er ziemlich wohlbehalten aufsprang, der Postillon wälzte sich unter dem Sattelpferde, schreiend und fluchend raffte er sich auf, schob die Schuld auf die verdammten Mähren und warf einen Blick auf den umgestürzten Wagen, dessen Räder nach oben standen.

»Du lieber Gott!« rief der Diener, der in der Finsterniß umhertappte, »was ist aus meinem jungen Herrn geworden!«

Er rüttelte an der Wagenthür, deren Drücker sich verbogen hatte, und schrie dann kläglich:

»Es rührt sich nichts; er ist todt! er ist mausetodt!« –

»Er wird doch nicht,« sagte der Postillon bedächtig. »Es war aber auch ein schmählicher Sturz, der ganze Wagen ist hin.«

»Was fangen wir an?« fuhr der Diener fort. »Licht her! Hülfe! Da ist ein Licht, dort in dem Hause. Lauf hin, schrei sie heraus!«

Der Postillon machte sich auf den Weg, aber Licht und Hülfe kamen schneller als er. Ein alter Herr in Schlafrock und Pantoffeln, eine große weiße Nachtmütze aufgestülpt, eine grüne Schirmlampe in der Hand, trat aus der Thür und fragte mit lauter Stimme, was es da gebe? Im nächsten Augenblick schrie er nach einer Laterne und ein Paar Namen von Dienstleuten hinterher, die er zur Hülfe beorderte, dann machte er sich selbst auf den Weg, stolperte aus dem Gitter hervor, das sein Haus umgab, schlug den Schlafrock um seine Lampe und erreichte glücklich damit den Schauplatz der Verwirrung.

»Das ist ein schweres Unglück,« sagte er, als er die Betarde erblickte, deren Verdeck eingebrochen, die Fenster in Stücken, die Koffer abgerissen umherlagen. »Hierher, werft den Wagen auf die Seite, daß man dazu kann. – Da liegt ein Mensch,« schrie er, und ließ einen Strahl seiner Lampe ins Innere fallen, »da liegen die Füße, der Kopf nach unten; die Kissen sind voll Blut, rasch, zieht ihn hervor!«

Er machte eine Bewegung, dem Verunglückten zu helfen, plötzlich fuhr ein Windstoß über die Straße und löschte die Lampe aus, aber der alte Herr warf sie ins Gras und ein Paar Minuten später hielt er den leblosen Körper in seinen Armen. Postillon und Bediente nahmen die Füße, so trugen sie ihn dem Hause zu.

An der Thür kam ein halb angekleidetes Dienstmädchen mit Licht, die laut aufschrie über den Leichenzug, und von der Treppe herab fragte eine feine Stimme, wer denn eigentlich verunglückt sei?

»Nur hier herein,« sagte der alte Herr und stieß die Thür eines Zimmers auf; »hier auf den Sopha mit ihm und Wasser herbei, die Kleider ab. Setz' deine Leuchte hin, Mädchen, und lauf' was Du kannst, schaff' einen Arzt.«

»Einen Doctor? Ja, wo sollen wir den finden, mitten in der Nacht.«

»Ich, ich weiß einen,« rief der Diener, »einen Verwandten meines jungen Herrn, der am Thore wohnt.«

Er sprang auf und wollte hinaus; an der Thür aber ward er von einer jungen Dame aufgehalten, die durch den Spalt ins Zimmer sah. Sie war in einen weiten Nachtmantel gewickelt, aus dem sie jetzt den einen Arm im weißen Battistjäckchen hervorstreckte.

»Eilen Sie schnell,« sagte sie, »aber wer ist der arme junge Mann?«

»Ach Gott! was wird sein Vater sagen,« erwiederte der Diener kläglich, »der arme unglückliche Vater, der so viel Geld und Gut hat und nur diesen einzigen Sohn.«

»Aber wer ist er denn? Wo wohnt er? Ist er hier aus der Stadt?«

»O freilich!« fuhr der Mensch fort.

Der alte Herr streckte den Kopf zur Thüre heraus:

»Seid Ihr denn noch da,« schrie er, »habt Ihr keine größere Liebe für Euren Herrn im Leibe?!«

Der Diener eilte davon, die junge Dame aber trat rasch in das Gemach, wo viele Hände sich um den Verunglückten bemühten. Der alte Herr mit seinem scharfgeschnittenen Gesicht und weißem Haar beugte sich über ihn hin und löste Halstuch und Kragen, ein Mädchen hielt den Kopf, ein junger Bursche zerrte an den Stiefeln, eine vierte weibliche Person brachte Wasser, Schwamm und Licht, dessen Schein auf das bleiche und jugendliche Gesicht des Fremden fiel.

»Ich glaube,« sagte der alte Herr, indem er mit seinen Bemühungen einhielt, »unsere Mühe wird ganz vergebens sein, er hat den Hals gebrochen, daran ist nichts zu ändern. Nun, sterben müssen wir Alle, und eigentlich hat er das Ziel erreicht, so glücklich und leicht, daß Tausende ihn darum beneiden können. Aber es ist doch schade um das junge Leben, das so elend umkommen muß, schade um den hübschen jungen Mann, der noch wohl viel davon erwartete.«

»Er blutet ja!« rief das Fräulein ängstlich, »und seine Stirn ist grausam aufgeschwollen.«

»Ah, Sylvia!« sagte der alte Herr verwundert, indem er sich umwandte, »Du bist auch hier?«

»Ja, Onkel,« erwiederte sie lebhaft, »und ich wollte wohl, daß ich etwas thun könnte, um zu helfen.«

Sie nahm bei diesen Worten den Schwamm aus der Hand des Mädchens und fuhr leise über die blutige Stirn und Wange des Verletzten, dann ein Leinentuch, das sie zusammenlegte und mit Wasser befeuchtete, nun rief sie nach einem andern, und bewickelte damit die Halsseite. Ihre kleinen warmen Hände drückten wohlthuend Augen und Schläfe des armen jungen Mannes, sie befeuchtete seine Stirn und Lippen mit einer starken Essenz, die der Onkel herbeibrachte, blies sanft und kühlend darüber hin, und war noch in voller Beschäftigung, immer neue Versuche zur Wiederbelebung zu machen, als der Diener mit dem Arzte erschien, der schweigend an das Lager trat, die geschäftige Pflegerin fast unsanft zur Seite schob, den Puls untersuchte, und dann den Befehl gab, daß Jeder das Zimmer auf der Stelle verlassen möge.

Es lag eine solche Bestimmtheit in seinem Wesen und seinen Worten, daß Alle gehorchten, obwohl die junge Dame einen Augenblick Lust zu haben schien, sich zu widersetzen. Ihr schönes und stolzes Gesicht hatte sich geröthet und ihre Augen musterten zornig den unfreundlichen Mann, der, ohne sie im mindesten zu beachten, sich schon wieder mit dem leblosen Körper beschäftigte und mit Hülfe des Burschen, dem er zu bleiben gebot, sich anschickte, eine Ader zu öffnen.

Der Onkel faßte ihre Hand und führte sie hinaus, an der Thür aber sah sie noch einmal zurück in das Gesicht des Doctors mit seinen harten, kalten Zügen, den großen starrblickenden Augen, die auf den Gegenstand seiner Sorgfalt geheftet waren, als wollten sie sich einsaugen, und es kam ihr vor, als lächelte er plötzlich boshaft oder spöttisch. Der schwarze Haarbüschel auf seiner Stirn fiel tief herab, die Augen leuchteten dämonisch daraus hervor, das ganze Gesicht schien wie krampfhaft zuckend.

Sie schrie laut auf und blieb stehen. Der alte Herr aber führte sie die Treppe hinauf und sagte begütigend:

»Das scheint ein großer Patron zu sein. Ein Doctor am Krankenbett ist aber ein General auf dem Schlachtfelde, da heißt es kurzweg: gehorcht! und da wir nun einmal unser Haus zu einem Lazareth gemacht haben, so müssen wir es uns auch gefallen lassen, ausgewiesen zu werden. Geh Du zu Bett, Sylvia, damit doch einer von uns eine gute Nacht hat! Menschenfreundlichkeit ist eine hübsche Sache an und für sich, wer sie aber üben soll, muß sich nichts aus Unruhe und Belästigungen und aus allerlei Ärger machen.«

»Ich hoffe nicht,« sagte die Nichte, »daß Du Deine großmüthige Hülfe bereuest.«

»Nein, nein,« versetzte der alte Herr, »geschehen ist geschehen, und seinem Mitmenschen muß und soll man in der Nacht beispringen, aber ich könnte nicht sagen, daß ich eben sehr böse gewesen wäre, wenn mein Haus etwas weiter rechts oder links lag.«

Er ging mit großen Schritten auf und nieder, dann sagte er:

»Nun, er ist guter Leute Kind. Wer in einem Reisewagen Extrapost fährt, muß Geld haben, meine Menschenfreundlichkeit wird mir also wenigstens keine Kosten verursachen, wie einmal in meiner Jugend, wo ich einen armen Teufel von Schuster aus dem Wasser zog, selbst todtkrank wurde, dafür aber sechs Verhöre bestand. Denn der Kerl hatte einen Betrug gemacht und zuletzt mußte ich an die sieben oder acht Thaler Gerichtsgebühren bezahlen. Nun, Sylvia, fort mit Dir!«

»Ich will nicht schlafen, Onkel,« sagte die junge Dame.

»Warum denn?« rief der alte Herr verwundert; »ich wollte, ich könnte an Deiner Stelle zu Bette gehen.«

»Wie könnte ich denn schlafen,« fuhr sie heftiger fort, »wenn unter mir ein Mensch im Sterben, ein Todter, oder ein schwer Leidender liegt.«

»Ach! wenn man jung ist,« sagte der Onkel, »was macht man sich doch für Hirngespinste, da hört man und sieht und empfindet man nicht allein durch Decke und Boden, sondern viele Meilen weit. Du kannst nichts helfen und nichts ändern mit Deinen empfindsamen Herzchen. Soll der Mensch leben, so wird er leben, muß er sterben, so wird der langbeinige Doctor ihn auch nicht wieder aufwecken. Sterben ist ein großes, allgemeines Gesetz. Es giebt ein Schicksal, dem niemand entlaufen kann, ob so, ob so; ob heut oder morgen oder in fünfzig Jahren, im Grunde ist es alles einerlei, ich habe es schon vorhin gesagt. Denn das Leben ist über den Erdball verbreitet, über die ganze Welt, und hat sie gemacht. Ich glaube, es dunstet aus, verborgen und geheimnisvoll, es ist eine Masse, ein Meer, ein Lichtballen, es gießt seine zahllosen Ätherströme in die Myriaden Wesen allerlei Art, die ihren Antheil verbrauchen und dann in ihr Nichts zurücksinken. – Statt der alten entstehen neue, und so geht es fort bis ins Unendliche; das Gewesene ist gewesen, wer fragt danach, wie es umgekommen? Die Eintagsfliege und der Mensch, es ist Alles dasselbe, nur in verschiedene Form gegossen. Ein Menschenleben ist unmerklich in dem Zifferblatt der Zeituhr; und was ist es zur Ewigkeit? Ein Hauch, ein Nichts. Man muß das Leben nützen, wie man kann, man muß es sich angenehm machen, man muß das Menschenglück erhaschen und erjagen, sonst kommt der Tod und reißt uns fort, wirft uns in sein finsteres Haus und lacht uns aus.«

Der alte Herr ging mit großen Schritten auf und ab, während er sprach, Sylvia hatte sich auf dem Divan niedergekauert, stützte den Kopf in die Hand, über welche ihre Flechten fielen, und hörte aufmerksam zu.

»Hast Du denn das Glück erjagt?« fragte sie.

»Soviel ich konnte, ja,« erwiederte er, indem er vor ihr still stand. »Wenn man jung ist, lebt man in den Tag hinein und sucht das Glück selten, wenn es nicht von selbst kommt. Und was nennen sie Glück, diese Menschen? Wie verschieden ist das! Geld und Gut, Ehre und Ruhm, Brod und Zufriedenheit, Arbeit und Sorgen, Elend selbst, das alles ist Glück. Und was der Eine sehnsüchtig wünscht, das schüttelt der Andere wie eine schreckliche Last von sich, ermordet sich vielleicht darum. Ich habe auch in den Tag hineingelebt, habe dann nach Glück gestrebt in meiner Weise, habe mich wenig daran gekehrt, was die Menschen sagten, und bin alt geworden ohne unglücklich zu sein. Ja, Sylvia, ohne Weib und Kind alt geworden, ohne Ehe, ohne einen Hofmeister im Unterrock.«

»Ohne Liebe? Onkel,« sagte sie.

»Liebe!« rief er, »was hat die Liebe mit der Ehe zu thun? Du närrisches Mädchen, soll Dir Dein alter Onkel mitten in der Nacht, mit weißem Haar und schlotternden Knien beichten, ob sein Herz auch einmal die allgemeine Narrenjacke angezogen und welche Sprünge es darin gemacht hat? Doch mag es sein,« fuhr er fort, »es ist eine hübsche Nacht dazu. Unter uns ein Sterbender, hier ein junges Kind mit süßen, vollen Lippen und schelmischen Augen, begierig auf Glück und Liebe. So höre denn, meine Sylvia, eine ganz gewöhnliche Geschichte, wie sie alle Tage in der Welt vorkommt, doch vergiß sie darum nicht. Ich liebte auch einmal ein Mädchen, hübsch und jung und nebenbei mit Geld und Gut bedacht. Ich war damals eben vierzig Jahre alt, Professor an der hohen Schule, und als ein gelehrter, weiser Mann bekannt.«

»Weiser!« sagte Sylvia lächelnd.

»Pest! ja, weiser,« rief der alte Mann. »Ich hatte immer eine Abneigung gegen die Ehe gehabt. Es kam mir vor wie ein unleidlicher Zwang, wie eine von den zehntausend Dummheiten, mit denen sich die Menschen beknechtet haben. Aber was half das, ich steckte doch den Verlobungsring an den Finger und sollte ein Paar Wochen darauf in den Ehestandshimmel springen. Da dachte ich mir aber, wie mein junges Weib um mich herum rumoren und hantiren würde mit Besen und mit Bürsten; wie ich vierzig Jahre alt geworden sei, immer ruhig und vergnügt unter meinen Büchern, und ein Schauer trat mich an, wenn ich meine Braut von achtzehn Jahren so toll und wild lachen und springen sah. Es zuckte mir in allen Gliedern, es zuckte aber auch in meinem Herzen, es war ein Kampf, der mir sehr viele harte Stunden machte, ich glaube aber wahrhaftig, ich liebte sie noch mehr, wie meine Ruhe. Nun hatte ich auch manche Feinde und Neider, und darunter war Einer, ein verschmitzter, kühler Mensch, eine von den Naturen, die an der Mutterbrust schon berechnen, wie viel Milch drinnen ist, deren Herz eine Wiegeschale von Eisen und Marbelstein und ihr Kopf ein Waarenlager für zahllose Pläne, Geld und Gut zu gewinnen, koste es, was es wolle, durch List, Täuschung, Ränke, Alles einerlei. Der Mensch machte sich an mein Minchen, prahlte mit seinen Reichthümern, wußte Gift in ihr Ohr zu träufeln, und am Hochzeitsmorgen, wo ich mit meinem Blumenstrauß an ihre Thür poche, in meinem neuen Rock mit großen Perlmutterknöpfen, der noch oben hängt, mit Unterkleidern von schwarzer Seide und Schnallenschuhen, war sie verschlossen.«

»Verschlossen?!« rief Sylvia. »Sie war todt?«

»Dummes Zeug« sagte der alte Herr, »doch ja, todt für mich! In der Nacht war sie davongegangen mit dem elenden Kerl, über die Grenze, da hatten sie sich trauen lassen, und vier Wochen nachher kamen sie zurück, als Mann und Frau. Die Ältern weinten Freudenthränen, und ich, Sylvia, nun ich – ich wurde ausgelacht, wie es sich gebührte. Wohin ich ging und kam, wiesen sie mit Fingern auf mich. Das ist der Professor, dem die Braut davongelaufen, der alte Narr, warum war er nicht klüger!«

»Armer Onkel!« sagte Sylvia.

»Nein, nein!« rief der Onkel, indem er wieder stillstand und sein langes mageres Gesicht ein eigenthümliches Grinsen annahm, »sie hatten Recht, o! gewiß, sie hatten Recht, warum war der alte Narr nicht klüger. Siehst Du! Sylvia,« fuhr er dann ruhiger fort, »so bin ich der Ehe entgangen; pfui Teufel! ich hasse die Ehe, und es ist mir lieb, sehr lieb, daß es so gekommen ist. Vielmals habe ich meinem Schicksal gedankt dafür, ich bin überzeugt, es wäre mir entsetzlich geworden, so recht von Herzensgrunde zuwider. Liebe! es mag drum sein, es regt sich in der Menschenbrust, in der kältesten, ein Funke, der göttlich sein kann, aber Ehe, das ist die allerschlechteste Erfindung, die je gemacht wurde, zwei Menschen zu Sklaven zu machen, das merke Dir, Sylvia.« –

»Und ward sie denn glücklich?« fragte Sylvia leise.

»Was weiß ich!« rief der alte Herr, »in meinem Leben habe ich mich nicht wieder darum gekümmert. O, warum sollte sie nicht glücklich geworden sein? Ein eitles Weib wird immer glücklich, so lange ihr falsches Herz Spielzeug genug findet. Sie ist früh gestorben, das ist alles, was ich weiß.«

»Und Du?« sagte Sylvia.

»Ich? nun ich – Du willst lachen, Mädchen, über meine Bekenntnisse, so lache Denn meinetwegen; aber siehst Du, ich kann sie immer nicht ganz und gar vergessen. Unten in meinem Schrank liegt der Verlobungsring noch, ich habe ihn oft tief fortgepackt und immer wieder hervorgeholt: Wenn ich ihn ansehe, fällt sie mir ein; dann tritt sie vor mich hin mit ihren leichten, kleinen Füßchen. Ich sehe das hübsche Gesicht, die braunen, hellen Locken, die muthwilligen Augen, ich sehe sie ganz und gar, Sylvia, wie sie war, als sie den verdammten Ring an meinen Finger steckte. Es liegt ein Zauber darin, ein sonderbarer, unheimlicher Zauber, es ist freilich alles Narrheit und doch und doch –«

Er legte die greise, große Hand auf sein Herz und ging so weiter, bis er wieder fortfuhr:

»Siehst Du, Sylvia, so ist sie mir immer jung und schön geblieben, aber um keinen Preis möchte ich sie haben, und hätte ich sie geheirathet, könnte ich sie kaum ärger hassen, wie jetzt.«

»Du liebst sie noch, sagte Sylvia lachend.

»Keinen Menschen!« rief der alte Mann heftig, »das soll mir keiner nachsagen. Ich habe mich zurück gezogen, wie die Schnecke in ihr Haus, ich hasse das Gesindel eben nicht, dazu ist es zu schlecht; laß es leben und verderben neben mir, was kümmert es mich, das elende, jämmerliche Pack. Es ist einmal so und kann nicht dafür; ich sage aber, wie mein alter Freund Konradi, der Prediger, einst von der Kanzel zur größten Verwunderung seiner frommen Gemeinde sagte: Gott hat die Welt geschaffen und Menschen darin, aber sie sind auch darnach!«

Dabei lachte er hell auf, schob die weiße Zipfelmütze von seiner fahlen Stirn tief ins Genick und streckte den Finger lang gegen Sylvia aus.

»Du,« sagte er, »bist mir eigentlich auch recht zur Last hier. Wie deine Mutter starb, meine Schwester, die, wie alle Weiber, leichtsinnig war und einen Mann genommen hatte, der sie unglücklich machte, bis er dafür ins Grab mußte, da hab' ich Dich zu mir geholt, weil's nicht anders ging, jetzt sind es acht Jahre. Du wirst es so machen, wie sie es gethan, die Jungen pfeifen, wie die Alten gesungen, das ist so eingerichtet, und Du siehst ganz danach aus, auch Dein vollgemessenes Theil von Eva's großer Erbschaft zu verlangen. Ich will aber nichts davon wissen,« rief er, »geh' Du Deinen Weg zum Glück oder Unglück, was schiert es mich. Das Leben liegt vor Dir, bette Dich darin, wie Du willst, weich oder hart, mich laß in Frieden. Es ist unausstehlich, daß man immer noch an andere Wesen denken soll und keine Ruhe davor hat.«

Plötzlich drehte er sich um, ging auf Sylvia zu und sagte hart:

»Ich glaube, Mädchen, Du lachst mich aus?!«

»Ich lache nicht,« erwiederte sie, aber horch!«

Von unten herauf schollen Stimmen, dann ein dumpfes Lachen. Eine Thür wurde zugemacht, Tritte auf dem Flur, dann eine Stimme, die ein barsches: »Gute Nacht!« rief; darauf ging Jemand aus dem Hause.

»Das war der langbeinige Doctor,« sagte der alte Herr und lief ans Fenster, das er öffnete. »Was zum Henker! er läuft davon und läßt den Todten auf meinem Sopha liegen? Was habe ich mit eines fremden Menschen Leiche zu schaffen? Ich seh' es kommen; sie muthen mir den ganzen Trauerzug zu, und als Zugabe das übliche Frühstück auf meine Kosten.«

Indeß ging die Thür auf und der schmutzige Junge trat herein.

»Nun, Friedrich?« rief Sylvia.

»Ist's vorbei?« sagte der Onkel.

»Gott bewahre, er lebt ja,« rief der Junge. »Das Genick ist ganz, es ist bloß erschüttert worden, wie der Doctor sagt. Die Knochen sind auch alle ganz, ein Paar sind nur verrenkt, und in drei bis vier Tagen wird er wieder aufstehen können.«

»Dem Himmel sei Dank!« rief Sylvia fröhlich und klaschte in die kleinen Hände.

Der alte Herr warf ihr einen finstern Blick zu.

»Wo ist der Doctor hingegangen?«

»Nach Hause; morgen früh kommt er wieder.«

»Und was soll mit dem Erschütterten werden?«

»Der soll ruhig liegen bleiben,« sagte der Junge. »Der Doctor hat Ihr Bett genommen, hat es ihm untergepackt, und da liegt er nun.«

»Drei Tage?!« rief der alte Herr empört und schüttelte die geballten Fäuste.

»Höchstens vier,« sagte der Junge, dem die Wuth seines Herrn sehr viel Vergnügen machte.

»Und nun frage ich, ob noch ein Mensch auf Erden lebt, dem Ärgeres begegnen konnte,« rief der Onkel mit unaussprechlicher Bitterkeit. »In meinem Zimmer, auf meinem Sopha, in meinem Bett, ich – ich, der ich mich so weit von aller Last, von aller Gemeinschaft mit der Welt zurückziehe. Ich will es aber nicht dulden,« schrie er, »er muß und soll mir aus dem Hause! Er ist hier aus der Stadt, er hat Ältern. Wer sind seine Ältern?«

»Er hat blos einen Vater;« sagte der Junge.

»Wer ist der Vater?«

»Der soll nichts wissen, bis er wieder gesund ist. Er hat den Doctor sehr gebeten und darum bleibt der Bediente auch hier.«

Der alte Herr lachte wie unsinnig auf.

»Immer besser,« rief er; »damit der Herr Vater ja keine Last und keinen Kummer habe, bin ich gut genug.«

»Wie heißt der Vater?

»Ich glaube Lobach oder Lorbach, es soll ein Banquier sein.«

Der alte Herr trat jäh einen Schritt zurück, dann ließ er den aufgehobenen Arm sinken, stampfte heftig mit dem Fuß auf und riß die Nachtmütze von seinem kahlen Haupte.

»Wenn Du den Verunglückten ausstoßen willst, so krank er ist,« sagte Sylvia, »so erlaube wenigstens, daß es mild und schonend geschieht. Wir wollen seinen Diener rufen, ihm sagen, daß es unmöglich sei, ihn länger aufzunehmen, und morgen ganz früh den Vater benachrichtigen.«

»Den Vater? nein, auf keinen Fall,« schrie der Onkel heftig. »Soll mir der auch noch hierher kommen?!«

»Man kann ihn ja in einen großen Korb legen und forttragen,« sagte der Junge.

»Dummkopf!« rief der alte Herr, »hat nicht der Arzt gesagt, kein Glied sollte aus seiner Lage gebracht werden?«

Er lief mit großen Schritten auf und ab, dann stand er wieder still und sagte erschöpft:

»So lasse ihn denn liegen und wache bei ihm; ich möchte aus der Haut fahren, aber was sein muß, muß sein. Das hat man vom Leben und von den Menschen, nichts als Last, nichts als Unruhe; aber sobald er kann, soll er fort; sehen will ich ihn auch nicht, kein Wort, keinen Dank, was heißt Dank bei diesen undankbaren Wesen? Und dieser da« – hier schwieg er still, dann schlug er sein helles, zorniges Laden auf und rief: »der wird fortfahren, wo ein Anderer aufgehört hat. Die schadenfrohen Mächte sind immer geschäftig, Unheil anzuspinnen, schlage Du ein Kreuz, Sylvia, ehe Du einschläfst. Ich suche mir ein Lager. Gute Nacht!«


2.

Sylvia schlief nicht. Als der alte Onkel gegangen war, lachte sie leise vor sich hin und blieb auf dem Sopha sitzen, wo sie die Füße an sich zog, den Nachtmantel dicht um ihren Körper schlug und den Kopf in beide Hände verbarg. Unten gingen die Thüren zuweilen auf, dann richtete sie sich empor, bis Alles still war, und nun erlosch das kleine Licht, aber ihre Augen blieben wach und eine sonderbare Kette von Bildern und Gedanken tanzte und spann sich um sie aus in dem dunklen Zimmer.

Da lag er vor ihr, der junge Unglückliche, und sein bleiches, edles Gesicht hob sich, wie aus Trauerflören, zu ihr auf, bis es ganz hell und glänzend war. Nun schaute er sie an mit seinen schönen klaren Augen, deren Blick in ihr Herz drang, daß es laut klopfte. Er streckte die Hände nach ihr aus und sie reichte sie ihm, da zog er sie fest an seine Brust; er trug sie fort wie in Sturmes Eile, sie jauchzte laut. Aber hinterher kam der alte Onkel, als hätte er Meilenstiefeln, immer näher und näher, in seiner Weise ganz entsetzlich lachend. Riesenhafte, dunkle Hände streckten sich von ihm aus, immer länger, immer grämlicher, immer entsetzlicher. Weiße Schatten flogen an sie hin und wollten sie aufhalten, aber fester umschlang sie ihren Freund, da strauchelte er und konnte sich nicht halten, und fiel und rollte über einen jähen Abhang, und vergebens streckten sich ihre Arme aus, vergebens versuchte sie einen Schrei um Hülfe, mit sinnbetäubender Geschwindigkeit stürzte sie mit ihm in einen unermeßlichen Abgrund, aus dem ein dumpfes Wimmern und Ächzen aufquoll.

Das erweckte sie. Sie richtete sich auf und glaubte noch fortzuträumen, und hörte zitternd den bangen Ton, der aus dem Boden emporstieg. In diesem Augenblick fiel es ihr erst ein, was wahr, was falsch sei. Leise öffnete sie die Thür, ganz leise stieg sie die Stufen hinunter; nun horchte sie an dem Zimmer des Kranken, dann schlüpfte sie hinein und setzte sich auf den Stuhl an sein Bett.

Der Knabe, welcher Wächter sein sollte, lag fest eingeschlafen in einem Winkel, der Diener des Fremden war in der Nebenkammer geherbergt, Niemand kümmerte sich um den fieberkranken Mann, der leise stöhnend, Kopf und Arme von Binden umwunden, mit halbgeschlossenen Augen und heißen trockenen Lippen zu phantasiren schien.

Sylvia sah ihn lange mitleidig an und suchte bei dem ungewissen Dämmerschein der verhängten Nachtlampe in seinen Zügen zu lesen. Dann ergriff sie seine Hand, die von der Decke seitwärts herabgesunken war, und brachte sie in ihre Lage. Bei aller Behutsamkeit aber erwachte der Kranke und sagte mit sanfter Stimme:

»Du thust mir weh, ich fühle einen stechenden Schmerz.«

»Was kann ich thun?« flüsterte sie und ließ ihn los.

»Mich dürstet sehr,« sagte er, »gieb mir zu trinken.«

Sie ergriff ein Glas, bereitete ein fühlendes Getränk und brachte es mit zaghafter Hand an seinen Mund. Er trank in langen, durstigen Zügen.

»Habe Dank,« sagte er, als er zurücksank, »Du hast mir wohl gethan, ich will es nicht vergessen, Deine Hand lindert meinen Schmerz –«

Er murmelte Worte, die Sylvia nicht verstand, und schloß die Augen.

So saß sie denn lange Zeit noch und behütete ihn. Bald beugte sie sich zu ihm nieder, um auf seine unruhigen Athemzüge zu lauschen, bald sah sie ihn starr an mit ängstlichem Forschen und dann lächelte sie und schüttelte den Kopf.

»Ich darf nicht länger bleiben,« murmelte sie endlich vor sich hin und stand auf. »Was ist es denn, das mich mit so lebhaftem Antheil an diesem Leidenden erfüllt? Morgen wird er wohler sein, am nächsten Sage wird er uns verlassen, seinen Dank sagen und uns vergessen. Vergessen?« sagte sie mit einem schnellen Blick auf den Schlafenden, »nein, das wird er nicht, das darf er nicht, aber wiedersehen werden wir uns selten, oder nie. Wie thöricht ist doch dieser alte Mann,« fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie an ihren Onkel dachte, »er will die Welt ganz von sich stoßen und lebt doch in ihr, und die Welt ist so schön! Warum will er diesen jungen, reichen, edelgebildeten Fremden nicht sehen, warum nicht seinen Dank annehmen? Warum nicht seinen Vater empfangen, in wechselseitige Freundschaft treten und mich – mich beglücken,« sagte sie leise. »In seinen Augen schien ein rechter Haß zu liegen, er ballte die Hände, wie er seinen Namen hörte, o! er ist böse, sehr böse und menschenfeindlich, er könnte ihm in seinem Zorne ein Leid zufügen.«

Indem sie dies sagte, hörte sie ein Rauschen hinter der Wand. Sie erschrak heftig, erinnerte sich aber sogleich, daß eine schmale geheime Treppe von diesem Zimmer aus in das obere Stockwerk führe und daß es nur ihr Oheim sein könne, der da heruntertappe. Seltsame Gedanken stiegen in Sylvia auf.

»Was wollte er hier, was konnte er wollen?«

Sie fühlte plötzlich einen kühnen Muth in ihrem Herzen, nicht zu entfliehen; es war ihr, als müsse sie den Schlafenden schützen, und schnell schlüpfte sie hinter eine der schweren tief niederhängenden Gardinen, gerade als sich vor ihr die Tapetenthür öffnete und der hagere, große Mann in seinem blumigen Schlafrocke, ein Nachtlicht in der Hand, ganz leise hereintrat. An der Thür stand er still, Alles sorgsam überblickend, dann ging er schneller auf das Bett zu.

Es war ein gar ängstlicher Anblick für Sylvia und ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie die Hand fest darauf preßte, um es nicht zu verrathen, als der alte Mann sich tief zu dem Schlafenden niederbeugte, in der einen Hand das aufflackernde Licht, mit der andern sich selbst stützend, und wie er, ohne sich zu bewegen, viele Minuten lang ihn ansah. Dann und wann nur nickte er langsam und die weiße Mütze machte schwankend die Bewegung immer heftiger, bis sie von seiner Stirn gleitend auf das Kissen fiel.

Nun öffneten sich seine Lippen, aber Sylvia hörte keine Worte, dann that er das Licht von sich, setzte sich auf den Stuhl, verschränkte die Arme und das zitternde Mädchen konnte deutlich sehen, wie roth und böse sein Gesicht aussah, wie es sich unheimlich verzerrte und das weiße Haar auf seinem halbnackten Scheitel gespenstig aufstieg und zu leuchten schien. Er ballte seine großen Hände, seine langen Arme fuhren hin und her und zersägten die Luft, bis sie endlich müde niedersanken und eine Erschlaffung eintrat, in welcher er ganz still und regungslos saß.

Nach einer langen Weile erst stand er auf und ging zu dem großen alterthümlichen Schreibpult, in welchem er Kasten aufzog, verborgene Fächer öffnete, welche Sylvia nie gesehen hatte, zwischen Papieren und Documenten umhersuchte – zuletzt aber mit einer freudigen Bewegung etwas ergriff, das er hoch emporhielt und dann in seiner Hand verbarg.

Das junge Mädchen erkannte, was es war, das Licht hatte darauf geblitzt, es war der Ring, von dem er ihr gesprochen, den er jetzt an seinen Finger steckte, welcher alt, morsch und vertrocknet, das späte Pfand seiner Liebe nicht festhalten wollte.

Ein grausamer Schmerz malte sich in dem Gesicht des Greises, als er die Hand aufhob und betrachtete. Er ließ seinen Kopf tief niedersinken, dann schüttelte er ihn langsam und murmelte Worte vor sich hin, die seine Seufzer unterbrachen. Langsamen Schrittes trat er dann wieder an das Bett, und plötzlich war die Rührung in seinen Zügen verschwunden, er richtete sich stolz in seiner ganzen Länge auf, so kräftig und gebietend, als sei seine Jugend wiedergekehrt.

»Junger Thor,« sagte er mit einer Stimme, die tief aus seiner Brust kam, leise und dumpf an den Wänden hinlief und sich in Silvia's Herzen verlor, »Du junger gedankenloser Thor, welche böse Stunde, wo die finstern Geister Deines Schicksals Macht über Dich hatten, führte Dich in dies Haus zu mir, der ich Dich hasse, zu mir, der ich Dich verflucht habe, wie Du geboren wurdest, her zu mir, wo Du neuen Fluch aufwecken wirst? Ich sage Dir aber,« fuhr er dann drohend fort, »Du bist umsonst gekommen, was kümmert es mich, was kannst Du mir noch anhaben? Was geschehen wird, soll und wird geschehen, denn steht nicht geschrieben, an den Kindern soll es vergolten werden? Ich sehe Dich, wie das heiße Blut Dein Herz zerreißen will, denn Du bist jung und leichtsinnig, ich sehe Deine Augen voll Angst, Deine Stirn voll Gram, Deinen Sinn vergiftet von kämpfenden Leidenschaften, denn Du bist ein Kind der Welt und des Augenblicks, allen den unermeßlichen Qualen überliefert, die das traurige Gemisch von Böse und Gut in unbeständige Menschenbrust legt. Kind, Kind, ich sage Dir, der Zufall hat die Welt gebaut; schadenfroh, in zahllosen Gestalten, alle Teufel und als Gott waltet er in seiner Schöpfung; er hat Dich nicht umsonst in dies Haus geführt, er wird mich rächen an Dir, ha Sylvia! –«

»Sylvia!« sagte der Kranke mit leiser Stimme.

»Rufst Du sie schon,« flüsterte der alte Mann mit seinem heiseren Lachen, »o, sorge nicht, sie wird kommen. Die schöne Schlange wird sich um Dein Herz legen, sie wird Dein Blut aussaugen, so muß es geschehen. Wenn Du verzweifelst, Du närrischer junger Mensch, tanzt sie glückselig mit Blumen im Haar, voll Liebes- und Lebenslust, und wenn Du zum Todtensprung bereit bist, wird sie in eines andern Mannes Arm liegen, verzehrt von Wonne.«

»Vergieb, o vergieb!« murmelte der Schlafende und streckte die Hand aus.

»Keine Vergebung!« rief der alte Mann, »Auge um Auge, Zahn um Zahn, so lautet der Spruch, und so wird er sich erfüllen. Ja,« sagte er, und beugte sich über den Kranken, »Das sind ihre Züge, ich erkenne sie wieder, und hier ist der Ring, hüte Dich, Kind, hüte Dich vor seinen geheimnißvollen Kräften, ihr Gift wird Dich verzehren.«

Er schüttelte drohend den Finger, da flog der Ring ab und kollerte klingend über den Boden hin zu Sylvia's Füßen hinter den Vorhang. Der alte Mann eilte ihm nach, plötzlich aber fuhr er zurück, der Vorhang wich, Sylvia's weiße Gestalt trat langsam daraus hervor in das Dämmerlicht.

»Wer bist Du?« schrie der Greis. »Schatten, Phantom, Gespenst! willst Du ihn beschützen?!«

Und plötzlich faßte ihn ein Schauder an, er floh zu der Thür, durch welche er eingetreten war, er sah sich nicht um.

Sylvia schlüpfte aus dem Gemach, der Knabe wachte auf, der Diener eilte herbei und unterstützte seinen Herrn, der sich aufgerichtet hatte.

»Was war das?« sagte er, »wer saß an meinem Bett und schützte mich vor der schrecklichen Gestalt?«

Der Diener sah den Knaben an und schüttelte den Kopf; sie legten die Kissen und sprachen leise von dem Lärm, den sie gehört, furchtsam schauten sie umher, und schliefen wieder ein.


3.

Am nächsten Morgen kam der Doctor und fand seinen verunglückten Verwandten nicht ganz nach Wunsch. Er machte ein finstres Gesicht, prüfte von Neuem die Verletzungen, untersuchte die Geschwulst, verordnete und setzte sich dann neben das Bett, indem er dem Kranken die größte Ruhe empfahl.

»Hast Du meinen Vater schon gesehen, Rudolf?« fragte der junge Mann.

»Gesehen und gesprochen,« erwiederte der Arzt, »er ahnt nichts, er schwimmt in Speculationen, die so glückliche Resultate weissagen, daß er gesprächig und lustig ist.«

Der Kranke lächelte.

»Ich kann es denken,« sagte er vor sich hin.

»Gestern war ich bei Seefelds,« fuhr Rudolf fort, »wir tanzten nach dem Essen, Constanze war bezaubernd, Du wurdest sehr vermißt.«

»Fragte sie nach mir?«

»Ich verbiete Dir alle Aufregungen,« versetzte der Doctor und drückte ihn in die Kissen zurück, indem ein zuckendes Lächeln seine Lippen verzog. »Ihr feines Gesichtchen wurde roth, wie sie Deinen Namen nannte, das kann Dich befriedigen; bei den Mädchen ist das Blut verrätherisch, wie das Herz. Ich sah sie an und sie wandte sich ab, vermuthlich um mir die schöne Taille zu zeigen, das neue Brüssler Kleid, den Goldblumenbesatz, und was weiß ich noch weiter. Ich genoß was zu genießen war; sie ist reizend, bezaubernd, vollendet, das wissen wir alle und Du auch.«

Der Kranke schwieg ein Weilchen, dann sagte er:

»Wie lange soll ich hier liegen?«

»Drei Tage.«

»Drei Ewigkeiten!«

»Danke Deinem Glück,« erwiederte der Arzt, »daß die eine Dich an ihrem Thore für diesmal noch abwies.«

»Bei wem bin ich hier?«

»Bei einem alten wunderlichen Kauz, einer Art Hexenmeister, der eine liebliche Sylphe gefangen hält.«

»Sonderbar,« sagte der Kranke. »Ich glaube, daß ich beide sah.«

»Gestern, als sie Dich in diese Hexenküche schleppten,« rief Rudolf »ja. Ich fand sie beide an Deinem Lager geschäftig und bereit in ihrem Diensteifer Dich zu erwürgen. Der alte Professor Helmstädt hat früher Chemie und Naturwissenschaften eifrig getrieben und gelehrt, dem Stein der Weisen nachgespürt und was sonst die Welt im Innersten zusammenhält, und ist darüber fast ein Narr geworden. Was die Sylphe betrifft, so ist sie, wie die Welt sagt, seine Nichte, andere meinen seine Tochter oder sonst ein Wesen erzeugt durch den Umgang mit Elementargeistern, um Mitternacht durch Zaubersprüche heraufbeschworen.«

Der Kranke sah seinen Freund mißbilligend an.

»Wie heißt sie?« fragte er. »Heißt sie nicht Sylvia?«

»Ah!« rief der Doctor, »Die kleine Zauberin hat sich also schon in Deine Träume und Phantasien geschlichen. Nimm Dich in Acht, Victor, das ist gefährlicher als Du meinst. Wir müssen diesen Geist bannen.«

»Dadurch am besten,« sagte der Sohn des Banquiers, »daß ich so schnell als möglich dies Haus verlasse. Wie viel Ungemach bereite ich diesen guten Leuten und durch welchen Dank kann ich die Schuld abtragen?«

»Dank wollen sie nicht,« versetzte der Arzt spöttisch; »deswegen also keine Sorge. Ehe ich in Dein Zimmer trat, stieg ich die Treppe hinauf, öffnete eine Thür und stand plötzlich vor dem alten Herrn und dessen Zögling. Er sah sonderbar aus in seinem Schlafrock von Damast, dessen Gewebe mit Ranken und Zeichen, wie mit kabbalistischen Charakteren durchzogen war, dazu hatte er ein brennend rothes Tuch um den langen Hals geschlungen und einen schneeweißen Turban auf sein silbernes Haar gesetzt. In der Ecke des Sophas saß die Sylphide, halb liegend, ihre Flechten aufgelöst, schwarz und glänzend wie Ebenholz, den zarten Körper in ein Mäntelchen gehüllt und offenbar im magnetischen Schlaf, den ihr der Alte beigebracht hatte, denn sie rührte sich nicht, und doch waren ihre großen Augen offen und fest auf mich gerichtet.«

»Höre auf mit Deinen Possen,« rief Victor lächelnd.

»Possen!« fuhr sein Freund fort, »ich versichere Dich, daß ein Schauer mich überkam und mein Wort stockte, was sonst nicht leicht geschieht. Ich fing an, Dich zu entschuldigen, zu danken und Erklärungen zu geben, die er aufmerksam anhörte, aber, wie es schien, kein Wort davon verstand, denn plötzlich wies er nach der Thür und schrie:

›Lassen Sie mich in Ruhe, wenigstens hier oben. Heilen Sie ihn, morden Sie ihn, begraben Sie ihn, es ist mir Alles einerlei, ich will nichts damit zu schaffen haben.‹

›Nehmen Sie wenigstens unsern Dank,‹ sagte ich, aber er ließ mich nicht ausreden.

›Alles, was Sie sagen können und wollen,‹ rief er, ›weiß ich und will es nicht hören. Meine Stunden sind gezählt, ich habe keine Zeit für den Schnickschnack von Worten. Guten Morgen, Herr! den einzigen Gefallen thun Sie mir und belästigen Sie mich nicht weiter.‹

Damit kehrte er sich um, die Sylphide sah mich grimmig an, ich machte ihr eine tiefe Verbeugung und ging lachend zur Thür hinaus.«

»Und bei diesen Leuten, die so widerwillig Gastfreundschaft üben; willst Du mich lassen?« sagte Victor nach einer kurzen Pause. »Ich muß fort, schaffe die Mittel, laß mich bringen wohin Du willst.«

»Nicht von der Stelle,« rief der Arzt. »Du bleibst, weil Du mußt. An den Zorn des alten Sonderlings kehren wir uns nicht, je toller er sich geberdet, um so größer seine Strafe; was aber das liebliche, schmollende Kind betrifft, so ist es viel zu interessant, um seine Nähe so leichtsinnig zu verlassen.«

Diese letzten Worte erregten sonderbare Gedanken bei dem Leidenden. Er warf einen Blick auf seinen Vetter, der rasch über diesen hinglitt und doch von einer Reihe von Combinationen begleitet wurde. Ein Unwille erfüllte geheim sein Herz, eine Unruhe und Schattenbilder schwankender Gestalten, die sich noch lange nicht auflösen wollten, als der Arzt gegangen war.

Müde sank er endlich in die Kissen zurück, schlief lange und fest, und wie er die Augen wieder erhob, war das Zimmer voll Sonnenschein und Wiederglanz der klaren Himmelsbläue draußen, das Rebengelände an den Fenstern neigte und beugte sich sanft und streute flüchtige Schatten, aber mitten in diesem Lichtgefunkel, ganz überflossen davon, saß ein schönes stilles Mädchen, den Kopf auf ihre Hand gestützt, diese von dem dunklen Gewebe ihrer Locken umrankt, und die großen Augen mit dem Ausdruck theilnehmenden Kummers auf ihn gerichtet.

Einen Augenblick war er im Anschauen verloren, halb träumend, dann immer bewußter sah er sie an.

»Sylvia!« sagte er unwillkürlich laut und ängstlich fast, daß er doch noch träumen möge.

Sie beugte sich und lächelte, faßte seine Hand, die er gegen sie erheben wollte, und sagte sanft:

»Sie dürfen sich nicht bewegen. Dem Himmel Dank, daß Sie sich kräftiger fühlen. Das war eine böse, böse Nacht, daran werden Sie denken, so alt Sie werden, und ich auch.«

»Sie auch!« wiederholte er.

»Ih freilich,« erwiederte sie erröthend. »Ich wollte eben einschlafen, da hörte ich durch das Brausen des Windes Menschengeschrei und Hülferuf. Ich sprang auf, im Hause war es laut, Licht und Geweine. Da wurden Sie eben hereingetragen, bleich, blutig, ein Todter. Ihr Haar hing wild über den Nacken, der Kopf leblos und entstellt nieder, die Augen geschlossen, ach! es war sehr traurig und entsetzlich.«

»Und doch war ich nicht so sehr eine Leiche,« sagte er bewegt, »um nicht eine Klagstimme zu hören, eine Thräne zu fühlen, die heiß auf mein Gesicht fiel, eine sanfte Hand zu empfinden, die Hand des Barmherzigen, die meine Wunde wusch. Ich strengte mich an zu sehen, aber meine Augen waren trübe und schwer, und doch schwebte eine lichte Gestalt vor mir auf und ab, ich hörte wie aus ungeheurer Ferne einen Namen, den ich nie vergessen werde, ein anderes Auge, ein inneres schickte mir sein Licht und nun weiß ich nicht, war es Traum, war es Wachen, Phantom oder Wirklichkeit, aber die ganze Nacht über ging es und kam und behütete meinen Schlaf, linderte meinen Schmerz, schützte mich vor bösen Gespenstern, nein, nein! meine edle Freundin – gestatten Sie mir diesen Namen – ich habe eine schöne, eine unvergeßliche Nacht verlebt, deren Andenken viel Böses vergessen läßt.«

»Eine Nacht voll Fieber,« sagte sie lächelnd. »Sie werden nicht wieder so träumen.«

»Gewiß nicht,« erwiederte Victor, »ich werde Ihr Haus noch heut verlassen.«

»Sie werden bleiben,« rief Sylvia fast befehlend, »bis Sie geheilt sind. Ich weiß Alles,« sagte sie dann, »ich sprach mit Ihrem Arzt, als er von Ihnen ging, dann mit meinem Oheim, er bittet Sie durch mich, Ihre Heilung abzuwarten. Und darum kam ich hieher,« fuhr sie mit einer lebhafteren Regung fort, »mein Oheim will keinen Dank, aber ich und der soll sein, daß Sie hier friedlich wohnen bis Sie – von uns scheiden können.«

»Und die Belästigungen, welche ich Ihnen bereite?

»Ich habe Alles eingerichtet, wie es sein soll,« fuhr sie fröhlich fort. »Hier ist ein Tischchen gedeckt mit Allerlei, was Ihnen wohl thut und was ich liefern kann. Der Doctor hat den Küchenzettel gut geheißen, nun speisen Sie, dann schlafen Sie, dann lasse ich mich melden und plaudre mit Ihnen, oder wenn Sie es lieben, lese ich Ihnen etwas vor. So wird der Abend kommen und morgen werden Sie aufstehen können. Das Wetter ist herrlich; unser Garten hat eine Terrasse nach dem Felde hinaus, wir können weit hinblicken über die Wiesen und Wälder, und nun, mein Herr, keine Ausflüchte, sondern Gehorsam, strengen Gehorsam Ihrem Arzte, der bin ich.«

Sie hob drohend und lächelnd den Finger und schlüpfte hinaus, während der Athem der Gesundheit die kranken Glieder des jungen Mannes zu durchdringen schien. Er hatte sich ganz aufgerichtet, so leicht und wohl war ihm, er hätte ihr nacheilen, ihr seinen Dank sagen, weiter und immer weiter ihre Worte anhören mögen, und er seufzte, daß sie so schnell gegangen war. Zum ersten Male hatte er sie gesehen und doch war sie ihm ein bekanntes, befreundetes Wesen.

»Ja, es giebt Menschen auf Erden,« rief er, »die wunderbar unser Herz rühren, die mit einem Blick, mit einem Wort unsere Brust öffnen, aus denen der Quell des Vertrauens, der Neigung ihnen entgegenströmt, während Andere, Blutsfreunde, Väter und Mütter und was die Natur mit uns verband, uns ewig fremd und fern blieben.«

Seine Stirn wurde düster, er zog sie in Falten zusammen, die der Geschwulst Schmerzen machten und seufzte dann, weil er an seinen Vater dachte, an Hoffnungen, an Plane, an das Leben, das plötzlich vor ihm seine Thore öffnete und einen raschen tiefen Blick in die Ferne thun ließ, der sein Blut aufregte.

»Was ist das?« murmelte er vor sich hin, »welche Thorheit?! Was reißt mich denn fort, welche Kuckukseier brütet mein Gehirn aus! Was hat sich denn in meinem Denken und Wollen verrückt, daß es ein ganz Anderes zu sein scheint? Vor wenigen Stunden noch war all mein Sinnen, alle meine Erwartungen von Leben und Zukunft ganz anders geordnet, und alles so klar und sicher, so fest und und wandelbar, als könne und dürfe sich nichts daran verschieben. Und nun – und nun –« fuhr er sinnend fort. »O! mein Vater hat Recht: die Grundsätze, das überlegene, kluge Thun, das macht den Mann. Wehe dem, der dem heißen Blute gehorcht, er ist ein Narr, seine Welt Schaum, sein Leben Täuschung!«


4.

Am nächsten Tage hatte sich Victor wirklich so weit erholt, daß er aufstehen und am Nachmittage von seinem Diener in den Garten geführt werden konnte. Es war im Spätsommer, wo auf der norddeutschen Ebene die Luft sich durch Wind und Trockenheit von den Dünsten reinigt und ein durchsichtig klarer, fast italienisch warmer Himmel, gewöhnlich tiefblau, oft Wochen lang über Wald und Felder hängt.

Der Garten des Landhauses, das dem Professor gehörte, war ziemlich groß und parkartig eingerichtet. An der einen Seite bewegten hundertjährige Silberpappeln ihre glänzenden Blätter, Pinien und prächtige Buchen faßten einen Weg ein, der tief herabführte, die andere Hälfte war voll Obstbäume der edelsten Art, deren gelbliches, sonnenbestrahltes Laub eine Fülle von Früchten verbarg und vorschimmern ließ. Hohe Gehege und Laubengänge von Wein sperrten dem Nachbar die Einsicht von der Mittagsseite. Ein gewürziger Duft zog unter den Bäumen hin, und längs des Hauses liefen schöne große Blumenbeete in zierlicher Ordnung mit Taxushecken eingefaßt, mit Georginen reich besetzt, ein Gewimmel glänzender Farben, jener zarten Schmetterlinge der Pflanzenwelt, die nach kurzem wonnigen Leben die Flügel sinken lassen und sterben.

Mit langsamen Schritten, auf seinen Stock gestützt, ging der junge Mann zwischen den Bäumen hin und hörte den Worten des Dieners zu, der ihn zu unterhalten strebte, indem er ihm erzählte, daß der alte Herr diese Blumen selbst pflanze, diese Bäume selbst verschneide und vom frühen Morgen an hier umherhantire, wobei nicht selten Alles, was Hände habe, helfen müsse, auch das schöne Fräulein, die mit den kleinen weißen Fingern Bast herbeibringe, die Flüchtlinge an den schirmenden Stützen befestige und hier sogar ein Beet habe, daß ihr ganz allein gehöre.

»Aber das Beet ist fast leer,« sagte Victor, indem er dem Fingerzeig des Dieners folgte.

Der Mensch lächelte pfiffig und sagte dann:

»Wo sollten denn alle die schönen Blumensträuße und Töpfe herkommen, die Fenster und Tische bei uns einnehmen? Das liebe Fräulein hat sie hier abgeschnitten und das Zimmer damit ausgeschmückt. Ich mußte sie aufstellen, während Sie schliefen, und heut wieder, denn sie meinte, ein Kranker müsse Blumen um sich haben, an den schönen Farben richte sich sein Gemüth auf, und der Geruch stärke die Lebenskräfte.«

»O, Sylvia!« sagte Victor leise.

»Es ist ein sonderbarer Name,« meinte Franz lachend, und schüttelte den Kopf, »ich hätte niemals geglaubt, daß ein vernünftiger Mensch so heißen könnte, aber ich weiß eigentlich auch nicht, wie sie anders heißen sollte, so freundlich, so gütig und so schön wie sie ist. Es würde keiner passen.«

Was der Mensch in seiner Weise sagte, drang tief in Victor's Gemüth. Er hätte auch keinen passendern Namen für sie gewußt, keinen schönern als den zarten, den sie trug, dessen Klang in seiner Brust einen Zauber erregte, als sei es eine Beschwörungsformel, die Geister wecke, welche nicht wieder gebunden werden konnten, hätte er Salomonis Siegel besessen.

Gestern hatte er mit allem Muthe um seine Empfindungen Schranken gezogen, die er Grundsätze nannte, und ach! wie bald waren diese niedergerissen. Die Stunden waren ihm vergangen wie Minuten, Sylvia's süßes Geplauder dünkte ihm erfüllt von den erhabensten, schönsten Gedanken, ihr Schweigen aber entzückte ihn noch mehr. Es entzückte ihn Alles, ihr Blick, ihr Lächeln, die Einfalt ihrer Worte, das Natürliche ihres Wesen, ihr Vertrauen, ihre Freude und ihr Ernst, der zuweilen plötzlich hervortrat.

War sie gegangen, dann erwachte er und dachte nach und schalt sich über seine geringe Stärke, kam sie wieder, dann brach, was er sich aufgebaut, ein einzig Wort, und jetzt sah er suchend, bittend, unmuthig umher, sie war nicht da und doch hatte sie versprochen bei ihm zu sein. Er wollte sie überraschen, seine Seele spiegelte sich in ihrer Freude, wenn sie ihn hier fände; sehnsüchtig Glück von Herz zu Herz, das ist die Liebe.

Plötzlich hörte er Stimmen in einer Laube, die Bohnen und Winden mit zahllosen Blüthen dicht ums rankten. Sein Schritt wurde schneller, sein Körper richtete sich auf, er ließ den Diener los, die Röthe der Erwartung trat in seine Fibern. Da stand er dem Eingang gegenüber, sah hinein, trat zurück, zog den Hut und setzte seinen Weg langsam fort. Es war der Professor und ein alter Herr, die saßen beisammen da drinnen, als er sie aber flüchtig angesehen und sie ihn, kehrten sie ihm den Rücken zu.

Victor konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, die alten Herren sahen gar sehr sonderbar aus, der Professor zumal, der einen großen Rock von grünem verschossenen Perkan angezogen, dazu trug er gelbe, enge Unterkleider und Schuhe, in denen seine mächtigen Füße steckten, welche er über's Kreuz gelegt hatte. Auf dem Tisch lag ein Strohhut mit unmäßigen Krämpen, er selbst saß mit seinem kahlen Haupt; dicht daneben aber schwänzelte die Perücke seines alten Freundes, welche auf einen Spazierstock gepflanzt war, der im weichen Boden feststeckte, und so dünn und lang und knochig der Professor war, so dick und gepolstert und klein sah sein Freund aus. Schwarz war er von Kopf zu Fuß, aber den Stock hatte er abgelegt und an eine der Latten in der Laube aufgehängt; vor den Herren stand eine Kaffeemaschine und gefüllte Tassen mit dem schönen starken Getränk; daneben ein alterthümliches Kästchen mit Taback, und in den Händen hielten sie die langen, feinen, weißen Thonpfeifen mit farbigen Spitzen, deren blauringelnde mächtige Wolken die wichtigen und tiefsinnigen Gedanken anzeigten, von deren Verfolg sie aufgestört waren.

»Siehst Du nun noch nicht ein,« sagte der Professor nach einer langen Pause, »was die sogenannte Menschlichkeit, das Mitgefühl, die Großmuth für Dummheiten sind, deren Folgen auf den zurückfallen, welcher Narr genug ist, sie zu üben? Selbst hier sind wir nicht sicher vor der Strafe. Hier hinkt der Kerl herein, starrt uns an, lacht uns aus, und hat morgen nichts Eiligeres zu thun, als seinen ganzen Kreis mit Lügen und Verläumdungen zu unterhalten, ihr Gelächter, ihren Witz und Spott aufzuregen, das ist sein Dank für unsere Mühen und Entbehrungen.«

»Und deßwegen,« sagte der kleine dicke Herr, indem er Stahl und Stein vom Kaffeebrette nahm und Feuer schlug, »deswegen kannst Du noch zornig werden? Wer wird sich über etwas ärgern, das dem Menschenvolk so nöthig ist, wie Luft und Brot. Verläumdung, Lüge, nichtswürdige Schlechtigkeit, darin besteht ja ihr ganzes Wesen, so im Kleinen wie im Großen, im Einzelnen wie im Ganzen. Wie könnte denn das Getriebe sonst dahin kommen, wo es ist? Ist es denn jemals anders gewesen? Sie haben sich geplagt und geschunden, gezwickt und gezwackt, belogen, betrogen, geknechtet, gemordet, so lange sie da sind. Das ist ihre innerste Natur, wer kann also von dem Gesindel Besseres erwarten? Laß ihn gehen und gaffen, laß ihn lachen und verhöhnen, er thut seine Schuldigkeit, er lobt seinen Schöpfer, der ihn nicht besser gemacht hat. Dieser ringelnde Ameisenhaufen mit seinen bestialischen Neigungen, mit seiner blinden Wuth und Gier nach Genuß und Besitz mit allen seinen niederträchtigen Eigenschaften und Launen, mit seinen lächerlichen Überhebungen von Hochmuth und Dünkel, seiner ekelhaften Demuth, seinen Thorheiten, die er Leidenschaften nennt, ist er denn nicht so tief verächtlich, daß man sich nicht ärgern kann.«

»Wahr, wahr!« rief der alte Mann mit leuchtenden Blicken, »es ist ein miserables Machwerk, nothdürftig zusammengeflickt aus Koth und Staub, dann hinausgeworfen um selig zu werden, und das Hohngelächter der Hölle als Mitgift auf den langen Weg.«

»Darum, Du weiser Mann,« sagte der kleine Herr, »bemitleide sie, vergieb ihnen, was sie thun, und laß sie ihres Wege wandeln.«

»Der Reise ohne Ende,« sprach der Professor vor sich bin, »des blutigen Kampfes ohne Rast und Ziel, oder meinst Du – glaubst Du – daß es einst mit ihnen besser werden könnte?«

»Ich glaube nicht,« erwiederte der Andere gleichmüthig und stopfte seine Pfeife nach. »Weißt Du was der Narr fand, der das heilige Bild in Sais aufdeckte, als er nach der höchsten Wahrheit suchte? Er fand eben nichts, da stürzte er vor Schreck todt zu Boden.«

Der Professor senkte sein Haupt tief auf die Brust.

»Ich könnte Dir erzählen,« sagte er leise, »was mir in letzter Nacht begegnet ist, wo ich tief aufgeregt über dem Sohn des Weibes stand, das mich um mein Leben betrogen hat.«

»Alter Freund,« sagte sein Gefährte, »Du warst der Betrüger an Dir selbst, nicht sie, zu dieser Einsicht hättest Du kommen sollen. Welche Mährchen regen sich denn in Deinem Hirn?«

Der alte Mann seufzte; er sah in die Glut der versinkenden Sonne und legte die Hand auf seine fahle Stirn.

»Wie kann so viel Empfindelei und heißes Blut in einer versinkenden Hülle wohnen,« fuhr der Andere fort. »Rufe Phantome auf und sie verfolgen Dich; sei Herr und Meister Deiner selbst, dann bist Du frei. Dich beschäftigt nun das sogenannte Schicksal, das über die beiden jungen Personen hängt, Deine Phantasie brütet, Du verlangst vom Zufall Rache.«

»Nein, nein! ich verlange nur Ruhe. Mag er kommen oder gehen, mag er das Mädchen lieben und täuschen oder sie ihn, es ist mir Alles Einerlei.«

»Du machst Deine Experimente, wie einst mit Säuren und Alkalien, so jetzt mit der Vorsehung,« erwiederte der kleine Herr lächelnd. »Du willst den Niederschlag beobachten und die Auflösung eines dunkeln Problems darin finden. O, Du armer Freund! auf welchen kleinen Gewinn setzest Du Deine Seele! Gieb wohl Acht, daß Du nicht verlierst, denn wenn Du gewinnen solltest, könnte leicht Dein Herz daran brechen.«

Sie schwiegen eine Weile still und schauten in die werdende Nacht. Der Himmel hing licht und funkelnd in seinem jungen Sternenkleide hoch oben, leise Lüfte rauschten in den Bäumen, die Blüthen nickten schlaftrunken, und weiche Schleier hüllten alle Fernen ein. Die beiden Greise wurden aus ihren sinnenden Betrachtungen durch laute Stimmen aufgeweckt, welche von der Terrasse am Ende des Gartens kamen. Der Wind trug die Töne her, Sylvia's Lust und Lachen und die frohen Worte ihres jungen Freundes.

»Sie lachen,« rief der Professor zornig, »und wie bald werden ihre Augen weinen, wie bald wird Schmerz und Noth sie finden und dann werben sie schreien, daß sie grenzenlos elend sind. O! armseliges Menschenkind, heut ein Gott und morgen mitten in der Hölle, jetzt beglückt bis zur Unsterblichkeit und in der nächsten Minute ein welkes Blatt, losgerissen vom Stamme und im Wirbelwinde der Zeit verweht. Elendes, verkümmertes Wesen, ein Hauch, ein Nichts, ein Ungefähr! Was ist der ganze Bettel deines Daseins werth? Laß uns gehen, mich verdrießt diese Lustigkeit, sie ist sinnlos wie Alles auf Erden.«

Der alte Herr war aufgestanden und folgte ihm. Sie traten beide hinaus, da nahm er die Spitze seiner Pfeife und zeigte in das Sternengewölbe.

»Wo wäre es denn besser?« sagte er, »was weißt Du davon? Hast Du einen Begriff von der Unendlichkeit, von dem, was sie Welt nennen? Kümmert Dich das, was dort vorgeht im Sirius, ob diese Sterne Irrwische sind, oder Sonnen genannt werden? O! Du Thor, grolle gegen Deinen Gott mehr noch, wie gegen seine Welt, aus der Du nicht herauskannst, ein unfreies, unedles Geschöpf: Laß das Gewürm glücklich sein den kurzen Tag über, sie sind bestimmt in Liebe und Hunger ihr Elend zu vergessen, danke Deinem Schicksal, daß Du das nicht nöthig hast, darum gönne ihnen den bunten Schimmer ihrer Hoffnungen. Sie lachen da oben, sie schwören sich wohl einige Liebe und Treue; o, Ewigkeit! was bist Du in der Menschen Mund, o ewiges, weltschaffendes, welterhaltendes Wesen, brauchtest Du ein Bild, um Deinen Spott mit Dir selbst zu treiben?!«

Die beiden Alten gingen langsam dem Hause zu, das Lachen der fröhlichen Sylvia schallte ihnen nach. Sie saßen auf der Bank schon seit Stunden unter dem grünen Laubdache und hatten unaufhörlich zu erzählen und zu fragen. Victor hielt Sylvia's Hand in der seinen und las in ihren klaren Augen, worin der Sternenschimmer sich spiegelte.

»So wendet sich doch alles Unheil in Freude,« sagte er. »Würde ich je hier sitzen, je dies Glück empfinden können, wenn mein Wagen nicht von irgend einem wohlthätigen Schutzgeist an den Baum geschleudert wurde.«

»War es ein Schutzgeist?« fragte sie.

»Es war die Mutter alles Glücks auf Erden,« rief er, »sie, der man die schönsten Feste feiert.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen und sagte leise:

»Sylvia, es war Gott selbst, der mich herführte.«

»Ich glaube es,« erwiederte sie.

»Und wenn es so ist, warum sprechen wir es nicht aus? Es drängt mich, Sylvia, doch was bedarf es denn der Worte. Was ich empfinde, seit ich Sie sah, seit jener Nacht, seit jenem Augenblicke, es ist, wie mich dünkt, wie eine Schrift mir aufgedrückt, die alle Menschen lesen können.«

»Ich habe es auch gelesen,« sagte sie, »und Antwort gegeben.«

»O, Sylvia,« rief er entzückt, »meine geliebte, theure Sylvia!«

Sie beugte sich zu ihm und prüfte schalkhaft lächelnd sein Gesicht. Plötzlich schlang sie beide Arme fest um ihn, ein Kuß brannte auf seinen Lippen, dann war sie aufgesprungen, drückte die Hände auf seine Schultern und hielt ihn zurück.

»Ich wußte es wohl,« flüsterte sie, »so würde es kommen, so mußte es kommen, ich hörte diese Worte nicht zum ersten Male, aber zwischen uns liegt eine finstere Kluft.«

»Ich schwöre es!« sagte er feierlich.

»Keinen Schwur;« rief Sylvia und zog seine Hand nieder. »Wenn es sein soll, werden wir uns finden, ein Schwur ist eine Kette, die drückt und hemmt, Niemand soll sich verschwören. Sie lieben mich, Victor, Sie sagen es und ich glaube es gern; nun gilt es aber gegen das Leben zu kämpfen, und was darin nicht paßt, zu ändern. Ihr Vater –«

»Mein Vater!« sagte er und plötzlich kühlte sich seine Begeisterung ab, er wurde verlegen. »Wer sprach Ihnen von meinem Vater?«

»O! ich weiß manches,« erwiederte sie, »das wird schwer werden, und den rechten Willen erfordern, solchen starren Sinn zu bekehren.«

»Sehr schwer,« murmelte er vor sich hin.

»Und dennoch wird es geschehen,« sagte Sylvia. »Gewiß, gewiß, ich glaube es fest und bestimmt und will nicht davon lassen; wenn's aber doch sein sollte« – sie neigte sich zu ihm nieder und sagte leise: »das Lieben kann uns kein Mensch nehmen und geben, das wächst wie ein Zauberbaum tief im Herzen, da will ich es immer pflegen und behüten, das gelobe ich.«

»Du schönes, unschuldiges Kind!« rief Victor tief bewegt; »mögen die Menschen thun, was ihnen gefällt, hier vor Gott, vor seinen Sternen, vor Nacht und Himmel gelobe ich Dir, daß nichts uns trennen soll.«

»Still, still!« sagte sie und deckte die Hand auf seine Lippen; »nun kein Wort mehr, heut nicht und morgen nicht, wir haben beide genug gesagt. Ist es Wahrheit, wird es sich erfüllen, ist es Täuschung, wird es untergehen. Es nebelt, Victor; der Rauch steigt von den Wiesen, die alten Silberbäume nicken uns gespenstisch mit den Köpfen, Nacht und Sterne träufeln ein geheimes Gift herab.«

»Nacht und Sterne,« flüsterte er bittend, »sind die verschwiegenen Freunde der Liebenden.«

»Der Arzt befiehlt,« rief Sylvia, »und der Kranke gehorcht. Nur im Licht des Tages gedeiht das Gute.« So führte sie ihn dem Hause zu.


5.

Als Victor am Morgen erwachte, fiel sein erster Blick auf seinen Verwandten, der nachdenkend an seinem Bett saß und ihn betrachtete. Er hatte die Arme gekreuzt, sein blasses, ernstes Gesicht bewegte sich nicht, die Augen standen still auf einen Punkt gerichtet, aber seine Lippen zuckten und flüsterten leise Worte. Er war ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, und erst als Victor eine Bewegung machte, bemerkte er es und reichte ihm die Hand.

»Du bist nun erlöst,« sagte er, »Dein Vater ist vorbereitet, er erwartet Dich.«

»Du hast ihm Alles erzählt,« rief der Kranke vorwurfsvoll.«

»Alles, auch daß Du gesund bist.«

»Daran thatst Du Unrecht,« sagte Victor, »ich bin noch nicht hergestellt.«

Ein eigenthümliches Lächeln glitt durch die Züge des jungen Arztes.

»Ich wollte,« erwiederte er, »Du hättest mir das früher erklärt, es wäre mir recht gewesen, den alten Zaubermeister hier noch länger zu plagen. Jetzt ist es zu spät; draußen am Gitter hält Deines Vaters Wagen, zieh' Dich an und steige ein.«

Die unmuthige Überraschung, welche Victor empfand, ließ sich nicht verkennen, der Arzt beobachtete ihn scharf, indem er auf und abging, und erwartete eine Antwort, die nicht erfolgte.

»Du kannst denken,« sagte er endlich, »wie besorgt er war und dann erfreut, als ich ihm betheuert, daß nach ein Paar Ruhetagen keine Spur Deines Unfalls zurückbleiben werde. Er schrieb sogleich ein Billet an Constanzens Vater, zu dessen Überbringer er mich machte, um Erklärungen zu geben, und davon komme ich so nun eben zu Dir. Schreck und Freude, Rührung und Dankgebete für Dein Wohl, Alles kam zu gleicher Zeit. Constanze selber wurde gerufen, ich hatte das Glück, sie im Morgenkleide zu sehen; aber immer gleich liebenswürdig, gleich bezaubernd. Nachthandschuh auf den zarten Fingerchen, die Röckchen mit Kanten, die aufgerollten Löckchen unter dem Pariser Morgenhäubchen, die reizende, stolze Figur, auch ohne Schnürbrust mit den Fingern zu umspannen, ein Engelsköpfchen, dessen blaue Augen sich mit Thränen füllten, zwei große Thränen um Dich, Du Unmensch, Du Barbar, der Du zögern kannst, zu ihren Füßen zu stürzen und Du« – er lachte plötzlich laut auf was – »zum Henker! wie siehst Du denn aus?«

»Ich glaube, daß ich sehr unwohl, daß ich recht krank bin.«

»Possen! Franz, hilf Deinem Herrn in die Kleider, dann schreib' ein Billet an die edlen Besitzer dieser Einsiedelei, lege ein Paar Louisd'or für die Dienerschaft dazu, und mach' daß Du fortkommst, auf Nimmerwiedersehen.«

»Keinesweges,« rief Victor heftig, »Das wäre gegen Gewissen und Recht. Ich ehre diesen alten Mann trotz seiner Wunderlichkeit und« – er stockte – »geh, Franz, frage, ob ich die Ehre haben kann, der Familie selbst meinen Dank für alle erwiesene Güte zu sagen.«

»Ah so!« rief der Arzt spöttisch, »immer ritterlich gehandelt, aber Du wirst sehen, hier scheitert alle Courtoisie.«

Der Diener kam mit verlegener Miene wieder.

»Tausend Louisd'or gegen einen, ich habe Recht. Sprich!«

»Der Herr Professor,« sagte Franz etwas kleinlaut, »schrie, er brauche keinen Dank und wünsche glückliche Reise.«

»Und Syl – und das Fräulein?« fragte Victor erröthend.

»Sie sagte, Worte sind Wind, und lachte dazu, dann wünschte sie Ihnen wohl zu leben und meinte, wir möchten nicht noch einmal umwerfen.«

Victor sah ihn starr an, das hatte er nicht erwartet, dann zitterte er vor Ärger gegen den Vetter, der ihn unbarmherzig verhöhnte. Er widersprach jedoch nicht, ließ zusammenpacken, beschenkte reichlich das Hausgesinde und folgte nach dem Wagen. Sein Herz schlug heftig, als er sich zurückwandte. Er meinte, Sylvia müsse am Fenster stehen, ein verstohlen tröstendes Zeichen geben, aber nichts war zu sehen, und mit einer Verwünschung auf den lästigen Verwandten, der ihn vorwärts schob, dann Abschied nahm und seinen eigenen Weg fortsetzte, fühlte er die Räder fortrollen und seine bisherige Welt vor seinen Blicken versinken.

Denn mit jedem Schritte näherte er sich nun seinem Vater, näherte er sich Verhältnissen, die immer klarer und bestimmter aus den Schatten traten, welche bis jetzt sie, mehr oder minder, umhüllt hatten. Gestalten traten vor ihn hin, Gedanken brachen ungestüm hervor, die sich nicht abweisen ließen. Um dies zu wagen, war er nicht leichtsinnig genug, um sie zu bekämpfen, fehlte ihm der Muth. Vergebens flüsterte eine Stimme, daß Zeit gewonnen, Alles gewonnen sei, daß Verstellung zu den Cardinaltugenden des Menschen gehöre, daß Sylvia – da sah er den strengen, kalten, klugen Weltmann, seinen Vater, und jetzt hielt der Wagen vor dem Hause, Victor sah hinauf, da stand der Banquier leibhaftig am Fenster, lächelnd, grüßend, ihn mit einem Blicke messend, der eiskalt durch sein Blut rann. So schnell er es vermochte, stieg er die Treppe hinauf; er stand still und schöpfte Athem; zögernd ging er durch den Saal und legte die Hand auf den Drücker der Thür, als diese plötzlich geöffnet wurde und sein Vater mit freudiger Bewegung ihm die geöffneten Arme entgegenbreitete.

»Mein Victor,« sagte er, und seine Stimme hatte einen Anflug von Rührung, »Du böser Mensch, was hast Du mir gethan? Mein Sohn, mein liebes, gutes Kind!«

»Mein geliebter Vater!« rief der Sohn, bewegt über diese Herzlichkeit, die er nie gekannt.

»Setze Dich hier auf das Sopha,« sagte der Banquier und zog ihn nieder, dann betrachtete er ihn aufmerksam. »Deine Stirn wird eine Narbe behalten,« fuhr er fort; »aber entrissen, nicht wiedergesehn? Nein, so schlecht fallen meine Würfel nicht. Hätte ich deswegen mich geplagt, gestrebt, gewagt, um meinen einzigen Sohn zu begraben? Das sind trübselige Gedanken, Victor. Ein Mensch, der zweifeln kann, daß seine Combinationen gelingen, wird leicht verlieren. Auch der Zufall hat Furcht vor der Überzeugung, das ist mein Wahlspruch gewesen, darauf hab' ich gebaut und mich nie getäuscht. Du konntest nicht verloren gehen und da stehst Du kaum geritzt von einem Unfall, der Andern das Leben gekostet hätte.«

»Vielleicht stände es schlimm,« erwiederte Victor, »wenn ich nicht schnelle hülfreiche Pflege gefunden..

»Bei dem alten Helmstädt,« rief der Banquier. »ist er noch so närrisch, so toll und widerlich?«

»Du kennst ihn?« fragte der Sohn.

»Ich kenne ihn.« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Er wußte doch, wer Du warst?«

»Gewiß.«

»Ich hätte ihn sehen mögen,« fuhr der alte Herr fort und strich mit der Hand über seine Stirn, um ein Lächeln zu verbergen.

»Du könntest ihm einen Besuch machen.«

Herr Lorbach lachte.

»Ich weiß, sagte er, »daß er Dich nicht sehen, nichts von Deinem Dank hören wollte, um wie viel weniger von dem meinen. Nein, mein Sohn, jeder Narr muß seine Kappe tragen und wehe dem, der sie ihm zurecht rücken oder gar abnehmen will. Wir sind ihm Dank schuldig, vielleicht kann man später etwas thun. Vermögen hat er wenig, seine Pension verthut er in allerlei Kram von Büchern, Pflanzen, Almosen; es wird nichts übrig bleiben als eine Nichte, die Du wohl auch gesehen haben wirst.«

Er sah seinen Sohn an, den der Blick verlegen machte, indem er bejahend den Kopf neigte.

»Nun gut, übertragen wir die Dankbarkeit auf sie. Ein junges Geschöpf, allein in der Welt und arm, bedarf der Hülfe, um ihr Lebensglück zu gründen. Du kannst einmal ihre Ausstattung auf Dich nehmen.«

Ein lebendiger Strahl blitzte in Victor auf.

»Das ist meine Absicht,« sagte er.

»Wohl,« erwiederte der Banquier, »und ich nehme es auf mich, ihr den Mann zuzuführen.«

Er sprach das Ich mit Nachdruck, dann zog er die goldne Dose, sog den Duft des Tabaks und fuhr gleichgültig fort:

»Du mußt Dich nun erholen, Victor. Rudolf sagte mir, die ersten acht Tage dürftest Du weder arbeiten, noch in Gesellschaft erscheinen. Wenn Du mein Compagnon wärst, würde ich ärgerlich sein über die erste Bedingung; da Du Gutsbesitzer bist, geht es mich weniger an. Was das zweite betrifft, so mögen Andere sich erzürnen, oder Du selbst um das, was Du dadurch verlierst, obgleich Du sagen kannst, ein Glück, daß die Zeit der Gesellschaft noch nicht gekommen.«

»Du weißt,« erwiederte der Sohn, »daß ich gern allein bin.«

»Nichts ohne Ausnahme,« rief Herr Lorbach; »ich weiß auch, daß Du die Gesellschaft gewisser Personen gern aufsuchst.«

»Lieber Vater,« sagte Victor bittend.

»Lieber Sohn,« lachte der Banquier, »Du hast vollkommen Recht, es thut mir wirklich Leid, daß ich heut Abend nicht Deine Unterhaltung beleben und Dich froh machen kann. Constanze ist mit ihren Ältern aber zum Thee bei ihrer Großtante. Sie würde lieber hier sein, das mein' ich auch, aber eine achtzigjährige Dame, die einige hunderttausend Thaler hinterläßt, darf von ihrer Universalerbin nicht vernachlässigt werden. Darum Geduld, es helfen keine Seufzer, wenn's Herz auch bricht, Du wirst Dich und sie zu trösten wissen. Ein Mann muß warten und schweigen können, bis der rechte Augenblick gekommen; Du glaubst nicht, was mir das schon genügt hat, selbst damals« –

Er hielt inne und warf einen langen Blick auf seinen Sohn.

»Nun geh auf Dein Zimmer, sagte er, ruh Du aus, ich werde für Dich arbeiten.«

Er entließ seinen Sohn mit väterlicher Güte und sah noch lange ihm nach, als die Thür sich hinter Victor geschlossen hatte. Der kluge, scharfblickende Mann versenkte sich in Berechnungen, die dann und wann ein spöttisches Lächeln auf seine Lippen brachten, endlich stand er auf, blickte umher auf die prächtig geschmückten Wände mit ihren Goldrahmen, auf den Luxus des Reichthums, dann auf sich selbst, als wolle er Alles abwägen und vergleichen, bis er im Tone der Überzeugung ausrief:

»Es ist unmöglich, ein solcher Narr kann er doch nicht sein!«

Nach einem Weilchen, während er auf und ab ging, klopfte es an die Thür und der Arzt trat herein.

»Sie hatte ich erwartet, lieber Cousin,« sagte der Banquier, indem er ihm die Hand reichte, »Victor sieht sehr angegriffen aus.«

»Er hat viel Blut verloren,« erwiederte der Arzt.

»Und doch vielleicht nicht genug,« fügte Herr Lorbach zu.

Der Doctor lachte.

»Ich finde ihn aufgeregt,« fuhr der Banquier fort, »wechselnd in seinen Empfindungen, unruhig, kränker als ich dachte, ich wollte, er wäre nicht in jenes Haus gebracht worden.«

»Er hatte dort die beste Ruhe und Pflege.«

»Ich höre, man hat für ihn gesorgt, die Leute haben sich sehr bemüht, der alte Narr freilich blieb, wie er von je an war, aber die Andere, das junge Mädchen, sie ist hübsch?«

»Passabel,« sagte Rudolf und nahm eine Prise aus der Dose seines Verwandten.

»Ich bin wirklich in Verlegenheit, wie ich das je gut machen soll,« rief Herr Lorbach, »und doch habe ich meine Gründe, mir auf keinen Fall etwas schenken zu lassen. Was meinen Sie?«

»O! nichts,« erwiederte der Doctor, »ich wüßte wirklich nichts, es wäre fortgeworfen. Der Alte ist im Stande und wirft den nächsten Dankbaren zum Tempel hinaus, und die hübsche Nichte ist ein eben so seltenes Exemplar in ihrer Art. Sie kennt weder die Welt, noch deren Spiel und Spaß.«

»Sie kennen sie also genauer?« rief der alte Herr schelmisch drohend.

»Ein Arzt hat die beste Gelegenheit, und wenn ich kam, war sie da mit dem Kranken beschäftigt, seine Pflegerin, seine Vorleserin, seine Führerin. Es ist ein verständiges Kind, mit warmem Herzen und lebhafter Einbildungskraft.«

»Um so besser,« sagte der Banquier. »Ein edles Herz und ein kluger Kopf, das sind vereint seltene Eigenschaften. Ein Weib, so ausgestattet, muß glücklich werden und glücklich machen.«

»Ohne Zweifel,« versetzte der Arzt, der in den Augen des Banquiers zu lesen suchte.

»Ihr Urtheil befestigt meine Entschlüsse,« fuhr Herr Lorbach fort. »Victor ist mein einziger Sohn, wer ihm Gutes erzeigt, thut es mir, und was könnte mir zuviel sein, um das liebe Kind zu belohnen.«

»Wie soll ich das verstehen?« sagte Rudolf erstaunt, »glauben Sie, daß Victor, – wollten Sie –«

»Daß Victor vielleicht ohne diese edle Hülfe erlegen wäre, ja das glaube ich, und ich will mich dankbar erzeigen. Helmstädt ist ein alter Verschwender, wenn er stirbt, ist das Kind verlassen, aber es soll ihr an einem Freund nicht fehlen, der väterlich für sie sorgt.«

»Ah so!« sagte der Arzt. »O! Sie edler Mann.«

»Das ist Pflicht, Vetter, nichts als Pflicht. Wozu mehren sich die Güter des Reichen, wenn er nicht, wo es an der Zeit ist, auch geben will? Ah, verstehen Sie mich recht. Gold, hat irgend ein großer Mann gesagt, ist ein Ungeheuer, es demoralisirt die Menschen, wer es hat, muß es streng in seinem Gefängniß halten, und hundertmal den Schlüssel probiren, ehe er ihn einmal umdreht.«

»Wie Sie doch die Sittensprüche aller großen Männer kennen,« sagte Rudolf.

»Ich bin durch die Schule der Erfahrungen gegangen, erwiederte der alte Herr lächelnd, »ich kenne die Menschen und ihre Schwächen; aber das liebe Mädchen, Sylvia heißt sie ja wohl? diese Sylvia soll sich nicht beklagen, auch der Mann nicht, der sie heimführt, das schwöre ich Ihnen. Nun, überlassen wir das der Zeit, Vetter,« fuhr er dann fort; »die Zeit, das ist das Kostbarste im Menschenleben und ich, ich bin ein alter Mann. Darum guten Tag, lieber Freund, Sie besuchen uns doch heut Abend und gehen Sie zu Victor, sprechen Sie mit ihm, verjagen Sie die Melancholie, Sie wissen, ein Bräutigam kann Alles sein, nur nicht melancholisch stumm, wenn Schönheit und Jugend begehrende Blicke auf ihn werfen. Adieu!

Wie der Arzt hinaus war, lachte der Banquier leise vor sich hin und rieb sich nach seiner Gewohnheit die Hände und dann die Stirn.

»Wer führe nicht gern in einer eigenen Equipage,« sagte er, »wer wohnte nicht mit Vergnügen im ersten Stockwerk, Vorzimmer, Salon, Tapeten, Gesellschaft?! Armer Vetter, wenn der Ehrgeiz nicht wäre und die Eitelkeit! Er hat eine finstere Stirn zuweilen, ein blasses Gesicht; er denkt, wie es anders sein könnte. Er hat etwas von mir, mehr wie Victor: Wohlan, mein Freund, sorge dafür, wie du sie glatt machst.«


6.

Eine ganze Woche ging vorüber und Victor war noch immer krank, wenigstens trug er den Arm in der Binde und ein schwarzes Seidentuch um die Stirn. Sein Vater behauptete lachend, er thue es meist, um sich interessant zu machen, nebenher aber auch aus Bequemlichkeit, um Besuch zu empfangen, statt sich zu bemühen.

Der Gäste kamen auch allerdings viele. Die Tröstungen nahmen kein Ende und da der Mensch in Geselligkeit meist sein Leid vergißt, so geschah es auch, daß Victor zuweilen die alte Heiterkeit wiederfand und namentlich da, wo er am meisten sich bewahren sollte, den schönen Augen der reichen Erbin gegenüber, welche sein Vater ihm bestimmt hatte.

Zuweilen freilich versank er in ein plötzliches Schweigen, er sah sie sinnend an, er überlegte, rechnete, überhörte Fragen und ermunterte sich dann wieder zur allgemeinen Belustigung eben so plötzlich. Sein Vater forderte scherzend Verzeihung für seinen Sohn, dessen Kopf ein wenig gelitten habe, und wandte sich darauf im Gehen zu der schönen jungen Dame, die er flüsternd bat, doch so, daß es Alle hören konnten, sie möge sich der Mühe unterziehen, ihn zurecht zu setzen.

Constanze erröthete, Victor nicht minder, Alle lachten, sie wußten, woran sie waren; der alte Herr aber warf mitten in seiner Freundlichkeit seinem Sohn einen Blick zu, der diesen blitzartig berührte. Es war, als spaltete er ihm die Brust, und darinnen lagen seine geheimsten Gedanken, wie Alles, was er gethan, offen ausgebreitet, und der alte Herr lächelte boshaft und machte einen langen Strich mit dem Finger durch die Luft, als striche er eine schlechte Rechnung aus.

   

Einige Tage später hatte Victor eine Unterredung mit ihm. Es war im Halbdunkel, als er von seinem Zimmer kam. Eben öffnete der Banquier unten seine Thür und trat mit dem Hut auf dem Kopf heraus.

»Sieh da, Victor,« sagte er. »Du willst ausgehen?«

»Eine Promenade machen.«

»In der Abendluft,« erwiederte der Vater. »Wird es nicht schaden?«

»Ich denke nein; ich fühle mich kräftiger.«

»Nun, man sagt mir, daß Du schon öfter abendliche Spaziergänge gemacht,« fuhr Herr Lorbach fort, »darum glaube ich, daß der Schaden nicht groß sein kann. Aber hüte Dich, Victor, die Nacht ist die wahre Mutter aller Thorheiten, sie erhitzt das Blut; doch Du hast einen Mantel umgethan. Apropos! ich fahre ins Casino, dann zu Seebachs, komm nach, ich werde Dich anmelden.«

Victor murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang.

»Gut, gut,« sagte der Banquier, »ich werde ihr sagen, daß Du Mondscheinspaziergänge machst, wie ein Verliebter, das wirkt bei dem Mädchen, das ist poetisch, deutet auf Sentimentalität, auf Sehnsucht, Du wirst um so freundlicher empfangen werden. Ja, was ich Dir sagen wollte,« fügte er hinzu, als sie unten am wartenden Wagen standen, »der alte Narr, der Helmstädt, hat mir richtig mein Danksagungsschreiben unerbrochen wiedergeschickt, aber Rudolf ist einige Male dort gewesen. Das ist ein närrischer Junge, was der will, will er. Er hat sich nicht abweisen lassen, ein Paar Dutzend Grobheiten und Dummheiten in die Tasche gesteckt, zulegt aber doch gesagt, was er wollte, und den Patron durch Eingehen auf seinen Unsinn so mild gestimmt, daß er Kaffee mit ihm getrunken und mit der Nichte weitergeschwärmt hat, als er mit dem Onkel fertig war. – Nun, Adieu, und bleib nicht zu lange.«

Aller Schmerz und die Angst der Liebe waren in Victor aufgewacht. Was wußte sein Vater? Was hatte Rudolf gethan, was hatten beide für geheime Plane? Er dachte mit solcher Innigkeit an Sylvia, mit so heißer Leidenschaft trat das Bild des Mädchens in sein Herz, daß in dem einen Gedanken an sie sich aller Widerstand auflöste. Er mußte sie sehen, was sich auch entgegensetzte, er wollte sie befreien, entführen, wenn es sein mußte, mit ihr entfliehen. Tausend wüste Plane kreuzten sich in seinem erhitzten Gehirn, bis die Länge des Weges und die Kühle des Abends sein Blut sänftigte und die Stacheln des Zweifels und der Eifersucht ihn zum Nachdenken brachten.

Er war mehrmals am Hause gewesen und abgewiesen worden, er war vorübergeritten und gegangen und hatte sie nie erblickt; er hatte versucht ihr einen Brief durch den Knaben übergeben zu lassen, aber eine Antwort war nicht erfolgt. Am Tage darauf sah er den Professor am Fenster, als er vorüber ging, Der erwiederte seinen Gruß nicht, er grinste ihn boshaft an, wie ein Teufel, und kehrte ihm den Rücken.

Victor zürnte Sylvia und in diesem Zorn wuchs sein Verlangen um so glühend sehnsuchtsvoller auf. Er erinnerte sich ihrer traulichen Liebesworte, ihre helle Stimme klang in seinen Ohren, ihr Bild schwebte vor ihm durch die duftigen Schleier des Abends, ihre Augen strahlten ihn an, diese edlen, reinen, glänzenden Augen, die auf den Himmelssternen ihn anblickten.

»Sie liebt mich!« rief er laut, »sie hat es gesagt, sie wird mich ewig lieben. Sie glaubt an mich ohne Wort und Schrift, die That will sie, ich fürchte nichts.«

Da fiel ihm Rudolf ein und er verstummte.

»Er ist schlau,« murmelte er vor sich hin, »kalt, klug, berechnend. Er weiß die Kunst, die Menschen zu bethören, hat er doch den alten starrsinnigen Mann bezwungen, warum nicht auch ein junges unschuldiges Herz? Wenn er das umstrickte, wenn er das verlockte, gewönne, mir entrisse – beim Himmel! er sollte es büßen müssen, aber ach! was will ich denn, wenn er die Liebe aus ihrer Brust risse und sich hineinpflanzte, was dann?!«

Er stand vor dem Hause still, es war finster überall, nur unten in dem Zimmer des Professors dämmerte ein schwaches Licht. Victor überlegte ein Weilchen, dann schlug er einen Seitenweg ein, der zwischen einer Häuserreihe auf das Feld hinausführte. Wie er dort war, bog er ab, übersprang einen Graben, eilte quer über Wiesenstriche und Gemarkung und befand sich nun bald unter den Gartenzäunen, wo er an der hohen Terrasse leicht den erkannte, welcher den Grundbesitz des Professors einhegte.

Er stand und horchte. Alles war Ruhe umher, schweigsam, feierlicher Frieden in Blatt und Halm; Alles im Gleichgewicht, kein Athemzug der Natur, die ihre Kräfte und Geschöpfe zum Kampf antreibt. An die Mauer gelehnt, sah der junge Mann über die stille, sanftbeglänzte Fläche, und kühl drang es durch die Augen in sein Herz, das sich sanften Empfindungen öffnete.

Eine Stimme flüsterte ihm ernst und mahnend zu: Bedenke wohl, was du thust! Welcher Leichtsinn, welcher Sinnenrausch treibt dich hieher durch die Nacht! Ist das dein Platz? Sind das die Steine, aus denen der Vernünftige sein Haus baut?

Die Gestalt seines Vaters schritt durch die Wiesennebel, die schöne, reiche Erbin streckte die Hand nach ihm aus; dann hörte er die scharfe, spöttische Stimme des alten Herrn, der seine Thorheit brandmarkte, der ihn von sich trieb, ihn von der Schwelle stieß, aus seinem Herzen fluchend verbannte, und in der Ferne wuchs der alte Professor riesenhaft in die Wolken, Sylvia trug er auf seinen Armen, ein Hohngelächter schallte ihm nach.

Da richtete er sich auf, ja, das Lachen währte fort, aber süß und leise durchschauerte es ihn, Sylvia war es, er hörte ihre Stimme, eine andere antwortende, die er kannte, und vergessen war, was ihn bedrückte. Er kletterte behend an der hohen Wand empor, im nächsten Augenblick stand er lauschend unter den Fliederbüschen, den Athem angehalten, die Augen auf den Weg gerichtet, wo Sylvia und Rudolf sich langsam näherten

.

»Sie wollen mir nicht glauben, Sylvia,« sagte der Arzt, »und doch droht uns armen Sterblichen von unseren Empfindungen die meiste Noth, wenn diese wild und ohne Banden die Schranken nicht erkennen wollen, welche ihnen gesetzt sind.«

»Wer setzt die Schranken?« sagte sie.

»Die Vernunft,« erwiederte er. »Die Gefühle reißen uns in eine Welt voll Unwahrheit, voll Nebel und listiger Täuschungen, sie bezaubern uns mit ihren Träumen von Glück und Hoffnungen und wir verlieren die Welt, wie sie ist, mit ihren Satzungen und Gebräuchen, mit ihren unzerbrechlichen Banden, die Jahrtausende aufgebaut haben.«

»Mit ihren Narrheiten und miserablen Vorurtheilen,« rief sie lachend.

»Nennen sie nicht Alles so, was uns mißfällt,« versetzte Rudolf. »Kein Mensch, wie groß und gewaltig er sein mag, darf sich darüber erheben.«

»Ich thu's,« sagte sie, »und Sie thun es auch, jeder in seiner Weise. O! mein kluger Herr,« fuhr sie lustig fort, »glauben Sie denn, daß ich blind sei? Sie sind zu uns gekommen, wie ein Koch mit tausend Recepten in der Tasche und haben glücklich probirt, was zu unserm Tisch paßt. Meinem Oheim haben Sie den Menschenhaß aufgeschüttelt, das war das rechte Essen. Sie öffneten ihm eine reiche Vorrathkammer, heimlich lachend, daß er so wenig begehrte, und mir –«

»Nun, Ihnen?«

»Mir setzten Sie ein kleines Näpfchen kalter Vernunft vor, um meine verirrten, heißen Empfindungen abzuleiten.«

»Sie sind ungerecht, Sylvia,« erwiederte er. »Ich kam als Arzt und als Freund voll lebendiger Theilnahme. Ihr Oheim hat so unrecht nicht, die Menschen sind ein wirrer, toller Knäuel von Gebrechen und Lastern, die man hassen und verachten kann, nur darf man nicht vergessen, daß man selbst zu ihnen gehört, daß man einmal lebt, daß dies Erdenleben zu benutzen uns Pflicht ist. Vergißt man das, so wird man toll, wie die Andern; man wird der Narr seiner Träume, man erhebt sich nicht über den gemeinen Haufen, denn statt sich zu veredeln, verdirbt man. Zu Ihnen aber, Sylvia, kam ich als Freund, ja vielleicht,« fuhr er leiser fort, »kam ich nur Ihretwegen, vielleicht haben Sie Recht, daß ich Täuschung anwandte, um den Weg zu Ihnen von den Drachen frei zu machen, die ihn versperrten.«

»Sie kluger Freund,« rief Sylvia, indem sie an dem Busche still stand, hinter welchem sich Victor verbarg. »Sie verachten die Thorheiten der Menschen, aber Sie benutzen sie, – ich, nun ich bitte den lieben Gott, mich zu bessern und alle Wesen.«

»Und mit diesem Trost, erwiederte Rudolf, »überlassen Sie sich allen Neigungen und Abneigungen, allen Zufällen des Lebens. Hören Sie mich an, Sylvia, ich will Sie aufwecken, ich kann es nicht sehen, daß Sie dicht an einem Abgrund so glücklich weiter träumen. Sie kennen nichts von der Welt, nichts von den Menschen darin. Sie haben nur Ihren Glauben; Ihr edles, schönes Herz, welch Glück dies zu besitzen!«

»Das ist nicht so leicht, wie Sie denken,« sagte sie ernsthaft.

»Aber man kann danach streben, meine schöne Freundin,« rief der junge Mann und ergriff ihre Hand. »Sylvia, können Sie mir das versagen?«

»Ich denke, nein.«

»So darf ich hoffen,« erwiederte er lebhaft, »und was liegt zwischen mir und der Erfüllung? Kein vages Träumen, keine hemmenden Weltverhältnisse. Ich bin frei, bin jung und thätig, bin selbständig, ich kann einem geliebten Wesen wohl auch eine Zukunft bieten, die sich mit den Freuden und Ehren der Welt füllt. Sylvia, ich muß es Ihnen gestehen, wie tief, wie gewaltig Sie mich ergriffen haben, wie mein Herz –«

»Ihr Herz? Halt!« sagte sie, »da fällt mir etwas ein. Als ich Sie zuerst sah, am Abend, wo Sie über den verunglückten Freund gebeugt standen, was war es, das da plötzlich in Ihrem Gesicht wie eine wilde Qual und Wuth zuckte. Ihr Auge war starr, Ihre Lippe bebte, ein schreckliches Lächeln verzog die Muskeln. Was war das, sagen Sie mir?«

Er schwieg eine Zeit und sah sie an, als prüfe er, ob sie Wahrheit ertragen könne, dann sagte er:

»Haben Sie schon von Menschen gehört, die überall zu spät kommen, was sie auch beginnen mögen? Es fehlt nur ein Haar und sie erreichten ihr Ziel, aber eben dies Haar des Glücks fehlt und der böse Stern steht fest über ihnen, ohne je zu wanken. So ist es mit mir. Oft habe ich das erprobt, und als ich nun in jener Nacht gerufen wurde, zu Einem, der sterbend oder todt war, was bewegte da meine Brust?! Victor war der einzige Sohn des reichen Mannes, ich sein nächster Erbe. Eine Welt öffnete sich vor mir, ein neues verhängnißvolles Leben, und nun, als ich kam, als ich mich über ihn beugte, als ich sah, daß es Ohnmacht sei, nicht Tod, daß wenige Tage hinreichen würden ihn gesund zu machen, da faßte mich die Ironie meines Schicksals, ich verhöhnte die Geister in mir und ihre Täuschungen.«

Sylvia zog die Finger aus seiner Hand und trat zurück, wie von Abscheu angeregt.

»Wie nun aber, mein kluger Herr,« fragte sie, »wenn jener Mann todt war, würde der frohe Erbe dann jetzt vor mir stehen und die arme Sylvia um Liebe bitten? Wahrheit! Wahrheit!« rief sie und sah ihn mit den blitzenden Augen an, »ich lese in Ihren Zügen deutlich: Nein! er würde es nicht, er würde einen andern Weg suchen, einen andern Stab seines Glücks.«

»Umstände,« erwiederte der Arzt lächelnd, »bestimmen, was der Mensch thut; wer kann sagen: Eines schicke sich für Alles? Wer will über das grübeln, was nicht geschehen ist? Lassen Sie uns besonnen sein, Sylvia.«

»Das ist die wahrhafte Sprache,« rief sie lachend. »Sie haben Recht, aber mein alter Onkel hat auch Recht, wenn er das elende Menschenvolk verachtet, das seine Liebe, sein Hoffen, sein Glück nach den Umständen abmißt. O! Victor!«

»Sie nennen einen Namen, Sylvia, der die besten Aufschlüsse zu Ihren Worten giebt. Ich fühle es schmerzlich, daß ich auch hier zu spät gekommen. Aber einiges Mitleid erfüllt mich, um dieses Namens willen, der so froh und schmerzlich auf Ihren Lippen, vielleicht in ihrem Herzen ist. Soll ich weiter reden?«

»Sie wollen mir sagen, daß, wenn ich ihn lieben sollte, dies eine Thorheit wäre.«

»Kennen Sie Victor?«

»Ja, gewiß.«

»Weil er ohne Rücksicht auf Welt und Verhältnisse, leichtsinnig seinem Blute und den Einwirkungen des Augenblicks folgte. Darum sagen Sie das, Sylvia. Hüten Sie sich vor dem Erwachen. Was Victor sagte, was er mit heiligen Eiden schwor, es war ein Spiel, er betrog sich und Sie, er kann, er darf es nicht halten.«

»Du lügst!« rief Victor heftig, und im nächsten Augenblick stand er zwischen beiden, dicht vor seinem erschreckten Vetter, der eine abwehrende Bewegung machte, dann aber laut auflachend seinen Muth sammelte.

»Steht es so,« sagte er, »das habe ich nicht geahnet. Ich glaubte, mein theurer Victor habe längst die flüchtige Bekanntschaft, die der Zufall ihm verschaffte, vergessen, ich wähnte ihn an der Seite seiner schönen Braut und wünschte ihn zu vertheidigen, wenn er etwa im Rausche der Dankbarkeit gesündigt.«

Sylvia's kleine Gestalt richtete sich stolz empor, sie schien zu wachsen, als sie Victor die Hand reichte und seinem Verwandten mit dem Finger auf die Brust tippte. Der Mond trat über die Baumwipfel und warf sein glänzendes Licht auf die zarte weiße Gestalt, als sei sie ganz in silberfunkelndes Geschmeide gehüllt wie eine Fee.

»Sagen Sie ihm, Victor, daß ein wahrhaft menschenfeindliches Herz, nein, daß kein Herz da innen klopft,« sagte sie sanft, »aber vertheidigen Sie mich nicht, auch sich nicht. Mein kluger Freund, hören Sie genau: ich liebe Victor, und hat er gleich eine Braut, ich liebe ihn dennoch, ja folgt er selbst den Weltverhältnissen, wie Sie es nennen, ich würde nicht aufhören, ihn zu lieben. Und nun gute Nacht, Victor, ich denke, alle Pläne und Berechnungen sollen nicht hinreichen, daß Sie mich vergessen.«

Sie eilte fort. Beide Männer standen sich schweigend gegenüber, beide scheuten die Anrede. Nach einer Minute zog Rudolf die Uhr.

»Es ist spät,« sagte er, »laß uns gehen.«

»Zu spät!« rief Victor heftig.

»Für Dich? Warum?« entgegnete sein Verwandter. »Glücklicher Mensch, überall glücklich!«

»Du hast mich betrogen mit Deiner Freundschaft, verrathen, verläumdet, unser Weg theilt sich auf immer.«

»Betrogen, verrathen?« erwiederte Rudolf kalt lächelnd, »das sind harte Worte. Du irrest. Was ich gethan, war recht und gut, ich that es für Dich und mich, ich handelte wie Dein Freund und Verwandter handeln muß. Verläumdet habe ich Dich? Wo? Wie? Diese Liebe habe ich freilich nicht vermuthet,« fuhr er spöttisch fort, »nun vollende was Du begonnen. Sie wird Dich lieben, auch wenn Du Constanzen Deine Hand reichst, sie begnügt sich bescheiden mit Deinem Herzen, sie wird Deine Geliebte sein, die wilde, schwärmende Nixe; in diesen mondhellen Laubengängen wird sie nächtlich Dich umtanzen, und Du kannst wie einer jener abenteuerlichen Paladine leben, hier die nüchterne eheliche Hausfrau, dort das Ergötzen, die geheimnißvolle Lust in den Armen einer Zauberin! Welche Lust, welche Zukunft!«

»Willst Du, daß ich Dich wie einen Elenden behandle?!

»Kind, Kind! warum sich erhitzen?« sagte der Arzt. »Du kannst Recht haben, unsere Wege trennen sich und ich habe keine Lust, für meine treue Freundschaft vielleicht erschossen oder erstochen zu werden. Geh' hin, Du Mensch des Augenblicks, ohne Bewußtsein, ohne höhere Kraft, opfere einem Weibe Deine Zukunft, Dein Glück!«

Er lachte laut auf.

»Glück! ja, denn selbst die Reue wird Dich nicht finden.«

Er ging dem Hause zu, Victor blieb allein.


7.

Am andern Tage ließ der Banquier seinen Sohn schon am Morgen rufen.

»Laß uns zusammen frühstücken, Victor,« sagte er, »so haben wir Zeit zum Sprechen. Du bist gestern nicht gekommen, das hat Constanze übel vermerkt. Sie war unmuthig, empfindlich, machte bittere Bemerkungen über Deine Vernachlässigung und sie hat ein Recht, sich zu beklagen. Mit Frauen ist das was anderes, aber eine Braut will wie ein schlechter Schuldner behandelt sein, immer geschmeichelt, bis der Saldo ausgeglichen ist. Wo warst Du?«

»Ich war zu unwohl.«

»Folgen der Abendspaziergänge,« rief Herr Lorbach mit einem seiner schnellen Blicke auf den Sohn, »ich hoffe aber, das soll der letzte gewesen sein. Ich habe, wie immer, für Dich gehandelt, Victor, und somit hat es auch sein Gutes, daß Du nicht dort warst. Wie Rudolf erschien, kam Leben in die jungen Leute. Er hat ein eigenes Wesen, wenn er will, dieser junge Mensch. Er zerstreute selbst Constanzens Unmuth, und wie nun die jungen Leute ihre sogenannten geistreichen Gesellschaftsspiele zum Deckmantel ihrer kleinen Intriguen machen, sich Zettelchen schreiben und zuschieben, sammt anderen Possen, verhandelte ich mit dem alten Seefeld. Nun,« fuhr er lachend fort, »viel Überredung brauchte es nicht, was wir laut sagten, wußten wir längst. Die Kinder werden ein Paar, abgemacht! Die alte Großtante nickte mit dem langen Kopfe, und heut Mittag ist die Verlobung. Du fährst heut mit mir ins Haus, fällst auf's Knie, wenn Du dazu Lust hast, sonst rufst Du zärtlich: Constanze! und breitest die Arme aus; sie ruft: Victor! und fällt hinein, da schlagen wir die Mausefalle zu, und der Herr hält Dich in seinem Himmel gefangen.«

Er reichte seinem Sohne beide Hände und zog ihn in seine Arme.

»Mein Herzenskind,« rief er, »so sehe ich endlich meinen liebsten Wunsch erfüllt, wenn auch manche andere sich nicht bewährten. Du wirst ein schönes, genußvolles, heiteres Leben führen. Du liebst den Glanz, Deine Frau auch; ihr seid ein prächtiges Paar, wie wird man auf Bällen, Festen, Gesellschaften aller Art Euch anstaunen, und daß Ihr der Welt zu Neid Anlaß geben könnt, dafür laßt uns Alten sorgen. Ich denke, der Sohn des Banquiers soll den ahnenstolzen Aristokraten was aufzurathen geben.«

»Lieber Vater,« sagte Victor, und ein dunkles Roth, dem eine schnelle Blässe folgte, überzog sein Gesicht, »Du irrst, wenn Du glaubst, daß der Glanz des äußeren Lebens so viel Reiz für mich hat. Häuslichkeit, Liebe und Sitte sind die Genien –«

»Häuslichkeit, freilich,« rief der alte Herr, »aber eine Häuslichkeit, wie sie sich für Dich und Constanzen schickt, glänzend, gastfrei, großartig; Liebe nicht minder, und Ihr liebt Euch ja über die Maßen. Wie oft hast Du mir gestanden, es sei ein reizendes, himmlisches Geschöpf. Und wer hätte mehr Erziehung genossen, wo wäre feinere Sitte, Takt für das Schickliche als bei Ihr, he?! Ein Mädchen, die wie ein Engel singt, malt, spielt, die drei oder vier Sprachen spricht, die den gewähltesten Geschmack hat, ich sage Dir, Victor, man wird vor Neid außer sich sein, denn welche Partieen bieten sich solchem bevorzugten, edlen Wesen.«

Plötzlich wurde der alte Herr ernst, und nach einer Pause sagte er:

»Wäre es aber auch nicht so, mein Sohn, wäre Constanze häßlicher, hätte sie die Fehler gewöhnlicher Menschen, Du könntest und dürftest nicht nein sagen. Doch, welch alberner Gedanke,« rief er, »fort damit! halten wir uns an das was ist, lassen wir kindischen Menschen ihre Hirngespinnste, jeder ißt die Suppe, die er sich kocht.«

»Ich habe Dir dennoch etwas zu eröffnen, lieber Vater,« sagte Victor.

»Meine Zeit ist um,« rief der Banquier und stand auf. »Heut Abend, wenn Du willst, morgen, laß das Denken und Grübeln sein, denke nur an Deine schöne Braut, sinne auf ein Hochzeitsgeschenk, aber kostbar muß es sein. Mein lieber Victor, ich bin wieder jung geworden in dem Gedanken, Dich mit Constanzen vereint zu sehen; meine langjährigen Plane sind gereift, es war nicht Dein Lebensglück allein, auch das meine, an welchem ich baute, und nun geh' und finde Dich zur rechten Zeit ein.«

Victor ging. Wo sollte er den Muth hernehmen, jetzt wahr zu sein? An der Thür stand er still, er besann sich, ein schnell entscheidendes Wort schwebte auf seinen Lippen, aber er sprach es nicht aus, schnell ging er, und sein Vater horchte seinen Schritten nach.

»Narr!« sagte er heftig und stampfte mit dem Fuße auf, »muß ich Dich zu Deinem Glücke treiben, bist Du denn wirklich wie ein unvernünftiges Thier, das eingefangen und bewacht werden muß, damit es sich und andere nicht beschädigt! Ist das Blut von meinem Blut? Dieser kindische, knabenhafte, unaussprechlich thörichte Leichtsinn, der Dich ins Verderben reißt, wer hat ihn in Dir erzeugt? O! wenn ich es ihm sagen könnte,« rief er, und ballte die Hand, »wenn ich ihm zurufen dürfte, ich weiß und kenne Deine Schande, wenn ich meinen ganzen Zorn ihm zeigen dürfte! Aber nein, solche Pinsel sind am besten zu gebrauchen, wenn man ihre krummen Striche nicht bemerkt, aber ganz leise die Haare ausreißt, die sie verursachen. Dieser da,« sagte er lächelnd, »ist in meiner Hand; entschlüpfen soll er mir nicht. Er hat mich fürchten gelernt von Jugend auf, und es ist ein gutes, gehorsames Kind, Ehre und Gewissen besitzt er, und hat er erst den Ring am Finger, so ist alles abgemacht. Ich will ihn ja glücklich machen.«

Mit leichterem Herzen ging er an seine Geschäfte, endlich ließ er sich anziehen. Die Uhr wies beinahe auf die Mittagsstunde, er erwartete Victor mit jedem Augenblick und sandte endlich den Diener hinauf, ihn zu rufen, während er auf und nieder ging und allerlei Entwürfe machte, seinem Sohn das Wort kurzweg abzuschneiden.

Plötzlich trat Rudolf herein. Der Banquier empfing ihn mit frohem Gesicht, der Ableiter war gefunden, denn in Rudolfs Gegenwart war keine fatale Eröffnung möglich.

»Nun, Cousin,« rief der alte Herr, »Sie sind auch bei Seefeld's eingeladen?«

»Zur Verlobung?« sagte Rudolf lachend.

»Also richtig schon stadtkundig,« lächelte Herr Lorbach. »Meinetwegen ja. Victor und Constanze wird die erste Gesundheit heißen. Aber wie ist es mit Ihnen?«

»Mit mir?«

»Man schleicht nicht umsonst zu den Sylphen.«

»Ah so! Nun, ich denke, nicht übel, nur fürchte ich –«

»Was fürchten Sie?«

»Daß ich einen Nebenbuhler habe.«

»Fürchten Sie nicht, wir wollen ihn bannen.«

»Sie scheinen ihn zu kennen,« sagte der junge Mann lachend. »Wir werden ja sehen, ob der böse Geist zu bannen ist, jedenfalls habe ich mir vorgenommen, nicht leer auszugehen.«

»Das ist recht,« rief der Banquier, »verdrängen Sie ihn, er verdient es, und meinen herzlichen Glückwunsch dazu; Victor wird sich freuen.«

»Das meine ich auch. Kommt mein Sohn?« fragte der alte Herr, als der Diener hereintrat.

»Er ist nicht zu Hause,« erwiederte dieser.

Herr Lorbach zog sein freundliches Gesicht in tiefe Falten.

»Hast Du Dich davon überzeugt?« fragte er heftig.

»Die Thür ist zu, und der Portier hat ihn fortgehen sehen.«

»Zum Teufel mit allen Narrenstreichen!« schrie der aufgebrachte Herr, aber sogleich fühlte er seine Unvorsichtigkeit und sagte milder: »Ich weiß nicht, ob wir warten sollen?«

»Wahrscheinlich hat er die Zeit nicht erwarten können,« meinte Rudolf.

Der Banquier ging eine Weile auf und ab, dann ergriff er plötzlich seinen Hut.

»Unbesonnenheit ist das Erbtheil der Jugend,« sagte er. Ist er nicht schon dort, so wird er doch sicher nachkommen. Lassen Sie uns gehen, Cousin, vielleicht ist es gut so. Verliebten Leuten muß man manches verzeihen, es läßt sich wenig Vernünftiges mit ihnen beginnen.«


8.

Am Nachmittage, als der Garten des Professors vom warmen Sonnenlichte ganz erfüllt war, stieg aus der Laube ein bläulich feiner Dampf und Duft, und wer hinein geschaut hätte, konnte die beiden alten Herren wiederum sitzen sehen, wie vor einigen Wochen. Nur hatte der kleine Mann die Perücke nicht abgenommen und den Rock nicht ausgezogen; gravitätisch saß er seinem Freunde gegenüber, die Hand auf den Tisch gestützt, darin die lange glänzende Pfeife, aus der er so heftige Züge that, daß er ganz mit Dampfwolken umgeben war; die andere Hand aber ruhte auf einem Päckchen, welches mit einem dunklen Tuche umwickelt war, und das er nachsinnend oft betrachtete. Der Professor erzählte ihm etwas und lachte dazu.

»Siehst Du,« sagte er, »so hab' ich's gedacht und so kommt es. Läuft der Mensch hier alle Tage vorüber, zerreißt die Stiefeln, zerrt an der Klingel, jagt dem armen Pferde die Hufe ab, schickt Billete, Alles nichts, hilft nichts, wir bleiben unerbittlich und lachen ihn aus.«

»Auch Sylvia?« fragte der kleine Herr.

»Die am meisten. Neulich erst, wie der Junge das Billet gebracht voll Liebesseufzer und sie gab es mir, da ging er eben vorüber. Komm her, Mädchen, sprach ich, sieh ihn Dir an, wie er blaß und verzweifelnd aussieht, alle Geldsäcke seines Vaters können den Glückspilz nicht froh machen. Da sprang sie lustig davon wie ein kleiner Teufel und schrie: Nein, ich will ihn nicht sehen; laß ihn verzweifeln, wenn er nichts besseres zu thun hat.«

»Sonderbar,« sagte der alte Mann, »glaubst Du, daß ihr der langbeinige Doctor besser gefällt?«

»Das ist ein Kerl mit tausend Argumenten, beweist Alles scharf und klar und weiß seine Worte zu setzen, wie ein Hofprediger.«

»Und weil er für Jeden seine Sprache hat, weil er gelenkig ist wie ein Gliedermann, weil er zu den Mißvergnügten gehört, die voll Bosheit und Haß sind, nur eben weil die Welt ihre Verdienste nicht erkennt, darum glaubst Du, daß er dem Mädchen gefallen muß?«

»Gefallen oder nicht gefallen,« rief der Professor mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit. »Was ist das für ein abscheuliches Thema? Was geht's mich überhaupt an, was sie thut? Soll ich mich darum auch bekümmern? Ist's denn nicht genug, wenn ich gar nicht frage, was die Menschen beginnen, um sich den Sack voll Leiden vollzupacken, den sie durch's Leben schleppen?«

»Nein,« erwiederte der alte Mann ruhig. »Warum schlägst Du die Wespe da nicht tobt, die so gierig am Rande Deiner Tasse saugt?«

»Was soll ich ein Geschöpf tödten, das sein armseliges Dasein in wenigen Tagen beendet hat und, vom Instinkt getrieben, leben will.«

»Warum aber,« fuhr der Andere lächelnd fort, »theilst Du den Armen Gaben aus und verbringst einen guten Theil Deines Einkommens damit?«

»Warum drängt sich das Gesindel zu mir?« rief der Professor. »Ist es meine Schuld, kann ich es ändern? Ich sperre mein Haus, ich gebe strenge Befehle, ich sage ihnen harte Worte, aber sie finden den Weg, und ich gebe, weil ich sie verachte!«

»Du irrst,« sagte der alte Mann sanft, »Du giebst, weil Du sie liebst; weil eine Stimme in Deinem Herzen ruft: Ihr armen Unglücklichen, ihr gehört, wie ich, dieser Welt an; Dein Zorn wendet sich gegen das Elend, nicht gegen die Elenden, gegen den Schöpfer, nicht gegen die zitternden, verblendeten Geschöpfe, die wie diese Wespe durch den großen Garten irren, Genuß und Nahrung suchen, von Instinkt getrieben leben und glücklich sein wollen, bis ein Schlag sie trifft, oder der Winterfrost, oder eine mörderische Folge ihrer Begierden.«

Der Freund senkte den Kopf.

»Haben sie nicht Vernunft und Willen erhalten?« murmelte er.

»Wenig, blutwenig!« rief der kleine Herr, und seine ausgedörrten Züge belebten sich; »frage die Weltgeschichte, sie wird Dir Nachricht geben, wie es mit der gepriesenen Vernunft steht. O! wenn sie Vernunft und Willen besäßen, wie heiligschön müßte das Leben sein, wie groß und göttlich diese Menschen. Aber es kann nicht anders sein,« fuhr er düster fort, »und darum müssen wir die Ausgestoßenen lieben, trösten, ihr Elend lindern. Wer klarer sieht, der führe die Blinden, der lasse sie nicht fallen und verderben. Sylvia ist Dein Erbe auf Erden, Du hast die nächste Pflicht sie zu behüten, sie mit dem Leben bekannt zu machen und ihr Glück darin zu sichern.«

»Oho!« rief der alte Mann spöttisch, »Du bist ja heut ganz verzweifelt liebevoll gesinnt. Macht das etwa, weil Dein schwarzes Kleid da bei Dir liegt, oder weil Du einen armen Narren mit Hoffnungen auf den Himmel so eben in sein kaltes Grab schicktest?«

»Schlimm genug, daß sie dies Kleid nöthig haben, um getröstet heimzugehen,« erwiederte Conradi; »aber Du alter Sünder weißt nicht, was der Glaube thut. Die Menschen bedürfen eines solchen Kleides, um nicht, wie wilde Thiere, sich ganz und gar zu zerreißen. Es hängt ein geheimnißvolles Grauen und Schauen an jeder Falte, und wenn Du sagst: Ströme von Blut und Elend sind daraus hervorgequollen, so mußt Du auch nicht vergessen, daß es Segen und Frieden brachte, daß es die Welt aufbaute, und oft den Unglücklichen und Verfolgten schützte vor der Hinterlist und Macht der Gewaltigen.«

Der Professor wollte antworten, als sein Blick auf den Schatten eines Menschen fiel, der sich rasch der Laube näherte. Im nächsten Augenblicke stand er auf, die Sprache versagte ihm, dann aber schrie er mit aller Heftigkeit:

»Was wollen Sie hier? Wen suchen Sie?!

»Meinen Sohn,« sagte der Banquier Lorbach kalt und trat dem Eingange näher. »Ich komme, weil es nöthig ist; schwerlich würde ich sonst Ihre Ruhe stören.

»Was kümmert mich Ihr Sohn,« rief der Hausherr im größten Zorn. »Ich sah ihn nicht, seit er mein Haus verließ, mag und will ihn auch nicht wiedersehen, so wenig wie seinen Vater.«

»Diese Zusicherung ist mir angenehm,« erwiederte Lorbach. »Lassen Sie uns als verständige Männer überlegen; ich glaube gern, daß Ihnen so wenig wie mir an einem Liebeshandel der unbesonnenen jungen Leute liegt.«

»Liebeshandel?« rief der alte Herr, »o! vortrefflich gesagt.«

Er sah den Banquier mit spöttischen Blicken an.

»Wenn Ihr Sohn sich verliebt hat, was kümmert's mich? Wenn es Ihnen Sorge macht, sehr gut! Wenn er in Verzweiflung wie ein junger Narr geräth, das freut mich wahrhaftig. Sylvia lacht ihn aus, sie verspottet ihn, und mit dieser Erklärung können Sie beruhigt nach Hause gehen.«

»Nicht so ganz. Wollen Sie mir ein kurzes Gespräch unter vier Augen schenken?«

»Nein,« sagte der Professor. »Wünschen Sie noch etwas, so reden Sie, mein alter Freund Conradi kann Alles hören.«

»So sage ich Ihnen,« rief der Banquier mit Nachdruck, »daß Sie nicht wissen, was in Ihrem Hause vorgeht. Ihre Nichte hat Zusammenkünfte mit meinem Sohn; erst gestern Abend sind hier in Ihrem Garten Liebesschwüre gegeben und empfangen worden. Sie werden wohl einsehen, Herr Helmstädt,« fuhr er ruhiger fort, »daß eine solche Verbindung nicht Statt finden kann. Sie werden mein Ansehen Ihrerseits unterstützen.«

»Ich werde es nicht nöthig haben,« sagte Helmstädt verächtlich.

»Um so besser, indeß hören Sie mich ganz. Victor soll heute seine Verlobung feiern. Er ist nicht zu finden; ich muß vermuthen, daß dieß auffallende Benehmen mit seinen heimlichen Wegen in Verbindung steht. Wo befindet er sich, wenn er hier nicht erschien?«

Die grauen Augen des Banquiers suchten durch die Wege des Gartens, dann fuhr er langsam fort:

»Er kommt gewiß und ich traue Ihnen so viel Ehre zu, ihn für immer zu entfernen, diese Kinderstreiche mit einem Schlage zu enden.«

»Wir werden ja sehen,« sprach der Professor vor sich hinschauend.

»Ich biete Ihnen Alles an, was in meiner Macht steht. Glauben Sie, daß Ihre Nichte eine Veränderung des Aufenthalts bedarf, daß Zerstreuung ihr Noth thut, machen Sie eine Reise nach Paris, nach Italien, meine Creditbriefe sollen Sie begleiten; meinen Sie, daß ernste Ermahnungen wirken können, ich will sie selbst sprechen; oder daß vielleicht eine schnelle Heirath, eine anständige Versorgung am Besten thäte, ich könnte ihnen eine gute Partie vorschlagen.«

»Gott im Himmel!« rief der Professor und faßte mit beiden Händen seinen Kopf, »der weiß für Alles Rath; warum hat er nicht die Welt gemacht?!«

»Helmstädt,« erwiederte der alte Herr mit strenger Stimme und gerunzelter Stirn, »die Zeit ist über unsrer Jugend fortgezogen; gereift, gebückt, dem Grabe nahe, stehen wir noch einmal uns gegenüber. Keine Täuschung, keine Phantasterei leite uns irre, aber auch kein Zorn um das Geschehene. Wir können uns nicht Freunde nennen, wir wollen es auch nicht; von Ihrer Welt zu der meinen baut sich keine Brücke.«

»Weder von Gold, noch von Achtung und Vertrauen,« sagte der Professor.

»So lebe und sterbe denn jeder in der seinen,« fuhr der Banquier feinlächelnd fort; »wir wollen uns gegenseitig nichts aufdrängen, und mein Sohn« – er hielt inne und bedachte sich, ein Gedanke sprang ihm auf, durchdringend blickte er den alten Bekannten an – »er ist auch ein Phantast, aber er kann nicht vergessen, was er sich und mir schuldig ist.«

»Das heißt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm,« lachte der alte Herr.

»Ich gehe,« erwiederte Lorbach und ergriff seinen Hut. »Ihre Ausfälle berühren mich nicht, Jeder nach seiner Weise, aber hören Sie noch ein Paar Worte: Ich habe mein ganzes Leben über mich bemüht, ein rechtschaffener Mann zu sein und mein Werk wohl erfüllt. Den Verstand, den mir Gott gegeben, habe ich zum Nutzen und Besten meiner selbst und vieler meiner Mitmenschen verwendet. Wie ein kluger Säemann habe ich meine Saaten ausgestreut und meine Speicher gefüllt, denn ich legte die Hände nicht in den Schooß, ich verachtete und verspottete nicht, was da geschaffen, verlor keine Zeit mit unnützen Grübeleien, scheuchte die Menschen nicht von mir und verdammte sie, sondern wußte sie zu gewinnen und nützlich zu machen. So steht es mit uns, Helmstädt, Sie hassen mich; hassen Sie sich selbst, denn was Sie traf, war Folge Ihrer Handlungen. Ihr langes Leben hatte keine Frucht, weil Sie selbst alle Blüthen zerbrachen, und statt zu wirken und zu streben, lästern Sie nur Gott, den ewig thätigen, lästern die Welt, verspotten beide und sehen nicht ein, wie Sie selbst zur Karikatur Ihrer Vernunft geworden. Ich bemitleide Sie, aber ich werde alle Mittel anwenden, mein Kind vor dieser Höhle des Unsinns zu bewahren.«

Der Professor hatte ihn ruhig angehört, weit ruhiger als zu erwarten stand.

»Ich bin ein alter Mann,« sagte er dann, »mein Grab liegt vor mir, Sie haben Recht, aber sehen Sie, Herr Lorbach, es ist seltsam, ich bereue nichts! Wissen Sie denn so gewiß, daß Haß und Lästerung gegen Gott und Menschen mich mit solchem bittern Zorn füllte? haben Sie nie davon gehört, daß die höchste Liebe, eine Wehmuth, die man nicht aussprechen kann, die tiefsten Seelenschmerzen über das Unglück unserer liebsten Freunde, das wir mit aller Angst nicht zu ändern vermögen, uns zum verzweiflungsvollen Spott und bis zur Wuth aufreizen können? – Doch das verstehen Sie nicht. Sie haben nur Flüche ausgestoßen und Verzweiflung empfunden, wenn ein Kaufmann fallirte, der einen Wechsel unbezahlt ließ; um das große Fallit der Menschen, um die Wechsel, die der Himmel ausgestellt und unbezahlt gelassen hat, haben Sie sich nie gekümmert. Ich flüchtete mit meinen Schmerzen in diesen kleinen Raum unter dankbare Blumen und Bäume, ich wollte nichts von der Menschheit sehen, weil ich wußte, ich konnte ihr doch nicht helfen. Doch was fragen Sie nach den Astern und Goldlack? deren Gold hat keinen Klang und keinen Cours an der Börse; was kümmern Sie die fallenden Blätter der Silberpappeln? Götterbildniß ist darauf geprägt, aber das des Königs fehlt. So, Herr Lorbach, steht es mit uns, aber ich hasse Sie nicht, ich bemitleide Sie wohl mehr und aufrichtiger, als Sie mich. Sie thaten, wie die Menschen thun, und können sich zum Troste sagen: mir sei Recht geschehen. Ja gewiß, mir ist recht geschehen, und nun gehen Sie, nützen Sie der Welt weiter, ich werde die Menschen weiter hassen, dies elende, verderbte, schmutzige Gesindel, das in seinen tausendfachen Ketten mit Freiheit und Göttlichkeit prahlt.«

Der Banquier schüttelte schweigend den Kopf, dann wandte er sich, ohne ein Wort zu sagen, um und ging langsam aus dem Garten.

Ebenso schweigend streckte der alte schwarze Herr seinem Freunde die Hand hin, der Professor legte die seine hinein, mit der andern stützte er den Kopf. So saßen sie beide eine Weile.

»Armer Helmstädt,« sagte der kleine Herr endlich, »seine Wahrheit hat Dir wohlgethan.«

»Seine Wahrheit!« rief der alte Mann, »hat er denn Recht? Ist diese verschmitzte gierige Klugheit, dieß endlose Rechnenexempel gegenseitigen Betruges das Ziel aller unserer Hoffnungen?«

»Ja,« versetzte der Freund bitter lächelnd, »und wer das rechte Facit zu ziehen weiß, bleibt Meister. Kämpfe dem bösen Feind seine Beute ab, ringe mit ihm, hier gilt es Hammer oder Amboß sein. Ein Menschenleben ist kurz, was liegt jenseits der Brücke? Hier ist unser Schauplatz, hier blüht unser Glück, hier kreuzen sich die Lebensgewebe, jeder suche das Seine breit und groß zu machen, was nützt es ohnmächtig zu klagen? Es wankt vom grausamsten Kampfe kein Halm, kein Helfer streckt den Arm aus den Wolken, sie schlachten sich erbarmungslos ihren kleinen und großen Götzen, hilf dir selbst, so hat dir Gott geholfen!«

Wie er diese letzten Worte mit starker Stimme sprach, kam Victor Hand in Hand mit Sylvia raschen Schrittes den Weg herauf.

Sein Gesicht war erhitzt und seine Stimme zitterte, als er grüßend hereintrat, Sylvia aber lächelte ihm zu und sagte:

»Laß mich sprechen, Du bist zu sehr bewegt, Lieber; ich weiß genau, was ich sagen muß.«

»Oheim,« begann sie, »Du siehst hier zwei Menschen, die sich lieben und ganz bestimmt glauben, es stand so geschrieben, daß es nicht anders sein konnte. Andere Leute glauben das nicht und meinen, es könne nimmermehr daraus etwas werden. Wir sagen jedoch, es sei unser Glück, und wollen glücklich werden, mag geschehen was da will. Victor hat seine Braut, die man ihm bestimmte, verlassen, nun ist er gekommen und sucht seinen Frieden bei mir.«

»Und Du,« sagte der alte Mann, »Du hast ihn aufgenommen?«

»Ich habe ihn erwartet, und will ihn nie verlassen. Wohin er geht, ich will ihn begleiten, was sein Schicksal ist, ich will es theilen.«

»Mit welchem Rechte, Du armes Kind?«

»Mit dem Rechte meiner Liebe!«

»Ah!« rief der Oheim traurig, »das hab' ich auch verschuldet. Du weißt nicht, was Du sagst. Dein heiliges Recht ist ohne Schutz, es ist dem Hohne, der Verachtung Preiß gegeben. Morgen schon vielleicht ist es auf ewig erloschen. Er stößt Dich fort und sie weisen mit Fingern auf Dich. Er jagt Dich von seiner Thür und vergebens rufst Du: Gott hat es gewollt! Sie fragen, wo ist das Stück Papier, wo hast Du die Gebühren bezahlt und den Segen erhalten? Die Liebe, die Gott in Dein Herz gelegt, ist ein Verbrechen. Leichtgläubiges, unglückliches Kind! reiß sie aus mit der Wurzel. Traue dem nicht, der Dir schwört, sie solle ewig währen. Ewig! was ist die Ewigkeit dieses Geschlechts? Die Menschen bedürfen Zwang und Ketten für Alles, auch für die Liebe. Er kennt sich nicht, er folgt der blinden Leidenschaft, und morgen schon faßt ihn die Reue. Es ist falsch, was er sagt, es ist eine abscheuliche Lüge, die Dich verderben soll, stoß ihn fort von Dir! ich kenne dies Gesicht, es hat auch mich betrogen.«

Sylvia schüttelte lächelnd und schmerzlich den Kopf und sah Victor zärtlich an, der still neben ihr stand.

»Und Sie, junger Mann,« fuhr der Oheim mit finsterem Ernste und bedächtig fort, indem er näher trat, »welcher böse Dämon treibt Sie zu diesem Werke? Sylvia ist ein Kind ohne Erfahrung, wollen Sie das so schlimm benutzen? Ihr Vater sucht Sie, eine Braut erwartet den Bräutigam, Reichthum, Ehren und ein bewegtes, gesegnetes Leben liegt vor Ihnen, und was bringen Sie diesem armen Kinde, das nichts hat, als sein unbedachtes Herz?! Bedenken Sie Alles, wie ein Mann es thun muß, der sich mit dem Leben entzweien will, seiner heißen Empfindungen wegen. Sylvia ist ein reicher Schatz von Liebe und Güte, aber Sie können ihn nicht heben, ohne ihn zu zerstören, oder sich selbst. Bedenken Sie, daß die Leidenschaft flieht, bedenken Sie auch alles, was Sie mit der Welt verbindet, dann fragen Sie sich, ob Sie erwacht vom wüsten Sinnentaumel in einer Liebe Glück finden können, die überall von bösen Geistern bewacht wird.«

Eine tiefe Stille folgte. Victor's Gesicht malte den verzweiflungsvollen Kampf seines Herzens, den Sylvia mit steigender Angst bewachte, und doch glänzten ihre Blicke sanft und ermuthigend. Sie legte ihre Hände gefaltet auf die seinen und sagte mit kaum hörbarer Stimme:

»Entscheide wie Du willst, wer lieben kann, kann leiden!«

»O Sylvia,« rief Victor und Thränen überströmten sein Gesicht, »nie kann ich entsagen, aber Dein Oheim hat Recht, mit unreiner Hand darf ich diesen edlen Schatz nicht heben. Mein Vater ist hart, und das Leben ist es; vergebens suche ich einen Weg der Versöhnung. Aber wer lieben kann, kann hoffen! Ich fürchte den Tadel nicht, den Spott oder den elenden Hochmuth der Menschen, ich zittre nur für Dich. Doch die Zeit ist die Trösterin und Helferin der Menschen, ihr wollen wir vertrauen, treu und bedachtsam, ich wanke nicht.«

Da trat der alte Mann im schwarzen Kleide aus der Laube dicht vor die beiden und sah sie mit seinen trüben großen Augen an.

»Die Zeit hilft, Ihr armen Kinder,« sagte er, »sie hilft über Leid und Glück bis ins Land der Vergessenheit, aber sie rauscht dahin als ein ewiger Strom, unaufhaltsam, und keine Welle kehrt zurück. Verliert nichts davon, keinen Tropfen, keinen Hauch; die Zeit ist ja das Lebensmaß, und wie kärglich ist es gemessen! Was hält Euch ab, glücklich zu sein, wenn Ihr den Muth dazu habt? Junger Mann, können Sie den Vorurtheilen der Welt Trotz bieten, sind Sie bereit, diesem Mädchen Ihre Hand zu reichen, als Ihr treuer Gefährte, Alles Glück und Leid mit Ihr zu theilen? Können Sie den Zorn selbst derer tragen, die Ehrfurcht und Gehorsam nach dem Gesetz fordern?«

»Ich kann Alles tragen,« erwiederte Victor erstaunt, »aber ach! nie wird mein Vater einwilligen, und er hat Macht genug, meine Absichten zu hindern.«

»Es ist ein Gebot in der Welt,« sagte der Greis mild lächelnd, »das Böse zu bekämpfen, wo man es findet, seine Waffen stumpf zu machen, klug und leise, wenn es geht, und kein Mittel zu scheuen, wo es gilt gegen die Lüge auf Erden zu streiten. Als ein Diener des ewigen Gottes, der die Welt erschaffen und alles Leben darin, frage ich Euch, ist es Euer fester Wille, Euch ehelich anzugehören als Mann und Weib, so will ich Euch vereinigen.«

»Allmächtiger Gott!« rief Victor, »das wollen, das können Sie? Ja, und tausendmal, ja! O! meine Sylvia, da ist der Weg, er ist gefunden, Du bist mein vor Gott und Menschen, was frage ich nach ihrem Zorn!«

Der Greis war zurückgetreten, er knüpfte das Tuch auf, welches Talar und Baret enthielt, nahm das Crucifix und das heilige Buch und hieß das junge Paar vor sich hintreten, dicht an den Eingang des grünen Geheges, dessen Blüthen und Ranken, im sanften Winde wiegend, sich wie ein Kranz um Sylvia's Stirn legten. Dazu blickte die Abendsonne neugierig durch das dichte Geblätter, die warme glänzende Luft füllte den Raum ganz durchsichtig rein und wolkenlos bis zum tiefen Blau des unermeßlichen Gotteshauses. Zu den Blumen summten die Käfer ab und auf, schöne Insekten spielten und schimmerten in bunten Farben und aus den Bäumen begleitete der Gesang eines Vogels die Gebete und Worte des priesterlichen Greises, welche feierlich leise wiederhallten.

Nun fragte er, ob sie entschlossen feien, einen ewigen Bund zu schließen und sich begehrten? Da riefen Beide ein entzücktes »Ja« und sahen sich mit freudetrunkenen Augen an, bis sie plötzlich in einer langen zärtlichen Umarmung fast nichts mehr von dem ehelichen Segen hörten.

»Ihr guten Kinder,« sagte der alte Mann gerührt, »ihr werdet glücklich sein, auch ohne durch das Symbol des Ringes erinnert zu werden, daß Ihr es unauflöslich sein sollt, und da nun diese Ringe fehlen –«

»Sie fehlen nicht,« fiel Sylvia ein.« Schnell nahm sie Victors Hand, streifte einen schmalen Goldreif von seinem kleinen Finger, und nun zog sie an einem Bändchen etwas aus ihrem Busen, löste es ab und reichte zwei Ringe dem Prediger, indem sie einen forschenden, lächelnden Blick auf ihren Oheim warf, der scharf hinschaute, dann erstaunte, sann und immer heiterer begriff, was sie that. Zuletzt konnte er kaum die Zeit erwarten, bis die Handlung vollendet war, mit dem letzten Worte nahm er Sylvia in seine Arme, dann Victor, an dessen Hand er den alten, massiven, verblindeten Ring betrachtete, mit dem Kopfe nickte, lachte und den verwunderten jungen Mann mit väterlicher Zärtlichkeit herzte.

»So ist es gut und recht,« rief er aus, »ausgelöscht auf immer soll es sein. Vergilt es ihr, mein Sohn, mache sie glücklich, sie verdient es. Ich will wieder jung werden mit Euch; wie schön, wie versöhnend ist diese Stunde! Ich will Dich lieben, Victor, ich habe ein Recht dazu, ein heiliges, edles Vaterrecht, das soll mir Niemand nehmen.«

Jetzt hörten sie ein heftiges Gezänk an dem Gartenthore und die durchdringende Stimme des Banquiers, der sehr vernehmlich rief:

»Ich will und muß hinein, halte mich nicht auf, Du Schlingel! er ist hier zu finden, ich habe die vollste Überzeugung.«

Somit stieß er den Jungen zurück, kam schnellen Schrittes näher und erblickte sogleich, seinen Sohn und Sylvia in dessen Armen.

»Ungerathener! Leichtsinniger!« schrie er schon von fern, »und was ist das? Sie, Sie dulden es?« rief er und blickte den Professor an, der ganz glücklich es ansah.

»Da müssen Sie den schwarzen Mann dort schelten,« erwiederte er freundlich, »der hat es den jungen Leuten im Namen seines Gottes befohlen, sich bis in Ewigkeit zu lieben und zu küssen.«

Der alte Lorbach blieb entsetzt stehen. Er maß den Priester im Ornat, und sagte dann: »ich will nicht hoffen, daß hier ein schändliches Possenspiel getrieben wurde?«

»Sie mögen es immerhin so nennen,« versetzte der alte Herr, »ich aber habe, kraft meines hohen Amtes, hier unter dem Gottesdome, im Angesicht des ewigen Herrn der Welt ihre Hände zusammengefügt, damit arglistiger Hochmuth zum Falle komme.«

»Das ist null und nichtig,« rief der Banquier erblassend.

»Es ist eine Ehe, der Niemand etwas anhaben kann.«

»Fürchten Sie das Gesetz, Herr,« schrie Lorbach außer sich; »ich gehe an das Consistorium, an den König selbst. Ich bringe die härteste Strafe über Sie.«

»Ich fürchte nichts,« sagte der alte Mann lächelnd. »Was können Sie bewirken? »Meine Absetzung im schlimmsten Falle. Nun wohlan, ich scheide mit der Überzeugung, mein bestes Werk gethan zu haben. Aber diese Ehe bleibt gültig,« fuhr er mit starker Stimme fort, »sie ist heiliger und reiner geschlossen durch Liebe und Vertrauen, als die meisten am kirchlichen Altare. Sie aber, gehen Sie hin, schreien Sie Ihre eigene Schmach aus; Sie haben Disteln gesäet und ernten Dornen! Man wird Sie verspotten und dennoch ist die reiche Braut, die Sie erwählten, auf immer für Ihren Sohn verloren. Wandeln Sie Ihr Haus denn zum Asyl des Kummers und der Sorgen um, betäuben Sie Ihr Gewissen, denken Sie nicht daran, daß diese Verbindung selbst eine Versöhnung Ihrer eigenen Jugend in sich schließt; reißen Sie den Sohn aus Ihrem Herzen, enterben Sie ihn, fluchen Sie ihm, ich werde ihm den Segen Gottes verkündigen und dieser wird ihn begleiten.«

Der zürnende Vater war zu verständig und an kluge Überlegung und Selbstbeherrschung zu sehr gewohnt, um das Wahre in diesen Worten nicht einzusehen.

»Hätte ich noch einen Sohn,« sagte er finster, »so würde ich diesen gewiß verstoßen. So werde ich meinen Schmerz zu tragen suchen und den Schwachkopf verachten, wie er es verdient.«

»Vater,« sagte Victor bittend und ihm näher tretend.

»Rühr' mich nicht an,« rief der alte Herr, »geh' und suche nie zu bereuen, was Du gethan. Geh' auf Dein Gut, ich will nichts hören, nichts wissen von Dir. Verbirg Dich und Deine« – hier warf er einen Blick auf Sylvia, die ihn bittend, liebend anschaute – »Deine Unbesonnenheit vor der Welt, kehre nie dahin zurück, und Gott vergebe denen, die mir das Leid zufügten.«

Dann wandte er sich zu dem Professor:

»Und Sie, unversöhnlicher, alter Mensch, sind Sie nun zufrieden, gesättigt? Ich sage Ihnen, Sie haben jung wie ein Thor gehandelt, jetzt aber noch viel schlimmer.«

Er ging schnell davon und hörte nicht auf die lauten Worte des Gescholtenen, der ihm lustig nachrief:

»Judas! Judas! ich sage Dir, Deine Sünde ist von Dir genommen, so Du heimgehst und Dich bekehrest.«

Conradi nahm seinen Freund bei der Hand und führte ihn fort, da sah Victor auf und Sylvia stand vor ihm, wie verklärt vom rothen Sonnenlichte, das aus dem Abendhimmel strömte.

»Du bist mein,« rief er, »auf ewig mein! Deine Liebe, unser Glück muß ihn versöhnen!«

»So laß uns glücklich sein,« erwiederte sie leise. »Hörtest Du, was der alte Mann sagte? Laßt keine Zeit vorübergehen, wo ihr es sein könnt. Das Leben ist den Menschen so kärglich zugemessen, das Glück hängt an Minuten, o! mein Victor, wie glücklich bin ich.«

*                     *
*

Nach einem Jahre saß Herr Lorbach in seinem Kabinet mit verschränkten Armen und schaute auf zwei Karten, die vor ihm lagen. In der einen zeigte Rudolf seine bevorstehende Verbindung mit Fräulein Constanze Seefeld an und der Banquier warf einen bittern, schmerzlichen Blick darauf; die andere lud zum Tauffeste ein, und daneben lag ein Brief voll kleiner, feiner Schriftzüge.

»Viel Gefühl,« sagte der alte Herr, »und nebenbei wirklich recht verständig klug, der Narr, der Victor!«

Er sah umher und seufzte.

»Es ist einsam allerdings hier, langweilig, ich glaube, ich bin zehn Jahre älter geworden und Victor schreibt, nur meine Verzeihung fehle, um ihn zum allerglücklichsten Menschen auf Erden zu machen. O! der Thor! aber er hatte immer ein allzuweiches Herz. Der alte Mensch, der Professor; es ist fatal, daß er dort ist, aber es ist belustigend, und –«

Er stand plötzlich auf und legte die Hand wie gewöhnlich auf seine Stirn. –

»Nun wahrhaftig, rief er, »soll ich mir darum meine paar alten Tage verbittern, meinen Sohn, meinen Enkel missen? Geschehen ist geschehen, was sich nicht ändern läßt, muß ertragen sein, und wenn ich bedenke, was meine Jugend – Halt da! keine Vorwürfe, ich habe nichts zu bereuen, aber –« er öffnete die Thür: »Franz! Postpferde in einer Stunde, und den Reisewagen in Stand gesetzt, wir fahren zur Taufe!«


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