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[Fünfter Theil.]
» Die Spitzbuben! die vermaledeiten Spitzbuben!« murmelte der kleine Bürger Lecombe, und während er seine Fingerspitzen anblies und mit den schlechtverwahrten Stiefeln im dicken Schmutz umherstampfte, warf er stechende fürchterliche Blicke auf das alte Wacht- und Stadthaus von St. Florent und die verschiedenartigen Gruppen davor.
Unter dem Schirmdache stand und lag Alles voll Soldaten. Sie hatten die blauen Mäntel über die rothrabattirten Röcke gezogen, die Gewehre mit aufgepflanzten Bayonnetten zusammengestellt und die kleinen, breiten Mützen mit den dreifarbigen Feldzeichen tief in die Augen gedrückt. Oben auf dem Giebel des Hauses flatterte die stolze, große Fahne der Republik und klatschte in Sturm und Regen den Takt zu den Gefangen einer Gruppe wilder Gestalten, die um ein Feuer tanzten und ihr Ça ira, ihr Allons enfants, oder La republique ou la mort, citoyens! herausbrüllten.
Andere lagen und schliefen auf dem Stroh unter dem Dache, oder sie rauchten aus kleinen schwarzgebrannten Pfeifen und fielen dann und wann in die Lieder ein, bei deren Klang die meisten Einwohner St. Florents Augen und Zähne fest zusammen drückten und schnell und schüchtern davonschlichen.
Denn die Soldaten waren meist große, kräftige Gestalten, Kinder der Normandie und des Rheins, blau mit Leib und Seele; oder Bürger aus der Vorstadt St. Antoine, die vor den Altären der Jakobinerkirche alle Weihen der Freiheit empfangen hatten; oder leidenschaftliche, schwarze Gesichter des Südens, welche mit Jean Baptiste Carrier in Nantes geschlachtet und republikanische Hochzeiten auf der mitternächtigen Loire bei Tanz und Fackelschein gefeiert hatten.
Und hier standen sie mit düstern Blicken, zürnend, daß der Verräther noch so viele entkommen, daß die Vendée noch immer Menschen hege, und ihre brennenden Augen blickten dann, spottend und verachtend, auf die Gruppen der Bauerjungen aus Niederpoitou, welche, vor der Wache zusammengetrieben, republikanische Rekruten der traurigsten Art bildeten.
Die armen blondhaarigen Bursche klebten in der nassen Kälte schaudernd zusammen. Seufzend und leise fluchend drückten sie von Zeit zu Zeit das Wasser aus ihren wollenen Zipfelmützen und zogen diese dann bis auf Auge und Nase herunter, um von solcher nichtswürdigen Welt nichts mehr zu hören noch zu sehen. Lange Stunden hatten sie nun hier im Schmutze gelegen, von Wachen umringt, die Keinen sich entfernen ließen und sie sogar von ihren lieben Angehörigen trennten, einem Schwarm von Männern, Weibern und Mädchen, die, traurig fürchtend und hoffend, mitgezogen waren nach St. Florent, um zu sehen, ob es nicht möglich sei, den Bürgercommissair oder Bürgergeneral zu erweichen, und den lieben Peter oder Michel vom ewigen Verderben zu retten und seinem Gott und Könige zu erhalten.
Während nun die Rekruten und ihre Freunde sich zu trösten suchten, wie es ging, und, die Hände in den Leinenhosen, einfältiges Zeug schwatzten, ging der kleine Bürger Lecombe mit gewaltigen Schritten auf und ab. Zuweilen schielte er nach einem hübschen hellgelockten Knaben, der mit seinem feinen, furchtlosen, fast lachenden Gesicht an einem der Pfeiler lehnte und seinen blauen Kittel fest um die schlanken Glieder knüpfte, und dann sah er nach den Himmel empor, der düster nächtig auf die Erde sank.
Mit einem Male aber erhielt er einen so gewaltigen Schlag auf die Schulter, daß sein ganzes kurzes Nervensystem durch und durch erschüttert ward, sein Kopf wie eine Kinderklapper hin und her wackelte und der dreieckige Hut in einem weiten Bogen vorüber mitten in eine breite Pfütze flog, auf welcher er majestätisch weiter segelte.
Der kleine Bürger erholte sich schnell von seinem Schrecken; wüthend blickte er auf und sah einen baumlangen Normand vor sich, der ihn höhnisch lachend am Zopf festhielt.
»Fort zu dem Haufen, Bürgerrekrut!« rief der ungeschlachte Kerl; »was hast Du nöthig, hier umherzuschleichen? Höllenteufel! Bürger, ich glaube, Du willst Dich davon machen? Du bist ein Verdächtiger, schreie: vive la republique! ich befehle es Dir.«
»Laß mich los, Bürgersoldat,« sagte Lecombe mit vieler Ruhe. »Ich bin weder Rekrut noch Verdächtiger.« Er suchte dabei sich zu befreien, aber der Soldat hielt ihn um so fester.
»Wer bist Du denn?« fragte er rauh. »Seit langer Zeit schon schleichst Du hier umher. Du hast Dich von den Andern entfernt, und suchst eine Gelegenheit zu entwischen.«
»Ich heiße Anton Lecombe,« sagte der Kleine, »und treibe das Schneiderhandwerk. Laßt mich in Frieden; ich bin der einzige Sohn meiner alten Mutter, die ich ernähre; und die einzigen Söhne der Witwen sind frei.«
»Ein Schneider bist Du?« rief der Soldat frohlockend. »Prächtig, mein guter Bürger. Schneider gerade sind es, die wir brauchen. Da schicken wir Dich nach Angers hinüber, wo die große Commission für das Bürgerheer Tag und Nacht arbeitet. Vorwärts, geschwind. Du wirst Dich nicht weigern, wenn Du ein Patriot bist. Ich werde Dich dem Bürgercommissär als Freiwilligen vorstellen, der sehr erfreut sein wird, Deine Bekanntschaft zu machen.«
»So laß mich nur erst meinen Hut wieder auffischen,« bat Lecombe, zitternd vor Grimm.
»Laß den alten Deckel schwimmen, mein Junge,« schrie der Normand lachend, »laß ihn schwimmen, sage ich Dir, bis in die Rauchkammer Deiner verehrten Frau Mutter. Die wackere Bürgerin kann ihn einsalzen und räuchern zum Andenken an ihren Liebling, Du aber sollst einen neuen haben, mort de ma vie! einen neuen von Glanztuch, dreifarbig angestrichen.«
Er lachte unmäßig über seinen Witz; Lecombe aber ballte heimlich die Faust, und im Augenblick darauf erhielt der lange Normand einen so echt englischen Boxerstoß in die Magenhöhle, daß er den Athem verlor. Nicht allein die Farben der glorreichen Republik, sondern alle, die jemals aus Licht und Nacht gebildet wurden, tanzten vor seinen Augen; seine Hände öffneten sich und ließen den kleinen Schneider fahren, der mit einem gelenkigen Satze über die Pfütze sprang, seinen Hut im Fluge erhaschte und, so schnell er konnte, über den Markt fortlief.
Die Kameraden des Soldaten hatten den ersten Auftritten mit vieler Lust und Lachen zugeschaut. Einen Vendeer gehänselt und geängstigt zu sehen, war ein wahres Labsal für sie, aber ihre Freude verkehrte sich beim Anblick des tragischen Ausganges in Wuth. Ein halbes Dutzend sprang unter Mordgeschrei dem Flüchtlinge nach, der, wie ein gehetztes Wild, zwischen den Hütten und Hecken hinflog, und ehe er einen Schutzort erreichen konnte, ausglitt, strauchelte, in den Koth stürzte, wieder aufsprang, und von einer kräftigen Hand abermals niedergeworfen wurde.
Der kleine Bürger Lecombe hatte jedoch, trotz seines Mißgeschicks, den Muth nicht verloren. Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß nur ein einziger junger, schmächtiger Schwarzkopf ihn festhielt, dessen Gefährten entweder weit zurückgeblieben, in den schlüpfrigen, tiefen Schmutz gefallen, oder ganz umgekehrt waren, und er war der Mann nicht, vor einem Gegner zu erschrecken.
Mit einem Druck, den man in Deutschland einen kunstgerechten Henkersgriff nennen würde, preßte er seine starke Faust zwischen Hals und Halstuch des jungen Republikaners, der laut nach dem Beistande seiner Kameraden schrie. Im nächsten Augenblicke aber verstummte dieser Hülferuf und ging in ein leises Röcheln über. Mit furchtbarer Anstrengung suchte er sich von der mörderischen Hand des kleinen Schneiders zu befreien, doch sanken seine Arme erschlaffend nieder, die Augen traten blutig aus ihren Höhlen, die schreckliche Bläue der Erstickung bedeckte sein jugendliches Gesicht. Ohnmächtig ringend stürzte er nieder; Lecombe kniete auf seiner Brust. –
»Hab ich Dich,« murmelte er und drehte mit rachsüchtiger Lust den Knoten fester, »Du sollst nie wieder die Freiheit hoch leben lassen, Bürger von Frankreich.«
Gleich darauf aber ließ er nach und sah mit scheuen Blicken den Weg hinab, der öde und leer war, dann zum Himmel auf, dessen schwere Wolken sich über die Bergwand an der Loire wälzten, und endlich auf das Opfer zu seinen Füßen, in dessen weitgeöffnete Augen die kühlen Regentropfen fielen.
Ein leises Grauen schlich durch seine Glieder, eine Stimme tönte in seinem Herzen, die einen Fluch über den Mörder sprach. Er sah mit starrem, prüfendem Blick in das junge Gesicht, dessen Todesschmerz ihn anzuklagen schien. Es war ein Blauer, ein ewig Verdammter, ein Feind Gottes und der Menschen, des Königs und der Religion, aber leise schaudernd zog er doch den Fuß von dem langen schwarzen Haar, das vor wenigen Minuten noch einen stattlichen Zopf gebildet hatte, und nun, naß und blutig, unter seiner Sohle lag.
Als er fort trat, schienen die Hände des Erstickten zu zucken und nach dem festgeschnürten Hals zu greifen. Er lebte noch, und Lecombe's Arm streckte sich aus, ungewiß schwankend, sollte er helfen oder gänzlich tödten.
In diesem Augenblicke rauschte es in den Hecken; eine junge weibliche Gestalt sprang leicht darüber hin. Ein dunkler, kurzer Mantel umflatterte den schlanken Körper, ihr blasses, schönes Gesicht verbarg sich vergebens unter dem großen Kopftuche der Bäuerinnen von Poitou. So stand sie einen Augenblick, heftig erschrocken, mit der Hand das Halsband eines gewaltigen, zottigen Wolfshundes fassend, der ihr folgte, und dann rief sie heftig befehlend:
»Was thust Du, Lecombe? Laß ab! Laß ab!«
Der Schneider ergriff ängstlich ihre Hand und wollte sie fortziehen.
»Und was thun Sie hier?« sagte er. »Heilige Gottesmutter von Niort, was wagen Sie da!«
»Hast Du ihn gesehen?« fragte die Dirne lebhaft, »ist es möglich, haben wir Hoffnung? Doch nein, nein!« rief sie, mit Heftigkeit die Hände zum Himmel faltend, als Lecombe traurig den Kopf schüttelte; »o, mein Henry! Du bist verloren, und meine Mutter, meine arme Mutter!« – Nun heftete sie ihre feurig großen Augen auf den Republikaner und sagte schaudernd leise: »Wer ist es?«
»Ein Narr, ein Blauer, der mich verfolgt hat,« versetzte der Vendeer rauh, »und dem ich dafür den Hals umdrehte.«
Die Vendeerin warf einen langen, mitleidigen Blick auf ihn.
»Er ist nicht todt,« sagte sie, »ein Zucken läuft durch seine Glieder – armer, junger Mensch! er leidet sehr.«
Rasch beugte sie sich zu ihm nieder, löste die Schlinge von seinem Halse, und hob mit ihren beiden kleinen Händen den schweren Kopf. Lecombe leistete willige Hülfe. Er richtete ihn auf und lehnte ihn an die Hecke.
»Ich glaube wohl, daß er wieder aufwachen wird,« flüsterte er mit zornigem Spott; »seid sicher, sein erstes Wort wird dann sein: Ich verhafte Euch im Namen des Gesetzes!« –
»Er hört Dich nicht,« erwiderte das Mädchen, »es ist überflüssige Sorge.«
Rauhe rufende Stimmen ließen sich von fern hören. Sie schrien den Namen des Vermißten.
»Deine Freunde sind nahe,« sagte Lecombe. »Gottes Fluch über Dich, wenn Du verräthst, wohin wir gehen.«
Das Mädchen strich das Haar von der Stirn des Republikaners, ihre Finger ruhten einen Augenblick darauf.
»Nein!« sagte sie, »er würde es nicht thun, auch wenn er Alles wüßte.«
Lecombe zog sie fort in die Hecken hinein, durch Wiesenstriche und Baumwege. Schnell waren sie verschwunden.
Wenige Minuten später standen die Suchenden vor ihrem Kameraden und brachen bei seinem Anblick in ein Geschrei der Wuth und Rache aus. Seine zerrissenen Kleider, die Todtenblässe seines Gesichts und ein blutiger Strom, der aus einer leichten Verletzung auf seiner Stirn herabrieselte, gaben ihm noch immer den Anschein eines Erschlagenen. Mehrere knieten an seiner Seite nieder, man flößte ihm einige Tropfen Franzbranntwein ein; langsam kehrte seine Besinnung zurück.
»Eduard Leprieur!« schrie der große Normand mit seiner Donnerstimme, »wer hat Dich in diesen Zustand versetzt? War es wirklich der nichtswürdige, heimtückische Schneider? Wo ist der kleine, dünne Bengel geblieben, daß ich ihn in tausend Stücke zerschneide.«
Leprieur antwortete nicht, denn wie ein Traumbild stieg, was er erlebt, vor seinen geschlossenen Augen auf. Die zarte weibliche Gestalt, der große schwarze Hund, der kleine Schneider, der ihm befahl, Gutes mit Gutem zu vergelten. –
Die Wiesengründe dehnten sich weit vor ihm aus; die Berge spalteten sich, er konnte durchschauen, als wären sie Krystall. Er verfolgte die Fliehenden, wie sie hinab- und hinaufstiegen, wie Weiden und Weinranken sie verbargen, wie zahllose Hecken, Gräben und Hügel ihren Pfad durchkreuzten und sperrten. Das liebliche Gesicht des Mädchens wechselte in Furcht und stolzer Entschlossenheit. Sie sah zurück und winkte und lächelte ihm zu; ihr rührender kummervoller Blick weckte sein erstarrtes Herz zu lauten Schlägen, und nun verschwanden sie in den Weinbergen an der Loire und traten in ein Häuschen, das an einer Bergschlucht lehnte.
So träumend hoben seine Freunde ihn auf und trugen ihn in den Flecken hinab, in das alte Wachthaus, aus welchem die ganze Schaar dem Zuge entgegenkam.
Er ward in ein Zimmer gebracht und ein Wundarzt herbeigerufen, der ganz richtig die blauen Flecke an seinen Halse als Spuren einer beabsichtigten Erwürgung erklärte und im besten Zuge war, alle Möglichkeiten der weitern Folgen zu erörtern, als ein großer starker Mann im blauen Rock, die dreifarbige Schärpe darum geschlungen, hastig eintrat, dem geschwätzigen Doctor und der gaffenden Menge einen befehlenden Wink gab, sich zu entfernen, und dann den Kopf des jungen Soldaten an sein Herz pressend, ihn zärtlich und schweigend anblickte. Eben so schweigend und rasch riß er ihm die Uniform ganz auf, benetzte seine Lippen mit Wasser und überschüttete sein ganzes Gesicht damit.
Jetzt schlug der junge Mensch die Augen auf, und der große, kräftige Mann beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn mit zitternder Liebe, indem er sich bestrebte, seiner heftigen Bewegung Herr zu werden.
»Mein Eduard,« sagte er mit erzwungener Ruhe, die schnell an seinen Gefühlen zerschellte, »mein theures, theures Kind, wie fühlst Du Dich? Welche mörderische Hand wollte Dein Leben? Wer war es und wo, wo ist der Nichtswürdige?«
Diese letzte Frage richtete er mehr an einige eintretende Officiere als an den Kranken. Seine großen, grauen Augen schienen den Verbrecher zu suchen, und als Niemand antwortete, sagte er mit seiner tiefen grollenden Stimme:
»Wir werden ihn finden. Haben sie noch nicht genug Elend gegeben und empfangen, diese nie gesättigten Räuber und Mörder? Wir werden sie aufsuchen in ihren geheimsten, verborgensten Nestern, und wehe ihnen, wehe ihnen Allen!«
So sprach er fort mit düsterer Stirn, bis er einem der Capitaine befahl, mit seiner Compagnie die Berge zu durchstreifen und einzufangen, was ihm verdächtig sei. Ehrerbietig verbeugte sich der Officier. Es war der Conventscommissair, der hier befahl, und eben wollte er das Zimmer verlassen, als der junge Soldat die Sprache wieder erhielt.
»Es ist vergebens,« rief er, »setzt ihnen nicht nach. Mein Vater, Du wirst es nicht zugeben, ich bitte Dich, widerrufe Deinen Befehl.«
Der Conventscommissair zog seine Schärpe fester und warf dabei einen forschenden Blick auf seinen Sohn, dessen blasses Gesicht von einer schnellen Röthe bedeckt war. Er verabschiedete die Officiere und setzte sich neben ihn, der sich aufgerichtet hatte.
»Eduard,« sagte er, indem er ihm die Hand reichte, ich verstehe und ehre Dein Gefühl. Du willst nicht, daß ein Mensch, der mörderisch mit Dir verfuhr, den Tod leiden soll. Das ist edel empfunden, mein Kind; aber hüte Dich in diesem schrecklichen Lande Dein Herz um Rath zu fragen.«
»Ich frage mein Gewissen, mein Vater,« sagte der junge Soldat. »Wir neckten und reizten den Mann, den ich verfolgte, der zuletzt seine Freiheit gegen mich vertheidigte.«
»Das Gewissen,« sagte der Commissair und legte die Hand auf seine hohe, kahle Stirn; »auch das Gewissen darfst Du nicht fragen, vom Standpuncte der bloßen Empfindsamkeit zu Schlüssen verleitet, die dunkle, fürchterliche Schatten auf uns werfen. Wollten wir in dieser Weise Herz und Gewissen befragen, mein Eduard, was würden diese sagen zu dieser ausgebrannten Wüste, zu diesen Schaaren von Waisen, welche die Väter suchen, zu diesen Weibern ohne Männer, zu diesen entehrten Mädchen, zu den Dörfern und Städten, deren Bürger das Beil der Guillotine fraß; die in der Tiefe der Loire liegen, in den blutigen Steinbrüchen von Nantes, oder die gefallen sind, ermordet, verstümmelt, verhöhnt, tausend und tausendmal?! Welche Namen würde es uns zurufen, mit welcher Schmach uns brandmarken?«
»Gott sei gelobt!« rief der junge Soldat, »die Schreckenszeit ist ja vorüber, die Männer des Schreckens sind todt, der Abscheu spricht laut gegen sie. Robespierre und seine Genossen starben unter demselben Beile, das ihre Opfer so oft vernichtete.«
Der große Mann warf einen strengen Blick auf seinen Sohn.
»Ich habe niemals den Blutdurst vertheidigt,« sagte er nach einem langen Schweigen, »aber ich halte fest an den Grundsätzen der Tugend, an den Lehren des Berges Die Bergpartei ( La Montagne), deren Mitglieder Montagnards genannt wurden, war während der Französischen Revolution eine politische Gruppierung im Nationalkonvent. Sie bestand vor allem aus dem 1789 gegründeten Jakobinerklub sowie den politisch ähnlich denkenden Cordeliers. Ziel war eine soziale und politische Gleichheit., an der Nothwendigkeit der Strenge. Robespierre ist todt, aber wie lange Jahre werden vergehen, mein Kind, ehe der Friede wieder in dies unglückliche Land zurückkehrt, das uns so glühend haßt. Noch stehen seine Anführer in Waffen, noch gibt es tausend geheime Schlupfwinkel, noch drangen wir nicht in die Niederungen von Poitou, wo Priester das heilige Herz zum Kampf auf die Brust der armen Bethörten heften, die mit Leib und Blut für die alten Vorurtheile fechten. Adel und Priester leben noch hier und schleichen von Wald zu Wald. Der demüthige Bauer läßt sich für ihre Privilegien morden, die ihn zum Knecht erniedrigen, und dieser stumpfsinnige Wahnsinn ist es, der auch Dir heut fast das Leben kostete.«
»Wer kann sagen, wer das Schrecklichste hier gethan hat,« sagte Eduard leise. »Gemordet und geschändet haben sie Alle; die Einen im Namen Gottes und des Königs, die Andern für Freiheit und Vernunft.«
»Junger Thor,« sagte der Conventscommissair zürnend, indem er aufstand, »siehst Du noch immer nicht ein, daß geschehen mußte, was geschah; daß eine übermenschliche, rächende Hand das Richtschwert führte, den alten Sumpf auszurotten, auf daß ein neues Leben aufblühe? Sie mußten Alle sterben, diese Pfaffen und Ritter, diese hochmüthigen, verderbten Kasten, sie müssen es noch, und wie geneigt ich bin, den dummen verführten Troß zu beschützen, ich habe keine Gnade für die wahren Verräther.«
In dem Augenblick zeigte sich der große Normand an der Thür.
»Was willst Du, Bürger?« fragte der Commissair.
»Eine Meldung,« erwiederte der Mann, »die Dir Freude machen wird, Bürger Leprieur. Wir haben draußen unter den Rekruten einen jungen Burschen, der den Kopf im Nacken trägt wie ein Edelmann und stolz aussieht wie ein Bischof. Ich beobachtete ihn genau, als er so an der Säule stand und Gesichter schnitt, verächtlich wie ein Truthahn; auch kam es mir vor, als hätte er dem kleinen Schneider zugenickt, der Deinem Sohn, Bürgercommissair, unserem tapferen Freiwilligen, so schlimm mitspielte. So behielt ich ihn unter Aufsicht, und jetzt, wo es dämmert, und der Bürgergeneral Miller so eben herausgetreten ist, um den Rekruten eine Anrede zu halten, schlüpfte ein Ding, ein Mädchen oder so etwas, dicht an den jungen Burschen und drückte ihm etwas in die Hand, das er sogleich verbarg. ›Halt!‹ rief ich und faßte ihn. – ›Was gibt's?‹ sagte er und stemmte den Arm in die Seite. – ›Holla, Bürger, schrie ich lachend und hob ihn in die Höhe, daß er um sich strampelte, das wollen wir eben sehen!‹ und ohne mich aufzuhalten, faßte ich in seine Tasche und holte den Zettel hier heraus.«
Der Commissair trat dicht an das Fenster und las im letzten Abendschein die Zeilen.
»Wo ist der Knabe?« sagte er dann mit drohender Stimme.
»Da ist er,« erwiderte Normand, indem er mit dem Arm durch die Thürspalte faßte und seine große Hand den kleinen dünnen Burschen am Kragen hereinzog.
Eine sonderbare Bewegung drückte sich in den Zügen des jungen Leprieur aus. Er betrachtete den Gefangenen mit Theilnahme, der furchtlos mit lächelnden Lippen vor dem gewaltigen Richter stand. Ein Soldat brachte Licht herein, der Conventscommissair kreuzte die Arme, düstere Falten bedeckten sein strenges Gesicht.
»Wer bist Du?« sagte er.
»Rekrut der glorreichen Republik,« erwiderte der Knabe spöttisch lachend.
»Junger Mensch,« erwiderte der Commissair mit Nachdruck, »antworte mit Achtung vor dem Gesetz.«
»Ist es denn nicht Wahrheit?« rief der Knabe.»Stehe ich nicht hier mit der Aussicht, über die Loire geführt zu werden; haben Eure Schergen denn nicht Feld und Wald durch streift, wie zur Jagd wilder Thiere, die stillen Hütten überfallen, mich aus dem Mutterarm gerissen und hierher geschleppt?«
Der Commissair sah ihn starr an, während er mit steigender Leidenschaft sprach; dann murmelte er leise vor sich hin:
»Diese Stimme, diese Züge, ich kenne sie; ich kenne den feindseligen, giftigen Stamm, der diese Frucht trug,« – und plötzlich, wie von Wuth gefaßt, richtete er sich auf, legte seine große Hand rauh schüttelnd und geballt auf die Schulter des Kindes und sagte: »Bist Du nicht der Sohn des Verräthers, der Neffe des Rebellen Sapinaud? Bist Du es nicht; leugne nicht; bist Du es nicht?!«
»Heinrich von Lancy,« sagte der Knabe mit funkelnden Augen, »der Sohn des Vicomte von Lancy, den das Mörderbeil erschlagen hat. Sprecht mit Ehrfurcht von meinem herrlichen Vater, von meinem tapfern Oheim.«
Leprieur wendete sich mit verächtlichem Blick von ihm zu seinem Sohn.
»Da siehst Du es,« sagte er, »wie diese Kaste mit der Muttermilch den Uebermuth einsaugt, wie wenig Schonung sie verdient, und wie Recht die Männer haben, die sie ganz ausrotten wollten, um die Menschheit zu erlösen.«
Dann betrachtete er ihn wieder und sein hartes Herz mußte doch einen Anflug von Mitleid empfinden; seine Augen wurden unruhig, schmerzliche Gedanken zuckten in ihrem schnellen Leuchten und sammelten sich auf seiner hohen Stirn.
»Bürger Lancy,« sagte er, »man hat in Deiner Tasche einen Zettel gefunden, der Dir Muth zuspricht. Man will Mittel finden, Dich aus unsern Händen zu befreien.«
»Aus den Händen der Mörder und Mordbrenner steht darin!« rief das Kind trotzig und zornig lachend.
»Gut,« erwiderte der Commissair kalt, »wer hat diese Worte geschrieben?«
Heinrich Lancy besann sich einen Augenblick, dann sagte er:
»Mein Oheim.«
»Sapinaud. Ich dachte es,« murmelte der Commissair.
»Der Baron von Sapinaud,« verbesserte der junge Edelmann.
»Und wie bist Du zu dieser Rekrutenschaar gekommen?«
»Ich sagte es schon,« rief der Gefangene. »Eure Soldaten umringten unsere Wohnung. Man riß mich mit Gewalt fort.«
»Wer bewohnte das Haus?«
»Meine theure Mutter und meine Schwester,« erwiderte Heinrich bewegt.
»Wo liegt es, in welchem District?« fragte der Commissair weiter.
Der junge Royalist sah den Republikaner einen Augenblick starr an, dann sagte er:
»Meiner Treu! das werden Sie niemals erfahren.«
»Bedenke, wohl, was Du thust,« versetzte der Commissair. »Du bist ein Kind noch, und ich möchte die volle Strenge des Gesetzes von Deinem jungen Haupte wenden. Wahrheit, Knabe, volle Wahrheit kann Dich retten. Lancy, Sapinaud, das sind Namen, die den Tod verdienen und ihn finden!«
Jetzt ward die Thür heftig aufgerissen. Ein großer Officier trat oder taumelte herein. Sein plumper Körper, sein gemeines, rothes Gesicht, der starre, thierische Blick stimmten zu der brutalen Energie, die in seinen harten Zügen lag.
»Morgen in der ersten Frühe fort mit dem ganzen. Haufen nach Rennes,« schrie er zurück, »und für die Nacht sperrt sie alle in den großen Holzschuppen!«
Und nun wendete er sich wieder herein und faßte die letzten Worte des Conventscommissairs auf.
»Tod allen Verräthern! sie mögen heißen, wie sie wollen,« sagte er. »Unsere Colonnen sind zurück, Bürgercommissair, und diesmal haben sie manchen guten Fang gethan. Fünfunddreißig Meierhöfe sind verbrannt, was sich widersetzte, niedergestoßen, die Gefangenen kurzweg erschossen. Was sollen wir mit Gefangenen, Bürgercommissair? Der ganze District bis nach Bourbon Vendee hinab ist verwüstet, sogar der Wolf, der nichtswürdige Charette, ward einen ganzen Tag lang gejagt, die kleinen Füchse: Stofflet, Sapinaud, und wie sie weiter heißen, in die Wälder getrieben. Höllische Colonnen nennen sie unsere tapfern Jäger,« schrie er lachend, »ist es nicht ein allerliebster Name, eine vortreffliche Erfindung dieser Schurken. Was sagst Du, Bürger Leprieur?«
»Leprieur!« rief der junge Lancy, und sein Gesicht wurde bleich, große Thränen rollten aus seinen Augen und seine Hände ballten sich krampfhaft. »O! nun versteh? ich Dich, großer Bürger. Du hast meinen Vater ermordet; auf Deinen Befehl geschah es, darum kennst Du auch seinen Sohn und willst mein Blut haben.«
»Wer ist der Junge?« sagte der große Officier. »Welchen Fang hast Du da gethan, Bürgercommissair?«
»Er heißt Lancy!« erwiederte Leprieur, nachsinnend ernst.
»Lancy!« rief der Officier; »etwa derselbe miserable Patron, der einmal in der constituirenden Versammlung saß und Wunder that, wie hoch er die Freiheit achtete. Nachher fiel er ab und floh auf sein Schloß in Poitou. Als man den Ludwig Capet richtete, ward er von neuem ein Priester- und Königsknecht und führte einen Bauernhaufen an, bis er gefangen und selbst gerichtet wurde.«
»Das ist sein Sohn,« sagte Leprieur und sah den Officier forschend und bedeutsam an. »Als sein Vater bei dem Rückzuge über die Loire gefangen im Schloßhofe von Saumur mit Andern das Schaffot bestieg, sagte man, seine Witwe und Kinder seien aus den Wäldern der Bretagne nach der Küste und von dort nach England entkommen. Es ist nicht wahr, sie sind zurückgekehrt. Irgend eine versteckte Hütte nimmt sie auf; dort unterhalten sie Verbindungen mit ihrem Verwandten Sapinaud, und dieser Knabe, den eine Deiner Streifwachen auffand, Bürgergeneral Miller, trug in seiner Tasche einen Zettel dieses Räuberchefs, der ihm Befreiung verheißt.«
»That er das!« murmelte der Bürgergeneral und ein Lächeln verzog seine dicken Lippen, »nun, wir können in dieser Stunde noch einen unzerbrechlichen Riegel vorschieben.«
Heinrich Lancy verstand den fürchterlichen höhnischen Blick, der diese Worte begleitete.
»Ich bin wol ein Knabe,« sagte er, »aber ich kann sterben wie ein Edelmann, wie mein Vater starb.«
»Schweig, Unglücklicher!« rief der junge Leprieur, indem er heftig feinen Arm ergriff.
»Laß ihn, laß ihn reden, Bürger!« rief der General mit schwerer Stimme. »Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen! Das ist eines von den wahren Sprichwörtern, aber wir haben Mittel, ihn stumm zu machen. Ich denke, Bürgercommissair, wir haben keine Zeit, ihn zu hören.«
»Willst Du sagen, wo sich Deine Mutter aufhält?« fragte der Commissair.
»Nein, niemals!« rief der Knabe.
»Fort mit ihm!« sagte Leprieur, und der große Normand faßte den Gefangenen.
»Noch einen Augenblick, mein Vater!« rief der junge Freiwillige und stellte sich zwischen Beide. »Ihr könnt nicht verlangen, daß der Sohn den Zufluchtsort seiner Mutter verrathe, da er wohl weiß, welche Gefahren sie bedrohen.«
»Im Namen der Republik, im Namen des Gesetzes!« schrie der General, »das gilt mehr als alle Nebenrücksichten.«
»Elender Trunkenbold!« murmelte Eduard Leprieur, und dann sagte er laut: »Er kann es nicht, aber ich weiß ihren Aufenthalt, ich kenne das halbzerstörte Haus, wo die Bocage in die Hügel der Loire läuft.«
Der kleine Lancy starrte den Sprecher an und sein bleiches Gesicht wechselte in Seelenangst die Farbe. Bittend faltete er die Hände zu dem Fürsprecher, der ihn verderben wollte.
»Du kennst es?« sagte der Commissair. »Woher kennst Du es?«
»Es ist eines jener kleinen Landhäuser,« erwiderte der junge Soldat nachsinnend, und ohne auf die Frage zu antworten, »welche in besserer Zeit von wohlhabenden Familien zum Sommersitz benutzt wurden. Es steht an der Schlucht mitten im Walde, der von den Hügeln bei Croix rrouge herabläuft. Die wilden Weinranken haben es ganz umwoben, seine Varanda ist zerstört, de Thüren sind zerbrochen; ich kenne es und weiß, sie wohnen darin. Müssen sie Deine Gefangenen werden, so will ich sie holen. Sie werden mir folgen, aber schone das Leben dieses Kindes, mein Vater, laß mich seiner Mutter sagen, daß es unter Deinem Schutz ist.«
Er hatte das Letzte dem Commissair zugeflüstert, der ihn streng betrachtete.
»Seltsam!« sagte er und sah den General an, der sich in einen der großen mit Leder und rostigen Nägeln beschlagenen Stühle geworfen und die Augen wie ein Schlafender geschlossen hatte. »Was sagst Du dazu, Bürgergeneral.«
Das rothe, wüste Gesicht richtete sich von dem Polster auf.
»Todtgeschossen!« murmelte er, »Alles todtgeschossen! Was Convent? Was weiß der Convent, was hier gethan werden muß? Brennt nieder! schlagt todt! es lebe die Freiheit!«
Nun sah er den Knaben mit seinen entzündeten, gläsernen Augen an.
»Ach, die Aristokratenbrut!« schrie er, »lebt sie noch? Hinaus mit ihr! An den Pfahl mit dem Jungen, schickt ihn zu seinem Vater.«
Ein bitteres Lächeln lief über die Lippen Leprieur's. Mit verschränkten Armen stand er vor dem trunkenen General, und was in seiner Seele vorging, drückte das Beben und krankhafte Zucken aller seiner Nerven und Muskeln aus. Das Licht erhellte spärlich den düstern Raum, von außen drang wilder Jubel herein, Feuer erhellte den Freiheitsbaum auf dem Markte, um den ein rasender Haufe die Carmagnole sang und tanzte und die zitternden Rekruten gewaltsam mit sich umherschleppte. Aber die Menschen um ihn waren still, der Knabe mit den hellen Locken, stand starr wie ein Todter; stolz und drohend sah er auf seinen Richter; wie sein Vater sah er aus, als dieser das Schaffot bestieg; so klang auch seine Stimme.
In diesem Augenblicke fiel es dem Manne der Freiheit ein, daß er den ehemaligen Freund wohl retten konnte, und daß er es nicht gethan, weil die Freiheit eine zürnende Göttin, das Blut der Verräther ihr ein wohlgefälliges Opfer war. Und er hatte um sie gedient mit glühender Begeisterung, mit jener keuschen Strenge, jener fanatisch ehrgeizigen Eitelkeit, die man Tugend nannte, als deren Sinnbild man die blutigen Schatten des Brutus und Timoleon verehrte.
Ja, er hatte Opfer gebracht, die sein Herz durchbohrt, die mit dem schrecklichen Fallbeil sein bestes Leben zerspalten hatten. Und doch hatte er gejauchzt, denn die Freiheit glänzte über der Zerstörung: über unermeßlichen Thränen, Seufzern und den Hekatomben der Erschlagenen stand sie sonnenhell hoch am Opferhimmel.
Und nun wankte der Tempel, nun wankte die hehre Bildsäule darin; nun schien es ihm in dunklen entsetzlichen Minuten, als sei doch Alles vergebens, Alles ein Traum; und was eine Gottwerdung des armen, verstoßenen Menschengeschlechts versprach, grauste ihn an als Verbrechen, Mord, und Sünde. Sie hatten in Paris den Robespierre gerichtet, den Mann der Tugend, den armen fanatischen Schwärmer, der weinen konnte über den Wurm, den sein Fuß zertrat, und der doch Tausende und seine besten Freunde geschlachtet hatte, wenn der Gott in seinem Herzen sprach: Die Freiheit fordert es!
Leprieur fürchtete das Schicksal seines Freundes nicht. Er hatte auch Thaten zu vertreten, aber sein reiner, großer Charakter, sein strenger Bürgersinn, sein Abscheu vor aller Tyrannei, waren sein Schirm. Man rühmte seinen Edelmuth, seine milde Sitte, den Schutz, den jeder Unterdrückte fand, und mitten in der Zeit der wildesten Stürme wagte keine Stimme ihn und Carnot anzuklagen. Aber gramerfüllt sah er kommen, was kommen mußte.
Das stolze Bild der Freiheit erblaßte, die Zukunft gehörte ihm nicht mehr. Große Menschen waren dafür gestorben, edle Begeisterung zu Schanden geworden, und die elenden Creaturen, die ihn umringten, die jene wahnsinnigen Schwärmer ausgesandt hatten, gleich den alten Aposteln von ihrem Gott erfüllt, unbekannt mit der Kunst und List der Welt, zu streiten gegen den Drachen, es waren Narren, Dummköpfe und Elende, wie dieser mörderische Trunkenbold vor ihm, der, vor kurzem noch Barbier, nun General der Republik war.
Schmerz und Verachtung preßten sein Herz zusammen, wie er auf das schnarchende Scheusal, auf den Helden der Freiheit blickte, und dann auf den Knaben, der, so schön und muthig, neben ihm stand. Tief gebeugt senkte er sein schwermüthiges Auge, aber er richtete sich stolzer auf, als er an seinen Sohn dachte. Und da stand dieser, jung und in der frischen Lebensblüthe, edel an Herz und Bildung, entflammt für die Freiheit; da sah er auch die kühnen Männer draußen, welche sie in ihrer Weise verehrten, und eine neue Hoffnung flammte in ihm.
Nein, die Zukunft gehörte dennoch der großen Göttin, die Opfer waren nicht umsonst gefallen; die allmächtige Hand des ewig hohen Wesens, welche das Geschick des Menschen leitet, schrieb nicht umsonst diese schrecklichen Blätter ihrer Geschichte.
»Höre mich an, Bürgergeneral,« sagte Leprieur und rüttelte den Schläfer wach.
»Gut, Bürgercommissair,« erwiderte Miller, »sehr gut, daß er todt ist. Schreib' ihn morgen in Deine Liste.«
Der große Mann zuckte mit den Achseln und wendete sich zu seinem Sohn.
»Eduard Leprieur,« sagte er, »Du sollst halten, was Du versprachst. Capitain André wird Dir zwanzig Bürger geben, um Deinen Auftrag auszuführen. Du wirst der Republik einen wichtigen Dienst leisten, sie wird Dich belohnen. Du aber, junger Mensch,« fuhr er fort, indem er die Hand warnend gegen Heinrich Lancy schüttelte, »versuche nicht, aus Deiner Gefangenschaft zu entkommen. Denke daran, daß Dein Leben fast nicht mehr Dein ist; nur Unterwerfung und die Gnade der Republik können Dich und Deine Familie retten.«
»Gottesmutter!« rief der Knabe, »schütze Du sie. Was aber Ihre Gnade betrifft, mein Herr –«
»Fort mit ihm,« sagte der Commissair streng, »ich habe nicht Zeit, Kindergeschwätz zu hören. Laß ihn sicher bewachen.«
Einige Stunden später zog eine kleine Schaar durch die Hügel an der Loire hin; schweigend und vom nächtigen Dunkel beschützt, verfolgten sie die Straße. Die anliegenden Cantone waren zwar überall von den Abtheilungen des republikanischen Heeres besetzt, und die Bocage, dieser seltsame Landstrich von Hügeln, Wald, Hecken und Gräben, im unlösbaren Gewirr zusammengewürfelt, den Vendeern entrissen.
Aber was heißt erobern und entreißen, in einem Lande, wo plötzlich in Nacht und Nebel eine Schaar von Bauern in weißen Kitteln, das rothe, geweihte Herz auf der Brust, mit Sensen, Büchsen und Schwertern bewaffnet, durch Hohlwege und Wälder aus dem innern Lande zwischen die feindlichen Abtheilungen stürzt, niederschlägt, spießt, mordet und eben so schnell wieder verschwindet! Der Tag gehörte den Republikanern, die Nacht den Vendeern, und darum zogen die Männer so schweigsam und vorsichtig, zur That von Begier entflammt, von Fanatismus und Rachedurst getrieben, aber List und Bangen zur Tapferkeit gemischt, und beugten jede Ranke, jede Weinrebe behutsam zur Seite, als ob ihr Rauschen sie verrathen könne.
Denn hier war kein Entrinnen und keine Lebenshoffnung, wenn das Morden begann, das wußten sie Alle. Was das Schwert nicht fraß in dem erbarmungslosen Kampfe, das ward kaltblütig dem Tode geopfert, oft mit erfinderischer Grausamkeit. Darum war auch selbst der große Normand, Ribourg, der seinen jungen Freund begleitete, und wie ein Spürhund mit gefälltem Gewehr voraufzog, ganz still, und wagte nur mit leisem Flüstern seine Kameraden aufmerksam zu machen, wie Eduard Leprieur so sicher und sorglos sie führe, als sei er in diesem verteufelten Lande geboren.
Dann und wann strauchelten und fielen die Soldaten in den aufgelösten Pfaden; der Nachtwind schüttelte die Haselbüsche über den dichtverwachsenen Hohlwegen, die sie durchwaten mußten; dann wurde der feine Sprühregen stärker, und wenn es in den hohen Waldbäumen rauschte, wenn die weißen Stämme der Birken plötzlich durch das Dunkel glänzten, wenn ein Vogel ängstlich aus seinem Versteck aufflatterte, pochten die Herzen der Republikaner laut. Ihr Fuß stockte, ihre Hand lag fest an der gespannten Waffe. Aber immer war es ein blinder Schrecken; Eduard Leprieur ging still und furchtlos weiter.
Endlich faßte Ribourg seine Schulter, und indem er ihn aufhielt, murmelte er:
»Freund, weißt Du gewiß, wohin Du uns führst?«
»Ich weiß es,« sagte der Freiwillige.
»In die Irre, wie ich meine,« fuhr der Normand fort. »Du machst es mit uns, wie der heilige Florian es mit dem Satan machte.«
»So kehre um. Dort aus der Tiefe glänzen die Lichter von St. Florent.«
»Ah, Possen!« sagte der große Mensch, »nicht um die ganze verdammte Horde von Spitzbuben. Aber wie weit sind wir noch?«
»Bald sind wir da.«
»Bald, bald!« murmelte Ribourg. »Nun, es ist eben so gut eine hoffnungsvolle Antwort, wie wenn es etwa heißt: In einem halben Stündchen; aber gehängt will ich sein, wenn es so leicht ist, das Nest zu finden, wo der Teufel seine Jungen herbergt.«
»Schweig!« sagte Leprieur heftig, »was weißt Du davon!«
»Und was weißt Du davon?« erwiderte Ribourg. »Du hast die Meinung gefaßt, hier in den alten verfallenen Hütten am Strome müsse die Brut stecken; Du hast vielleicht bei unsern Streifereien einen solchen verwüsteten Bau durchstöbert, und ein altes, wildblickendes Weib, oder ein Mädchen mit feindlich stolzem Gesicht aufgefunden, die mit dem verteufelten Jungen Aehnlichkeit hatten, und denkst nun, das müsse die saubere Familie sein.«
In dem Augenblicke stand Eduard still, und indem er die dichten Brombeerbusche an dem Hügelrande wegbog, flimmerte ein Lichtstrahl deutlich von der entgegengesetzten Seite herüber.
Einen Augenblick schwiegen Alle, dann sagte Ribourg:
»Es wohnt wirklich ein Mensch dort. Ich sehe das alte Gemäuer, wie es aus dem Baumschatten aufsteigt. Vorsichtig, meine Kinder! Zeigt, daß Ihr Augen und Ohren habt!«
Er wollte voran, aber Eduard hielt ihn zurück.
»Bleibt,« sagte er, »ich denke allein mit den Bewohnern des Hauses zu reden. Kein Leid soll ihnen geschehen; sie werden uns freiwillig folgen.«
»Das werden sie wahrscheinlich bleiben lassen,« erwiderte der Normand, »auch will ich es nicht dulden, daß der Sohn des Bürgercommissairs sich muthwillig in den Tod stürzt. Wir gehen Alle mit Dir.«
»Ich befehle Euch, mich zu erwarten!« rief der junge Soldat heftig, und dann drückte er seinem wilden Gefährten die Hand und sagte: »Ich bitte Dich, Ribourg, laß mich allein. Mein Leben, meine Seligkeit hängt davon ab. Du darfst mich nicht begleiten.«
»So geh',« sagte der große Mann, »geh', Undankbarer! Aber was soll ich Deinem Vater sagen, wenn er mich morgen fragt, wo ich seinen Sohn gelassen habe?«
Eduard antwortete nicht. Er stieg an dem Hügel hinab, übersprang den Morast des schmalen Weges und kletterte an der andern Seite empor. Seine Gefährten sahen, wie der Schatten sich auf der kahlen Fläche zeigte, dann verschwand er zwischen den Bäumen, und nun erblickten sie ihn noch einmal, als er dicht an dem Gemäuer, mit seinem Körper das Licht hinderte, bis zu ihnen zu gelangen.
Der Republikaner stand vor dem zerstörten Gebäude einen Augenblick still. Ungewiß lauschend schlich er dann dicht an das Fenster, aus dem der helle Glanz und die Töne einer weiblichen Stimme kamen, die sein Herz zu heftigen Schlägen brachte. Der Wind hatte sich aufgemacht; einzelne Sterne flimmerten durch das zerrissene Gewölk, und unten am Fuße der Hügel rauschte die Loire, über deren Wellen fernes Geschrei und Lichtschein zogen. Es waren Wachtboote und bewaffnete Schiffe der Republikaner, Tag und Nacht beschäftigt den Strom zu hüten, um Chouans und Vendeer zu trennen und zu fangen.
Ein Zagen überfiel den jungen Mann. Er dachte daran, wie nahe das Verderben dem schönen wunderbaren Wesen sei, das, wie eine Himmelskönigin, ihn mit Liebe und Anbetung erfüllte. Er zitterte, und ach! für wen?
Plötzlich erinnerte er sich, weshalb er hier sei. Seine Seele warf die Traumschatten von sich, er war ein Mann, der handeln wollte. So drängte er sich an das Fenster, dessen Scheiben zerschmettert in der bleiernen Fassung hingen, das aber mit Eisenstäben verwahrt und mit Läden von innen verschlossen war. Mitten unter dem Brausen des Windes, der mit Glasstückchen klirrte, hörte er die Reden der Bewohner.
Eine Frau sprach mit klagender, betrübter Stimme, eine andere antwortete tröstend und versichernd; dann aber schwiegen Beide, und ein Mann ward gehört, dessen Worte am besten zu vernehmen waren.
»Bleiben können Sie hier nicht länger, werthe Frauen,« sagte er, »und dies ist es auch, was der gestrenge Herr Baron mir zur Antwort gab. Sagt meiner Schwester, sprach er – und Sie kennen, Madame, seine feierliche Art zu reden, wenn er etwas betheuern will – sagt meiner Schwester, ich wünsche und hoffe von ihr, daß sie noch heut in der Nacht diese verdammte Hütte – verzeihen Sie, Madame, aber er sagte so, – diese verdammte Hütte, mitten im Lande der Blauen verlasse. Ueber die Loire kann jetzt keine Maus, so scharf bewachen sie den Strom, es nützt also nichts, sich Gefahren auszusetzen, die ihr schon den Sohn gekostet haben. Für meinen Neffen werde ich thun, was ich kann; Ihr aber, Freund, geht und bringt mir meine lieben Verwandten; Ihr kennt das Land und seid treu – und da bin ich, Madame.«
»Ach, guter Antoine!« erwiderte die klagende Frau, »was soll ich bei dem Heere des Königs, kann ich, darf ich jetzt meinen Posten hier verlassen?«
»Es wird dem Herrn Baron gewiß gelingen, den jungen Herrn zu befreien, ehe sie ihn über das Wasser führen,« versetzte der Mann tröstend.»Schon hat man eine treue Seele hingeschickt, dem armen jungen Herrn Nachricht zu geben, und ihn zu bitten, sich klug zu verstellen.«
»Das wird er nicht, das kann er nicht!« rief die Mutter mit Heftigkeit. »In seinen Adern ist das rasche, stolze Blut der Lancy. Und sagtest Du nicht, daß der Bösewicht Leprieur in St. Florent ist, sagtest Du es nicht, Lecombe?«
»Ich sagte es,« murmelte der kleine Schneider, dessen schwarzes, finsteres Gesicht der Lauschende jetzt durch den Spalt erblickte.
»Und was räthst Du uns, Du getreuer Mensch?« fuhr die Frau fort. »Kann eine Mutter fliehen und sich in Sicherheit bringen, wenn sie ihr Kind in Räuberhänden weiß?«
»In den Händen des Wolfs,« sagte Lecombe ruhig, »der auch Sie zerfleischen würde, wenn er ahnte, daß es geschehen könne. Madame, ich habe heut versucht, Ihren Sohn zu befreien, und wartete nur auf die Dunkelheit, um meinen Plan auszuführen. Die guten Heiligen haben es nicht gewollt. Nun müssen wir es den stärkeren Händen überlassen, ihm herauszuhelfen und uns zu schützen. Ich kenne diese Hunde. Morgen werden sie die Berge überall durchjagen, sie werden die Verräther fangen wollen, und leicht könnte es sein, daß man Sie dann fände und das gnädige Fräulein Jakobine da. Denken Sie an das Schicksal, in die Hand der Räuber zu fallen, erkannt, in den Kerker geworfen. Heilige Gottesmutter! Diese Elenden schonen ja nichts.«
Es trat eine Pause ein, bis die Frau leise sagte:
»Du guter, verständiger Mensch, ja Du hast nur zu sehr Recht. Ich muß mich fügen, ich muß gehen.«
»Folgen Sie getrost Antoine, Ihrem alten Diener,« sagte der Schneider, »er ist lange genug Forstwächter gewesen, um jeden Steg zu kennen. Ein Stück in die Bocage hinein will ich Sie begleiten, bis Sie in Sicherheit sind, dann lege ich mich auf die Lauer, um bei der Hand zu bleiben, wenn es nöthig ist.«
»Ach! warum,« rief Frau von Lancy schmerzlich, »warum bin ich unglücklicher als so viele Andere, denen es gelang, das Meer zu gewinnen. Welche schreckliche Tage habe ich erlebt, welche Gefahren nutzlos bestanden, um das Ziel zu erreichen! Immer ward ich in dies unglückliche, blutige Land zurückgeworfen, aus dem kein Entkommen für mich ist.«
»Nein, meine Mutter!« rief eine starke, klingende Mädchenstimme, »richte Dich auf und vertraue auf Den, der helfen kann. Es liegt ein Verhängniß Gottes darin, daß er uns fortziehen lassen will, und was wir auch gelitten haben, es wird ein Tag kommen, der uns wieder froh macht.«
»So laßt uns aufbrechen,« sagte die alte Dame seufzend. »Aber ach! gutes Kind! ich theile Deinen frohen Glauben nicht. Wunden, die so tief geschlagen sind, heilt nur der größte Arzt aller Leiden. Kannst Du mir die lieben Todten wieder erwecken, kannst Du den ewigen Schmerz um ihren Verlust, mein bitteres Schicksal, die furchtbaren Tage des Schreckens, alle die entsetzlichen Erinnerungen aus meinem Gedächtniß fortwischen? Du weißt nicht, was es heißt, ein geliebtes Wesen ewig beweinen zu müssen, das Dein Glück und Leben war, und das sie kaltblütig, o, Jesus! mein Heiland! kaltblütig und hohnlachend vor Deinen Augen ermordeten.«
»Der Vicomte von Lancy wurde gerächt,« sagte der alte Diener mit zitternder Stimme. »Herr Heinrich von Laroche Jaquelin ließ funfzig Officiere und Vornehme unter den Blauen, die er gefangen hatte, erschießen, als er die Abschlachtung von Saumur erfuhr.«
»Es war eine nutzlose Henkerarbeit!« rief die Dame. »Der Vicomte von Lancy ist von dem Blute dieser gemeinen Bösewichte nicht wieder lebendig geworden. Doch laßt uns gehen,« fuhr sie fort, »ja, laßt uns gehen, denn ich sterbe vor Unruhe und Gram.«
In dem Augenblicke wurde der Drücker an der Thür bewegt; schlecht, wie sie war, gab sie der Stärke des Stoßes nach, und mit Entsetzen sahen die Vendeer den blauen rothbesetzten Rock eines Republikaners am Eingange. Eduard Leprieur warf einen schnellen Blick über das Gemach und seine Bewohner. Der düstere Raum war mit den Resten alter Mobilien gefüllt. Der greise Diener der Lancy starrte mit seinem grimmen Gesicht hinter dem Stück losgerissener Tapete hervor, die von der Wand herabflatterte, und vor ihm richtete sich der ungeheure Wolfshund auf, der den Fremden klug und schweigend betrachtete. Eine ältliche Frau, mit den Spuren früherer großer Schönheit in dem stolzen, aber abgezehrt kranken Gesicht, sah ihn entsetzt an und stieß dann einen dumpfen Schrei aus, indem sie beide Hände über ihre Augen deckte. Das große junge Mädchen schlang die Arme um sie und schien den Eindringling fragend und ungewiß zu betrachten, Lecombe aber erkannte ihn augenblicklich. Mit Heftigkeit sprang er auf, und beide Hände ballend trat er vor die schutzlosen Frauen.
»Sag ich es nicht!« rief er und blickte den jungen Republikaner verächtlich an, »das Erste, was er thut, wird sein, uns zu verfolgen, um Elend über die zu bringen, die schwach genug war, mich zu hindern, daß er es niemals konnte.«
»Fürchten Sie nichts,« sagte Eduard mit sanfter Stimme, »kein Leid soll Ihnen geschehen. Ich komme, Sie zu Ihrem Sohn zu führen, zu Heinrich Lancy.«
»Wo ist er?« rief die Dame und ihre Furcht verwandelte sich plötzlich in Hoffnung, die ein Alles vergessendes Entzücken in ihr Herz brachte.
»In St. Florent,« erwiderte Eduard.
Ihre bittenden Hände sanken herab, sie starrte ihn an und wich schaudernd zurück. Die Farben der Republik zermalmten den letzten Funken ihrer Freude.
»Im Gefängnisse also,« sagte sie dumpf und leise.
»Gefangen, ja,« versetzte der Soldat, »entdeckt und erkannt, aber sein Leben ist gesichert, wenn Sie ohne Widerstreben mir folgen.«
Er erzählte nun mit flüchtigen Worten, wie der junge Vendeer sich verrathen, und wie er selbst den Auftrag erhalten habe, die Familie aufzusuchen.
»Ihr wollt uns also fangen und fortführen!« rief die Witwe angstvoll. »Ihr lügt, junger Mensch, ich sehe es Euch an, Ihr lügt.«
Eduard suchte sie zu beruhigen, aber mitten in seinen Betheuerungen stockte er und verwirrte sich, indem er die leuchtenden Augen Jakobinens sah, die sie fest auf ihn geheftet hielt.
»Was soll ich sagen,« rief er tief erröthend, »wo soll ich Worte finden, die mir genügend scheinen, um die Wahrheit und den innigen Antheil, den ich an Ihrem Schicksal nehme, auszudrücken! Müßte ich aber nicht ein Verworfener sein, wenn ich vergessen hätte, was vor wenigen Stunden mit mir geschah? Sie waren es, ein Engel, der mir plötzlich erschien, und dessen segnende belebende Hand auf meiner Stirn ruhte. Ich konnte Sie durch diese Thäler verfolgen, erblickte Sie hier am Strome, erkannte dies Haus, das ich vor wenigen Tagen mit meinen Gefährten durchsucht und nichts gefunden hatte, und seltsam, seltsam! ich wußte mit Ueberzeugung, daß Sie hier verborgen seien.«
Er blickte sie mit Rührung und Hingebung an, Alle schwiegen.
»Junger Mann,« sagte Frau von Lancy endlich. »Sie haben ein offenes Auge und, ich möchte fast sagen, ein ehrliches Gesicht, aber wer soll uns vor diesen Unmenschen schützen, die so erbarmungslos sind?«
»Der Conventscommissair Leprieur wird es thun,« erwiderte Eduard.
Bei diesem Namen schien ein neues Entsetzen über die Vendeerin zu kommen. Die Todtenblässe ihres Gesichts erhielt einen sonderbaren Glanz, ihre Zuge drückten Abscheu und Furcht aus.
»Leprieur,« sagte sie tonlos, »er – er will mich beschützen?«
»Ich stehe dafür, daß er will,« sagte Eduard sanft. »Beurtheilen Sie ihn nicht so hart; er ist ein edler, trefflicher Mann.«
»Ein grausamer, kaltblütiger Mörder!« rief die Frau schaudernd. »Nun weiß ich Alles, nun ist es genug. Lügt nicht weiter, holt Eure Gesellen herein, bindet uns und schleppt uns in den Tod.«
»Die Bürger, welche mich begleiten, sind auf meinen Wunsch jenseits des Hohlweges geblieben,« antwortete Eduard zutraulich. »Ich wollte allein Ihr Vertrauen erwerben.«
Bis jetzt hatte das große Mädchen ihn still und fast lächelnd betrachtet, jetzt trat sie dicht an ihn hin und sagte mit fester Stimme:
»Sie sind also allein?«
»Ja,« erwiderte er.
»Das heißt leichtsinnig gehandelt oder allzu übermüthig vertraut. Doch Sie, der Sie uns schützen wollen, wer sind Sie?«
Einen Augenblick bedachte sich der Republikaner, dann sagte er leise:
»Ich bin der Sohn des Conventscommissairs.«
Da funkelte es neu in ihren Augen auf, einen Blick warf sie auf Lecombe, dann riß sie den kurzen Degen des Republikaners plötzlich aus der Scheide und kehrte die Spitze gegen ihn.
»So weiß ich einen andern Weg zu unserer Sicherheit!« rief sie mit kaltblütiger Freude. »Lecombe, ergreife Deine Axt. Antoine, schlage Deine Büchse auf ihn an; wenn Ihr Euch bewegt, seid Ihr des Todes.«
Der kleine Schneider hatte schnell befolgt, was sie sagte. Mit der einen Hand hatte er sein Beil, mit der andern den Arm des jungen Unbesonnenen ergriffen.
»Jetzt, Mutter,« rief Jakobine, »jetzt ist Heinrich sicher! Wir haben den Sohn des blutigen Leprieur in unserer Gewalt, er soll uns nicht entkommen, so lange sein Vater unseren Henry festhält.«
Wie mit einem Zauberschlage hatte sich die Scene verwandelt. Der angsterfüllten Bittenden war der Triumph des Sieges und der Rache aufgegangen.
»Leprieur!« sagte sie, »trägt dieser Mensch wirklich den schrecklichen Namen, so ist es auch eine Himmelsschickung, daß er in unsere Hand gegeben ist.«
Hastig nahm sie die Lampe auf und beleuchtete ihn, indem sie ihn sonderbar starr betrachtete; dann wendete sie sich mit stolzer Verachtung von ihm.
»Er soll uns nicht entkommen; Du hast Recht, Jakobine, Antoine wird ihn bewachen.«
In welcher seltsamen Lage befand sich der junge Republikaner! Er war beschämt, von einem Weibe überlistet und gefangen worden zu sein, von einem Mädchen, dem er gern sein Leben geopfert hätte. Vorwurfsvoll und traurig sah er sie an, aber sie erwiderte seinen Blick triumphirend über das Gelingen ihres Anschlages.
»Löscht das Licht aus,« sagte sie; »dann fort von hier, erst in der Bocage sind wir in Sicherheit. Und Sie, mein Herr,« fuhr sie mit einem spöttischen Lächeln fort, »Lecombe und ich, wir werden Sie führen und bewachen. Machen Sie keinen Versuch zur Flucht, es würde unnütz sein.«
Im Augenblicke, wo sie das Haus verlassen wollten, hörten sie draußen die rauhe Stimme des großen Ribourg.
»Bürger Leprieur!« rief er und stieß mit dem Kolben seines Gewehres gegen Thür und Fenster. – »Das Licht ist aus, wo ist der Eingang zu diesem Teufelsneste? Eduard Leprieur! gib Antwort, mein Junge; ich habe eine Angst wie eine Mutter um ihr einziges Kind. Umringt das Haus, Bürger, er muß hier sein; und wehe Euch, wenn ihm ein Nagel verletzt ist.«
Diese letzten drohenden Worte richtete er an die unsichtbaren Bewohner des Gebäudes, die sie schweigend hörten.
»Leprieur,« sagte das große Mädchen, »keinen Laut, oder wir sind alle verloren. Antoine, öffne den Kellergang, mein Gefangener wird sein Wort halten.«
Sie zog ihn mit sich fort und hinter ihm ging Lecombe, der laut genug vor sich hinmurmelte, daß er sein Beil bereit halte. Eine Reihe von Stufen ging es hinab, dann in einen dumpfigen Gang, der kein Ende nehmen wollte, plötzlich aber drang ein Lichtstrom herein, eine Thüre wurde geöffnet, sie waren am Fuße des Hügels, und Eduard hörte die rufenden Stimmen seiner Freunde über sich, aus dem Gebäude.
Jung und stark, wie er war, dachte er wol daran, daß er mit einer Anstrengung, mit einem raschen Schlage sich der Hand entledigen könnte, die ihn fest hielt, und wie finster und ungewiß auch die Nacht sei, es ihm wol gelingen könne, davon zu kommen. Aber diese Hand gehörte einem Wesen, dem er kein Leid zufügen mochte, geschehe auch, was da wolle, und in dem wirren Fluge seiner Gedanken schien es ihm, als müsse er ihr geduldig folgen, als sei es wirklich der beste und einzige Weg, um das Unglück zu beschwören. Gefangen in den Händen der Vendeer, würde sich sein Vater am leichtesten wol dazu verstehen, den jungen Lancy auszuwechseln, und bald war er versucht, sein Abenteuer von der besten Seite zu nehmen, je mehr der Augenblick sich entfernte, in welchem seine Befreiung möglich gewesen wäre. – Eine wohlthätige, fast freudige Empfindung besänftigte zuletzt seine zürnenden und bangen Gedanken; die weichen Finger, welche die seinen sanft umspannt hielten, strömten sie elektrisch aus.
Eilig stiegen sie die Hügel hinab und hinauf durch Wiesengründe, in welchen zuweilen elende, zerstörte Hütten standen, von Hecken und Wassergräben umgeben, die sie übersprangen, oder auf morschen Brücken darüber hingingen, bis sie die Kette von Berg und Wald erreichten, deren dunkle Gewinde sich am Horizont hinzogen.
Zuweilen glänzten Feuer in der Ferne und Nähe. Eduard wußte wohl, daß es die Postenlinien der Republikaner waren, und mehr als einmal schlüpfte der kleine Zug behutsam zwischen Wachten hin, die durch wenige hundert Schritt getrennt waren. Man hatte ihn endlich ganz freigelassen. Jakobine unterstützte ihre Mutter, die mit Hülfe des alten Dieners ziemlich rüstig, ohne Klage, den beschwerlichen Weg machte.
Lecombe war bald voraus, bald folgte er weit nach, meist aber war er gar nicht zu sehen. Dicht an Eduard's Seite ging dafür ein anderer Wächter, der Schritt für Schritt ihn begleitete und dessen zornige Stimme ihn auf dem rechten Weg hielt. Es war der große schwarze Hund Jakobinens, der während aller Vorgänge die größte Schweigsamkeit beobachtet hatte, bis irgend ein leiser Befehl seiner Herrin seine Dienste forderte. Mit seinen Zähnen hielt er das Kleid des Republikaners, sobald dieser abweichen wollte, und stieß ihn brummend mit seinem gewaltigen Kopfe, wenn er zögerte und langsamer ging.
Nach einigen Stunden endlich ging der Mond auf und nach einer heimlichen Bewegung machte der Trupp mitten im Walde Halt, wo eine kleine zerstörte Capelle an einem Kreuzwege lag. Das armselige Gebäude bot wenigen Personen Obdach. Es war der Zerstörungswuth dieses entsetzlichen Krieges nicht entgangen. Seine zerschmetterten Fenster zeugten davon, Dach und Thür waren zerbrochen, ja selbst die Statue der heiligen Jungfrau, die mit grellen Farben bemalt in ihrer vergitterten Nische von uralter Zeit ein Gegenstand der Verehrung gewesen, hatte den gotteslästerlichen Händen weichen müssen. Das bleiche Mondlicht beschien ihre Trümmer, die auf dem Boden zerstreut lagen; der Kopf mit der goldenen Krone blitzte aus einer Ecke hervor; die Hände, die das Jesuskindlein gehalten, lagen vor dem Eingange, und der Körper ragte aus einem Aschenhaufen, geschwärzt und halb verbrannt.
Unter schmerzlichem Seufzen sammelte Frau von Lancy die Ueberreste der Heiligen und legte sie in die leere Stelle, dann ließ sie sich auf ein Knie nieder und betete mit heißem Eifer, bis sie erschöpft ihr Haupt auf die Stufen senkte und einschlief. Der Gefangene saß indeß allein auf der Schwelle. Vor ihm lagerte der Hund, der auch zu schlafen schien; das Fräulein war mit dem alten Diener den Weg hinaufgegangen. Lecombe hatte sie schon längst verlassen.
Der Wind bog leise die Zweige, schüttelte schwere Regentropfen und falbe Blätter herab, und knarrte mit der kleinen Eisenfahne auf der Spitze des Daches. Durchschauert von der Kühle und aufgeregt von Vergangenheit und Zukunft, saß Eduard Leprieur, die Hände wechselnd auf sein heißes Gesicht und auf das laut klopfende Herz gedrückt. Bald fielen seine Blicke auf die betende, dumpfwimmernde Frau, wie sie in ihrem schwarzen Witwenkleide auf den moosigen Steinstufen lag, die Hände und das bleiche starre Gesicht emporhob, und rund umher das Mondlicht von den engen, weißgetünchten, so grauenhaft verwüsteten Wänden herabrieselte; bald sah er in den rauschenden Wald auf die Birkenstämme, auf die wandernden Schatten und Halme, die ihm winkten und zunickten, bald wieder auf den Hund, der bei jeder seiner leisen Bewegungen das große feurige Auge aufschlug, ohne seine Lage zu verändern.
Und nun horchte er auf jeden Schall, auf jeden Ruf eines Nachtvogels, auf das Knistern eines brechenden, fallenden Zweiges, und mehr als einmal glaubte er Menschenstimmen, die nahenden Tritte seiner Freunde zu hören, oder die hohe Gestalt des tapfern Ribourg zu erkennen, der durch die öde Heide heranlief. Aber eben so schnell verschwand die Täuschung, und die ganze Bitterkeit seiner Empfindungen, Besorgniß und Hoffnungslosigkeit brachen über ihn herein. Er wußte wol auch, wie selten die Vendeer einen Gefangenen verschonten, er schauderte vor dem Gedanken, in wenigen Stunden vielleicht vor einen ihrer wilden Anführer geschleppt, ein schnelles, blutiges Urtheil zu empfangen.
So fiel er nach und nach in ein Träumen, das mit furchtbaren Bildern seinen Kopf füllte. Sein Vater stand vor ihm und betrachtete ihn streng und kummervoll. Die gebeugte Gestalt schien ihm zu drohen und wandte sich von ihm, als zwei weiche Arme ihn umschlangen und Jakobinens schönes Gesicht ihn stolz und zärtlich anblickte. Da flog ihr weißer Schatten durch den Wald; hinterher sprang der kleine entsetzliche Schneider, der sie an den langen Haaren festhielt; auf seiner eigenen Brust aber kniete der alte Jäger mit dem tückischen Gesicht, der drehte den Knoten um seinen Hals, und lange Knochenhände wühlten in seinem Haar, heiseres Lachen und Murmeln erstarrten sein Blut, das glühende fanatische Auge der alten Frau in der Capelle sah in das seine, ihr kalter Athem berührte ihn mit Tod.
Mit einer schaudernden Bewegung wachte er auf, und, über ihn hingebeugt, erblickte er das Fräulein von Lancy an seiner Seite. Ihren Mantel hatte sie über ihn gebreitet, ihr Strohhut lag darauf und sie, den Kopf in die Hand gestützt, über welche ihr glänzend dunkles Haar fiel, saß auf den Stufen im Mondlicht, das jetzt klar vom Himmel fiel. So betrachtete sie ihn stillsinnend und schien seinen Schlummer zu bewachen.
Als er sich aufrichtete, bewegte sie sich nicht, und lange unterbrachen Beide nicht das Schweigen. Die Trauerweiden an den Seiten der Capelle streuten zuweilen ihre zitternden Schatten über sie aus, und dann wieder überstrahlte das Licht der Nacht die beiden Einsamen.
Endlich nahm der junge Mann den Mantel, der ihn warm und mit wonnigem Empfinden umhüllt hatte, und indem er ihn der Eigenthümerin bot, sagte er:
»Die Nacht ist kalt, Sie werden diese schützende Hülle selbst bedürfen.«
»Ich friere nicht,« erwiderte sie mit gedämpfter Stimme. »Ich bin gewöhnt, durch Nacht und Wind zu fliehen, dem gehetzten Wilde gleich; im Walde zu schlafen und naß zu werden, ohne zu erkranken.«
»Wie traurig, wie entsetzlich!« seufzte Eduard, indem er sie betrachtete.
»Eine nothwendige Folge der Dinge,« erwiderte Jakobine, »und diese Schule der Leiden und Entbehrungen wäre an sich so übel nicht, wenn nicht so viel Anderes, Trauriges und Entsetzliches damit verknüpft wäre.«
»Und Sie ertrugen so viel Noth!« sagte Eduard.
»Ich war bei dem Uebergange der Vendeer in die Bretagne und habe den ganzen Krieg kennen gelernt,« sagte sie. »In tausend Schlupfwinkeln versteckt, und immer wieder vertrieben, wollte es uns nie gelingen, zu entkommen. Jetzt von neuem von der Loire fliehend, ist uns die letzte Aussicht verloren.«
»Und wohin führen Sie Ihren Gefangenen?« fragte Eduard.
»Zu meinem Oheim Sapinaud,« erwidert sie. »Antoine ist voraus, um unsere Ankunft zu melden und uns, wo möglich, Pferde zu schaffen; Lecombe streift nach St. Florent hinüber, um etwas von meinem Bruder und von dem Lärm zu hören, den Ihr Verschwinden verursachen wird.«
»Wird meine grausame Siegerin mir gestatten, einige Worte an meinen Vater zu richten, um ihn zu beruhigen?« fragte Eduard.
»Sein Sie überzeugt,« erwiderte sie schnell, »man wird diesen strengen Conventscommissair bald wissen lassen, was er für seinen Sohn bezahlen soll.«
»Und wenn er die Bedingungen nicht annimmt?« fragte Eduard, von einer Ahnung ergriffen.
Jakobine antwortete nicht. Sie sah starr in den Himmel hinauf und sagte erst nach einer langen Pause:
»Wir wollen die Möglichkeiten nicht alle erwägen. Es wird kalt; geben Sie denn meinen Mantel.«
Er stand auf, hing ihn über ihre Schultern, und wie er sorgfältig den Kragen ordnete, sagte sie lächelnd:
»Ist es doch, als wollten wir alle Gegenwart vergessen, als wäre dies nicht der Wald von Croix rouge, wo so viel Entsetzliches schon geschehen ist; als wollte vielmehr ein junger Ritter seiner Dame gefallen, die er aus der großen Oper oder von einem Balle zu ihrem Wagen geleitet, und dafür sorgt, daß sie sich nicht erkälte.«
Eduard behielt ihre Hand in der seinen, und indem er sie zärtlich anblickte, sagte er:
»Möchte ich doch dieser Ritter sein dürfen, möchte es mir jemals vergönnt sein, mein Leben für meine Dame zu opfern.«
Das Fräulein von Lancy warf einen schnellen Blick in die Capelle, dann sagte sie:
»Still, mein Herr Leprieur, was sind das für Worte! Vergessen Sie nicht, wie schlimm es mit allem Scherz hier aussieht, und daß es nicht gut ist, in Nacht und Wald frevelhafte Wünsche auszusprechen, die von bösen Mächten zuweilen erhört werden.«
Der junge Republikaner schwieg und sie ließ ihm die Hand, die er langsam an seine Lippen zog und küßte.
»Wie sonderbar,« sagte er mit dumpfer Stimme, »gefangen bin ich und doch glücklich. Einem ungewissen Schicksale entgegengeführt, empfinde ich alle Süßigkeit des Lebens. Ich habe keine Furcht, kein Bangen, denn ich schöpfe Muth aus den Blicken meiner Feindin. Und hat nicht der Himmel deutlich gesprochen, ist denn nicht ein Wunder geschehen, das Sie zu mir führte, als ich im Tode lag, und das mein Auge öffnete, um zu sehen, wie es nie gesehen hat?«
»Sie zürnen mir also nicht?« sagte sie.
»Mein Zorn ging längst in Bewunderung unter;« erwiderte er, »und die Scham über meine Unbesonnnenheit starb in Hoffnungen, welche mich glücklich machen.«
»Hoffnung und immer Hoffnung!« rief sie mit Heftigkeit. »Es ist unmöglich, es ist Lug und Trug, die ins Verderben führen. Und wenn diese blutigen Männer zu Gericht sitzen, wenn Eduard Leprieur, der Sohn ihres grimmigsten Feindes, als Opfer ihrer Rache fällt; wie dann? wie dann, mein Herr Republikaner? Wird kein Fluch die verfolgen, welche Sie an die Schlachtbank lieferte?«
»Auch dann,« sagte er sanft, »werde ich glauben, daß ich für meine Dame gestorben bin.«
Jakobine setzte sich zu ihm nieder und schien einen Augenblick nachzusinnen.
»Was hindert Sie, davonzugehen?« sagte sie. »Dieser treue Hund wird sich nicht rühren, wenn ich es nicht befehle, und ich weiß nicht, ob ich es thun werde. Doch nein,« fuhr sie nach einer Pause fort, »es darf nicht sein, und wenn es dürfte, es wäre zu spät. Hören Sie den Hufschlag im Walde, die Menschenstimmen, welche sich nähern! Was kommen muß, wird geschehen; Klugheit nur und Vorsicht, die äußerste Vorsicht nur kann helfen.«
»Und meine Freundin wird mit mir sein,« flüsterte Eduard.
»Ihre Freundin?« rief Jakobine, indem sie ihre Hand schnell aus der seinen zog. »Leprieur ist ein Name, den ich ewig hassen soll. Hoffen Sie nichts, ich bin eine Lancy!«
Sie stand auf und ging schnell einige Schritte vorwärts den Reitern entgegen, die jetzt rasch herankamen. Es waren sechs bewaffnete Männer, an deren Spitze sich ein kleiner dicker Herr befand, der eine Art Uniform mit Lilien gestickt und einen Federhut trug. Es war der Herr von Sapinaud, der seine Nichte umarmte, sich nach ihrer Mutter erkundigte und dann sogleich nach dem Gefangenen fragte.
»Brav gemacht, wie eine echte Lancy,« sagte er lachend, indem er sie küßte. »Auf mein Wort, Du gibst den Jaquelins an Haß gegen die Blauen und an Entschlossenheit nichts nach. Du sollst eine Abtheilung meiner Schützen führen, meine tapfere Nichte, und Commandant der ersten eroberten Veste werden. Wie oft habe ich Deiner Mutter, meiner Schwester, angetragen, mir meinen Neffen zu überlassen. Sie hat immer sein zartes Alter vorgeschützt, bis er nun glücklich in den Händen der Blauen ist. Aber Du hast ihn befreit, Jakobine, denn dieser Bursche da soll uns alles ersetzen.«
Er warf hierbei auf den Gefangenen einen messenden Blick, sagte ihm aber kein Wort und ging in die Capelle, wo Frau von Lancy, vom Lärm geweckt, ihm entgegen kam. Nach einer kurzen Unterredung, die von Seiten des Barons nicht ohne Vorwürfe für seine Schwester ablief, beeilte er sich, den Damen auf die leeren Pferde zu helfen, und erst als dies geschehen war, wendete er sich zu seinem Gefolge und rief ihm zu, den Burschen da gut zu transportiren.
Auf diesen Befehl hatte man nur gewartet, denn in einem Augenblick waren Eduard's Arme auf den Rücken gebunden, die Stricke an die Steigbügel zweier Reiter befestigt, und so ging es rasch hinter dem Baron und den Damen her, ohne daß die Bauern und der alte Jäger Antoine, die ihn umringten, sich weiter um seine Klagen bekümmert hätten.
Erst nach zwei Stunden, während welcher der Trupp zwischen den Hügeln, bald schneller, bald langsamer, fortzog, erreichten sie die Ebene, an deren Saume ein Dorf oder Flecken und auf dem Hügel dabei der alte Sitz eines Edelmanns sich erhob. Zwischen zahllosen Hecken und Gräben, auf Dämmen, die aus Wasserspiegeln sich erhoben und buschige Wiesengründe durchkreuzten, näherten sie sich dem großen, unregelmäßigen Gebäude, als eben die Morgenröthe über die Bocage trat. Dicht vor ihnen ritten jetzt die Damen und Herr von Sapinaud, der dann und wann einen triumphirenden Blick auf den bleichen Gebundenen warf.
In seinem verhaßten Kleide war Eduard ein allgemeiner Gegenstand des Fluchs und Rachegeschreis; denn am Fuße des Berges lagerte eine Schaar des königlichen Heeres, zerlumpte Gesellen, mit Weibern und Kindern untermischt, welche die größte Lust bezeugten, ihn auf der Stelle zu richten, und nur durch das Ansehen und die Nähe des Barons von der That abgehalten wurden.
So zogen sie langsam den Weg aufwärts unter den alten Bäumen bis in den Schloßhof, der von einer andern Abtheilung der Königlichen besetzt war, welche weit mehr Respect einflößte. Es waren Büchsenschützen, Förster und Waldwärter vornehmlich, die während des Krieges den Republikanern sich oft furchtbar gemacht hatten. Die finsteren bärtigen Männer warfen unheimliche Blicke auf den Gefangenen, aber sie regten sich so wenig wie die kleine Schaar Reiter, welche in einer Ecke des weiten Hofes neben ihren Pferden lagen. Es herrschte ein Schweigen über diese Menge, das bezeichnend für ihr Unglück und Elend, wie für die Gewohnheit war, ohne Klage und Murren zu gehorchen.
Eduard Leprieur wurde von den Steigbügeln losgebunden, als der Baron durch einen Wink seine Begleiter dazu anwies. Der edle Herr von Sapinaud stand dabei auf der Vortreppe neben den Damen und musterte seinen Gefangenen, der einen erlöschenden Blick auf das Fräulein von Lancy warf.
»Teufel!« sagte er, »es ist ein hübscher Bursche, und sein Gesicht hat alle Frechheit, die ein echter Republikaner haben muß. Heda! führt ihn in den Thurm und hebt ihn mir gut auf!«
»Laßt ihn nicht entkommen, guten Leute!« rief die alte Frau von Lancy und sah ihn mit rachsüchtigen Augen an; »es ist der Sohn eines der größten Bösewichte.«
»Der Sohn des Conventsdeputirten Leprieur, der jetzt in St. Florent den Müttern die Kinder raubt und die höllischen Colonnen ins Land führt,« fügte das Fräulein hinzu.
Der Haufe der Büchsenschützen und Lanzenreiter drängte sich näher herbei mit toddrohenden Mienen.
»Da, seht ihn Euch an,« sagte der Baron.
»So sieht ein verruchter Ketzer und Königsfeind aus!« schrie die alte Frau.
»Wo gäbe es einen Blauen, der nicht Beides wäre!« rief Jakobine; und ihr dunkles Auge glitt kalt und verächtlich über den leidenden jungen Mann.
»Mein Herr,« sagte dieser, und eine zornige Röthe überlief sein bleiches Gesicht, indem er sich stolz vor dem Baron aufrichtete, »mögen wir uns hassen, aber wir sind Beide Franzosen. Lassen Sie mich tödten, aber nicht beschimpfen. Ich verlange die Achtung, die jeder Mensch dem Unglück schuldig ist. Es ist unedel, den Wehrlosen zu verspotten.«
Der kleine Baron sah ihn einen Augenblick ganz erstaunt an, aber wie sehr er auch die tollgewordene Bettlerbande von Paris haßte, diese furchtlose Kühnheit gefiel ihm dennoch.
»Wird es nicht immer ärger mit diesen anmaßenden Rebellen?« sagte er; »nun wollen sie auch nicht mehr angesehen sein! Wollte die heilige Jungfrau, ihr zwängt uns nicht dazu. Aber führt ihn in das obere Stockwerk und laßt ihm Zeit, sich zu erholen. Das Gericht wird nicht ausbleiben; es wird kommen, ehe es Euch lieb ist.«
Jakobinens Worte klangen in Eduard's Ohren, und als er die enge Steintreppe hinauf und in das kleine Zimmer geschoben war, das hinter ihm fest verschlossen wurde, drückte er die Hand auf seine brennende Stirn und wiederholte sie unzählige Male. Erst nach langer Zeit ward er ruhiger. Die Erschöpfung des Körpers und das Unvermeidliche seiner Lage stumpften die Qualen seiner Seele ab. Den Kopf an die Eisengitter des kleinen Fensters gelehnt, sah er über die weite Landschaft hinaus.
Die Sonne stieg über die Wälder der Bocage, die wie ein ungeheures dunkles wogendes Band Himmel und Erde verknüpften. Das mannichfache Grün des Laubes, die hellen Berglehnen, die eingeschlossenen Wiesenstücke, das Getümmel der Menschen in dem Flecken unten, die Glockentöne, die zum Gebet riefen, die reine Morgenluft, alles sah lieblich und wie ein Bild des Friedens aus, das besänftigt in sein Herz drang.
Nach langer Zeit blickte er unter sich auf den Park des Schlosses, dessen hohe verwilderte Baumgruppen halb kahle Aeste bis an sein Gitterfenster hinaufstreckten. Er konnte, als er sich dicht herandrängte, die Vortreppen des Schlosses sehen, die in besserer Zeit mit Orangenbäumen und großen Zierblumen besetzt gewesen, deren Reste ungepflegt und verdorrt noch vorhanden waren. Dort waren Menschen. Herren und Damen hielten ihr Frühmahl; sie sprachen laut und lachten, gingen auf und ab, und neuer Schmerz kam über den Gefangenen, als er das Fräulein von Lancy erkannte, die mit einem großen Manne sich angelegentlich unterhielt, und bis an den Fuß des Thurmes zu ihm herankam.
Der junge Edelmann hatte ein kühnes, offenes Gesicht und dunkles Haar, das mitten im Kriege seiner Pflege nicht entbehrte, denn es war in Locken gebrannt und hinten zusammengedreht. Mit Ingrimm betrachtete ihn Eduard, und vergebens bemühte er sich, den Inhalt ihres Gespräches zu verstehen. Der Wind trug ihm nur einzelne Laute zu, doch glaubte er seinen Namen zu hören, und nach manchen Anzeichen urtheilte er, daß von ihm die Rede sein müsse.
Mitten in seinem Lauschen hörte er den raschen Galopp eines Pferdes. Ein Reiter sprengte den Baumweg des Parkes herauf. Sein weißes Roß schimmerte durch das grüne Gelände; sein blaues Kleid, sein Federbusch flatterten durch den Wind.
»Da ist er!« rief Jakobine laut, »sprechen Sie sogleich mit ihm, sagen Sie ihm Alles. Es ist nicht dieser junge thörichte Mensch. Meinetwegen mögt Ihr ihn nachher todtschießen oder aufhängen; Niemand kann das mehr wünschen als ich.«
Sie gingen lachend fort und Eduard lehnte sich voll von wüthendem Schmerz an die Wand.
»Warum kann ich es denn nicht glauben,« murmelte er endlich, »warum flüstert eine leise Stimme mir immer wieder neue Hoffnung ein? Selbst jetzt in dieser schrecklichen Minute schleicht der böse Feind durch mein Herz und zaubert mir Trug und Täuschung vor. Ich sehe sie, und sehe sie immer wieder liebevoll vor mir stehen, und tief in ihren Augen steht es geschrieben: Denke nicht so Böses von mir! Es ist Lüge,« sagte er dann seufzend, »hirnlose verdammte Lüge. Sie hat Recht, mich zu verhöhnen, mich zu hassen, was kann ich Anderes erwarten?«
Den ganzen Tag beschäftigten ihn diese Gedanken. Bald war es laut im Schlosse, bald stiller. Die Schaaren des Königsheeres zogen ab und andere kamen; im Park hörte er oft viele Stimmen, aber er trat nicht ans Fenster. Ein Diener brachte ihm Nahrung. Der Vendeerhäuptling schickte seinem Gefangenen ein reichliches und gutes Mahl und Wein dazu.
Der Mann sagte:
»Eßt, Blauer, der Baron hat es befohlen, Ihr sollt essen und trinken. Ginge es nach uns, gäbe es Wasser und Brot, vielleicht auch gar nichts.«
»Und was soll mit mir geschehen?« fragte Leprieur.
»Geschehen,« erwiederte der Wärter und zeigte seine glänzenden Zähne, indem er die Achseln zuckte. »Hört, Blauer, so dumm werdet Ihr nicht sein, nicht zu wissen, was wir mit allen Blauen hier thun. Aufgehängt oder todtgeschossen; es ist Alles einerlei.«
»So also!« sagte Eduard nachsinnend, und er aß und trank, denn Natur und Jugend behaupteten ihr Recht.
Dann saß er Stunden lang und dachte über sein Schicksal nach, über die edlen Träume seiner Jugend, über sein Hassen und Lieben, das ihm als Thorheit erschien, und nach und nach starben die bittern Empfindungen. Feste Entschlüsse reiften in ihm; er war bereit zum letzten Wege, und als er Tritte hörte und Waffengeklirr, warf er einen letzten lächelnden Blick in die scheidende Sonne und sagte leise:
»Ich bin bereit!«
Gleich darauf traten mehrere Büchsenschützen und der Wärter ein, der ihn bedeutete, daß er folgen solle. Er reichte ihm sein Tuch, das er vergessen, und sagte mit einem wohlverständlichen, häßlichem Blicke:
»Vergeßt nichts, Blauer; Ihr werdet niemals wiederkommen und es abholen können.«
Nun führten sie ihn aus dem Thurme nach der Halle des Schlosses, und plötzlich stand er vor seinen Richtern, die eine Art Kriegsgericht zu bilden schienen. Ein geistlicher Herr im schwarzen Kleide und einer gelockten Perrücke saß an der Mitte des großen Tisches. Sein kluges berechnendes Gesicht, mit großen dunklen Augen, war auf den Eintretenden gerichtet. Rechts und links hatten zwei andere Priester Platz genommen, und weiterhin saßen die Anführer der Vendeer. Der Herr von Sapinaud stand in ein Fenster gelehnt und sprach leise mit einem Herrn, der einen blauen, kurzen Schnürenrock trug und von Leprieur als der Reiter im Park erkannt wurde.
Als alle Anwesende eine Zeit lang schweigend den Gefangenen betrachtet und dieser mit der wunderbar wachsenden Schärfe der Sinne in der Stunde der Gefahr das Größte und Kleinste in einem Augenblicke aufgefaßt hatte, sagte der schwarze Herr:
»Leprieur, Sie sind der Sohn des entsetzlichen Mannes, der so viel Sünde und unschuldiges Blut auf sich geladen hat.«
»Der Sohn des Conventscommissairs, des Bürgers Leprieur, steht vor Ihnen,« erwiderte der junge Republikaner.
Der Geistliche warf einen finstern Blick auf ihn.
»Wissen Sie auch,« fuhr er in demselben feierlichen Tone fort, »welches Schicksal unausbleiblich den Sohn eines Verräthers treffen muß, der seinen König ermorden half?«
»Welche Antwort verlangen Sie auf diese Frage?« sagte Eduard ruhig.»Verrath und Mord ist das große Losungswort geworden. Ich bin in Ihrer Gewalt, ich erwarte und hoffe nichts Anderes, als was Sie sagen. Fassen Sie es kurz zusammen, ich werde den Weg ohne Klage gehen, den so viele edle und treffliche Männer gegangen sind.«
Hier trat eine Pause ein, in welcher der Geistliche ihn beobachtete und die umsitzenden Barone.
»Es hätte sein können,« sagte er dann, »daß höhere Rücksichten uns bewogen hätten, mild zu verfahren. Wir theilen nicht die Blutgier, welche die Tyrannen unseres unglücklichen Vaterlandes so entsetzlich macht; ja, wir haben noch mehr Mitleid als Zorn für diese Verlorenen, denn der Tag der Thränen und der Reue wird selbst für die Verstocktesten kommen.«
»Ich dächte, hochwürdiger Herr Bischof,« fiel ein großer wildblickender Mann ein, »Sie sagten ihm ohne Umschweife, was sein Vater geantwortet hat; und was er thun soll, wenn er uns den Strick sparen will.«
»General Stofflet,« erwiderte der Bischof mit Würde, »Sie erleichtern meinen Auftrag durch Ihren Beistand. Junger Mann, im Namen des Königs, unseres gnädigsten Herrn, haben wir Ihrem Vater Nachricht von Ihrer Lage gegeben und uns erboten, Sie in seine Hände zurückzuliefern. Er hat dies verweigert. Wichtigen Verwendungen nur haben Sie es zu danken, wenn man Sie auffordert, selbst diesen hartherzigen Mann durch kindliches Flehen zu bewegen, unsere Vorschläge anzunehmen. Ich darf nicht hinzufügen, daß es keine andere irdische Gnade und Hoffnung für Sie gibt.«
Er sprach diese letzten Worte mit drohender, düsterer Gewalt, aber Eduard Leprieur hörte sie kaum. Er sah in die Tiefe des Saales hinab, und all sein Blut stockte in den Pulsen. Das falbe Licht des Abends brach in die Halle und beleuchtete die zerstörte alte Herrlichkeit; die brandgeschwärzten, zerrissenen Tapeten, die verblaßte Malerei der hochgewölbten Decke und die vergoldete Galerie, welche sich oben hinzog. Dorthin wandte sich sein Auge und wollte nicht wieder davon lassen, nicht von der schwarzen, stillen Gestalt, die regungslos an einem der Pfeiler stand.
Es war das Fräulein von Lancy, die, in den Mantel gewickelt, ihn starr betrachtete. Die letzten Strahlen der Sonne schienen sich auf ihren edlen Zügen zu sammeln und einen Glanz auszustrahlen, der brennend auf ihn niederfiel. Ihr gehobenes Gesicht war streng, ihre Lippen zuckten wie in Hohn, ihre Augen schienen verächtlich auf ihn herabzusehen. War sie gekommen, ihn zu verhöhnen, sein Todesurtheil zu hören, seine Vernichtung triumphirend zu feiern? Stolzer richtete er sich empor, und als er den Bischof Bernier spöttisch fragte, um welchen Preis man sein Leben verkaufen wolle? fühlte er eine ingrimmige Energie, seinen Richtern und dem Tode Trotz zu bieten.
»Wir verlangen,« sagte der Priester, »daß das Heer der Rebellen augenblicklich sich über die Loire zurückzieht, daß die treuen Unterthanen Sr. Majestät in Besitz ihres verlorenen Eigenthums gesetzt werden, daß man den Eltern die Söhne zurückgibt, die man ihnen geraubt, und daß sogleich der junge Vicomte, Heinrich von Lancy, der sich unter ihnen befindet, seinem Herrn Oheim überliefert werde.«
»Ich hoffe,« erwiederte Leprieur, indem eine Röthe des Zornes über sein Gesicht lief, »daß mein Vater diese beschimpfenden Forderungen gar keiner Antwort gewürdigt hat.«
»Sie sehen, meine Herren Generale,« sagte der Bischof seufzend, indem er die Hände faltete, »Sie sehen leider, daß dieser junge Mensch unserer Langmuth, und Gnade wenig werth ist. Ja, wisse, Unglücklicher,« fuhr er fort, »der verbrecherische Mann hat eine Antwort gegeben, die eines solchen Fanatikers und Königsmörders würdig ist.«
»Nicht einen Fuß breit will er für das Leben seines einzigen Sohnes geben; nicht einen Pfennig, nicht einen Gefangenen!« rief Eduard mit blitzenden Augen. »Habe Dank, mein Vater! Ich weiß es und hier bin ich, ich bin bereit zum Tode!«
Der große blatternarbige General sprang von seinem Sitze auf.
»Willst Du schreiben?« schrie er. »Willst Du ihn anflehen, unsere Bedingungen anzunehmen?«
»Nein, niemals!« versetzte Eduard; und wie Alle schwiegen, fuhr er ruhig fort: »Da der König und die Engländer nicht kommen wollen, diese ewigen Feinde Frankreichs, Ihre Verbündeten, scheint es, daß man so weit gelangt ist, Rettung durch die Angst zu suchen, die man einem Vaterherzen bereitet. Aber Sie täuschen sich. Der Abgeordnete der Nation weiß Opfer zu bringen; sein Sohn weiß zu sterben. Mein Vater wird seine Pflicht thun, dann wird er mich rächen.«
Hierauf warf er einen stolzen Blick auf die Versammelten, der zu sagen schien: Ihr Alle werdet dieser Rache und dem Beile des Henkers nicht entrinnen. Und mit prophetischer Gewißheit sah er ihre Reihe hinunter auf den ungeschlachten Körper Stofflet's, auf den stolzen, schönen Marigny, auf die wildblickenden kleinen Anführer und auf Sapinaud, der mit dem fremden Herrn vom Fenster herbeikam. Alle schienen ihm den Todeszug deutlich zu tragen, wie lebenskräftig sie auch vor ihm standen.
»Ich denke, wir haben genug gehört!« rief Stofflet und ballte seine bäuerisch große Hand.»Hinaus mit ihm, schießt ihn nieder!«
»Fort! hinaus!« riefen die kleinen Anführer, denen Stofflet immer ein Orakel war, und der heilige Bischof seufzte und faltete die Hände, indem er der Wache winkte, die an der Thür vortrat.
»Halt! einen Augenblick,« sagte der fremde Herr im blauen Kleide, der bisher ganz ruhig gestanden, aus seiner großen goldnen Dose Tabak genommen und bald mit Sapinaud und Marigny gesprochen, bald den Gefangenen betrachtet hatte. Er war klein von Körper, sehr beweglich, und sein Gesicht mongolisch häßlich. Die aufgestülpte Nase, der große Mund, breite Backenknochen und eine niedrige Stirn verbanden sich zu einem abstoßenden Aeußern, das durch das unheimliche Feuer seiner Augen noch auffallender ward.
Aber dieser sonderbare Mann hatte, trotz dessen, etwas in seiner Erscheinung, das die Menschen zwang, ihn mit Achtung und Ehrfurcht zu betrachten. Es lag jene ruhige, stolze Kühnheit in seinem Blick, die den außerordentlichen Geist, den Helden, den Träger und Stützpunct einer Idee ankündigt. Seine Unscheinbarkeit und Häßlichkeit war die Hülle einer Größe, die den Verwegensten plötzlich überraschte und beugte, wenn er seinen feurigen Blick auf ihm ruhen ließ. Alle fürchteten, Viele liebten und verehrten ihn mit fast göttlicher Bewunderung; die Meisten glaubten, daß die Sache des Königs nicht verloren sei, so lange er sie schütze. Er war die Seele, die letzte Hoffnung seiner Partei, aber auch der Gegenstand des Neides und Hasses seiner Nebenbuhler. Seine Thaten und Kämpfe, so wunderbar und heldenmüthig, füllten die Welt. Es war der Marquis Charette.
Die Wachen blieben an der Thür stehen und der kleine Marquis trat in den Kreis der Vendeerchefs und sprach lange leise mit ihnen. Nach und nach aber wurden seine Worte heftiger, als Stofflet mit rauhem Trotz ihm widersprach und die eindringlich volltönende Stimme des Bischofs Bernier, der überall Charette's Gegner war, den Widerstand unterstützte.
»Ich weiß wohl, ehrwürdiger Herr,« sagte der Marquis endlich lebhaft und halb laut, »daß meine Gründe niemals auf Ihre Beistimmung rechnen können, aber Sie opfern diesem feindlichen Geiste zu viel. Es war nicht recht, einem Manne, wie Leprieur, so Unerhörtes anzusinnen. Hätte man sich begnügt, den jungen Lancy und ein Paar andere Gefangene für seinen Sohn zu fordern, er würde sich williger gefunden haben.«
»Was geht uns der Knabe an,« erwiderte Stofflet rauh. »Wir wollen andere Vortheile für unsere Sache, als Freiheit und Leben eines Kindes. Und gehörte sein Vater nicht obenein zu denen, die niemals weder kalt noch warm, weder weiß noch blau waren?«
Hier gab der Bischof dem ungestümen Manne einen Wink und fiel in seine Rede:
»So heiß unsere Wünsche auch sind,« sagte er, »der Mutter den Sohn und einem der trefflichsten Männer den Neffen zu erhalten, durften wir doch das höhere Interesse nicht versäumen.«
»Und man ließ den Sperling in der Hand los, um die Taube auf dem Dache dafür zu haschen,« sagte der Herr von Charette spöttisch.
»Nun, mein gnädiger Herr,« erwiderte Bernier lächelnd, »ich denke, der Sperling ist noch in unserer Hand, und diese wird schwer zu öffnen sein, wenn nicht ein Phönix daraus hervorgeht.«
»Will er das nicht,« sagte Stofflet, der mit seinen Anhängern heimlich gesprochen hatte, »so ist es unsere Meinung, daß, welches auch die Nebenrücksichten sein mögen, ein Beispiel gegeben werden muß. Leprieur ist unser grausamster Feind. Schießt seinen Sohn nieder und die Kugel trifft ihn mit. Im ganzen Lande aber wird ein Jauchzen sein, unsere gute Sache erhält neuen Eifer; der König und die heilige Kirche neue Streiter.«
»Meine Herren,« erwiderte Charette und seine Stimme sank zum hohlen Flüstern herab, »glauben Sie mir, wir haben keine Zeit, uns mit Täuschungen aufzuhalten. Es steht mit uns so herzlich schlecht, daß eine Grausamkeit, an dem jungen Menschen dort begangen, uns wahrlich nicht weiter helfen wird. Wahrhaftig, er hat Recht! der König und England, Beide bleiben aus, und abgeschnitten vom Meere, zurückgedrängt in diese Wälder und Sümpfe, gibt es kaum mehr eine Aussicht auf glücklichen Erfolg.«
Bernier blieb in der Stellung eines Lauschenden stehen, als Charette geendet hatte. Durchbohrend sah er ihn an, dann wiegte er seinen klugen Kopf und wandte sich zu Stofflet.
»Wol, meine Freunde,« sagte er, »sind in diesem Kampfe Gott und die heilige Jungfrau sichtbar mit uns gewesen. Welche Gefahren haben wir bestanden! wie haben zahllose Schaaren dies gottgeliebte Land heimgesucht, und immer wieder richtete es sich auf und siegte mit Hülfe des festen Glaubens und des heiligen Kreuzes. Nun sagt uns der edle Marquis, die Hoffnung sei ganz verloren, und wol mag es klug sein für den Klugen, an das Ende zu denken und alles, was geschehen und kommen kann, reiflich zu erwägen.«
»Halten Sie ein, hochwürdiger Herr!« rief Charette verächtlich lächelnd, »ich denke, wir wissen Alle, was Sie sagen wollen und sparen Ihnen die Mühe. Verleumden mag man meinen Muth und meine Ergebenheit immerhin, man wird aber das Geschehene nicht fortleugnen können. Ich wiederhole es, die Zeit unserer Hoffnungen ist vorüber, und diesen jungen Mann, den Sohn des Conventscommissairs, jetzt tödten, ist nicht allein eine Grausamkeit, es würde selbst eine Thorheit sein.«
»Steht es so,« sagte der Bischof mit einem bedeutsamen Blick, »so begreife ich allerdings Ihre Ansichten, zweifle jedoch, daß alle diese tapferen, dem Könige ergebenen Männer Ihre Hoffnungslosigkeit theilen und eine Versöhnung mit den Mördern Ludwig's des Sechzehnten für möglich halten.«
»Es gibt Menschen,« rief Charette drohend und von seiner natürlichen Heftigkeit hingerissen, »die dafür sorgen, die Blinden ewig blind zu erhalten, mag der Tag auch noch so hell scheinen. Gott weiß, was wir geopfert haben, und gern noch so lange opfern werden, wie es vernünftig und recht ist. Zu denen aber, die gleich Thieren zur Schlachtbank laufen und stumpfsinnig morden, bis sie selbst den Gnadenstoß erhalten, gehöre ich nicht.«
»Was wollen Sie damit sagen, Herr Marquis?« schrie Stofflet wüthend. »Doch wir kennen diese Sprache längst, die gegen uns geführt wird, die wir dem Könige und Gott ohne Nebenbedingungen anhängen.«
»Die Sprache der Verräther!« rief eine Stimme aus dem Kreise.
Charette drehte sich schnell um, seine Augen flammten in Zorn.
»Verräther!« sagte er, »wer ist der verächtliche Narr, der mich so zu nennen wagt? Mein Weg ist mein, und mein Name wie meine Thaten gehören mir. Niemand kann Gott und den König treuer verehren, als ich es ewig, bis zum letzten Hauche meines Daseins, thun werde. Ist es aber wahrer Muth, wahre Liebe, sich wie ein kämpfender Eber von den Hunden nutzlos zerfleischen zu lassen und zu sterben? Bei Gott! der Tag wird kommen, wo es bewiesen werden kann, wer der beste Freund seines Königs war.«
Marigny hatte indeß auch mit mehreren der Anführer gesprochen, während der Herr von Sapinaud mit vielem Eifer und lauter Stimme erklärte, der Gefangene sei sein, er betrachte ihn als eine Geisel für seinen Neffen. Aus seiner Obhut und Wacht solle er daher nicht entkommen, und er werde sich wohl hüten, ihn erschießen zu lassen, wenigstens nicht eher, bis die Blauen ihn dazu nöthigten.
Gegen diese Ansprüche und Entscheidung erhoben sich nun Andere, es war ein Zank um das Leben Leprieur's, der fast lächelnd ihn anhörte. Man schrie und stritt und harte Worte Worte fielen, bis Charette sagte:
»Wir haben Zeit, uns über sein Loos zu verständigen. Lassen Sie uns die Gründe ruhig erörtern, führt ihn aber für jetzt in sein Gefängniß zurück.«
Niemand machte einen Einwand gegen diesen Befehl, und bald war Eduard wieder in der Thurmzelle, die er mit dem Gefühl des nahen Todes verlassen hatte. Das merkwürdige Gespräch, das er angehört, erweckte ihm neue Lebenshoffnungen, die mit den äußersten Befürchtungen rangen. Hier wollte man ihn erhalten, um ihn zum Werkzeuge der Aussöhnung zu benutzen, dort ihn tödten, um diese unmöglich zu machen, und ließ sein Vater, was wohl geschehen konnte, den jungen Lancy erschießen, so gab es eine dritte Partei, die ihn unfehlbar für das gleiche Geschick aufhob.
Die Nacht verging ihm in fortgesetztem Nachsinnen. Er starrte mit wachen Augen in die Finsterniß, die sich mit zahllosen Gestalten füllte, und wenn der Traum ihn bewältigen wollte, schlüpfte Jakobinens schwarzer Schatten drohend an ihm vorüber. Zuweilen glaubte er Schritte zu hören, Geklirr von Waffen und Schlüsseln, er sprang auf und Alles war still. Die Wächter kamen nicht, ihn abzuholen, die Mörder nicht, die ihn heimlich beschleichen wollten, der Sternenschein fiel zitternd an den grauen Wänden hin und schläferte ihn ein.
Plötzlich drehte sich das Schloß. Ein Mann trat herein, Eduard konnte seine Um: risse erkennen.
»Leprieur,« sagte er dumpf und leise.
»Was willst Du?« erwiderte der junge Mensch heftig; denn das Leben wehrte sich in ihm gegen den Tod. Er drängte sich an das Fenster zurück und ballte die Hände.
»Still!« sagte der Fremde, »folge mir.«
»Wohin? Wollt Ihr mich ermorden?« rief Leprieur. Jener schwieg einen Augenblick.
»Folge mir,« murmelte er dann, und als Eduard zögerte, fuhr er mit einem verächtlichen Ausdruck fort:
»Hast Du solche Furcht vor dem Tode?«
Jetzt erkannte ihn der Republikaner.
»Lecombe,« sagte er, »Du bist es, wohin willst Du mich führen?«
»Sie sollen es erfahren,« erwiderte der kleine Schneider, »aber schnell, geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie uns gehen.«
Er zog ihn fort und Beide stiegen die Stufen hinab. Unten standen zwei Männer, mit Gewehren bewaffnet. Lecombe flüsterte ihnen etwas zu, einer der Bauern öffnete die Pforte in der Mauer und schob die Riegel wieder vor, als die Beiden in den Park getreten waren. Mond und Sternenschein leuchteten ihnen durch die Baumgruppen, die Hügel hinab und durch ein Gewirr von Gestrüpp, das das Thal füllte. Lecombe ging voran und Eduard hatte lange nicht Lust zu fragen; als er es that, erhielt er keine Antwort. Er erblickte den Schatten seines Wächters oder Führers vor sich, der schnell durch die Brombeerranken und Ginsterbüsche ging. Zuweilen lief ein schmaler Pfad durch die Felder, zuweilen war der Boden unbetreten, sumpfig und von Gräben durchschnitten, die übersprungen werden mußten. Weiden und Erlen standen auf dem Bruchlande, und Lecombe ging so schnell, daß es schien, er wolle seinem Begleiter Zeit und Gelegenheit zur Flucht lassen.
Endlich stand Eduard still und sah von einer Hügelspitze in die unermeßliche Ebene, die sich vor ihm ausbreitete. Kein Feuer, kein Haus, keine Menschenspur war zu entdecken. Er zog den kalten Luftstrom ein, der, den Morgen verkündend, sein heißes Gesicht umwehte; das Gefühl der Freiheit schlug in seiner Brust und belebte sein Auge. Hinter ihm lagen die Wälder der Bocage und am äußersten Horizont stand der Mond über dem verwitterten Thurm, der sein Gefängniß gewesen war. Prüfend sah er umher, überlegend, was zu thun sei, als Lecombe unter den Bäumen im Grunde seinen Namen rief.
Er ging hinab, beide standen sich gegenüber.
»Warum zögern Sie?« sagte der Schneider trotzig.
»Wohin führst Du mich?« fragte der junge Soldat.
»Dorthin,« erwiderte Lecombe und deutete vor sich hinaus in die Ebene.
»Und wenn ich nicht folgen will?« rief Eduard. »Ich bin frei! Lebendig will ich mich nicht in ein neues Gefängniß schleppen lassen, freiwillig mich meinen Mördern nicht überliefern.«
»Wenn man Sie tödten wollte,« sagte der Schneider eintönig, »so wären Sie nicht hier.«
»Aber dort liegt die Loire,« versetzte der Republikaner. »Dahin geht mein Weg.«
»Ihr Weg?« erwiderte Lecombe rauh. »Geht ihn, wenn Ihr sterben wollt. In den Wäldern sind Bäume genug, um Euch zu hängen, und Männer genug, die es thun werden.«.
»Und Du,« sagte Eduard, indem er mit einer Bewegung plötzlicher Vorsicht und erwachender Erinnerungen zurücktrat, »Du verstehst es auch.«
Die kleine Gestalt des Vendeers schien in der Dämmerung größer zu werden, seine Augen funkelten in Haß.
»Ihr habt es erfahren,« murmelte er höhnisch.
»Und nun, was willst Du nun?«
»Laßt uns gehen,« erwiderte Lecombe. »Aus dem Lande kommt Ihr nicht, aber man hat Gutes mit Euch vor.«
»Kann ich Dir vertrauen?« versetzte Leprieur zögernd..
»Vertrauen!« rief Lecombe, »nein; denn mir habt Ihr nichts zu danken. Geht, wenn Ihr nicht folgen wollt, thut, was Euch beliebt, ich halte Euch nicht, ich habe gethan, was ich sollte.«
Er entfernte sich rasch, ohne umzublicken; nach einigem Besinnen folgte ihm der Flüchtling.
»Wenn Du meinen Dank und mein Vertrauen verschmähst,« sagte er, »wer gab Dir den Auftrag?«
Lecombe antwortete nicht, und Leprieur blieb sich und seinen Gedanken überlassen. Endlich stieg die Dämmerung auf, nach und nach kam der Tag, und Beide schlugen einen Weg ein, der, von Weidenbäumen besetzt, zwischen Wiesen und Schilfgeländen sich hinzog. Zuweilen lag mitten darin ein niederes Haus, von dichtem Gebüsch umringt, von Wasser umgeben, über welches Zugbrücken führten, wie in eine Festung. Geflecktes schönes Vieh weidete und floh vor den fremden Menschen, die schweigend vorübergingen.
Als die Sonne aufging, hörten sie fernes Schießen, den dumpfen Donner der Kanonen, der leise grollend über die stille Ebene zitterte, und ein höhnisches Lachen lief über das Gesicht des kleinen Schneiders. Endlich stand er still und zog aus der Jagdtasche, die er trug, einen Leinenkittel und eine Zipfelmütze.
»Nehmt das,« sagte er, »hier zu Lande duldet man den blauen Rock nicht.« –
Er half dem Republikaner die Uniform abziehen, packte sie ein und ging dann weiter mit demselben Trotz, ohne eine Frage zu beantworten. Eduard hatte sich daran gewöhnt, und trotz dieser fortgesetzten Feindlichkeit fühlte er sein Vertrauen zu diesem seltsamen Menschen wachsen, der ihm so viel Gutes unfreiwillig that.
Zwei Stunden waren so vergangen, als mitten in den Wiesengründen eine menschliche Wohnung vor ihnen lag. Aus dem kleinen Hause stieg eine Rauchwolke auf, Menschen bewegten sich davor, und an den Hecken, die es umschlossen, waren mehrere Pferde angebunden.
»Man erwartet uns?« sagte Eduard begierig forschend.
»Wohl möglich!« erwiderte sein Begleiter.
»Wer ist es?« rief der junge Mann ahnungsvoll.
»Ihr werdet es sehen,« war die eintönige Antwort.
In dem Augenblicke trat Jemand aus dem Hause und kam ihnen entgegen. Es war der Marquis von Charette.
An einer der Weiden blieb der Vendeerchef stehen; er setzte den Fuß auf einen abgehauenen Stumpf und lehnte seinen Kopf in den Arm. So sah er starr in das Land hinaus, bis die beiden Nahenden dicht vor ihm waren. Plötzlich wurden seine harten Züge gewinnend, ein Lächeln belebte sie, und mit der Hand grüßend, sagte er:
»Es ist mir lieb, Herr Leprieur, Sie hier zu sehen.«
»Mein Herr!« rief Eduard verwirrt, »Ihnen also verdanke ich meine Befreiung!«
»Wenn Sie es Befreiung nennen wollen,« erwiderte Charette, »so mag es darum sein, ich nehme Ihren Dank an. Aber in Wahrheit sind Sie noch immer Gefangener, bis die Umstände sich ändern. Doch ist es immer ein Gewinn,« fuhr er lächelnd fort, »denn ich denke, Ihre Haft wird besser und sicherer sein, als die Sie verlassen haben.«
Er nöthigte darauf den Republikaner höflich, mit ihm in das Pachthaus zu treten und machte scherzend eine Bemerkung über den weißen Kittel und die Zipfelmütze mit dem geweihten Herz, welche aus dem Sohne des Conventscommissairs einen getreuen Streiter des allerchristlichsten Königs gemacht hatten.
»Ich denke mir,« erwiderte Eduard lebhaft, »es müsse mir doch jeder ansehen, daß das Kleid nicht zum Manne paßt.«
»Oho, mein junger Freund,« erwiderte der Marquis, »Sie wissen nicht, welch ein Zauber in einem Rocke sitzen kann. Ich habe wilde Freiheitsschwärmer gekannt, die, wenn sie einmal erst den Kittel und die Lilien trugen, die glühendsten Vertheidiger unserer Sache wurden.«
»Schwärmerei führt leicht zu einem Umschlag der Extreme,« erwiderte Eduard; »der Mann von Charakter aber wechselt schwerlich seine Ueberzeugungen mit dem Kleide; er harrt aus und stirbt dafür.«
»Sie würden also niemals ein Weißer sein können?« sagte der Marquis lächelnd.
»Ich gebe die Frage zurück,« versetzte Eduard. »Würden Sie jemals ein Blauer werden?«
»Wer weiß, wer weiß!« rief Charette, und indem er den Kopf mit den funkelnden Augen heftig in die Höhe warf, nahm er eine Reihe von Prisen aus seiner großen Dose. »Ueberzeugungen kommen im Menschenleben zuweilen über Nacht; aber haben Sie gar keine Anlage zur Schwärmerei, die Sie bekehren könnte?«
»Welche Schwärmerei?« sagte Leprieur leise.
»Die Phantasie eines jungen Herzens zum Beispiel,« erwiderte der Marquis. »Es gibt hundert Geschichten, wo eines jener reizenden Geschöpfe, um die allein das Leben Werth haben kann, uns mit ihrer Liebe zum Gott erklärt, wenn wir dafür den zweifelhaften Bettel opfern, den die Menschen Ueberzeugungen oder Grundsätze nennen. Und wie nun, mein Herr Republikaner, wenn plötzlich ein Weib, dessen Schönheit eher göttlich als menschlich ist, ihre weichen Liebesarme um dies trotzige Herz schlänge, wenn ihr klares, himmlisches Auge, zärtlich bittend, belebend und tödtend bis in die tiefste Seele dränge und unter ihren Küssen und Thränen die liebende verschmelzende Stimme flüsterte: Opfere Deinen falschen Glauben und sei mein dafür auf ewig!«
Während Charette sprach, ruhten seine glänzenden Augen auf dem jungen Mann, der still vor sich hinschaute und daran dachte, daß man tausend Geschichten von der wilden Begier dieses Häuptlings, von seinem Harem, seinen Orgien, seinen Ausschweifungen in der Liebe erzählte.
Er sah ihn an und es kam ihm vor, als lauere ein verächtlicher lüsterner Hohn in seinen funkelnden Blicken, und der große Feldherr der Vendeer sei doch eigentlich nichts, als einer jener sybaritischen, gottlosen Edelleute, nur glaubend an sich und ihre Vorrechte, verflucht von den Leiden des Volkes und ihren Opfern, geachtet von Gott und den Menschen. Er fühlte einen Zorn in sich und den Stolz, besser zu sein.
In der Hütte des armen Pachters, in welcher sie saßen, waren sie allein; aber auf dem Tische standen Speisen und Wein und Geräthe, als hätten mehrere Personen hier Tafel gehalten. Neben einem der groben Teller lag ein kleines Gebetbuch und ein rothes Band war darum gewunden, wie es die Mädchen des Landes um ihre Haare winden. In dem Augenblicke trat Jakobinens Bild vor seine Seele. Der Gedanke durchzuckte ihn, daß Charette nicht umsonst gesprochen, daß sie es sei, die er mit so glühenden Farben ihm gemalt, daß vielleicht irgend ein Verrath hinter seinen Lockungen verborgen stecke, oder sollte es möglich sein, sollte dies schöne wunderbare Mädchen so sprechen können, wie dieser Mann, sollte er ihr Vertrauter sein, der ihren Auftrag prüfend vollzöge?
Nach einem kurzen Nachdenken verwarf er diese Vermuthungen; er dachte an Jakobinens feindliches Benehmen mit Bitterkeit. –
»Es ist eine schwere Versuchung,« sagte er lächelnd, »welche Sie lockend genug beschreiben; aber wahre Liebe kann unmöglich von dem Gegenstande ihrer Zärtlichkeit eine Entbehrung verlangen. Und wäre der Mann, der Glauben und Gewissen seiner Leidenschaft opfern wollte, nicht ein Schwächling, den eine starke Seele bald verachten müßte?«
»Gut gesagt,« erwiderte Charette beistimmend, indem er seine Stimme erhob, »und freimüthig will ich bekennen, daß ich diese Antwort nicht erwartet habe. Sie ist mir ein Beweis, daß Sie Ihr Herz bis jetzt nicht besonders, wenigstens nicht bis zu jenem, Wahnsinn gleichen Taumel erhitzt haben, der nichts denkt, nichts fühlt und empfindet, als die Sehnsucht nach der Liebe eines Wesens, ohne welches die Welt uns eine Wüste scheint.«
»Und wenn ich es empfunden hätte,« versetzte Leprieur heftig, indem eine brennende Röthe seine Stirn überzog, »wenn ich in schnellen Zügen allen Liebesschmerz getrunken, alle Begeisterung mich erfüllt und alle Qual mich bis zur Vernichtung erschöpft hätte? Ich glaube,« sagte er stolz, »es gibt Höheres und Heiligeres im Leben, als die Liebe eines Weibes, der man nichts opfern darf, als den Augenblick.«
»Sie sind ein Philosoph!« rief der kleine Marquis lächelnd, »und ich weiß nicht, ob Ihre schönen Bürgerinnen in Paris mit dieser Weisheit zufrieden sein würden. Aber wenn ich es recht bedenke, so erklärt sich Ihre Bitterkeit. War es nicht das Fräulein von Lancy, das Sie in diese schlimme Lage brachte? Und doch hat man mir erzählt, daß eine Art von toller Schwärmerei Sie zu ihr führte und so geduldig bis in den Kerker von Schloß Bontemps brachte, wie die Heerde dem Hirten folgt.«
»Sie haben ein Recht, mich zu verspotten,« erwiderte der junge Mann, noch tiefer erröthend, »aber wäre es auch nicht so, hätte dies rachsüchtige Fräulein von Lancy auch eine eben so heiße Neigung zu mir gefaßt, wie ihre Abneigung und Verstellung groß ist; dürstete sie nach meiner Liebe, wie sie nach meinem Blute dürstet, niemals, bei Gottes Allmacht! würden ihre Reize mich bewegen, die geringste meiner Ueberzeugungen aufzugeben. Wenn ich ein Thor war,« fuhr er leiser fort, »so habe ich hart dafür gebüßt. Ein schrecklicher Kampf meiner Seele hat mich erlöst, und offen kann ich betheuern, daß die sonderbare, ja entsetzliche Leidenschaft, die in mir gespensterhaft aufwuchs, bis auf den lebten Keim zerstört ist.«
Der Marquis brach bei dieser Antwort, die mit allem Feuer gekränkter Liebe und tiefer Entrüstung gegeben wurde, in ein lautes Gelächter aus. Er lehnte sich in den Binsenstuhl zurück und lachte so lange, bis sein zorniger Tischgefährte aufstand und sich entfernen wollte.
»Bleiben Sie sitzen, Herr Leprieur!« rief er ihm zu und streckte ihm die Hand hin, »ich schwöre Ihnen, daß ich Sie nicht beleidigen wollte. Ich lache nur, wenn ich denke, was das stolze Fräulein von Lancy sagen würde, könnte sie hören, wie wenig ihre Liebe werth ist. Aber Sie haben ein Recht, sie zu hassen,« fuhr er fort, »die schöne Verrätherin verdient es, wir werden sehen, ob Sie ein Mann von Grundsätzen sind.«
»Ich hoffe,« sagte der Gefangene, »daß meine Wege sich auf immer von den ihren geschieden haben.«
»Wohl möglich, doch sollten Sie wieder mit ihr zusammentreffen, so hüten Sie sich vor einer neuen Bezauberung.«
»Was haben Sie über mein Schicksal beschlossen?« fragte Eduard.
»Sie thun eine verzweifelt bestimmte Frage,« erwiderte der Marquis, indem er nachlässig und lächelnd sich auf die andere Seite lehnte. »Fürs Erste jedoch sollen Sie ein einsames, sicheres Haus bewohnen, mein Herr Philosoph, und ich rathe Ihnen, in keinem Falle sich mehr zu zeigen, als Noth thut. Denn schlimmere Feinde,« fügte er leise und mit Nachdruck hinzu, »könnten Ihnen leicht über Leib und Leben kommen.«
Nun trat eine Pause ein, während welcher Charette mit dem Messer in der Hand spielte, bis er mit seinem gewohnten leichten Tone sagte:
»Verlieren Sie jedoch den Muth nicht, ich habe es angelobt, Ihr Freund und Beschützer zu sein; Ihre Jugend, die Charakterstärke, welche Sie in gefährlichen Augenblicken zeigten, und selbst Ihre Grundsätze gefallen mir.«
Plötzlich brach er das Gespräch ab und stand auf.
»Wo mag Ihr Vater jetzt sein?« sagte er.
»In St. Florent, wie ich denke, oder in Nantes, wo sich die Repräsentanten der Nation versammeln sollen.«
»Oder dort, Ihre Spur vergebens suchend,« erwiderte Charette, indem er nach der Gegend wies, wo ein ferner Nebel die Bocage andeutete. »Sie morden und brennen das Land aus,« sagte er finster und spöttisch, »was hilft es ihnen oder uns!«
Er kreuzte die Arme und sah ernst vor sich hin.
»Wissen Sie,« fragte er dann, »ob der General Hoche schon eingetroffen ist?«
»Ich hörte nur vom General Canilaux,« erwiderte Eduard, »der mit zwanzigtausend Mann die Loire überschritten hat.«
»Nein, es ist Hoche,« rief der Marquis mit Bestimmtheit, »dessen Geschütze dort den Wald durchdonnern. Sie machen Ernst mit uns, die Herren in Paris, aber Geduld, wir sind auch da.«
Mit raschen Schritten ging er durch das kleine Zimmer und blieb an dem zerbrochenen Fenster stehen, indem er einen Brief aus der Brusttasche seines Kleides zog.
»Schöne Worte!« sagte er vor sich hin, laut genug, daß Leprieur es hören konnte. »Sie haben meiner Schwester in Nantes tausend Dinge in den Kopf gesetzt, die sich schwerlich erfüllen werden. Vergeben und vergessen, Alles, was geschehen ist, wer kann das nach solchen Thaten? Mißtrauen und Verdacht werden an die Stelle der offenen Gewalt treten, und heimlich morden, wie jetzt öffentlich. Sie wollen den Frieden. Wol möglich! Wir sind verlassen, keine Hoffnung für unsere Sache. Auch das ist wahr. Sie haben den Anfang mit einer Amnestie gemacht, die blutigen Köpfe der Tyrannen sind verscharrt, man will umkehren. Wahrlich unerwartet und wohin? Die Gefängnisse haben sich geöffnet, Frau von Bonchamps Madame de Bonchamps, die Frau des Vendée-Generals Charles Melchior Artus, Marquis de Bonchamps, dem sie in den Vendée-Krieg folgte, geriet nach dessen Tod in der Schlacht von Cholet in die Wirren der Vendée-Ereignisse, bis sie im Bouffay-Gefängnis in Nantes von den Revolutionären gefangengesetzt wurde. ist begnadigt worden, die Mörderrotten selbst sind nun die Verfolgten, und einer ihrer Schreckensmänner, Bourhault, läßt sich herab, sogar den Mörder und Chouan Botidous zu umarmen und seine gefangene Schwester zurückzugeben, das ist viel. Und ich – ich, ihr General, Ehren, Würden und Gold, welche Schmeicheleien, Künste der Verführung!« murmelte er und sein Gesicht nahm einen Ausdruck des Spottes und der Verachtung an. »Laßt uns sehen! Erst Blut, dann Versöhnung, noch ist es nicht so weit. Puisaye, Cormatin, sie mögen ihre Sache machen, und wenn man in England endlich zum Handeln kommt, wenn es irgend eine Hoffnung –«
Er blitzte schnell auf und steckte den Brief in die Tasche.
»Wir müssen scheiden, Herr Leprieur,« sagte er freundlich, »dort wartet Ihr Begleiter, der Sie weiter führen wird. Zeit ist nicht zu verlieren, aber hoffentlich sehe ich Sie bald wieder, um Ihnen Gutes anzukündigen. Noch einmal, ich bin Ihr Freund, leben Sie wohl.«
Er führte ihn hinaus, drückte beim Abschiede seine Hand, und nach einer Ermahnung, vorsichtig zu sein, wies er auf Lecombe, der an der Schwelle des Hauses saß. Unter den Bäumen standen mehre der kleinen Landpferde, bewaffnete Leute ruhten neben ihnen im Schatten. Menschen liefen hin und her, und einer von ihnen hielt das weiße schöne Roß des Vendeerhäuptlings, das schnaubend und scharrend seinen Herrn erwartete.
Eduard betrachtete einen Augenblick diese Gruppen, es kam ihm vor, als sei unter den Männern, welche sich schlafend ausgestreckt hatten, auch der alte Diener der Lancy und jener Hund, der neben ihm den Kopf erhob, sein kluger Wächter; aber Lecombe faßte rauh seinen Arm und führte ihn um die Ecke des Hauses, zwischen den Holzschuppen hin.
»Hier hinaus geht unser Weg,« sprach er; »folgt mir nach.«
Er sprang über den Graben, ein Fußsteig führte in die Röhrungen und schnell verlor sich die Spur in einer trügerischen Moosdecke, welche unter ihren Schritten schwankte. Durch die sonnig reine Luft schossen Schaaren kleiner Sumpfvögel ängstlich schreiend an ihnen vorüber. Die Stimmen der Menschen verschollen, nur der Rohrwald rauschte, und dann und wann schüttelte eine Sumpfweide das Gewirr ihrer langen grünen Finger.
Nichts aber konnte Lecombe's schnellen Schritt aufhalten; nicht der trügerische Moor, oder die Lachen und Gräben, welche ihn durchzogen. Mit instinctartiger Sicherheit wußte er sich zurecht zu finden; die einzelnen Bäume schienen seine Wegweiser zu sein, und einmal nur, nicht weit von dem Pachthause, konnte Eduard von einer hügelartigen Höhe, auf welcher, wie auf einer Insel, eine Heerde langgehörnter Kühe weidete, das Land überblicken.
Mit Erstaunen bemerkte er, daß es an dem Ort, den er verlassen, jetzt von Menschen wimmelte, die in einer festgeschlossenen Masse sich gegen die Bocage bewegten. Es mußte die Division Charette's sein, die, ihm völlig unbemerkbar, ganz in der Nähe gelagert hatte. Er glaubte den Marquis selbst zu erkennen, auch andere Herren, die auf Pferden hin- und hersprengten, aber Lecombe rief ihm zu, weiter zu gehen, und nun stiegen sie in das endlose Grasmeer, das sie den ganzen Tag verfolgten, ohne bei den einzelnen Höfen und Flecken anzuhalten, welche spärlich darin zerstreut, näher oder ferner lagen. Zuweilen nur hatten sie gebahnte Straßen berührt, aber sie bald wieder verlassen, und vom Sumpfwasser durchnäßt, todtmüde, erschöpft von quälenden Vorstellungen und gepeinigt durch die düstere Schweigsamkeit seines Führers, fühlte Eduard seine Kräfte schwinden.
»Ich kann nicht weiter,« sagte er. »Schafft mir ein Obdach.«
»Dort,« erwiderte Lecombe und deutete vor sich hin auf einen glänzenden Punct. Es war ein Haus in der Ferne, das aus einer Gruppe dunkler Bäume und Büsche mit seinen Giebelfenstern hervorsah, in denen sich der Abschein spiegelte.
»Dort!« rief der Erschöpfte mit neuer Hoffnung. »Wie heißt es, wer wohnt dort?«
»Was weiß ich es!« murmelte Lecombe. »Fort, Herr, fort! Fragen Sie später darnach. Verdammt sei dieser Wächter- und Führerdienst!«
So ging Lecombe voran durch das hohe Wiesengras, und von der Nähe des Ruhepunctes gestärkt, folgte Leprieur, so schnell er konnte. Endlich, als sie ein verwildertes Gehege durchwandert hatten, lag das Gebäude vor ihnen. Es war alt und unregelmäßig gebaut. Die schloßartige Hauptfronte mit langen Seitenflügeln und hochaufgemauerten Firsten, aus denen die Traufen in Gestalt geflügelter Drachen herabblickten, war dicht von mächtigen Linden und Rüstern umringt, die mit ihrem melancholischen Rauschen und geheimnißvollen Dunkel das unheimlich finstere Gepräge vermehrten. Alles war öde und schweigsam. Die Fenster mit Eisengittern verkreuzt, und das starke verschlossene Thor deutete auf Vorsicht; aber Alles war wohlerhalten und bezeugte, daß der zerstörende Krieg niemals bis hierher gelangt sei.
Wie Lecombe mit seinem langen Springstocke an die Bohlen schlug, dröhnte es hohl im ganzen Hause wieder. Ein Hund erhob drinnen sein heiseres Gelärm, aber erst als der kleine Schneider eine Zeit lang mit seinen Stößen fortgefahren hatte, schob sich ein rundes, rothes Gesicht oben aus dem Thorfenster, und nach mancherlei Reden in dem unverständlichen Patois von Nieder-Poitou klapperten die Schlösser und die Riegel wurden fortgezogen. Der dicke kleine Kerl, der zum Vorschein kam, nahm den stolzen Titel eines Kastellans in Anspruch, und hinter ihm stand eine einzige dürre, alte Magd, die neugierig den Fremden beleuchtete.
Lecombe reichte dem Manne, der sie in ein Zimmer geführt hatte, schweigend einen Brief hin, den der Kastellan mit Würde entfaltete, seine Brille nahm, ihn mühsam zu enträthseln schien und dann und wann kopfnickend und sich räuspernd seine Gäste ansah
»Gut,« sagte er endlich, »der Herr Marquis, mein gnädiger Herr, hat über seinen Diener zu befehlen. Herr Lecombe, und Sie, mein Herr – der Name thut nichts zur Sache – wir werden pünctlich ausführen, was Se. Gnaden bestimmt haben. Laßt Euch ein Abendbrot gefallen, meine Herren, ehe Ihr weiter geht, so gut es dies edle Haus in so schlechten Zeiten auftreiben kann. Heda, Susanne!« schrie er der halb tauben Magd zu, »schaff' Essen herbei, die Herren müssen weiter nach Bourbon-Vendee; eßt und trinkt, ich werde Euch begleiten.«
Lecombe nickte ihm Beifall und die alte Magd ging hinaus. Nun stand der dicke Mann auf und sagte leise:
»Auch die alte Susanna soll nicht merken, daß Ihr bei mir bleibt, so will es der Herr Marquis, und Pierre Segrier weiß sich in solchen Angelegenheiten zu benehmen.«
Nun wurde der Tisch mit Speisen und Wein bestellt, und der alte geschwätzige Mann, der lange keine Gesellschaft gehabt hatte, fand tausend Dinge zu erzählen und zu hören. Er pries den Marquis, ließ den König hochleben, verfluchte die Blauen und trank auf die Zerstörung von Paris; bis er endlich der Magd befahl, zu Bett zu gehen, und eine neue Flasche für seine Gäste öffnete.
Endlich stand Lecombe auf und kein Dringen des guten Kastellans konnte ihn halten.
»Ich muß fort,« sagte er, »vielleicht komme ich wieder. Lebt wohl, mein Herr.«
Eduard streckte seine Hand nach ihm aus, er wendete sich ab.
»Meine Hand verschmäht Ihr,« sagte der junge Mann. »Was that ich Euch, Lecombe?«
»Nichts,«, erwiderte der Vendeer, »aber ich sagte Ihnen schon, Herr, Ihr Dank ist ohne Noth, ich that, was ich mußte.«
»So geh' denn!« rief Leprieur beleidigt, »doch auch gegen Deinen Willen will ich Dein Freund sein.«
Lecombe schien etwas erwidern zu wollen, aber plötzlich wendete er sich und ging schweigend hinaus, gefolgt von dem Kastellan, der erst nach einer guten Weile ganz leise zurückkehrte. Er nahm die Laterne und lud Eduard ein, ihm zu folgen. Dann öffnete er eine Seitenthür, führte ihn in einen Corridor, Treppen hinauf und hinab durch verschiedene Gänge, durch mehre Zimmer, bis er endlich vor einem großen Wandbilde still stand, das er mühsam bei Seite schob, mit einem Druck eine Thür in der Mauer öffnete, und eine schmale Wendelstiege hinauf endlich in ein Gemach gelangte, das in dem thurmartig endenden Giebel des Seitenflügels lag.
»Hier,« sagte er, »sind Sie ganz sicher, mein Herr. Es wird erzählt, daß einer der alten Barone von Clerisson, denen dies Schloß gehörte, vor mehr als zweihundert Jahren seine Tochter hier einsperrte, weil sie ihr Herz einem Niedriggebornen geschenkt hatte. Erst als man sie todt heraustrug, erfuhr man, wo sie gewesen sei.«
Er zündete bei diesen Worten Licht an, setzte es auf den Tisch, versprach wiederzukommen, und verließ seinen Gast, der, als das Schloß zugefallen war, sich von neuem gefangen sah.
Wie er allein war, beleuchtete er den Ort seines Aufenthaltes. Die kleinen Fenster waren vergittert und lagen ganz versteckt hinter dem hohen Vorbau des Giebels. Die schmucklosen Mauern von Staub und Spinnengeweben überzogen, Tisch und Stühle vom Gewürm durchlöchert, ihre Lederpolster zerrissen, und in der Ecke eines jener breiten Betten aus alter Zeit, dessen vergilbte Damastgehänge noch von ehemaliger Pracht zeugten.
Ein Schauder überlief ihn, wie er dachte, daß es dasselbe Lager sein möge; auf dessen Kissen die unglückliche Tochter der Clerissons in endlosen Nächten ihnen Schmerz ausweinte. Er floh den schrecklichen Ort, und wie das Licht an den schwarzen Wänden aufflackerte, glaubte er Schatten zu erblicken, die mit schleppenden Gewändern hinter den Vorhängen lauschten. Lange währte es, ehe sein Blut sich beruhigte, endlich setzte er sich auf eines der Polster und starrte in die Lichtflamme, bis sie erlosch.
Je länger aber die Finsterniß ihn umgab, je reger und heller wurde es in seiner Brust. Die Leiden der Bewohnerin dieser Zelle kamen ihm bekannt und vertraut vor; er fühlte sich zu ihnen hingezogen, sanft berührten sie sein Herz und füllten seine Augen mit Thränen. Endlich meinte er wirklich die schöne, langsam verschmachtende. Gestalt zu sehen, wie sie still, gleich einer welkenden Blume das Haupt senkte, ihren Gram versöhnte, und hoffend starb.
Alles war still um ihn; endlich schlief er und erwachte von dem Rasseln am Schlosse. Der Kastellan kam und brachte Speisen, indem er sich entschuldigte, gestern nicht wieder erschienen zu sein, weil plötzliche Geschäfte ihn abgehalten hätten. Dann ging er wieder und trug allerlei Geräth herein; das Bett erhielt neue Kissen und Matratzen, Stühle und Tische wurden gewechselt, das ganze Gemach gereinigt; Teppiche ausgebreitet, und endlich sah Alles ganz sauber und wohnlich aus.
Eduard blickte seufzend zum Fenster hinaus, wo er durch einen Mauerspalt einen schmalen Streif des fernen Wiesenlandes entdeckte.
»Ich darf also nicht hinaus?« sagte er.
»Niemand darf ja wissen, daß Sie hier sind,« erwiderte der Kastellan höflich.
»Aber was ist zu fürchten, wir sind allein.«
»Allein, ja! Es ist einsam genug, und der Garten zwischen den Seitenflügeln hat eine hohe Mauer.«
»So laßt mich dort zu Zeiten umhergehen.«
»Ich will Ihnen zuweilen Gesellschaft leisten,« sagte der alte Mann ausweichend, »auch sind Bücher dort in dem kleinen Kabinet. Der Herr Marquis hat Alles fest bestimmt, bis er selbst kommen wird.«
»Ich sehe wohl, wie es steht,« erwiderte Eduard lächelnd, »meine Haft ist streng, und meine einzige Gesellschaft wird das arme Fräulein von Clerisson sein, die mir schon in dieser Nacht einen Besuch gemacht hat.«
Der Alte warf einen scheuen Blick umher.
»Heilige Jungfrau!« sagte er leise, »ich habe es wohl auch oft gehört, wie sie umherschlich und ächzte, aber gesehen habe ich sie nicht. Mutter Gottes! wie gern wollte ich Ihnen ein anderes Zimmer geben, aber der Herr Marquis hat es so gewollt.«
»Und ich danke ihm dafür!« rief Eduard, »ich fürchte die Gespenster nicht, wenn sie schön und unglücklich sind.«
Diese leichtsinnigen Worte beschleunigten den Rückzug des Kastellans, der am Abend wiederzukommen versprach, und in den nächsten drei Tagen seine regelmäßigen Besuche fortsetzte.
Die Zeit verging dem Gefangenen eintönig langsam und doch nicht ohne allen Reiz. Bald maß und untersuchte er jeden Winkel der kleinen Zelle, bald stieg er an den Eisenstäben der Fenster empor, theilte mit den Vögeln, die friedlich hier nisteten, sein Brot, und spähte durch die Zuglöcher des Mauerwerks nach Wolken, Wind und irdischem Grün. Zuweilen schlug ein menschlicher Laut, ein Schall, ein fernes Geläut an sein Ohr, und die geschärften Sinne suchten ihn zu deuten. Trübsinn wechselte mit freudigen Hoffnungen, Muthlosigkeit mit stolzen Entschlüssen.
Mehrmals glaubte er im Schlosse Stimmen und Schnauben von Pferden zu hören, dann meinte er, der Marquis sei da und die Stunde der Freiheit; aber vergebens wartete er auf den rasselnden Schlüssel, die eisenbeschlagene Thür blieb verschlossen, und von neuem holte er die alten Bücher hervor, Gebete, Heiligenlegenden, Wundergeschichten voll frommen Aberglaubens versunkener Jahrhunderte, oder die ritterlichen Gesänge des Messire Robert von Namur und Jean Froissant's berühmte Chroniken und Poesien. Er konnte sich ganz in seine Träume versenken, und aus den verstaubten Blättern wuchsen Gestalten, die, wenn er schlief, sein Lager umwachten.
So lag er in der dritten Nacht und neben ihm saß das blasse Fräulein von Clerisson und las laut und deutlich aus Froissant's Roman »Melidor« die Liebe des Ritters zu der schönen Fei Gelinde. Endlich ließ sie seufzend das Buch fallen und sah ihn lange mit den zum Tode traurigen Augen an.
»Das ist das Schicksal Derer, die da lieben, was der Mensch nicht lieben darf,« flüsterte sie seufzend, »die ihrem Herzen folgen, ohne die Gebote Gottes zu achten. So habe ich mein junges Leben in Schmerzen ausgehaucht; so wirst Du auch enden, armer Freund!«
»Gebote Gottes!« murmelte der Schlafende. »Nennst Du den verblendeten Hochmuth der Menschen mit so heiligem Worte?«
»Gottes Gebote;« sagte sie, »sind der Zeiten Satzungen. Wehe Dem, der sie nicht ehrt, niemals wird er glücklich sein auf Erden. Kehre um zu Deinem Glück, laß ab von dem Trugbilde, verfluche die falsche Liebe zu Jakobine Lancy.«
»Ich kann nicht von ihr lassen,« sagte er tiefathmend, »ich will nicht, o, Jakobine, meine Liebe ist ewig.«
Die Gestalt beugte sich über ihn hin, ihr Athem fiel heiß auf sein Gesicht, ihre Lippen ruhten innig und fest auf den seinen.
»So bist Du mein,« sagte eine helle, schöne Stimme, »mein auf ewig?«
Er hob die Hand zum Schwur und ergriff einen Gegenstand, den er fest umklammerte. So schlug er die Augen auf und schloß sie wieder; dann blickte er wild umher und glaubte nicht an sein Erwachen. Ein matter Schimmer überzog die schwarzen Wände, ein Lichtstrahl schien von einer fernen Ecke aufzusprühen und überzog die dunklen Vorhänge seines Lagers, auf dem er ausgestreckt lag. Eine Gestalt saß neben ihm, ein Schatten, ein Wesen, das sich aus Nebeln abzulösen schien und immer fester und bestimmter wurde. Groß und still saß sie da, ihre Augen, deren Glanz das Dunkel durchleuchtete, ruhten auf ihm. Ihre Hand lag in der seinen, nun zitterte das Licht auch über ihr Gesicht und plötzlich war es Tag um ihn.
»Jakobine!« rief er und riß sich von dem Lager auf, »Engel des Himmels! es ist kein Traum!«
Eduard bedeckte Jakobinens Hände mit seinen Küssen, sie ließ es still geschehen.
»Hier bin ich!« sagte sie sanft, »nun räche Alles, was ich gethan.«
»Rächen!« rief er mit heißer Leidenschaft, »kann sehnsüchtige trostlose Liebe Rache sein, dann, Jakobine, muß Sie diese verfolgen über Tod und Grab hinaus.«
»So ist es doch nicht wahr,« sagte sie lächelnd und ihre Stimme zitterte leise, »daß Sie mich hassen, mich vergessen haben, daß dies Herz,« rief sie lauter, indem sie ihre Hand auf seine Brust legte, »keiner Begeisterung fähig ist, wie Charette es behauptet. Ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig, aber nicht hier. Diese düstern Mauern und ihr hohler Schall durchschauern mich. Der Grabesodem unglücklicher Liebe hat diese Steine durchfressen, ewig werden sie ihn aushauchen, bis sie nicht mehr sein werden.«
Sie nahm eine kleine Leuchte vom Boden auf und faßte dann von neuem seine Hand. Wie sie vor ihm stand, edel und stolz ihn anblickend, war die letzte Spur seiner Zweifel verschwunden, eine selige Gewißheit durchglühte ihn ganz. Plötzlich schlang er beide Arme, um sie und blickte in ihre liebestrahlenden Augen.
»Nun weiß ich es,« sagte er, »Du hast mich immer geliebt, und hier in dieser Zelle des Unglücks, wo schadenfrohe Geister mich quälten und Entsagung und Haß forderten, sprich es aus, damit glückliche Liebe den Fluch versöhnt.«
Lange hielten sie sich fest umarmt, und ihre Lippen feierten das Gelöbniß, das mühsam Worte erhielt, dann führte ihn Jakobine in eine der Nischen des Kabinets, die Fugen des Gesteins öffneten sich, eine schmale Treppe führte in der Mauer nieder und leitete nach manchen Hemmnissen in das untere Geschoß und von dort in den Garten.
Langsam gingen sie durch die verwilderten Gänge, endlich setzten sie sich auf die Stufen eines kleinen Tempels auf einer Anhöhe, welche die Mauer überragte. Das weite Land lag vor ihnen im weißglänzenden Nachtkleide. Der Himmel mit seinen zahllosen Augen blickte durch die wiegenden Baumgipfel, heiliges Schweigen war überall in der unendlichen Natur, und so saßen sie fest umschlungen und vergaßen Zeit und Zukunft.
Erst als ein blasser Schimmer den Osten röthete, sagte Jakobine:
»Nun mußt Du zurück, aber morgen um Mitternacht bin ich hier und warte.«
Sie begleitete ihn bis an die Pforte, und als der alte Kastellan am Morgen seinen Pflegebefohlenen besuchte, schüttelte er heimlich den Kopf über die sonderbare Lustigkeit desselben. Singend ging er umher und scherzte und lachte ausgelassen. Als er allein war, überdachte er dann alles, was Jakobine ihm vertraut hatte.
Charette, hatte sie gesagt, ist unser einziger Beschützer, aber er ist es nur so lange, wie es für seine Pläne paßt. Er sinnt auf Verrath an seiner Sache, er will sich mit der Republik versöhnen, wenn er muß, aber noch schwankt er und kann sich nicht entschließen. Wenn heute sich ein Ausweg zeigte, würde er Dich kaltblütig dem Stofflet überliefern, wie er ihm vor drei Tagen den unglücklichen Marigny gab, den das Ungeheuer erschießen ließ. Marigny hatte mit Canclaux unterhandelt, Charette wußte es, aber es sind Briefe von Puissaye und aus England gekommen, die nahe Hülfe verheißen, und Charette wollte rein sein. Du bist in seiner Gewalt, seine Geisel; auch wir sind es. Mein getreuer Lecombe hat Dich aus dem Thurm geholt, hier aber sind wir von zwanzig Schützen nun bewacht, die meine kranke Mutter und mich in derselben Nacht hierher leiteten, wo Lecombe Dein Führer war. Charette zeigte mir den Weg, der geheim in Deine Zelle führt; er kann ihn auch verschließen. Aber vertraue, ich bewache Dich, ich weiß, was ich will.
Den ganzen Tag beschäftigten ihn die Gedanken an die Nacht; endlich kam der Abend; zitternd in Hoffnung und Verlangen konnte er die Stunde nicht erwarten. Er öffnete die verborgene Thür und ging hinab. Der Garten war einsam, plötzlich aber, an der Seite des Hauses, hörte er Jakobinens Stimme. Sein Herz schlug heftiger, sie sprach mit einem Andern. Jetzt konnte er Alle erkennen; ihre Mutter war bei ihr, sie saßen auf einer Bank am Hause, und vor ihnen stand der alte Jäger André neben dem kleinen Schneider von St. Florent. –
»Ich bin krank, guter André,« sagte die Dame und faltete die Hände; »aber die Nachricht gibt mir neue Stärke. Du hast ihn gesehen, er lebt?«
»Er lebt,« erwiderte der Alte, »aber unter dem Messer des Henkers. Der blutige Leprieur hat vergebens seinen Sohn gesucht, vergebens Bonceur verbrannt, und seine Banden bis in die Sümpfe geschickt. Ich war in St. Florent und hörte, wie sie Rache schwuren; ja, ich drängte mich bis an die Thür des Saales, wo der schreckliche Mensch stand, und Freude kam in mein Herz, denn ich sah seine Verzweiflung, wie stolz und gefaßt er auch that. Man hatte ihm hinterbracht, daß die Generale des Königs Kriegsrecht über seinen Sohn gehalten, daß sie den Tod über ihn ausgesprochen hatten, und wie der Gefangene dann ohne Spur verschwunden sei. ›Sie haben ihn heimlich getödtet,‹ sagte er, ›mein Sohn hat für das Vaterland geendet, die gerechte Vergeltung wird seine Mörder erreichen.‹ Nun schrie ein großer wilder Kerl: ›Bürger Commissair, haben wir nicht ein Pfand der Rache, haben wir nicht den Neffen des Rebellen Sapinaud?‹ – ›Liefre ihn uns, liefre ihn uns!‹ schrien Andere. Da trat er in ihre Mitte, stolz und drohend, und wie ein gefallener Engel sah er aus. ›Bürger,‹ sagte er, ›wage Niemand gegen das Gesetz zu freveln.‹ – ›Rache für unsern ermordeten Freund,‹ schrie der große Kerl wieder, ›willst Du sie nicht für Deinen Sohn, so räche den Bürger Leprieur.‹ Von allen Seiten riefen sie nun nach dem Gesetz, die gesetzlosen Bösewichte, und lange stand er stumm, die Arme gekreuzt, und sein finsteres Gesicht war unbeweglich, bis er endlich sein Auge aufhob und mit seiner dumpfen Stimme sagte: ›Nicht Rache darf es sein, die Gerechtigkeit allein soll ihr Opfer haben. Wenn sie den Bürger Leprieur ermordeten, so will ich es vergelten. Drei Tage noch, dann walte das Gesetz.‹«
Das Schweigen, das seinen Worten folgte, ward nur von den Seufzern der alten Frau unterbrochen.
»Und morgen,« sagte sie mit matter Stimme, »morgen ist die Zeit um. Entsetzlicher Mann! es gibt keine Hülfe; schafft mir mein Kind zurück, ach! sein Herz, sein durchbohrtes Herz! da liegt es blutig roth, o, gnadenreiche Gottesmutter!«
Sie sank in die Arme ihrer Tochter, die sie mit Hülfe einer alten Dienerin und des alten André ins Haus trug. Lecombe blieb zurück. Mit raschen Schritten ging er auf dem kleinen freien Platze hin und her, sein ganzer Körper war in krampfhafter Bewegung. Bald drückte er die Faust an seine Stirn, bald blieb er stehen, streckte den Arm drohend empor und hob den Kopf zum Himmel, indem er leise Worte murmelte.
Der alte Jäger kam zurück.
»Es wird vorüber sein, Alles wird bald vorüber sein,« sagte er heftig. »Welches Gottesgeschöpf könnte das auch ertragen! Seit langer Zeit sitzt der Tod in ihr und wartet auf den Augenblick, wo er zuschlagen kann.«
»Ist es so weit?« fragte Lecombe.
»Ich denke ja,« erwiderte der Alte. »Ein Arzt ist nicht hier, der helfen kann; ihre Leiden werden aufhören.«
»Gott schenke ihr seinen Frieden!« murmelte der Andere.
»Der Himmel hat es beschlossen,« fuhr der Jäger fort, »das ganze Geschlecht soll untergehen.«
»Ich frage Dich, Lecombe, ob Du den Sohn des Schurken Leprieur hassest?«
»Ob ich ihn hasse!« rief der kleine Schneider mit tiefem Grimm.
»Dann bist Du mein Mann,« erwiderte André, »höre, was ich sage. Ich war bei dem Herrn von Sapinaud, und erzählte ihm, wie es mit seinem Neffen stehe, aber Jeder ist jetzt froh, für sich selbst zu sorgen. Es geht schlecht, Lecombe, die Blauen sind Meister geworden, die Köpfe wackeln mehr als je auf den Schultern der großen Herren, die allen Muth verloren haben. ›Geh zum Teufel!‹ schrie der Baron, ›oder geh' zum Marquis von Charette, ich kann nicht helfen.‹ So ging ich denn hin, und der kleine Sumpfpfaffe saß zwischen zwei hübschen Weibern, die er küßte und mit ihnen trank und spielte, dabei grinste er mich an, während ich sprach, und schlug auf seine große Dose. ›Das ist ein Unglück, dem man schwerlich abhelfen kann!‹ schrie er endlich, ›wenn aber der Leprieur den kleinen Lancy erschießen läßt, so soll sein Sohn dafür dessen Schwester heirathen, so wahr ich Charette heiße!‹«
»Nichtswürdiger!« rief Lecombe heftig. »Er lügt wie ein Schelm.«
»Die abscheulichen Weiber lachten dazu,« fuhr der Jäger fort, »wie ich aber betrübt hinausschlich, stand François, mein alter Kamerad, da, der seit vielen Jahren bei dem Marquis ist. Von dem erfuhr ich Dinge, die uns helfen können. Willst Du dabei sein, Lecombe?«
Der kleine Schneider nickte ihm zu und André lehnte sich an ihn und sagte leise:
»Er ist hier im Schlosse versteckt.«
»Gut.«
»Ganz oben unter dem Gemäuer gibt es eine Art Gefängniß; da sitzt er.«
»Da sitzt er,« sagte Lecombe, auf den Baum starrend, der Eduard verbarg.
»Kamerad,« murmelte André mit wilder Stimme, »ich weiß den Weg, sterben muß er, bei der heiligen Gottesmutter von Niort! Mögen sie den Knaben in St. Florent abschlachten, wir machen auch Einen kalt, wir!«
»Der Vater bestieg die Guillotine,« sagte Lecombe vor sich hin, »die Mutter todt im Elend, der Bruder von fünf Kugeln durchbohrt und sie am Altare mit dem Sohn des Mörders. Welcher Narr hat das erfunden? Nein, und tausendmal nein, es ist nicht möglich!«
In diesem Augenblicke erscholl ein Schrei aus dem Hause, und beide Männer eilten hinein. Lange stand der Gefangene lauschend in seinem Versteck. Was er gehört hatte, trieb das Blut heftiger durch seine Adern; er hätte hineilen, Jakobinen helfen, die sterbende Mutter versöhnen mögen, und nicht die Furcht vor den Drohungen der beiden blutgierigen Männer hielt ihn zurück, nur die Ueberzeugung, daß er mit seinem Erscheinen nichts ändern oder bessern könne.
In immer heftigerer Unruhe durchstrich er den Garten. Bald näherte er sich dem Hause, um auf das Gemurmel der Stimmen darin zu hören, bald eilte er durch die Gänge nach dem Tempel zurück und wartete auf die Geliebte, die nicht erscheinen wollte, bald sah er mit starren Augen auf die Fenster des Gebäudes, auf die schwankenden Lichter und Schatten, und schaudernd fiel es ihm ein, daß die Mörder wol jetzt schon nach seinem Gefängniß umhersuchten und rachedürstend vielleicht dicht an ihm lauschten.
Jedes Rauschen der Bäume machte sein Herz lauter klopfen, eine jähe Angst um sein Leben faßte ihn an, und erst als Jakobine langsam den Hügel heraufstieg, als er ihre Gestalt erkannte, ihre leise Stimme seinen Namen nannte, als er sie in seinen Armen hielt und ihre kalten Lippen mit seinen Küssen bedeckte, wich das Entsetzen einer glühenden, begeisterten Lebensfluth.
Jakobine setzte sich zu Eduard schweigend, den Kopf tief niedergebeugt und ihre Hände umspannten fest die seinen. Er wagte nicht zu fragen, was diese kummervolle Stille bedeute, bis sie plötzlich sanft die Arme um seine Schulter legte und mit leiser Stimme sagte:
»Meine Mutter ist todt, sie hat mich gesegnet auf allen meinen Wegen. Kein Fluch, kein Zorn war in ihrem brechenden Herzen, nur Liebe, Vergebung und tiefer Mutterschmerz um ihren Sohn. Friede und Ruhe den Todten, aber den Lebendigen ziemt es zu sorgen. Ja, mein Freund, laß uns vereint um die Versöhnung ringen, laß uns den Verklärten durch unsere Thaten die Verzeihung entreißen, deren wir bedürfen.«
»Ich verstehe Dich,« erwiderte Eduard, »und ich bin bereit; aber wie ist es möglich, stärker zu sein als das Schicksal!«
»Wir müssen fort,« sagte Jakobine mit Entschlossenheit, »fort in dieser Stunde. Menschen können Großes, wenn der Geist sie treibt. Gott und seine Heiligen werden mit uns sein!«
Eine dunkle Gestalt trat aus den Büschen.
»Wer ist da?« rief Eduard erschreckt.
»Ein Freund,« sagte Jakobine. »Komm näher, mein treuer Lecombe.«
»Lecombe!« rief Leprieur mit Entsetzen.
»Er ist hier,« sagte die tiefe Stimme des Vendeers.
Das Fräulein von Lancy trat ihm einen Schritt entgegen, und indem sie um Eduard fester ihren Arm schlang, reichte sie Lecombe die freie Hand. Der falbe Mondstreif und die Sterne warfen ihr Licht auf den kleinen Raum, die Sprechenden wurden davon überzittert, und hier hoben sich die bleichen edlen Züge Jakobinens aus dem Schatten der Nacht, und ihr hoher dunkler Körper ward von dem Himmelslichte angehaucht, dort erkannte man das finstere Faltige Gesicht Lecombe's und seine kleine kräftige Gestalt, die sich demüthig vor seiner Herrin beugte.
»Sieh diesen Mann an,« sagte sie, »er heißt Leprieur.«
»Ich weiß es,« murmelte der Vendeer, indem er seine Hand schnell zurückzog.
»Was ist das?« fuhr Jakobine sanft fort, »willst Du mich auch verlassen, Lecombe? Mein Spielgenosse in der Kindheit, mein edler treuer Beschützer, mein Freund, mein einziger Freund in so mancher schweren Stunde! Wenn Du es kannst, so geh' und laß mich allein.«
»Ist es wahr?« rief Lecombe mit Heftigkeit, »ist es möglich, daß das Fräulein von Lancy –« hier ließ er seine Stimme sinken, die sich in einem unverständlichen Gemurmel verlor; aber sein Auge blitzte durch die Nacht und sein Gesicht war von glühender Hitze roth. Er deutete auf den Republikaner.
»Du fragst, was dieser Mann an meiner Seite will, warum ich ihn an mein Herz gedrückt halte,« sagte Jakobine. »Du hast ein Recht, darnach zu fragen, Du allein, Lecombe. Als ich ihn zuerst sah, lag sein Haar unter Deinem Fuß, sein blasses Gesicht war blutig, sein Auge starr auf mich gerichtet, aber wunderbar drang der Blick des Todten in mein Herz. Ein Entzücken ergriff mich, als ich den leisen Schlag seines Pulses fühlte, gewaltsam folgte ich Dir, und wie er mich in seinen Träumen sah, so träumte ich von ihm, bis er wieder vor mir stand und jäh und gewaltig eine Stimme in mir rief: ›Laß ihn nicht fort; er gehört Dir, er wird Dir folgen und Du ihm!‹ Kaum war es geschehen, als ich die Gefahr erkannte, in welche ich ihn gestürzt hatte, und nur durch List und Verstellung gelang es mir, ihn mit Deiner Hülfe zu befreien und in Charette's Hände zu liefern. Der listige Marquis folgt seinen Planen, hier aber muß schnell gehandelt werden. Meine Mutter starb, noch ist Heinrich zu retten. Schaff' uns die Mittel zur schnellen Flucht, Lecombe, noch ist es möglich, St. Florent zu erreichen. Ich bringe dem Conventscommissair den Sohn, ich fordere meinen Bruder dafür, er wird, er muß ihn mir geben.«
»Fordern Sie nichts als eine Auswechslung der Gefangenen?« fragte Lecombe.
Jakobine schwieg einen Augenblick, dann sagte sie mit starker, fester Stimme:
»Nein, Lecombe, Deine Schwester kann Dich niemals täuschen. Ich liebe Eduard Leprieur, hörst Du wol: ich liebe ihn! Müssen die Frevel der Väter die Kinder verzehren,« fuhr sie langsam mit hoher Ruhe fort, »müssen sie in Leiden, Blut und Fluch sich hassen und vernichten? Ist es nicht größer und menschlich schöner, in Liebe den Haß zu versöhnen, ist es nicht Gottes allmächtige Fügung, die ihn zu mir führte, die sein Auge sehend machte, die in mein kaltes stilles Herz plötzlich eine helle Flamme warf? Weißt Du, was Liebe ist, armer guter Lecombe, weißt Du, was wahre Liebe kann? Sie fragt nicht nach des Menschen Satzungen, nicht, was die Menge sagt und denkt; sie opfert sich ganz für den Geliebten. O, sie fragt auch nicht, ob das tiefe Weh das Herz zerreißen will, sie vergißt den eigenen großen Schmerz in dem unermeßlichen Glück, für die Liebe zu leiden. Lecombe, mein treuer, geliebter Freund, willst Du an mir zweifeln und mich noch verlassen?«
Lecombe hatte den Kopf tief auf die Brust sinken lassen und seine Hände über sein Gesicht gedeckt. Als Jakobine schwieg, erhob er sich rasch.
»Sein Sie ruhig,« sagte er zitternd unter einer schrecklichen Qual, die er verbergen wollte, »was Sie auch thun, es ist recht, es muß recht sein; ich gehorche, gewiß, ich gehorche gern. Großer Gott! ich wünsche, daß mein Leben, das Ihnen gehört, für Ihr Wohl geopfert würde. Lassen Sie mich sehen,« fuhr er dann nach einer Pause fort, »ja, so geht es, so wird es gehen. Ich werde André benachrichtigen, daß Sie einen letzten Versuch machen wollen, den jungen Herrn Heinrich zu befreien, daß Sie deshalb den Gefangenen nach St. Florent mit sich führen.«
»André!« fiel Eduard ein, »hat er nicht vor kaum einer Stunde meinen Tod geschworen, und Sie selbst, Lecombe, wollten Sie nicht seine Pläne unterstützen?«
»Ich weiß nicht, was ich that,« erwiderte Lecombe nach einem kurzen Schweigen, »ich war, wie ich glaube, nicht Meister meiner Besinnung. Aber ohne Sorge, mein Herr, nehmen Sie meine Hand. Anton Lecombe reicht sie Ihnen zum ersten Male als Freund; er wird nicht dulden, daß Ihnen ein Leid geschieht.«
Trotz des leisen Zuckens hielt Leprieur die dargereichte Rechte des kleinen Schneiders fest, und indem er ihm einige feurige Worte des Dankes zurief, unterbrach Lecombe diese plötzlich, indem er sagte, daß er mit André's Hülfe die Pferde heimlich vor den Park leiten wolle, der alte Jäger aber, der alle Pfade im Lande kenne, werde, ohne zu irren, sie die verborgensten und besten leiten.
»So geh', mein getreuer Ritter,« sagte Jakobine, indem sie seine rauhe Hand umschloß. »Wie oft hast Du Deine Dame nächtlich durch die Haide geführt, wie oft für ihre Sicherheit gesorgt und gewacht, und welcher Dank soll Dir werden, welcher Dank!«
»Still davon,« murmelte Lecombe. »Es ist Todsünde und Verbrechen, ich weiß es wohl, aber kann ich es ändern, wenn Sie es befehlen? Ach! Sie wissen zu gut, daß Ihr Wink und Wort mich durch Feuer und Wasser treibt.«
Er entfernte sich rasch und Jakobine lehnte sich auf Eduard's Schulter. Schweigend sah sie in die blaue stille Nacht. Es kam ihm vor, als weine sie leise, bis sie endlich traurig sagte:
»Armselige Menschheit, wie viel Leiden ziehst Du groß, wie viel heiße und nie erfüllte Hoffnungen müssen begraben werden, wie viel treue, ach! wol die allertreuste Liebe stirbt still und unbelohnt! Laß uns festhalten!« rief sie heftig, »laß uns sterben, wenn wir nicht leben dürfen, aber schwöre mir, ja schwöre, daß Du mich ewig lieben willst, daß kein Schicksal uns trennen soll, kein Blendwerk der Menschen, kein Geschrei von Sünde und Verbrechen, ja, daß Deines Vaters Fluch selbst keine Macht haben soll über uns.«
Wie gern schwur Eduard heilige Liebesschwüre, und so in Jakobinens Armen fand ihn Lecombe, als er nach einiger Zeit mit der Nachricht zurückkehrte, daß die Pferde und André ihrer warteten.
»Der Gedanke, den einzigen Sohn seines geliebten Herrn zu befreien, ist mächtiger als seine mörderischen Vorsätze,« sagte Lecombe; »er hat sie wenigstens aufgeschoben; Sie sind sicher vor ihm, er wird uns den Weg zeigen.«
Sie traten durch die Pforte, André in seinen Mantel gewickelt hielt zu Pferde, und kaum hatten sie die Thiere bestiegen, als er ohne ein Wort zu sagen davonsprengte und es den Andern überließ, so gut sie konnten, ihm zu folgen. Schnell verfolgten sie den Weg gegen Osten mitten durch die Wiesenstriche, wechselnd auf breiten Straßen, oder auf schmalen, halsbrechenden Pfaden, durch Sümpfe und Gehölze, die im raschen Zuge hinter ihnen blieben. Bald näher, bald weiter voran ritt der alte gespenstische Jäger, der, als der Mond gesunken war, dafür eine Laterne anzündete, die er an einem langen Stocke wie ein Panier trug.
Jakobine wurde auf dem schwankenden Sattel von Eduard unterstützt, der an jeder besorglichen Stelle ihr Pferd leitete und ihr tröstende frohe Worte sagte, wenn Weg und Nacht es gestatteten. Hinter ihnen folgte Lecombe ganz still, und wenn das Fräulein von Lancy nach ihm umblickte, sah sie zuweilen beim Lichtschimmer in seine großen funkelnden Augen, die starr auf sie gerichtet waren. Sie wagte keine Frage zu thun.
Endlich röthete sich der Morgen und brachte neue Hoffnungen in die Herzen. Fern zur Seite wanden sich die Hügel und Wälder der Bocage, vor ihnen dampfte das weite Land, und wo die Nebel dunkelblau und dicht den Gesichtskreis ganz umhüllten, da lag die Loire verborgen und St. Florent, so sagte wenigstens der alte André, der dann mit der Hand südlich hinabdeutete, wo er die Thurmspitzen von Nantes erblicken wollte.
Jakobine war sichtlich erschöpft von den harten Anstrengungen dieser Nacht. Seele und Körper litten gleichzeitig, aber der starke Wille richtete Beide wieder auf. Um ihren blassen Mund schwebte ein Lächeln, und ihr umschleiertes Auge wurde hell, als sie Eduard bedeutungsvoll die Hand reichte, und aufhorchend in den Nebel sah, aus dem verworrenes Geräusch, wie fernes Waffengeklirr und Schritte von Menschen und Thieren hervordrängen.
»Fort! dort hinein in das Gebüsch,« flüsterte André, »wir sind auf eine Streifwache der Blauen gestoßen.«
Aber Jakobine ließ sich davon nicht aufhalten.
»Um so besser,« sagte sie ruhig, »die sind es ja, welche wir suchen,« und hastig trieb sie ihr Pferd an, daß es schnell mit ihr vorauseilte.
Plötzlich zerrissen Wind und Sonne die Nebelwand. Die grünen Thäler brachen wie durch Zauber aus der Umhüllung. Da lag ein Meierhof zu ihren Füßen, im Kranze alter Buchen, dort hoben sich ferne Thürme und die silbernen beweglichen Glieder der Loire mit ihren Segeln und Wimpeln und eilenden Schiffen streckten sich bis an den fernsten Horizont. Doch vor ihr im Grunde ging ein ganz anderes seltsames Schauspiel vor, worüber sie alles vergaß.
Zwei verschiedene Reihen von Soldaten standen sich gegenüber. Auf der einen Seite blitzten Säbel und Helme und die blanken Knöpfe der blauen Uniformen, auf der andern ragten über die kleinen Pferde und kitteltragenden Reiter lange Lanzen hervor. Mitten zwischen den beiden Reihen aber standen einige Officiere, die sich die Hände schüttelten. Ein junger schlanker General hielt einen jungen Mann im blauen Rock und Federhut in seinen Armen, der plötzlich Jakobinen erblickte, auf sie deutete, dann sein Pferd bestieg und schnell herbeisprengte. Es war Charette.
Mit einem raschen Blick schien Charette Alles zu begreifen, und ohne Erstaunen zu zeigen rief er lachend:
»Bei Gottes Thron! ich habe davon geträumt, es mußte so kommen. Das strenge Fräulein von Lancy wird die Erste sein, welche zu den Blauen übergeht und uns gute Aufnahme verschafft.«
»Herr Marquis,« sagte Jakobine mit Stolz, »ich habe eine heilige Pflicht zu erfüllen.«
»Nichts davon, schöne Bürgerin!« fiel Charette ein, und sein häßliches Gesicht mit den blitzenden Augen drückte den schärfsten Spott aus. »Es ist vorbei mit dem Marquis, aber der Bürger Charette vergibt Ihnen von Herzen gern, daß Sie seinen Gefangenen geraubt und hoffentlich bekehrt haben.«
Er hörte nun still an, was Jakobine sagte, den Tod ihrer Mutter, die Gefahr ihres Bruders, und ihren festen Entschluß, ihn zu befreien.
»Ich habe auch daran gedacht und dafür gehandelt,« sagte der Marquis. »Ihr Oheim Sapinaud war jedoch für jetzt noch nicht zu bewegen, die Schritte zu thun, welche ich ihm vorschlug. Denn der Einfluß des heiligen Bischofs Bernier hat wieder einmal mächtig auf seine Entschlüsse gewirkt, und so opfert er Neffen und Nichte für leider unerfüllbare Hoffnungen.«
Er sagte diese letzten Worte halb laut und blickte auf sein Gefolge und die fremden Offiziere, welche ihre Pferde bestiegen hatten.
»Es ist Zeit!« rief er dann. »St. Florent liegt drei, vier Stunden dort hinaus. Eilen Sie voraus, Niemand kann kräftiger für Sie sprechen, als der Bürger Leprieur, keine Stimme wird mächtiger wirken, als die seine.«
Er winkte ihr scheidend zu und eilte zurück, die Reiter aber schlugen rasch den Weg gegen das Stromthal ein, und bald war der alte hohe Thurm von St. Florent mit dem spitzen Knopfe ihr Wegweiser. Menschen zeigten sich in der Ferne, auch Soldaten, die eine Postenkette zu bilden schienen, aber Niemand hielt sie an. Es schien, als sei plötzlich der Friede Tatsächlich wurde der Vendée-Krieg am 13. Februar 1795 durch den Vertrag von La Jaunaye vorerst beendet, flammte jedoch in demselben Jahr im Frühsommer wieder auf und wurde erst im Juli 1796 beigelegt, wiederum nur vorläufig, denn 1798-1800 gab es erneut einen Aufstand, und auch während der 100-Tage-Herrschaft Napoleons 1815 sowie 1832, als die Herzogin von Berry für den legitimen Anspruch ihres Sohnes Henri als König Henri V. kämpfte, kam es in der Vendée zu Rebellionen. vom Himmel gestiegen, mitten in das wilde Kriegsland; ein freudiger Glaube kam immer heller in die Herzen. Endlich richtete Jakobine den muthvollen Blick auf ihren Begleiter.
»Ja, Du wirst ihn befreien,« sagte sie. »Der Himmel ist blau, die Sonne golden rein, Gottes Auge wacht über uns. Ich werde Euch einig sehen, die Söhne zweier Väter, die sich liebten und tödtlich haßten, vereint durch das Band einer neuen Liebe, die groß und allmächtig in uns aufgewacht ist, um die alte Schuld zu sühnen.«
»Glaube mir, meine geliebte Jakobine,« erwiderte Eduard, »daß mein Vater trostlose Kämpfe gekämpft hat. Nie haben seine Lippen sich zu einer Klage geöffnet, nie hat er den Namen Lancy genannt, aber als Dein Bruder vor ihm stand, sah ich ihn beben; sein stolzes Gesicht war todtenbleich, er zitterte, ein ungeheurer Schmerz lief durch seine Züge. Es war ein Vorwurf gegen den Himmel, daß der Sohn des Mannes, den er geliebt, nun auch von ihm gerichtet sein sollte.«
»Gerichtet!« sagte Jakobine mit leiser dumpfer Stimme.
»Welche Liebe, welche Freude erhellte seinen Blick,« fuhr Eduard fort, »als ich ihm zurief: ich kenne den Versteck, der Euch verberge. Sein Auge ruhte zärtlich auf mir, es sagte mir, was es wolle, daß er angstvoll Euch alle zu retten suche, daß er nie das Blut des Knaben vergießen werde, dem er den Vater nicht erhalten konnte.«
In diesem Augenblicke rollte der Donner einer Musketensalve über die Ebene hin. Der Rauch stieg von einem buschigen Platze auf, hinter dem die letzten Häuser des Fleckens lagen, dem sie sich genähert hatten, und heftig erschrocken hielten sie an.
Jakobine schwankte auf dem Pferde, dann richtete sie sich geisterbleich auf.
»Grausamer Mann!« sagte sie; »wehe uns allen! es ist zu spät. Meine arme Mutter hatte Recht: Er hatte den Vater seiner Wuth geopfert, er verschonte nicht den Sohn.«
Mit heftigen Streichen trieb sie das Pferd vorwärts.
»Halt an!« rief Leprieur verzweiflungsvoll, aber sie hörte ihn nicht, und nach wenigen Minuten war sie auf dem Platze der blutigen That.
Die dicht verschlossenen Reihen der Soldaten öffneten sich vor ihr, da standen Officiere, da stand der hohe ernste Conventscommissair, abgewendet von den Männern, die einen Leichnam vom Boden aufheben wollten. Jetzt sprang sie herab zwischen die Träger und riß den Körper aus ihren Händen. Sie kniete an seiner Seite nieder, bedeckte sein blasses Gesicht mit ihren Küssen und barg das blonde stille Haupt an ihrer Brust. Keine Klage war zu hören, keine Thräne benetzte ihr heißes Auge, starren Blickes schien sie in den friedlichen Zügen des Todten zu lesen.
Plötzlich hörte sie freudiges Geschrei. Sie warf einen strengen Blick auf die wirre aufgelöste Masse der Republikaner und sah Eduard in den Armen seines Vaters.
Der Conventscommissair hielt ihn fest an sich gepreßt, sein charaktervolles Gesicht drückte ein Gemisch von Glück und Leid, von tiefer Bewegung und kaltprüfender Ruhe aus. Wie Sonnen- und Gewitterblitze liefen die Regungen seiner Seele durch die strahlenden Augen, und plötzlich ward es Nacht darin; eine Thräne fiel langsam aus den ergrauten Wimpern und tropfte heiß auf die Stirn seines Sohnes.
»Mein Eduard!« rief er zitternd, »Bürger Leprieur, wo warst Du? Wer – wer gibt mir meinen Sohn zurück? Gottes Segen, der Segen eines Vaters soll ewig mit ihm sein!«
Da wendete sich der Sohn langsam gegen die knieende Gestalt und deutete schweigend auf sie bin. Leprieur that einen Schrei, dann blickte er Jakobinen fest und lange an, traurig seufzend ließ er die Arme sinken.
»Die Schwester,« sagte Eduard dumpf, »gibt Dir für die Leiche ihres Bruders Deinen Sohn wieder. Den Vater hast Du ihr genommen, die Mutter starb in Gram, und dort liegt der arme Knabe, der mit seinem jungen Leben unschuldige Schuld bezahlt hat. Fluch, ewiger Fluch dem Fanatismus, der durch Blut und Gräber Glück und Freiheit bringen will!«
Da richtete sich der Conventscommissair drohend auf; seine Augen schienen Blitze zu sprühen, seine stolze, hohe Gestalt schien überirdisch erhaben.
»Hüte Dich, Bürger Leprieur!« rief er. »Klage mich an, wenn Du es vermagst; vor Gott und Menschen will ich Rede stehen. Das Gesetz ist heilig und groß; ich that meine Pflicht, eine schwere, gräßliche Pflicht; ich bin ruhig.«
Der Sohn stand dem Vater gegenüber, die Hände geballt, Körper und Seele in Aufruhr, Zorn und Entsetzen in jedem Nervenzucken ausgeprägt, und vor ihm der große, greise Mann, ein melancholisches Lächeln in dem farblosen kalten Gesicht.
In diesem Augenblicke sprengte eine Reiterschaar auf den Platz, an ihrer Spitze der junge General und neben ihm Charette. Die Soldaten erhoben ein Freudengeschrei und umdrängten sein Pferd; er winkte sie zurück, warf einen Blick auf den Platz, auf den Todten, dann ging er mit festen schnellen Schritten auf Leprieur zu, während sein Sohn theilnahmlos an der Brust des großen Ribourg lag, der ihn, wie eine Mutter, zärtlich küßte und ihm schmeichelte, bis sein Schmerz Thränen hatte, die in den wilden Bart seines Freundes tropften.
»Ich komme zu spät,« sagte der General mit strafendem Ernst, »mag es das letzte schuldlose Blut sein, das hier vergossen wurde!«
»Wer wagt das zu behaupten?« erwiderte der Conventscommissair. »Bürgergeneral Hoche, ich werde Dich zur Rechenschaft ziehen.«
Hoche sah ihn finster an.
»Du hast Recht, Bürger Leprieur,« sagte er, »blutige Gesetze wollen Blut, aber der traurige Bürgerkrieg ist beendet. Gib nun selbst Deinem Gewissen Rechenschaft und folge dem Gesetz. Der Convent, der mir den alleinigen Oberbefehl in diesem Lande übergibt, befiehlt Dir sogleich nach Paris zu eilen und Dich dort vor Deine Richter zu stellen.«
Er übergab ihm ein Papier. Leprieur las es, dann gab er es gelassen zurück:
»Die Nation befiehlt durch ihre Abgeordneten, ich gehe. Will sie mein Haupt, sie nehme es, ich fürchte das Gesetze nicht. Es lebe die Republik!«
Plötzlich blickte er auf seinen Sohn, der sich von Ribourg entfernt und Jakobinen genähert hatte, die, von Lecombe unterstützt, an der Leiche stand. Tief seufzend bedeckte er sein Gesicht.
Eduard kniete vor ihr nieder und bedeckte ihre Hände mit seinen Küssen.
»Leb' wohl, Jakobine,« sagte er, »es ist vergebens, die Zeichen des Himmels waren nicht für uns. Es war Lüge, Täuschung, so lebe denn ewig, ewig wohl!«
Sie warf einen Blick in den Himmel hinauf voll Licht und Sonnenschein, und eine edle Schwärmerei füllte ihre Augen.
»Wer hat es Dir gesagt?« erwiderte sie leise. »Singen es die Vögel, strahlt es die ewige Bläue aus, spricht es das lebendige Grün und die Blumen hier, oder steht es in den blassen Zügen dieses geliebten Todten, daß ich Dich hassen soll, weil Du unschuldig unglücklich bist, wie ich? Ich bin allein in dieser weiten Welt, ganz allein!« rief sie und hob die Hände betend auf, »ich habe Niemand als Dich. Verlaß mich nicht, Du hast es geschworen! Haß versöhnt die blutigen Thaten nicht, aber Liebe, große, schöne, vergebende Liebe, und ich liebe Dich um so inniger, mein armer theurer Freund!«
Wie sie an seinem Herzen lag, fuhr Eduard plötzlich auf; seine Lippen vermochten nicht zu sprechen, zitternd. deutete er auf seinen Vater.
Jakobine nahm Eduard's Hand und führte ihn zu ihm.
»Bürger Leprieur,« sagte sie tief athmend, und eine Röthe trat lieblich in ihr bleiches Gesicht. »Dunkel sind die Wege Gottes, aber sein Athem ist Liebe und Versöhnung. Hier bin ich, Bürger Leprieur. Meine Aeltern sind todt, ich fordere sie zurück von Ihnen. Nehmen Sie mich auf, mein Vater, ja, ich will Ihr Kind, Ihre treue Tochter sein.«
Da brach das stolze Herz Leprieur's. Er hielt sie in seinen Armen fest und innig, seine Küsse bedeckten sie.
»Ich will ersetzen!« rief er mit Anstrengung, »meine Liebe soll Dir wiedergeben, was ich Dir genommen, Vergebung, Versöhnung, Du geliebtes Kind!«
Jakobine wollte seine Liebkosungen erwidern, aber die Kraft verließ sie, ohnmächtig lag sie an seiner Brust.
In diesem Augenblicke durchbrach ein Mensch den Kreis, dessen Züge wahnsinnige Wuth ausstrahlten. Es war André, der ohne einen Laut, das Feuerrohr in seiner Hand, auf die beiden abdrückte. Ein Schrei des Entsetzens und die Rache folgte der schnellen That, in der nächsten Minute war der Mörder von Bayonnetten und Säbeln durchbohrt, ein zerstörter, zersetzter Körper; Andere umringten tobend den kleinen Platz, auf welchem Leprieur noch immer Jakobinen in den Armen hielt, während Eduard an der Seite eines Mannes kniete, der blutend am Boden lag.
»Lecombe!« rief er wehmuthsvoll, »treuer Freund, Du warfst Dich dem Mörder entgegen, Deine Brust fing den Tod auf, der mich treffen sollte. Welcher Lohn, welche Vergeltung!«
Der Sterbende schien zu lächeln, und indem er zurücksank, flüsterte er leise:
»Liebe sie, wie ich!«
»Bürger Hoche,« sagte Leprieur, »Dir liegt es ob, diesen Vorfall zu untersuchen und an den Convent zu berichten. Verheimliche nichts, suche meine Thaten auf, höre Die, welche mich anklagen, ich will es selbst thun. Mit diesem Mädchen an der Hand, der Tochter des Vicomte Lancy, und mit meinem Sohne, werde ich vor meine Richter treten, und mich vertheidigen. Lebe wohl!«
Er entfernte sich, Hoche blickte ihm schmerzlich lächelnd nach.
»Da geht er hin,« sagte er, »stolz wie ein angeklagter Proconsul Roms. Heil meinem Vaterlande, daß es solche Männer zeugt! Wehe ihm, daß ihr hoher Freiheitssinn so blutig sich selbst zerstören muß!«
»Und wir?« sagte Charette.
»Wir gehen nach Nantes,« erwiderte Hoche kalt. »Sie sollen Ihren feierlichen Einzug dort halten, Bürger Charette.«
In Dijon starb Leprieur; nach seinem Tode wanderte sein Sohn und dessen junge Gattin nach America aus.