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[Zweiter Theil.]
Es schlug neun Uhr und der junge Doctor Stern legte mit einem Seufzer die Feder aus der Hand und stand von seinem Schreibtische auf.
Es will heute nichts werden, sagte er, und strich über die gefaltete Stirn; meine Therapie der Kinderkrankheiten hier fände die beste Anwendung auf mich selbst. Ich bin ein Kind und bin krank, und bin ein Arzt und habe keine Hülfe für mich. Zum Wetter! Warum habe ich keine Hülfe? fuhr er ärgerlich fort. Ein rascher Entschluß, ein einziger, rascher Entschluß, und ich schwimme wieder in der lebendigen Fluth und lasse den faulen Sumpf thörichter Empfindungen hinter mir.
Es klopfte an die Thür und ein junger eleganter Mann trat herein. Die ernste Geschäftsmiene des Arztes erheiterte sich, als er den Fremden sah, und mit dem freundlichsten guten Morgen ging er ihm entgegen.
Wie erscheinst Du, Forstberg, sagte er, als Freund oder Feind, als Patient oder Besuch?
Eigentlich als Beides, erwiderte der Andere, aber das Zweite mehr als das Erste.
Dann mach' es kurz, versetzte Stern; setze Dich, laß uns plaudern, während ich mich ankleide. Mein Wagen muß sogleich hier sein.
Welche Eile! sagte Forstberg lachend. Du thust plötzlich, als wäre Dein Krankenzettel sechs Bogen lang und die halbe Stadt schmachtete nach dem Rettungsengel in Gestalt eines blonden Zöglings des Aeskulap, vor dem alle Todtengräber ehrerbietig die Mützen ziehen.
Was weißt Du davon? entgegnete der Doctor. Du bist ein junger Finanzrath, der nichts zu thun hat; der täglich pflichtmäßig seine drei Federn zerkaut, die Finanzen des Staates Gott anheim stellt und über die eigenen nicht weiter nachzudenken braucht; denn der Herr hat in seiner Weisheit dafür gesorgt, daß dies ein für alle Mal nicht nöthig ist.
Da irrst Du sehr, versetzte der Rath lachend; denn eben komme ich, um Dir mein Glück zu verkündigen. Meine Tante, die Oberhofmeisterin, ist gestorben und hat, wahrscheinlich aus Furcht vor dem Tode, trotz alles Hasses gegen mich, den Verschwender und Bonvivant, kein Testament hinterlassen. Ergo bin ich ihr nächster und einziger Erbe, ergo habe ich ein schönes Haus und ein Vermögen von siebzig bis achtzigtausend Thalern, ergo habe ich künftig für sehr anständige Finanzen zu sorgen, und ergo kann ich jetzt wohl Ansprüche auf eine reiche liebenswürdige Finanzräthin machen, welche mein Herz, meine Hand, mein Haus und alle die alten mit Silber, Glas, Kupfer, Leinen und Betten vollgepfropften Schränke in Empfang nimmt.
Der Doctor seufzte leise, indem er seinem Freunde gratulirte.
Ich wollte wohl, sagte er, daß der Himmel mir auch eine solche Tante beschert hätte; aber meinetwegen kann die ganze Welt sterben, und ich erbe keinen Pfennig.
Dafür, versetzte Forstberg, nicht ohne einigen Spott, bist Du auch der Sohn Deiner Thaten, Deiner eigenen Tugenden, und hast eine glänzende Praxis, welche keines Vermögens bedarf.
Spotte immerhin, erwiderte Stern; dennoch sagst Du die Wahrheit, und diese ist der Stolz meines Lebens. Ich habe es niemals geleugnet, daß meine Eltern ganz mittellose Handwerker sind; daß ich aus der Armenschule durch glückliche Zufälle in eine milde Stiftung kam, aus deren Fonds ich studirte und durch Stundengeben und Dissertationenschreiben mir das Geld zur Promotion verschaffte. Nun habe ich nach mancher trüben Zeit mein Brot, und sogar eine Praxis, die hinreicht, Equipage zu halten, ein theures, aber nothwendiges Uebel bei einem Arzte, eine Albernheit, zu welcher uns die flachköpfige Menge zwingt, welche das Vertrauen weit mehr in Pferde und Wagen, als in den Mann setzt.
Ich weiß recht wohl, wie Du Fuß- und Armendoctor warst, sagte Forstberg lachend, und bei jedem Bilderladen eine halbe Stunde standest, um nur die Zeit auszufüllen; bis endlich mit einem Male der Geheimerath von Pinzer Dich mitten in der Nacht rufen ließ und seine Empfehlungen Dir eine Reihe von Häusern öffneten.
Stern erröthete leicht und stimmte dann in das Lachen seines Freundes ein. Ich habe dem würdigen Herrn viel zu danken, sagte er, aber sieh hin, bin ich etwa besser daran? Ich habe jetzt eine Praxis, die einige tausend Thaler einbringt, aber ich muß Pferde halten, besser wohnen, besser leben, mich in großen Gesellschaften bewegen, und habe so viel mit Andern zu schaffen, in so viele Launen mich zu schicken, um weiter zu gelangen, daß ich, mit diesen Plackereien beschäftigt und geärgert, wenig mehr an mich selbst denken kann.
Ein Arzt soll nur für die Menschheit leben, erwiderte Forstberg, das ist sein Beruf; allein man hat mir gesagt, daß Du Deine Zeit doch nicht ganz so uneigennützig verthust, als Du vorgibst.
Wie meinst Du das? fragte Stern verlegen.
Je nun, erwiderte der Rath, gerade heraus, man sagt, Du seist seit einiger Zeit so nachdenkend, so zerstreut, so sentimental gestimmt, mit einem Worte: verliebt bis über die Ohren und zum Heirathen aufgelegt.
Wer sagt das? erwiderte der Doctor.
Die ganze Welt, rief der Rath. Warum verstimmt Dich das? Du hast Deine Dreißig auf dem Nacken, warum solltest Du nicht daran denken, Hausvater und Eheherr, Pantoffelheld und Kinderzüchter zu werden?
Und welche Schönheit bürdet mir denn diese alberne Welt als Königin auf? fragte Stern.
Forstberg war aufgestanden und ergriff seine Hand.
Nun kommt die ernsthafte Seite des Scherzes, sagte er. Ich weiß, mein Freund, welche lange und theure Bande Dich an die arme Rosalie knüpfen; ich weiß, daß Du diesem Mädchen vielleicht Alles schuldig bist, was. Du geworden. Du hast Jahre lang an ihrer Eltern Tisch gesessen, sie hat Dich aufgerichtet, wenn Dein Muth sank, Dich getröstet, wenn Du verzagen wolltest. Alles in der Hoffnung einer Zeit, die ihre Liebe belohnen sollte.
Ich habe ihr nie ein bindendes Versprechen gegeben, sagte Stern rasch.
Forstberg sah ihn durchdringend an.
Ich glaube, sagte er dann, dessen bedurfte es nicht, bei einem so innigen Verhältniß als das Eurige und bei Deinem Charakter. Ich bin mein Leben lang ein Mensch gewesen, dem das heiße Blut Streiche gespielt hat. Ich habe mich unbesonnener Weise zwanzig Mal verliebt, mit dem festen Vorsatz zu heirathen, und wenigstens sechs Mal dies meinen verschiedenen Geliebten feierlich erklärt. Aber nach vier Wochen wußten wir beide immer mit positiver Gewißheit, daß nichts daraus werden könnte. Du bist dagegen ein ernster und ordnungsliebender Mensch, ein Mann, dessen Blick mehr gilt, als meine Jugendschwüre, und Deine Liebe kann nicht durch Versprechungen sicherer gemacht werden. Rosalie hat Dir fest vertraut, auch ohne Erklärung und Niemand setzt vier Jahre lang eine Bekanntschaft fort, ohne ein Ziel zu haben, das Ziel des Besitzes, eine Heirath, die Lösung aller Liebesknoten.
Man sagt also, daß ich Rosalien heirathen werde? fragte der Doctor.
Das sagt man eben nicht, erwiderte der Rath. Das zärtliche Verhältniß des armen Fußdoctors mit der Tochter eines wenig bemittelten Malers, der den Professortitel führt, ist nicht bekannt genug. Wenige nur erlauben sich zu bemerken, daß seit einem halben Jahre, wo Du Equipage hast, Du sehr selten bei der Familie erscheinst, die Meisten aber schwören darauf, Du habest Deine Augen auf Fräulein Sidonie von Pinzer geworfen und würdest nächstens ihr Ja empfangen!
Erfindungen, Lügen! rief Stern und drehte sich zum Fenster um, dem Freunde sein verlegenes Gesicht zu verbergen.
Sieh mich an, sprach Forstberg, Auge in Auge und heraus mit der Sprache. Sidonie ist ein schönes Mädchen, und ich verdenke es Dir nicht, wenn Du etwas für sie empfindest; ich glaube, daß ihr Herz vortrefflich ist, aber sie ist vornehm erzogen, ihr Vater ein wichtiger und einflußvoller, aber kein reicher Mann, und dies Kind ein wenig launenhaft, verzogen im Genuß, und durchaus nicht passend für Deinen einfachen Charakter, für Deine Strenge, Deinen Sinn für Ordnung und Häuslichkeit. Sidonie muß einen reichen Mann haben, einen Mann, der eine Dame will, welche den Honneurs seines Gesellschaftskreises mit bewunderungswürdigem Geschmacke vorsteht. Hier steht dieser Mann, Stern!
Du? sagte der Doctor verwirrt.
Ja, ich! erwiderte der Finanzrath. Ich bin plötzlich reich geworden, und kann diese Launen, die Verzogenheit des Genusses ertragen. Ich liebe Sidonien, und wenn es wirklich wahr ist, daß die Welt Erfindungen gemacht und Lügen berichtet hat, so bin ich entschlossen, um ihre Hand zu werben.
Und ist dieser Entschluß, sagte der Doctor ruhig, auch so schnell gekommen wie Dein Geld?
Mit dem Gelde kam er, rief der Rath. Arm, wie ich war, hätte ich sie weder bekommen noch genommen; denn wer Sidonien will, muß Geld haben. Aber, wie es jetzt steht, ist sie ein kostbarer Schatz für mich! Geistreich, fröhlich, fein gebildet, und der Papa von Einfluß, das ist eine Parthie für mich, die eben so glücklich ausfallen muß, wie Deine Verbindung mit der liebenswürdigen, häuslichen, ernsten Rosalie; die gerade so ihre sichere Verständigkeit zu der Deinen hinzubringt, wie mein leichter Weltsinn zu Sidoniens Flüchtigkeit paßt. So ist denn Alles abgethan, fuhr er fort, und, ergriff die Hand seines Freundes, der ernst und stumm vor ihm stand, und es kommt nur darauf an, das Herz meiner Sidonie zu gewinnen.
Darin, fürchte ich, kommst Du zu spät, sagte Stern kalt.
Und wer soll mir zuvorgekommen sein? fragte Forstberg.
Ich, sagte der Doctor ruhig.
Der Rath sah ihn erstaunt an. Also doch? rief er. Du straftest die Welt Lügen und logst selbst.
Weil Du mich drängst, hörst Du nun die Wahrheit, versetzte der junge Arzt. Ich werde das Fräulein von Pinzer heirathen.
Darfst Du das? rief Forstberg. Kannst Du Dein Gewissen beruhigen?
Vollkommen, erwiderte Stern. Ich habe an Rosalien nie das Versprechen der Ehe gegeben; niemals, das schwöre ich! Unsere Liebe war stets eine zarte und reine Freundschaft, ohne eine Beimischung begehrlicher Leidenschaften. Es ist möglich, daß ich dennoch früher Gedanken hegte, welche auf Heirath gingen, daß Rosalie auch dies glaubte, und unsere lange Freundschaft uns gegenseitig damit vertraut machte. Allein ich bin es mir schuldig, diese Träume nicht zwischen mich und meine Zukunft treten zu lassen. Sieh, fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, es leiten uns Beide ganz entgegengesetzte Verhältnisse. Wäre ich unabhängig, reich und über die niedern Verhältnisse gestellt, wie Du es durch den Tod Deiner Tante nun bist, ich würde, wenn nicht die Liebe, doch die Dankbarkeit walten lassen, und Rosalien meine Hand reichen. Nun aber bin ich arm und muß mich mit einer Familie verbinden, deren Einfluß mich hebt.
Also diese Rücksichten bestimmen Dich? sagte Forstberg verächtlich.
Keineswegs, versetzte der Arzt schnell, wenigstens gewiß nicht mehr als Dich. Ich liebe Sidonien; allein ich verknüpfe mit dieser Liebe auch die Anforderungen der Vernunft. Ich bin niemals ein Raub der Leidenschaft geworden, meine Lehrjahre des Lebens sind zu schwer gewesen, und nur die Thorheit der Jugend kann verlangen, daß ich Zukunft und Aussichten opfere, um ein Mädchen zu heirathen, welche nichts hat als ein Herz.
Das Du nicht nöthig zu haben glaubst, sagte Forstberg bitter.
Der Arzt sah nach der Uhr und ergriff den Hut. Ich muß eilen, sagte er, Du wirst mich entschuldigen.
Geh hin, rief der Rath zornig, heile anderer Leute Schmerzen, Du wirst bald genug vergebens einen Arzt für die Deinen suchen. Aber höre mich an, Stern. Hast Du das Jawort des Geheimeraths?
Bis jetzt noch nicht; allein ich glaube keine Fehlbitte zu wagen.
Und weshalb glaubst Du das?
Man will mir wohl, sehr wohl, versetzte der Doctor, und diesem Wohlwollen verdanke ich nicht allein die Nachsicht, mit welcher die Eltern meine Gefühle für Sidonien betrachten, sondern auch die Gewißheit, daß in wenigen Tagen meine Ernennung zum Medicinalrath erfolgen wird. Seit dieser Woche behandle ich auch den Prinzen Gustav und es kann nicht fehlen, daß ich zum Leibarzt ernannt werde. Sieh, mein Lieber, das Alles sind die ersten Früchte meiner verständigen Lebensklugheit, und nun sage selbst, soll ich das Alles aufgeben, um, kaum hervorgegangen zu einer Existenz, in den Schlamm zurückzusinken? Ein großer Theil meiner Patienten ist mir nur durch die Empfehlungen des Geheimeraths zugekommen; ein Wort von ihm und ich habe sie verloren. Ein Arzt muß wichtige Verbindungen suchen; heirathete ich jedoch Rosalien, so wären die meisten der Kreise, in welchen ich mich bewege, mir für immer verschlossen. Es mag unrecht sein, daß ich diese Bekanntschaft vier Jahre lang fortsetzte; allein kann man verlangen, daß ich einer Unbesonnenheit halber eine Thorheit begehe?
Die Welt verzeiht weit eher eine Nichtswürdigkeit, sagte der Rath. Du hast Recht.
Es ist ein großes Unglück der Jugend, versetzte der Arzt seufzend, daß wir zum ersten Male fast immer mit dem unbedachten Herzen lieben, ohne die Vernunft dabei zu befragen. So knüpfen Tausende Verbindungen und heirathen dann entweder mitten in der Täuschung, oder sie kommen zum Bewußtsein und glauben, ihre Verirrungen, koste es, was es wolle, doch mit einer Selbstopferung gut machen zu müssen. In beiden Fällen bezahlen sie gewöhnlich die Rechnung mit ihrem Lebensglücke. Diejenigen aber, welche vernünftig genug sind, bei Zeiten das Unglück zu erkennen, und lieber das Gerede der Welt ertragen als elend sein und machen wollen, werden beschimpft und verdammt. Soll denn der reife Mensch büßen, was der unreife verbrach? Soll das Wort eines jungen sinnlosen Verliebten jede Ueberzeugung vernichten? Ist es nicht zehnmal menschlich wahrer und größer, selbst einen unvernünftigen Schwur zu brechen, als mit der prahlerischen Eitelkeit, ihn zu halten, alle bessere Einsicht über Bord zu werfen?
Der Rath sah schweigend vor sich hin.
Allerdings, sagte er dann, der ist ein Narr, der mit vollem Verstande, blos um Wort zu halten, in glühendes Blei springt, und eine unglückliche Ehe ist noch fürchterlicher. Aber es ist ein Unterschied, ob eine Wortbrüchigkeit aus dem Bewußtsein hervorgeht, unglücklich zu werden, weil man in der Raserei der Liebe nur die Schale, nicht den Inhalt prüfte, oder ob gemeiner Eigennutz, äußere Vortheile, Ehrgeiz und alle die traurigen, hochmüthigen Teufel, welche im Menschen wohnen, die edlen Gefühle ersticken. Mit solchen Sophismen vertheidigt man jede Schlechtigkeit unter der Sonne, und der Mörder selbst kann seine blutigen Hände in Unschuld waschen, und sich, wie Lacenaire Pierre-François Lacenaire (1803-1836), berühmter französischer Dichter, Verbrecher und Mörder. Er rebellierte schon in jungen Jahren gegen das Bürgertum, dem er entstammte, er wurde vom Besuch des Jesuiten-Kollegs ausgeschlossen, zog in seinen Schriften gegen die Kirche, das Militär und die Gesellschaft zu Felde und wurde schließlich ins Gefängnis eingeliefert, das er als »Hochschule der Kriminalität« betrachtete. Dort lernte er zwei Verbrecher kennen, mit denen zusammen seine Karriere als Gewaltverbrecher begann. Motiviert waren seine Verbrechen aus Gerechtigkeitsempfinden und der Verzweiflung an der Verderbtheit seiner Zeit. Seine Mordanschläge führte er mit Hingabe aus, als habe er eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber zu erfüllen, bis er wieder inhaftiert wurde. Lacenaire schrieb seine Memoiren in der Zeit zwischen seiner Verurteilung zum Tod im November 1835 und seiner Hinrichtung im Januar 1836. Er schildert darin die Motive zu seinen Mordtaten und prangert den Egoismus der Menschen und die Heuchelei und Verlogenheit der höfischen Gesellschaft seiner Zeit an, die ihn zum Verbrechen getrieben habe., eine Philosophie bilden, nach welcher er im vollen Recht ist.
Forstberg, sagte der Arzt mit großer Ruhe, auch die Sprache der vertrautesten Freundschaft hat ihre Gränzen; ich muß Dich bitten, diese nicht zu überschreiten.
Auch darin hast Du Recht, erwiderte der Rath, und ich will Dich nicht länger erröthen lassen, wenn Du es nicht vor Dir selbst kannst. Du bist also fest entschlossen, um Sidonien anzuhalten?
Ganz gewiß, erwiderte der Doctor.
Nun gut, rief Forstberg bewegt, so wollen wir sehen, wer die Braut davon trägt.
Er ging rasch hinaus und Stern blieb mit gefurchter Stirn in der Mitte des Zimmers stehen.
Endlich ist es entschieden, sagte er dann. Gott weiß es, welchen Kampf es mich gekostet hat. Aber es ist gut so, er weiß es, und bald wird es kein Geheimniß mehr sein. Die Menschen schwatzen, vergessen und trösten sich, und mein Bewußtsein sagt mir: Ich habe Recht!
Sidonie saß am Fenster und fütterte den Kanarienvogel in dem glänzenden Bauer, das auf dem zierlichen Nähtisch am Fenster mitten zwischen weiblichem Putz, Büchern und Journalen stand. Das reizende, weiße Morgenkleid und das feine Häubchen auf den blonden Locken erhöhten die schmachtende Schönheit der jungen Dame, die dann und wann einen Blick in den Toilettenspiegel warf und von den langen Wimpern die letzten Spuren des Schlafes entfernte.
Als die Thür sich öffnete, streckte sie dem eintretenden Vater mit freundlichem Gruße die Hand entgegen. Der Geheimerath war ein großer, starker Mann mit einem Gesicht voll Büreaukratie und Repräsentation. Ein stolzer Ernst lagerte sich in den Falten des Mundes, und das Bewußtsein seiner Macht und Wichtigkeit, wie die Gewohnheit, Befehle zu ertheilen, sprachen aus den breiten, kalten Zügen. Diese aber erheiterten sich und schmolzen in dem Ausdruck der Liebe und Nachsicht, als er sein schönes Kind erblickte. Er küßte ihre Stirn und drückte ihren Kopf an seine Brust.
O, Vater! rief Sidonie ein wenig empfindlich und machte seine liebkosenden Hände los, Du zerdrückst mir das neue Häubchen.
Du bist schon auf, mein Kind? sagte der Geheimerath; so früh? es ist kaum zehn vorüber. Wann bist Du denn von dem Balle gekommen?
Um zwei Uhr, erwiderte Sidonie. Ich habe nicht viel getanzt.
Das ist ein Wunder! rief der Geheimerath lächelnd. Sonst höre ich gewöhnlich das Entgegengesetzte.
Es war langweilig, sehr langweilig, sagte Sidonie gähnend, wenige Tänzer – nach meinem Geschmack. Der Beste von Allen war der Finanzrath von Forstberg, um den sich alles drängte, um ihm zu gratuliren. Er hat seine Tante, die Oberforstmeisterin, beerbt.
Wo ist denn Deine Mutter? fragte der Geheimerath.
Mama schläft wahrscheinlich noch fest,versetzte Sidonie.
Also Forstberg war der Tänzer, sagte der Geheimerath lächelnd, und der Doctor Stern war nicht dort?
Wenige Stunden nur, erwiderte Sidonie. Er wurde plötzlich abgerufen, der arme Stern; mitten vom Balle zum Krankenbette.
Der Geheimerath wendete in diesem Augenblick sich der Thür zu, durch welche seine Gemahlin hereintrat; eine stolze, vornehm blickende Dame, die seinen Gruß mit einem verwunderten Lächeln erwiderte.
Es befremdet Dich, mich hier zu sehen, sagte Herr von Pinzer; ich komme in Hausangelegenheiten, und es ist gut, daß wir Drei beisammen sind. Vor einer Viertelstunde erhielt ich von Forstberg einen Brief. Nun rathet, was darin steht.
Frau von Pinzer sagte lächelnd:
Es ist eine noble Erscheinung, dieser junge Mann, und er hat seit gestern in den Augen der beau monde eine höhere Bedeutung gewonnen. Auf dem Balle war er voll unerschöpflicher Artigkeit gegen Sidonien und mich, es läßt sich an dies Billet manche Vermuthung knüpfen.
Und was meinst Du denn, mein Kind? fragte der Geheimerath. Ahnest Du nicht, was dieser Brief enthält?
Jedenfalls etwas, was mich nicht kümmert, erwiderte sie erröthend.
Dich am meisten! rief der Geheimerath lachend, und ich seh' es in Deinem Gesichte, daß Du den ganzen Inhalt auf ein Haar kennst. Forstberg wirbt um Deine Hand; was sagst Du dazu, Sidonie?
Ich sage, versetzte sie rasch, daß er in diesem Falle sich lieber zuerst an mich, dann an Dich wenden sollte, und Du weißt, lieber Vater –
Ich weiß, ich weiß, rief der Geheimerath; aber dieser Antrag ist ehrenvoll, vortheilhaft, glänzend zu nennen.
Forstberg ist durch den Tod seiner Tante reich, sagte Frau von Pinzer.
Stern wird es durch seine Kunst werden, erwiderte Sidonie. Seine Praxis bringt schon jetzt wenigstens viertausend Thaler.
Die Forstberg's sind von sehr gutem Adel, sagte die Mutter mit bittender Stimme.
Er ist Finanzrath, fügte der Vater hinzu, jung, von einnehmender Gestalt, ein tüchtiger Arbeiter dabei, und mit meiner Protection kann eine schnelle glänzende Carrière nicht fehlen. Bedenke das wohl, Sidonie; die Frau Präsidentin von Forstberg klingt besser, als die Frau Doctor Stern.
Frau Doctor Stern! rief Sidonie lachend, furchtbar, höchst furchtbar und entsetzlich. Aber besser schon die Medicinalräthin Stern und dann die Geheimeräthin von Stern, und so weiter und so weiter. O, das läßt sich ja Alles auch machen, mein Väterchen.
Du bist sehr thöricht, mein Kind, sagte Frau von Pinzer. Forstberg ist eine weit annehmbarere Parthie, ein Glück, das Dir unverhofft zufällt.
Ich will nicht glücklich gemacht sein, sondern glücklich machen, erwiderte Sidonie leidenschaftlich. Ich liebe Stern, Forstberg ist mir gleichgültig. Stern ist mit seinem ernsten besonnenen Wesen, mit seiner Ruhe, seiner biedern Geradheit, der einzige wahre Mann, den ich kenne. Er hat sich aus niedern Kreisen emporgearbeitet, und das ist größerer Adel, als ein altes Pergament geben kann. Er weiß nichts von der abgeschliffenen Feinheit, er ist kein vorlauter Geck, keiner der gewöhnlichen Höflichkeitsnarren, und das macht ihn mir noch werther. Aber auch die äußern Vortheile sind auf seiner Seite. Was hat ein Minister Gehalt, lieber Vater?
Zwölftausend Thaler, sagte der Geheimerath.
Und was sagtest Du mir vor einigen Tagen, was brachte einigen unserer berühmtesten Aerzte ihre Praxis und so weiter?
Es sind mehrere, die vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzigtausend einnehmen, versetzte der Geheimerath lächelnd und überlegend.
Nun, rief Sidonie, mein Väterchen, was ist leichter: kann Forstberg eher Minister sein, oder Stern Geheimerath und geadelt und eine Einnahme von zwanzigtausend Thalern dazu?
Du bist mein kleiner Speculativus, rief der Geheimerath lachend und küßte sie; denn gegen diese Argumente läßt sich wenig einwenden. Stern ist ein ausgezeichneter Arzt; mich hat er vom Tode gerettet, und wohin ich ihn empfohlen habe, hat er Wunder gethan. Medicinalrath muß er in diesen Tagen werden, das Patent ist ausgefertigt, und lange soll es nicht währen, so kommt auch das liebliche Wörtchen: Geheimer! dazu. Daß er Leibarzt des Prinzen wird, ist ausgemacht, und ich müßte lügen, wollte ich nicht glauben, daß er in wenigen Jahren wenigstens soviel Geld einnimmt, als ein Minister Gehalt hat.
Folglich wird er mein Mann, und Forstberg empfängt einen Korb in bester Form, sagte das Fräulein entschlossen. Und Du, meine theure Mutter, Du willigst ein, Du willst das Glück Deiner Kinder.
Ich muß wohl, versetzte die Dame, und küßte die Tochter, welche schmeichelnd sie umarmt hielt. Aber ich kann mir nicht einbilden, daß Du glücklich sein wirst, meine geliebte Sidonie. Stern ist gewiß ein vortrefflicher Doctor und ein guter Mensch; doch, seine plebejische Abstammung, die Art sich zu benehmen, die eingeprägten Gewohnheiten, die nüchterne Verständigkeit dieses Mannes, der pedantische Zug seines ganzen Wesens, diese peinliche Ruhe und Kälte darin, alles ängstigt und beunruhigt mich.
Die leitende Hand fehlt ihm, rief Sidonie; laß mich nur sorgen, und Du sollst sehen, wie ich ihn bekehre.
Und er wäre der erste nicht, rief der Geheimerath fröhlich, der durch eine junge Frau völlig verwandelt wurde. Aber wie seid Ihr denn? Haben seine Gefühle denn schon die Schranken der Besorgniß zerbrochen; hat er Dir Geständnisse gemacht?
So halb und halb, erwiderte Sidonie. Aber es bedarf nur einer kleinen Ermunterung und der Strom bricht aus den Ufern.
Die Mutter wollte etwas erwidern, als ein Bedienter hereintrat und den Doctor Stern meldete.
Ueber Sidoniens schönes Gesicht flog ein glühendes Roth.
Laßt mich allein, sagte sie bittend; ich habe bis jetzt mit seinen Empfindungen gespielt, bin Erklärungen ausgewichen, allein ich glaube, der Augenblick ist gekommen.
Der Geheimerath faßte die Hand seiner Gattin und führte sie lächelnd hinaus. Sidonie setzte sich in eine Ecke des Sopha's und stützte den Kopf mit der Hand, als Stern hereintrat.
Sie finden eine Kranke, bester Doctor, sagte sie und lächelte ihm zu. Kopfschmerzen, Hitze, entsetzliche Wallungen; ich bin entzückt, daß Sie kommen.
Gewöhnliche Folgen der Anstrengungen eines Balles, erwiderte Stern mit einem leichten Vorwurfe.
Scheiten Sie nicht, sagte sie, ich verdiene es nicht, ich habe wenig getanzt.
Aber im leichten Anzuge haben Sie sich erkältet. Er faßte den Puls und prüfte ihn lange. Ein wenig Fieber, sagte er dann lächelnd; Strafe muß sein, Sie dürfen heut das Zimmer nicht verlassen.
Ich werde mich gehorsam zeigen, versetzte sie. Aber beim Diner muß ich erscheinen, mein Vater, der mich so eben verließ, kündete es mir an. Doch sein Sie ruhig! Es ist Niemand bei uns, als der Finanzrath von Forstberg, mein Tänzer von gestern. Wissen Sie, daß er ein großes Vermögen geerbt hat? Doch er ist Ihr Freund, und ich sage Ihnen nichts Neues.
Der junge Arzt ließ die Hand der schönen Kranken los, und eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht. Diese sichtliche Erschütterung war jedoch nur kurz; er richtete sich empor und sagte ruhig:
Forstberg ist ein so guter, trefflicher Mensch, daß ich ihm das größte Glück wünsche.
Er ist ein ausgezeichneter Gesellschafter, voll Witz und Laune, sagte Sidonie, ein vortrefflicher Tänzer, das merken Sie sich, Doctor!
Ich kenne meine Sünden, versetzte dieser demüthig, und in einem Wettkampf des Tanzes bin ich verloren. Ich bin auch nicht witzig, nicht launig und geistreich, fuhr er fort. Der liebe Gott hat mir eigentlich nur den Theil gesunden Verstandes gegeben, den ein schlichter Mann, wie ich bin, nöthig hat.
Und doch hat man mir gesagt, daß Sie auch Verse machen, rief das Fräulein schelmisch lachend.
Eine leichte Röthe färbte seine Stirn.
Welcher Mensch von Gefühl hätte nicht Stunden, erwiderte er, in welchen seine Phantasie einen edlen Aufschwung nähme; und der hohe Flug der Gedanken kleidet sich dann in eine Sprache, die, wie Lessing sagt, ganz Sinnlichkeit wird. Bei einem Menschen, wie ich, ist diese Poesie jedoch nur Reflexion, der Ausdruck von Empfindungen, die weit mehr aus dem geschärften Bewußtsein, als aus der begeisterten Seele stammen.
Und ist diese Seele nicht zu begeistern? fragte Sidonie.
Den Grad, welchen sie erreichen kann, hat sie jetzt erreicht, erwiderte Stern, und mit einem sanften Lächeln ergriff er Sidoniens Hand. Sie, meine Theure, Sie sind der Quell derselben, und in dieser Minute will ich erfahren, ob er traurig versiegen, oder lebendiger fortströmen soll.
Ein leiser Druck ihrer Hand schien ihn zu ermuthigen, er blickte bewegt zu ihr hin und begegnete ihren freundlichen Augen.
Soll ich es aussprechen, was mich ergreift, sagte er, darf ich es? Forstberg wirbt um Sie, Sidonie, auch ich; diese Gefahr gibt mir Muth, wählen Sie, entscheiden Sie, sprechen Sie ein Wort, ehe ich weiter rede. Ich bin gequält, beängstigt, ein Wesen auf der Schwelle des Glücks oder der bleichen Entsagung.
Stern, sagte sie, und eine Thräne glänzte plötzlich in den heitern Augen; Sie tragen einen poetischen, bedeutsamen Namen; warum soll ich nicht glauben, daß ein Zug des Himmels darin liege, daß der freundliche Stern meines Lebens mir darin winke?
So bin ich erhört, rief er, so habe ich mich nicht getäuscht. Sprechen Sie es aus, Sidonie, lieben Sie mich? Können Sie den einfachen armen Doctor dem reichen Finanzrathe vorziehen?
Ohne Antwort reichte sie ihm beide Hände. Einen Augenblick sahen sie sich entzückt in die glänzenden Augen, dann sank ihr Kopf an seine Brust, ihre Arme umstrickten sich und die Lippen besiegelten den Bund.
So fand sie der Geheimerath, der leise die Thür öffnete und seine Gemahlin nach sich zog. Verwirrt trennten sich die Liebenden bei dem Geräusch, und Stern stammelte einige Worte, die in dem lauten Lachen des Geheimeraths verloren gingen.
Wie, Doctor, rief er, gehört das auch etwa zu Ihrer Berufspflicht? In den Armen meines einzigen Kindes finde ich den jungen Herrn, hinter dem Rücken der Eltern?
Stern faßte Sidoniens Hand und führte sie dem Vater entgegen.
Können Sie dieser Fürbitterin widerstehen? sagte er. Ist es ein Fehler, daß mein Herz sich zuerst an die wandte, der es ganz gehören soll?
In meine Arme, meine Kinder, rief der Geheimerath. Mein Segen, mein ganzer Segen über Euch!
In einer seligen Minute schweigen alle die kleinen widerstrebenden Empfindungen, welche die Menschen trennen. Auch die Geheimeräthin vergaß ihre Einwände. Sie schloß den Schwiegersohn herzlich in die Arme, Thränen flossen, aber es waren Thränen, welche das Uebermaß des Glückes weint. Dann wurden die ersten Plane der Zukunft gemacht, das Fest besprochen, welches mit der feierlichen Verlobung sich verbinden sollte, es fielen Worte über die Größe der Ausstattung, über die zukünftige Einrichtung, über die Wohnung in der Nähe der Eltern, und abwechselnd folgten Scenen der Zärtlichkeit und Bekenntnisse der Liebe.
Als der glückliche Bräutigam einige Minuten mit Sidonien allein war, sagte er lächelnd:
Ich habe mich mit meiner Erklärung eigentlich selbst überrascht, ich bewundere meinen Muth, aber, was vorhergehen sollte, muß nun nachkommen. Sie müssen mich ganz kennen lernen, Sidonie, ganz, wie ich bin.
Er erzählte ihr nun sein Leben und sein Ringen mit den Verhältnissen, nur was Rosalien betraf, verschwieg er und deutete blos an, daß er im Hause des Professor Wolter lange gewohnt und treue Freundschaft gefunden habe.
Wolter, sagte Sidonie lächelnd, hat auch eine schöne Tochter, von der Sie nichts sagen.
Es ist ein liebenswürdiges Mädchen, erwiderte Stern, die manchen finstern Kummer von meiner Stirn scheuchte. Sie war meine Freundin und ist es noch. Mehr aber nichts, meine theure Sidonie, mehr war sie mir nie. Den Gesprächen der müßigen Leute kann man nicht entgehen, wenn man fast täglich eine Familie besucht, wo eine mannbare Tochter ist, aber Sie werden mir glauben.
Fest und mit vollem Vertrauen, erwiderte sie. Ich würde es Forstberg nicht glauben, bei Ihnen aber zweifle ich nicht. Ich weiß mit Bestimmtheit, daß ich mich nicht täusche. Sie sind, wie Sie sagen, durch eigenes Verdienst gestiegen, dies macht mir Sie unendlich werth; die Ruhe Ihres Gemüths, die Würde Ihres Charakters, o! lieber Stern, Alles zieht mich mit Empfindungen zu Ihnen, die keinem Argwohn Raum gestatten. Sie können keine Gefühle heucheln und wären unvermögend, Ihr Wort zu brechen.
Nie, das schwöre ich, erwiderte Stern feierlich. Doch noch eins, meine geliebte Sidonie. Meine Eltern sind arme und schlichte Leute, aber mein kindliches Gefühl wird sie nie verleugnen. Mein Vater, der Tischler und Kleinbürger, der so stolz auf seinen Sohn ist, würde es mir nie verzeihen, wenn er nicht bei unserer Hochzeit wäre. Ich weiß sehr wohl, daß er nicht seiner Bildung nach zu uns paßt, aber die Natur knüpft mich mit heiligen Banden an ihn, und er ist von so bescheidenem Gemüth, daß er gern in die Stille seiner kleinen Stadt zurückkehren und keinerlei Anstand erregen wird. Es ist unbedeutend, es ist vielleicht unpassend., daß ich in diesem Augenblick von ihm und seinem Erscheinen rede; aber ich wünschte so gern, daß ich Gewißheit habe, meine schöne Braut stehe über den armseligen Vorurtheilen so vieler, sonst vortrefflicher Menschen, welche die innere Eitelkeit nicht überwinden können und sich der armen Verwandten schämen.
Ein leichter Schauer überflog Sidonien; der Tischlervater trat in seiner ganzen Gräßlichkeit vor sie hin, und sie dachte sich ihre stolze Mutter dazu und den Kreis vornehmer Verwandten und Freunde. Es war der erste bittere Tropfen in dem Kelch der Freude, aber sie trank ihn herzhaft und lächelte dem Geliebten zu. Es war ein Tag, der vorübergehen mußte, ein Besuch, der sobald nicht wiederkehrte, und ihr Gefühl der Verehrung für den Mann ihrer Wahl, der so zärtlich selbst im ersten Rausche der Liebe des armen Vaters gedachte, mußte sich steigern.
Gewiß, sagte sie, der Vater soll mir herzlich willkommen sein und alle Ehrfurcht und Liebe finden, die er erwarten darf.
Die Eltern traten wieder herein und die Geheimeräthin machte dem Doctor den Vorschlag, seinen Wagen nach Haus fahren zu lassen und zum Mittag bei ihnen zu bleiben.
Heut mögen die Kranken ein wenig Geduld haben, lieber Stern, flüsterte Sidonie, und unterstützte die Bitte der Mutter mit einem zärtlichen Lächeln. Bleiben Sie bei uns, bei mir, ich habe noch gar vieles mit Ihnen zu sprechen.
Der Bräutigam küßte ihre Hand, aber er stand auf und griff nach dem Hute.
Ein Arzt, sagte er, ist ein Soldat, der seinen Posten fest behaupten muß, im Kampf mit dem größten Feinde des Lebens, und den theuersten Neigungen nicht folgen darf, wenn die Pflicht ihn ruft. So muß ich denn auch jetzt scheiden, und in Krieg ziehen, aber sobald ich nur kann, kehre ich zurück und will Alles hören, recht lange, bis Sie mich forttreiben.
Er ging, und mit einem spöttischen Lächeln sagte die Geheimeräthin:
Da hast Du den Vorgeschmack Deiner Zukunft; einen Mann, der keine Minute sich selbst und am wenigsten Dir gehören wird.
Wie edel ist er, wie fest und charaktervoll, rief Sidonie mit blitzenden Augen. Wie stolz macht er mich und wie Recht hat er, unsere Bitten nicht zu beachten.
Vollkommen recht, sagte der Geheimerath. Wenn plötzlich alle Doctoren heirathen und bei den Bräuten sitzen wollten, was sollte da aus der leidenden Menschheit werden? Aber ich wette, der größte Theil würde gesund, denn die meisten sind krank der Aerzte halber.
An einem der folgenden Abende schlich Stern, dicht in den Mantel gewickelt, eine Straße hinab, die ziemlich entfernt von dem glänzenden Theile der Stadt lag. Vor einem großen Hause blieb er stehen und starrte nach dem zweiten Stockwerke hinauf.
Die Fenster waren dunkel, aber doch öffnete er die Thür und stieg leise die Treppe hinauf. Horchend blieb er dann auf dem Gange stehen. Die Töne eines Instrumentes hallten aus dem nächsten Gemache. Schwermüthige, weiche Accorde, von schnellen Läufern unterbrochen, wilde regellose Phantasien, in welchen ein Chaos widerstreitender Gedanken und Empfindungen zu kämpfen schien.
Als die Hände, welche diese Töne zauberten, eine Pause machten, schien der Arzt einen Entschluß zu fassen. Er klopfte an die Thür und öffnete sie mit fester Hand. Das große dunkle Zimmer war von einem schwachen Lichtschimmer erhellt, der von der Straße hereinfiel, die goldenen Rahmen einer Menge von Gemälden, welche die Wände bedeckten, blitzten in dem Dämmerscheine, und im Hintergrunde erhob sich vom Klavier eine schlanke weiße Gestalt.
Wer ist da? fragte sie mit klarer, wohlklingender Stimme.
Ich bin es, Rosalie, erwiderte Stern und trat näher zu ihr.
Du, Gustav, sagte sie und ihr Ton zitterte unwillkürlich vor Freude, Erstaunen und einer tiefen Wehmuth. Ich freue mich, Dich wiederzusehen. Nimm hier Deinen Platz auf dem Sopha ein, mein Vater ist nicht zu Haus, wir werden die Unterhaltung allein führen.
Ich habe diese Zeit gewählt, sagte Stern, weil ich wußte Dich allein zu finden. Was ich Dir zu sagen habe, meine Freundin, bedarf keines Zeugen. Willst Du uns Licht anzünden?
Was Du sagen wirst, Gustav, bedarf des Lichtes nicht, erwiderte Rosalie mit gewaltsamer Ruhe. Sprich es aus, ich höre.
So höre denn, ich heirathe.
Man hat es mir gesagt, versetzte sie, das Fräulein von Pinzer. Aber bis diesen Augenblick ward es mir schwer zu glauben.
Zweifle nicht daran, sagte Stern ruhig, es ist so, aber leid thut es mir, daß ein fremder Mund mir zuvorgekommen ist. Vier Jahre sind es, Rosalie, daß ich Dich kenne und verehre. Ich spreche nicht weiter von jener Vergangenheit, sie liegt hinter mir, abgeschlossen, kalt und vergessen, und gleichgültig muß es mir sein, ich darf nicht fragen, war es ein Paradies, oder eine Wüste. Ich muß die Erinnerungen selbst aus meiner Brust reißen, denn sie könnten mich tödten. Begreifst Du das?
Ich verstehe Dich, sagte Rosalie, und Du hast Recht. Du kannst viel, Gustav, Du bist ein Mann im vollen Sinne des Worts, aber Gott selbst kann, was geschehen, nicht bis auf die Erinnerung vernichten.
Ich werde es und muß es, Rosalie, erwiderte er kalt; denn wenn ich nicht hoffte, daß es möglich wäre, möglich sein müßte, ich würde niemals thun können, was ich will. Wir müssen scheiden, meine theuere Freundin, uns fremd sein für immer. Dein Bild muß untergehen in mir, kein Gedanke daran, selbst dieser schwermüthige Augenblick darf nicht zurückbleiben. Ich habe gewählt zwischen Liebe und Ehrgeiz und dieser soll mich leiten. Erinnerst Du Dich, Rosalie, daß wir oft darüber sprachen, was dem Manne das höchste Ziel sein müsse? Die höchste Entwickelung seiner Kräfte, der größte Kreis zur Entfaltung seines Talentes, die Erreichung der glänzendsten Stufe des Ruhmes.
Und die Ehre das heiligste Panier des Lebens! sagte das junge Mädchen.
Die Ehre vor Allem, erwiderte Stern, die Macht, Großes und Gutes zu thun und zu vollbringen. Das Alles, meine theuere Rosalie, liegt vor mir. Meine Verbindung mit dem Fräulein von Pinzer öffnet mir Wege, welche ich sonst niemals betreten könnte. Heute habe ich das Patent als Medicinalrath empfangen und ich werde höher steigen. Du bist zu einsichtsvoll, meine Freundin, als daß ich nöthig hätte, mich weiter zu erklären. Wärst Du ein gewöhnliches Mädchen, ich würde andere Richtungen einschlagen müssen, um Dich zu überzeugen. Vielleicht wäre es dann nöthig, zu Täuschungen meine Zuflucht zu nehmen, oder wenn ich das nicht könnte, meine Zukunft aufzugeben, um die Thränen der Verzweiflung zu trocknen. Ich kenne Dich besser, Rosalie, Du trägst ein hochgeartetes Herz, einen stolzen Sinn. Hier bin ich. Ich sage Dir offen, daß unsere Verbindung zerrissen werden muß, weil ich Rang und Stellung in der Gesellschaft will. Nenne das Eitelkeit, nenne es Hochmuth, ich entgegne darauf, ein Mann soll nicht, von schönen Träumen beherrscht, die Wahrheit von sich stoßen und seine Ansprüche auf die Welt einem bloßen Gefühle seines Herzens opfern. Ich weiß es, Rosalie, ich würde an Deiner Seite glücklich sein; glücklicher als Hausvater, als Gatte, wie ich es jemals hoffen darf. Aber in der Tiefe meiner Seele würde ein wüthender Schmerz nagen, ein Wurm, der mich ruhelos peinigte. Die Natur hat Stolz und Ehrgeiz in meine Brust gelegt; die Welt zeigt tausend Beispiele, wie Dummköpfe steigen und glänzende Talente verkümmern: aber diese Dummköpfe sind Weise, weil sie die Umstände zu benutzen verstehen; jene Weisen Thoren, denn mit ihrem Elende bezahlen sie ihre heißblütigen Empfindungen. Du siehst, Rosalie, welche Richtung meine kalte Verständigkeit nimmt. Ich opfere ihr die schönsten Träume meines Lebens, und die heißesten Gedanken meines Herzens, denn ich habe Dich geliebt, Rosalie, und ich liebe Dich noch.
Halt! sagte sie, vertheidige Dich, wenn Du willst, aber denke in diesem Augenblicke an keine Lüge. Du hast mich nicht geliebt, Gustav, Du täuschest Dich selbst; denn Du berechnetest stets das, was Du Liebe nennst.
Erst jetzt berechne ich, versetzte er, und in langen; dunklen Nächten, wo ich einsam und schlaflos lag, zog ich den Kalkül, dessen Hieroglyphen endlich zu sicheren Zahlen wurden. Als ich zuerst das grausame Facit betrachtete, war meine Stirn kalt vor Schweiß, meine Augen, die selten weinen, naß, und mein Herz von einer ungeheuren Last gedrückt. Ich sollte Dich aufgeben, und glaubte es nicht zu können. Aber in der Ferne sah ich den Tempel unseres Glückes brennen, ich sah mich selbst ein Raub meiner Träume, und ich sah Dich, Rosalie, Dich, die ich glücklich machen wollte, unter der Last des Kummers erliegen. Von diesem Augenblick an war ich entschieden. Ich begann Dich zu meiden, Dich vorzubereiten, ich fühlte, daß mit dem Wachsen des äußeren Glückes mein inneres aufhören müsse, daß meine Ansprüche an die Welt mir werther seien, als meine Liebe, und wenn ich schwach genug wäre, diese Wahrheit zu verkennen, beide unglücklich sein würden. Das ist mein Bekenntniß, Rosalie; und glaubst Du, daß es wahrhaft ist? Zweifelst Du jedoch daran, kannst Du noch denken, daß ich mich täusche, hast Du einen Vorwurf für mich, so laß uns vergessen, was ich sagte, und sehen, ob wir gemeinsam glücklich werden können.
Das erst war das rechte Wort unserer Trennung, sagte Rosalie sanft. Nein, Gustav, ich habe keinen Vorwurf für Dich. Ich bin keine Marie und Du kein Clavigo Figuren in »Clavigo« (1774), Trauerspiel von Johann Wolfgang Goethe.. Meine Brust ist stark und ich bin zu stolz, den Mann zu mir zurückzuwünschen, dessen Einsicht ich verehre und der durch Nachdenken dahin gekommen ist, Unglück in unserer Verbindung vorauszusehen. Du hast mich geliebt, Gustav, und diese Liebe war ein Wohlwollen, eine Regung Deines Gemüthes, die von der Reflexion des Verstandes überragt wird. Gut denn, suche dies Bild zu verlöschen; ich aber habe Dich geliebt, mit der vollen Kraft meines Herzens; es war keine heiße Leidenschaft; es war eine Verbindung aller edelsten und reinsten Empfindungen, die niemals von mir lassen werden. Ich verehrte Dich, Gustav, und diese Verehrung will ich mir bewahren. Du machst ein schweres Experiment mit Dir selbst und trauest Dir zu viel kalte, nichtsachtende Verständigkeit, zu wenig Herz und Gemüth zu. Ich könnte Vieles sagen, aber es würde ungehört verhallen, oder doch nur Deine Brust schwerer machen. Darum, mein Freund, geh schnell, sprich nichts mehr, Du hast Recht. Verfolge die Wege des Ruhms und der Ehre; wenn Dein Name unter den ersten prangt, so glaube, daß ich Thränen der Freude weine, glaube, daß meine heißen Wünsche Dich begleiten, und nun fort zum Glücke! Lebe Du wohl, werde ganz glücklich, Gustav.
Eine edle Ruhe und Ergebung lag in ihren Worten, kaum deutete ein Zittern ihrer Stimme auf die Heftigkeit der Empfindungen. Stern wollte etwas erwidern, aber nur ein tiefer Seufzer durchhallte das dunkle Zimmer. Er küßte ihre Hand, zwei, drei Mal, dann preßte er sie mit Heftigkeit an seine Brust und ging schnell, ohne Laut, ohne Abschiedswort.
Als er die Thür geschlossen hatte, stand Rosalie bewegungslos. Langsam strich sie die dunkeln Loden von der Stirn, und als sie seine Schritte nicht mehr hörte, ging sie leise an das Fenster, öffnete es und schaute der forteilenden Gestalt nach, bis diese in der Dunkelheit verschwand. Dann zündete sie Licht an und trat damit an den kleinen Büchervorrath, der zwischen zierlichen Brettchen und bunten Seidenschnüren an der Wand aufgehängt war. Sie nahm ein Buch heraus, es war Shakspeare's Heinrich der Vierte. Sie las die rührende und erhabene Scene, in welcher Katharina Percy ihren Gatten betrauert, und zuweilen verdunkelte sich das große Auge auf einen Augenblick, bis sie, über die Schwäche ihrer Seele lächelnd, der sie sich gewaltsam entziehen wollte, von Neuem laut zu lesen begann.
So fand sie ihr Vater, der nach einer geraumen Weile hereintrat. Rosalie stand auf, ging ihm freudig entgegen und nahm, wie sie es zu thun pflegte, Hut und Mantel des alten Professors in Empfang. Dann legte sie beide Arme um seinen Hals und küßte ihn mit einer Innigkeit, die den Greis zu befremden schien.
Ei, sagte er, Du drückst mich ja an Dein Herz, wie einen jungen Geliebten.
Du bist mein alter Geliebter, versetzte sie schmeichelnd, der treueste und zärtlichste, den ich habe; und ich werde Deine Braut bleiben bis zum Tode.
Da sei Gott für! rief der alte Mann. Solch ein junges, lebenswarmes Blut muß einen jungen Bräutigam haben, und der alte Vater kann den nicht ersetzen. Aber, Schelm, Du versteckst unter dieser Freundlichkeit etwas ganz Anderes. Nein, verstelle Dich nur nicht, ich weiß alles, ich habe auch meine Quellen, meinen kleinen Finger, der mir prophezeit.
So laß mich sehen, ob er wirklich wahrsagen kann, erwiderte Rosalie trübselig lächelnd.
Nun gerade heraus, erwiderte der Professor. Ich sprach den Finanzrath von Forstberg, und er fragte mich, ob Stern schon hier gewesen sei? Er ist Medicinalrath und Leibarzt geworden. Ich war gerade recht verstimmt, wegen Nachrichten, die uns unangenehm berühren, aber das war ein Balsam des Himmels, denn nun müssen ja meine liebsten Wünsche in Erfüllung gehen. Medicinalräthin! rief er lachend und umarmte die Tochter, war denn Dein Medicinalrath wirklich nicht hier?
Er war hier, lieber Vater, versetzte Rosalie.
Nun, und ist Alles abgemacht? rief der Professor voller Freude.
Abgemacht für immer, sagte Rosalie mit ernster Ruhe. Ich werde Stern nie wiedersehen.
Wie? Was soll das heißen? fragte der alte Mann erregt.
Stern heirathet, lieber Vater, doch nicht mich, er heirathet das Fräulein von Pinzer, die Tochter des Geheimeraths.
Der Professor richtete sich zornig empor.
Wenn das wahr ist, sagte er mit großer Heftigkeit, so ist es ein nichtswürdiger Schurkenstreich. Vier Jahre lang hätte er Dich getäuscht, um vier kostbare, unersetzliche Jahre Dein Leben, und mich um meine liebsten Hoffnungen bestohlen?! Ich kann es nicht denken, es ist unglaublich, es ist nicht wahr.
Es ist wahr, lieber Vater. Stern ist arm, der Geheimerath sein Wohlthäter. Durch die Fürsprache dieses mächtigen Mannes wurde er bekannt und erhielt seinen neuen Titel. Nur durch eine solche Verbindung kann er zu der Höhe steigen, welche seine Talente verdienen; er mußte so handeln, wenn er eine glänzende Laufbahn im Leben machen will.
Gib mir Hut und Mantel, mein Kind, sagte der Professor, und ging nach der Thür.
Halt, Vater, erwiderte Rosalie. Was willst Du thun?
Mit dem Geheimerath sprechen, rief der zornige Greis, die Schlechtigkeit dieses saubern Schwiegersohnes aufdecken.
Das wirst Du nicht, erwiderte Rosalie ruhig, wenn ich Dir sage, daß ich selbst seinen Heirathsantrag verwarf. Vor einer Stunde, an dieser Stelle bot er mir seine Hand, und nur an mir lag es, sie anzunehmen. Ich schlug sie aus, und was Du jetzt thust, kann mich allein blosstellen, Stern ist ganz schuldlos, ich mochte ihn nicht.
Der Professor sah sie mit einem finstern, klagenden Blicke an.
So bricht denn das Unglück von allen Seiten auf mich herein, sagte er seufzend und setzte sich in eine Ecke des Sophas. Rosalie lehnte sich über ihn hin und betrachtete kummervoll sein weißes, ehrwürdiges Haar, und den Ausdruck des tiefsten Schmerzes in den greisen Zügen.
Welche Sorge drückt Dich so sehr? fragte sie leise.
Der Professor zog ein Papier aus der Brusttasche seines Kleides und reichte es ihr schweigend hin.
Sie blickte hinein und der Ausdruck des Schreckens und Erstaunens verwandelte sich bald in eine rührende Freundlichkeit.
Du bist pensionirt, sagte sie, und ich empfinde ganz den Kummer und die Einschränkungen, welche uns dies Ereigniß bringen wird. Aber Du bist oft kränklich, lieber Vater, und wirst nun größere Ruhe genießen können. Deine Pensionirung ist ehrenvoll, anerkennend, und was Dir bleibt, schützt Dich vor Mangel. Ich habe ja auch etwas gelernt, und es ist Zeit, daß ich das zu unserm Nutzen beweise. Ich kann Lehrstunden ertheilen, ich zeichne und male, wie Du selbst sagst, nicht ohne Talent; meine musikalischen Kenntnisse, meine Fertigkeit in einigen Sprachen können auch helfen, und so sehe ich getröstet in die Zukunft, die mir nicht so schrecklich erscheint.
Besser hättest Du gethan, rief der Professor, wenn Du Stern's Hand nicht zurückgestoßen hättest. Du liebtest ihn, was konnte Dich dazu bewogen haben, Rosalie? Du bist dreiundzwanzig Jahre, mein Kind, o, glaube mir, nicht meine Zukunft erscheint mir schwer. Ich bin ein alter Mann, der kurze Schritte nur bis zur Vergessenheit hat, aber ich lasse Dich zurück, ohne Vermögen, ohne Aussichten, allein in der Welt, und das betrübt mich, das beugt mich nieder.
Ich stehe nicht so allein da, als Du glaubst, erwiderte Rosalie zärtlich. Ich habe die Welt nicht nöthig, lieber Vater. Sperre mich in eine Nußschale und ich kann darin leben und glücklich sein. Dringe nicht weiter in mich, Dir den Grund meiner Entschlüsse zu offenbaren; die Wahl eines Lebensgefährten gehört mir allein, und ich weiß es bestimmt, ich mußte Stern entsagen, denn er wäre sicher sehr unglücklich geworden. Laß ihn seinen Weg gehen und gehen wir den unsrigen. Ich will ihn Dir ebnen durch meine Liebe, Du sollst mein Schatz, mein theuerstes Kleinod sein. Ich habe ja nur Dich allein, und Du wirst mich nicht verstoßen.
Die Rührung schloß ihren Mund. Der alte Vater hielt sie fest in seinen Armen und seine Thränen flossen lange auf ihre schöne, weiße Stirn. Es verging eine Zeit, ehe Rosalie Festigkeit genug gewonnen hatte, um mit der Energie ihres Willens und der Macht, welche sie auf den Vater übte, diesem zu erklären, daß ihr Verhältniß zu Stern ganz und gar für immer abgethan sein müsse.
Laß uns nicht grübeln über Etwas, das unserer Zukunft nicht mehr gehört, sagte sie. Stern wird mir immer theuer sein, und mit dem Stolze einer Schwester werde ich es hören, wenn sein Name gepriesen wird. Doch zwischen unseren Herzen muß das ganze Weltmeer liegen, und kein Schiff führt mich durch diese Wellen.
Sie sprach nun schnell und heiter von den Veränderungen, welche in dem kleinen Hausstande vorgenommen werden mußten, um den Ausfall am Einkommen zu decken. Ihre Rathschläge waren einsichtsvoll, und der Professor verstand ihre Absicht vollkommen, nicht weiter von dem Undankbaren zu sprechen, dessen Gedächtniß sie mit Anstrengung zu entfernen strebte.
Rosalie schien sich an den Gefühlen der Zukunft erwärmen zu wollen. Sie malte sich diese mit tausend kleinen Freuden aus, und beschrieb das Glück ihres Fleißes und ihrer Sorgfalt so freundlich, daß der Professor zuletzt überzeugt war, seine Pensionirung sei eigentlich ein Glück, und das vortreffliche Herz seines Kindes ein größerer Schatz, als alle Akademien der Welt ihm geben könnten.
Rosalie besorgte dann das kleine Mahl, und holte aus einer tiefen Ecke im Keller das letzte versteckte Fläschchen Wein. Als sie dies und die Gläser dazu auf den Tisch setzte, sah sie der Vater erstaunt an.
Wie, mein Kind, sagte er, Du gibst uns Wein, wo wir eigentlich Thränen trinken sollten? Ist es doch, als wolltest Du einen Hochzeitstag aus den Stunden machen, in denen wir vereint weit mehr Schmerzliches erfuhren, als im ganzen Jahre.
Wir trinken auf die Erinnerung, Vater, sagte Rosalie; Freude wird Leid, Leid wird Freude werden. Mein Herz ist so groß und weit; ich fühle mich erhaben und glücklich. Das Weh in meiner Brust ist verklungen und zittert nur, wie ein wehmüthiges Lied darin; aber ich fühle eine göttliche Kraft der Ruhe, ein Glück des Schmerzes, lieber Vater, einen Durst nach dem Schicksale der Zukunft, den Muth des Lebens, den Stolz einer ungebeugten Seele. Das ist kein böser Tag, lieber Vater; er hat auch seinen Segen und seine Freude mit sich geführt. Ich habe mich selbst besser verstehen lernen und einen tiefen Blick in mein Wesen gethan. Ich begreife jetzt, daß ich zu den starken Bäumen gehöre, die nicht leicht im Sturme zerbrechen, und wenn sie brechen, wenn sie fallen müssen, ein Erdbeben dazu gehört, eine Weltzertrümmerung, der selbst die Götter nicht widerstehen können.
Sie sagte das mit einer Stimme, aus welcher die innere Begeisterung redete. Der Professor verstand sie nicht; er schüttelte nur leicht den Kopf und lächelte ihr ungläubig zu.
Das ist ein armes Leben, lieber Vater, sagte Rosalie heiter, wenn wir mit demüthigem Zagen stets über das Morgen seufzen sollen. Laß es kommen, es soll uns wach finden. Mein Gott! was soll dies erbärmliche Schicksal, welches die Menschen so sehr fürchten, uns denn thun? Es kann uns in eine ärmliche Hütte werfen, es kann uns schwarzes Brot statt guter Speise reichen, und vor dieser Verletzung des Hochmuths, dieser Gefangenkost des Magens zittern die Meisten. Aber wir haben Glieder und Verstand, um gegen diesen Feind zu streiten.
Aber wenn wir erkranken? sagte der Professor leise.
Wer ehrlich streitet, zittert nicht, erwiderte sie. Die Kraft des Widerstandes strömt aus dem Herzen, wenn das Bewußtsein des Rechts und der Unschuld uns erfüllt. Die wahre Würde des Menschen besteht in seiner eigenen Besiegung; ist das vollbracht, so fürchtet man das äußere Geschick nicht mehr, denn es beugt sich vor unserm Willen. Darum laß uns heiter sein, lieber Vater, wir feiern ein Liebesmahl, ein Fest der Hoffnungen, und Du sollst sehen, wie reich und glücklich wir sein werden.
Der Vater schloß sie entzückt in seine Arme.
Wer Dich besitzt, mein Kind! rief er, der ist weder arm noch unglücklich; und nun erst fühle ich, wie wahr Du sagst: wir werden glücklich sein in der Zufriedenheit mit unserm Loose, und nur an uns wird es liegen, an unserm Wollen.
Sie sprachen lange noch bis spät in die Nacht hinein. Endlich trennten sie sich und Rosalie trat in das kleine Schlafgemach. Die Bäume des Gartens pochten mit den laublosen Zweigen an die Fenster und die Stimmen der Nacht und des Windes flüsterten leise und hohl um den stillen Raum. Der Himmel hing klar und kalt darüber, das feine Mondlicht rieselte hellglänzend quer über den Teppich, und die Schattenstreifen der Wände und Geräthe zogen scharfe, dunkle Linien darin.
Rosalie löschte das Licht, um das sanfte und geheimnißvolle Spiel dieser magischen Beleuchtung nicht zu stören, welche so wohlthuend und sinnig auf ihr bewegtes Gemüth wirkte. Sie setzte sich auf das Bett im Schatten und trat mit dem Fuße in die Linie, welche das Licht daran hinzog. Träumerisch durchlief sie ihr ganzes Leben, ihre Hoffnungen, ihr Streben und ihr Lieben, und in dem Schatten zogen Gestalten auf und Bilder, die hastig an ihrer Seele hinjagten, und welche sie mit Seufzern, Winken, Lächeln und Thränen verfolgte, bis sie grau und luftig verschwanden.
Während dessen rollten Erde und Mond am Firmamente weiter, und die hellen Strahlen übergossen den ganzen Körper der Einsamen. Sie richtete sich empor und der Spiegel an der Wand fing das blitzende Licht und zeigte ihr die eigene, bleiche, edle Gestalt.
Langsam streckte sie die Arme aus zu dem ruhigen Sternenhimmel.
Gib mir Verklärung, ewige Natur, rief sie, versöhne mich ganz, sprich zu mir in Deiner heiligen Sprache: was wird mein Lohn sein für diese Schmerzen?
Als sie diese Frage that, rief es Mitternacht von dem nahen Thurme; und mit einem thränenreichen Blicke erhob sie sich leuchtend in dem glänzend weißen Gewande, wie ein Engel, der an Heimkehr denkt. In diesem Augenblicke aber fuhr die dunkle Spitze einer Wolke über den Mond, sein weißes Licht zerrann und Rosalie sank seufzend auf das Lager zurück.
Der Lohn des Menschen ist nicht außer ihm, sagte sie dann leise, und die Zukunft hat nichts für dies betrogene Geschlecht, als Gräber der Vergessenheit. So sei denn stark, mein Herz, so tröste dich mit erhabener Kraft, tiefer und größer zu empfinden, als das Geschick es will; so lebe denn für eine Ewigkeit des stolzen Gedankens, der von Geschlecht zu Geschlecht sich erbt, der Wahrheit sucht und Erkenntniß und Zweifel findet und eine ewige Ruhe. O, wie schwach ist der Mensch, daß er ein Jenseits suchen muß, um eine Beruhigung für das Diesseits zu finden, wie schwach bin ich selbst, wie elend und schwach, daß ich Vergeltung fordere für mein verwundetes Herz und mit Thränen das verrätherische Blut stillen muß!
Ein heißer Strom der Schmerzen rollte aus ihren Augen. Anfangs wollte sie ihn hemmen, und mit krampfhafter Heftigkeit deckte sie beide Hände auf die ungehorsamen Quellen. Bald aber ermattete dieser äußere Widerstand an dem innern Triebe der Besänftigung; ihr Herz bebte unter der Angst des Kampfes, welchen diese stolze Brust mit dem Kopfe führte, aber das schmerzliche Gefühl siegte, und aufgelöst in glühende Empfindung überließ sie sich ganz den heftigsten Schmerzen um ein verlorenes Lebensglück.
Erst nach Stunden ward sie ruhig und zerdrückte die letzten Thränen, als der sinkende Mond seinen Abschiedsstrahl durch das Fenster warf. Ein hoffendes Lächeln erheiterte ihr Gesicht. Ich werde still sein, wie Du, und kalt, wie Du, sagte sie, aber die dunkelsten Wolken sollen nicht für immer mein Hoffen und Lieben auslöschen. Ja, ich werde auch treu sein, wie Du es bist, Du treulos treuer Freund, und nun laß uns nicht weiter klagen, laß uns ruhig unser Geschick erfüllen.
Die feierliche Verlobung des Medicinalraths mit dem schönen Fräulein von Pinzer war vollzogen worden und der Tag der Hochzeit rückte heran. Man beneidete den Emporkömmling um sein Glück, und wunderte sich, daß der Geheimerath die einzige Tochter einem Bürgerlichen und obenein Unbegüterten, vermählen konnte, der eben nichts hatte als die Zukunft und die helfende Hand des Schwiegervaters.
Zwei Tage vor dem Hochzeitsfeste war die Schwester der Geheimeräthin angelangt, eine alte Dame, die Witwe eines Präsidenten, voller Repräsentation, und mit aller steifen Würde ihres noblen Namens reichlich begabt. Ueber den Bräutigam, der ihrem Hochmuthe an sich schon wenig zusagte, fällte sie ein wenig günstiges Urtheil; denn die einfache Weise des Doctors und seine kalte strenge Höflichkeit hatten etwas plebejisch Abstoßendes, auch wußte sie gelegentlich ihren Unmuth auf spottende Weise zu äußern.
Wie jeder Bräutigam war Stern in den letzten Tagen, soviel er konnte, in der Nähe seiner Braut. Er ward als Familienglied nicht mehr gemeldet und ging und kam zu Sidonien ohne Förmlichkeit, ja oft ohne daß die Eltern es wußten. Er hatte viel mit ihr zu sprechen, von der neuen großen Wohnung, die er in der Nähe der Eltern gemiethet und bezogen hatte, von den Einrichtungen, dem Dienstpersonal und seinen Hoffnungen. Er suchte häufig die Braut in ihrem Zimmer auf und erwartete sie dort, wenn sie beschäftigt war. Die glückliche Sidonie hatte so vieles zu erzählen, so viele Pläne für die Zukunft, so mancherlei Träume über ihr Glück; ihre Anordnungen beschäftigten sie, ihre Einkäufe und alle die tausend kleinen Sorgen und Geschäfte, welche ein neuer Hausstand erforderte.
Stern fühlte sich glücklich bei diesen Gesprächen, er sah sich geliebt von dem schönen Mädchen, die so angenehm erzählte, so mädchenhaft und kindlich von der Zukunft sprach und das erröthende Gesichtchen an der Brust des Geliebten verbarg, wenn irgend ein Umstand sie erinnerte, daß sie nun bald Frau heißen werde. In solchen Augenblicken verlor sich der gleichmüthige Ernst von seiner Stirn, er empfand ein neues Glück und mit heißer Liebe gab er sich ganz der Lust dieser schönen Augenblicke hin, die immer mit der gegenseitigen Betheurung ihrer ewigen Liebe und des unendlichen Glückes der Zukunft endeten.
Um Zage, als die Präsidentin gekommen war, saß er auch in Sidoniens Zimmer und erwartete sie. Er zählte die Augenblicke mit aller Ungeduld eines Verliebten, und als er endlich ihre Stimme im Nebenzimmer hörte, stand er schnell auf, um an der Thür versteckt sie zu überraschen. Schon stand er mit ausgebreiteten Armen, als er diese plötzlich wieder sinken ließ, denn Sidonie war nicht allein. Er hörte die heisere, feine Stimme ihrer Mutter und den fatalen, schnarrenden Ton der Präsidentin zwischen der hellen, süßen Sprache seiner Braut hervorbrechen.
Aergerlich wünschte er beide nach Rom oder Indien, aber er konnte nicht umhin, auf ihr Gespräch zu hören, und je mehr er vernahm, um so behutsamer war er, sich nicht zu verrathen.
Nach einigen gleichgültigen Reden über die Einkäufe und Kosten sagte die Präsidentin im spöttischen Tone:
Nun, wo steckt denn der zärtliche Bräutigam, hat er etwa noch am Abend Krankenbesuche zu machen?
Vielleicht ist er schon in meinem Zimmer, versetzte Sidonie lächelnd.
Stern schlüpfte schnell hinter einen Mantel, der an der Thür hing, Sidonie öffnete diese, sah hinein und zog den Kopf zurück. Er ist noch nicht gekommen, sagte sie.
Und Du erwartest ihn in Deinem Zimmer? rief die Präsidentin.
Allerdings, versetzte Sidonie beleidigt. Ist das eine Sünde?
Wenigstens ein Verstoß gegen die Sitte, sagte die Geheimeräthin, welche gern den Frieden vermitteln wollte und sehr wohl die Abneigung ihrer Schwester gegen den neuen Neffen wie die Bösartigkeit ihrer Zunge kannte.
Die Präsidentin ging rasch durch das Zimmer und sagte dann mit Unwillen:
Ich kann meine Meinung nicht zurückhalten, es muß heraus, denn Sidonie ist meine Nichte und Du meine leibliche Schwester. Diese ganze Partie ist ein Verstoß gegen die gute Sitte, und ich begreife Eure unbegreifliche Verblendung nicht. Die Tochter meiner Schwester und ein Arzt, dessen Eltern, wie ich sehr wohl weiß, ganz arme Handwerker sind. Es ist unerhört! Ich kenne diese modernen Ansichten und weiß, daß man sich fügen muß, daß es leider so weit gekommen ist, den Adel nicht groß zu beachten, wenn sonst die Familie auf einer wichtigen Stufe steht, wenn Rang und Würde sie seit langen Zeiten begleiten, oder Reichthum den Geburtsunterschied vergessen macht, und hättet Ihr so gewählt, ich würde nichts einwenden. Aber ein bloßer Mensch, der durch nichts sich auszeichnet, der aus der Armuth und Niedrigkeit durch Zufall emporgestiegen ist, ohne Geld und selbst ohne körperliche auffallende Schönheit, die eine Thorheit bemänteln könnte, das ist zuviel, das ist entsetzlich und lächerlich zugleich.
Es ist zu spät zu diesen Erörterungen, sagte die Geheimeräthin, leise seufzend, und deshalb dachte ich –
Ihr hättet vernünftiger handeln müssen, fiel die Präsidentin ein, und noch jetzt ist es nicht zu spät. Ich möchte ein ernstes Wort mit Deinem Manne sprechen.
Du würdest nichts ausrichten, erwiderte Frau von Pinzer betrübt, denn er ist der größte Beförderer dieser Verbindung. Und dann, die Schritte sind nicht zurückzuthun, bedenke selbst – nein, es ist unmöglich.
Du fürchtest das Aufsehen, sagte die Präsidentin, aber das ist leichter zu ertragen, als die späte Reue, und ich hoffe, Sidonie wird selbst Einsehen haben.
Das beste, erwiderte diese mit zitternder Stimme. Ich habe geschwiegen und gehört, jetzt erlauben Sie mir zu erklären, daß ich Stern heirathen werde, weil ich ihn herzlich liebe und kein Hochmuth mich anderer Meinung machen wird. Ich habe die Einwilligung meiner Eltern, und das ist vollkommen genug; mag jeder seine Weise befolgen, um glücklich zu werden, und die Sorgen dafür dem überlassen, den es angeht. Ich hoffe, Sie verstehen mich, liebe Tante; ich bin selbstständig genug und kein Kind mehr; Ihnen aber sehr verbunden, wenn eine so heilige Sache, wie meine Vermählung, keiner weitern kalten Erörterung unterliegt.
Sie entfernte sich schnell und schlug mit der größten Heftigkeit die Thür hinter sich zu.
Sidonie, rief die Geheimeräthin, welche Unart!
Unverschämtheit, hättest Du sagen sollen, erwiderte die Präsidentin empört. Schwester, ich will keinen Anlaß zum Aufsehen geben, sonst würde meines Bleibens hier nicht länger sein; allein zwischen mir und dieser zwanzigjährigen Weisheit ist es aus, und Du trägst die Schuld, Du und Deine Erziehung.
Vergebens strebte die geängstigte Frau von Pinzer, die beleidigte Präsidentin zu versöhnen. Diese überhäufte sie mit Vorwürfen und endlich entfernten sich Beide, ohne eine Vermittelung gefunden zu haben.
Stern schlüpfte aus seinem Versteck, und wie ein Verbrecher eilte er leise durch die Zimmer. In dem Vorsaale blieb er stehen, um einen Entschluß zu fassen, aber er fühlte zu gut, daß es unmöglich sei, jetzt in der Familie zu erscheinen, ohne seinen Schmerz und innere Empörung zu verrathen. Er ging und durchstrich die Straßen, deren feuchtkalte Luft ihm wohlthätig in das heiße Herz drang.
Endlich war er in seiner Wohnung und mit zerrissenem Gefühl sank er auf seinen Arbeitsstuhl. Alles, was er gehört hatte, war die bitterste Pein seines Lebens. Der Stolz der Armuth ist gewohnt, Hochmuth mit Geringschätzung zu bezahlen, und Anmaßung durch edle Erhebung zurückzuschleudern. Der Mann, welcher gegen das Unrecht der Welt kämpft, und im vollen Gefühl seines Werthes die Verhältnisse nicht zu besiegen vermag, erfüllt sich mit menschenfeindlicher Bitterkeit, wenn er nicht Philosoph genug ist, darüber zu lächeln.
Stern hatte oft in seiner Verlassenheit die Stärke eines edlen Stolzes erprobt; er hatte Opfer gebracht, um an der Leiter der Gunst emporzuklimmen, da die des Verdienstes zu kurz schien, er träumte von Glück, und plötzlich sah er, daß sein ganzes Streben doch nie völlig ausreichen würde, ein erbärmliches Vorurtheil zu versöhnen. Es war ein Stachel in seiner Brust, der in diesem Augenblicke sich tief in sein Herz drückte. Die Reue zog finster drohend darin auf und kehrte ihr blitzendes Schwert gegen ihn.
Rosaliens Bild schwebte vor seinen geschlossenen Augen und neben ihr stand lächelnd Sidonie. Er hörte die feurigen Worte, die bittere, höhnische Rede, mit welcher diese ihre Liebe vertheidigte, und das schmetternde Zuschlagen der Thür, durch welches sie ihren Worten Nachdruck gab. – Würde Rosalie sich so vertheidigt haben? – Leise seufzte er ihren Namen und legte beide Hände über die trüben Augen.
Aber Sidonie liebte ihn, der Schritt war geschehen und mit der ganzen Energie seines Willens richtete er sich stolz empor.
Beschämen will ich diesen Hochmuth, sagte er, nicht davor zittern. Was kümmert mich dieser Zorn einer alten Frau. Sidonie ist mein, und an mir ist es, diese Anmaßung zur Demuth herabzubringen.
Ein Poltern im Vorsaale störte; gleich darauf ward die Klingel gezogen. Nach einem Weilchen klingelte es nochmals, und kein Diener ließ sich hören. Stern nahm selbst ein Licht, und als er die Thür öffnete, drängte sich ein alter Mann hastig herein.
Mein Vater! rief Stern, und schloß ihn in seine Arme, endlich seh' ich Dich wieder.
Der alte Mann warf mit Rüstigkeit den Mantel ab, und das Packet, welches er darunter trug.
Da bin ich, Gustav, sagte er lachend, mache die Thür nicht zu, mein Sohn, es steht noch jemand draußen.
Der Doctor beugte sich hinaus; plötzlich schlangen sich zwei Arme um seinen Hals, ein heißer Kuß berührte ihn, und eine zitternde Stimme rief seinen Namen.
Meine Mutter! rief Stern, meine gute Herzensmutter, welche unerwartete große Freude machst Du mir.
Die arme Frau weinte still an der Brust ihres Sohnes. Ihr mütterliches Herz schlug stolz in Freude über ihr Kind; sie war so entzückt über den Anblick ihres Lieblings, daß sie immer von Neuem ihn umarmte und küßte, und ihren Gefühlen keine Worte zu geben vermochte.
Die alte Frau wollte ja nicht zu Hause bleiben, sagte der Vater gerührt, und da hast Du uns nun Beide, mein Sohn. Aber lange werden wir Dich nicht belästigen, nach der Hochzeit geht's wieder nach Haus.
So lange Ihr nur könnt und wollt, bleibt Ihr bei uns, erwiderte der Sohn.
Der Alte sah in dem prächtig geschmückten Zimmer umher und schüttelte den Kopf.
Nein, nein, rief er dann lachend, das Alles paßt nicht zu uns, und wir nicht zu Euch. Ich würde hier niemals lernen mit festem Schritte aufzutreten. Du bist ein braver Sohn, Gustav, Du machst Deinen alten Eltern die Tage leicht, und gibst so viel, daß wir gar nicht zu arbeiten brauchten, wenn wir nicht wollten. Aber das darf nicht sein, mein Sohn, ich bin ja noch rüstig genug, um den Hobel zu führen, und Deine Mutter läßt es sich nicht nehmen, selbst zu kochen und zu backen. Was sollten wir auch hier machen? Nichts thun und vor Langerweile umkommen? Zu Haus gibt es immer etwas, und ein Tischler ist ein ganzer Mann, der dem Menschen das erste Haus baut und das letzte. So laß Du den alten Vater nur immerhin bleiben, wo er ist, Du bist doch unser Stolz und unsere Freude, und die alte Frau da wird Streit und Neid genug erregen, wenn sie wieder heim kommt und von Dir und Deinen Herrlichkeiten und Deiner vornehmen Frau erzählt.
Diese letzten Worte waren für Stern ein Donnerschlag, der plötzlich den Vorhang von seinen kindlichen Gefühlen riß und eine öde, unglückdrohende Ferne aufthat. Die vornehme Frau, die vornehmen Verwandten! er zitterte leise, wenn er daran dachte; wenn er die Menschen sich vorstellte, in der Wiege schon genährt mit Begriffen über Rang und Stellung in der Gesellschaft, und groß gezogen in Gedanken über die Niedrigkeit und Gemeinheit der arbeitenden Classe.
Und hier waren nun seine Eltern, einfache, redliche Leute, mit dem treuesten Herzen, aber mit aller Altväterlichkeit ihrer groben Kleider in Sitte, Sprache, Gewohnheiten und natürlichem Wesen, Gestalten, welche in den Kreisen der Welt Lächeln, plumpe Scherze, spöttische Bemerkungen, und in hochmüthigen Herzen Schaam und Erbitterung erregen mußten. Stern war aufs Heftigste getroffen von diesen Gedanken.
Seine Gefühle verwirrten sich und während die Eltern lange Geschichten aus der Heimath erzählten, von allen alten Freunden und Bekannten, und die kleinen Freuden und Leiden ihres stillen Lebens redselig ausmalten, kämpfte er einen langen Kampf mit sich selbst: wie und in welcher Weise er die schlichten Leute in so vornehme Gesellschaft führen sollte.
Die Gewohnheit übt ihren Einfluß auch auf das strengste Herz. Der arme Doctor Stern an der Hand Rosaliens hätte mit Stolz die schlichten Eltern an den Ehrenplatz seiner Hochzeitstafel geführt; der Medicinalrath, im Kreise besternter Verwandten, dachte mit auflodernder Schaam an die höhnischen Blicke der Präsidentin und an die Wolken des Unmuths, welche selbst Sidoniens Stirn beziehen konnten.
Er musterte mit prüfendem Blicke die Sitten und Kleider seiner Eltern, und stille Verzweiflung ergriff ihn. Er wünschte, sie wären nicht gekommen, jetzt nicht gekommen, und schämte sich doch der Verläugnung der heiligsten und höchsten Gefühle. Der innere Hochmuth nagte an seinem Herzen, und vergebens suchte er ihn mit seiner alten, stolzen moralischen Kraft zu bewältigen; denn der Mensch auf falschen Wegen hat die sichere Erkenntniß verloren und irrt an sich selbst, denkt weit eher an neue Täuschungen, als an Umkehr, die unmöglich scheint.
Endlich war er zu einem Entschluß gelangt. Aendern konnte er in der Hauptsache zwar nichts, aber die Eltern sollten erst am Hochzeitstage in dem großen Kreise erscheinen, und während dieser Zeit von der Hand des Schneiders so modern ausgestattet werden, daß wenigstens ihr Aeußeres kein Aufsehen erregen konnte. Es kam nur darauf an, dies ohne Widerstand zu vollbringen; denn der alte Tischlermeister war der Mann nicht, ruhig anzuhören, daß sein Sohn sich seiner schäme.
Er begegnete mehrere Male den verlegenen prüfenden Blicken des Doctors und sagte dann:
Ich glaube, Gustav, Du läßt uns erzählen, was wir wollen, und denkst an etwas ganz Anderes.
Ich dachte an Euch, versetzte der Sohn, an Euren Aufenthalt, und wie ich am besten Euch Ruhe und Stille sichern könnte.
Nun, ich dachte, es wäre Raum genug hier, rief der Alte lächelnd. Du hast ja wenigstens ein halbes Dutzend überflüssiger Zimmer, und wir sind mit dem schlechtesten zufrieden.
Ihr solltet gern das beste haben, sagte Stern eifrig, und er erröthete vor der Lüge, aber morgen wird hier ein schreckliches Getümmel sein. Die neuen Dienstleute ziehen an, eine Menge Mobilien kommen und werden gestellt; die Tapezirer wirthschaften, die Tischler und wer sonst noch behülflich sein muß.
Um so besser, rief der Alte fröhlich. Da kann ich helfen.
Das würde sich wenig für meinen Vater schicken, erwiderte Stern.
Ja so, Du hast Recht, sagte der Alte. Aber wohin sollen wir?
Dicht nebenan ist ein schönes Zimmer zu haben, sagte der Sohn erfreut, dort seid Ihr ganz in meiner Nähe. Ihr ruht morgen aus; ich besuche Euch mit meiner Braut, und da Ihr gewiß nicht mit dem nöthigen Hochzeitsstaate versehen seid, so werde ich alles für Euch besorgen.
Da hast Du fehlgeschossen, versetzte der Vater. Deine Mutter hat ihr neuestes Sonntagskleid mitgenommen, das ihr im vorigen Jahre erst von Dir geschenkt wurde, und mein Rock ist nicht viel älter, kein Fleckchen ist darin.
Aber an meinem Hochzeitstage müßt Ihr mir zu Ehren nagelneu erscheinen, rief der Sohn begütigend. Denkt doch selbst, wie würdet Ihr in dem glänzenden Kreise abstechen.
Ja so, sagte der Alte, und eine finstere Falte zog sich auf seine Stirn. Das ist es. Ich hatte mir es in den Kopf gesetzt, wie schön es sein müßte, wenn der alte Vater in dem schlichten Rocke neben seinem Sohne stände und die Leute dann sagten: Seht, das ist der Vater von dem reichen, vornehmen Paare, und sie schämen sich nicht seiner grauen Haare und der Mutter in dem bunten Kleide.
Aber, Vater, rief der Sohn tief erröthend, wie kannst Du meinem Vorschlage diese Deutung geben.
Laß es gut sein, mein Kind, sagte der Alte. Du kennst die Welt besser als wir, und magst in Deiner Weise nicht Unrecht haben. Wir wollen thun, was Du sagst. Miethe uns das Zimmer und schicke uns Deinen Schneider, Schande sollst Du nicht von uns haben.
Der Sohn wandte alle Mittel an, um die Gedanken des alten Vaters zu entkräften. Er sprach liebevoll und eindringlich von den Vorurtheilen der Menschen und seiner kindlichen Zärtlichkeit. Die Mutter, am schnellsten überzeugt, fand es vollkommen richtig, was er sagte, der Vater ergab sich seinen höhern Einsichten. So stellten sich Friede und Heiterkeit wieder her, es wurden Pläne besprochen und verabredet; der Abend verging, dann begleitete der Doctor die alten Leute in die schnell gemiethete Wohnung, und endlich sah er sich allein, mit betrübtem, schwerem Herzen, und durchblätterte das Buch der Zukunft, bis der Schlaf ihn überraschte.
Rosalie hatte rüstig begonnen, was sie sich vorgesetzt. Einer neuen Entwickelung entgegen zu reifen, war ihr Streben, und mit unermüdlicher Ausdauer und festem Willen betrat sie die Bahn. Die Wohnung des Professors war zu theuer für ihre beschränkteren Verhältnisse, und ohne Zögern wurde sie verlassen. Es gelang, schnell einen Miether zu finden, und zwar mit Hülfe eines Befreundeten, der bereitwillig auch für eine andere Sorge trug. Der Finanzrath von Forstberg hatte den Professor öfter besucht, als Stern sein Freund war; jetzt kam er ohne diesen Begleiter, und mit Aufrichtigkeit theilte ihm Rosalie alle Umstände mit, welche sie zu Einschränkungen zwangen. Auch von ihrem aufgelösten Verhältnisse zu Stern sprach sie mit Forstberg, aber so ruhig und gelassen, mit einer Kälte und Beherrschung, welche in dem Finanzrath Zweifel erregten, daß sie jemals seinen Freund geliebt habe.
Er sprach dies in einer Andeutung aus und sie lächelte.
Es ist gut so wie es ist, sagte sie, denn glauben Sie mir, Stern hat nach seiner besten Ueberzeugung gehandelt. Er that, was er mußte, und ich bin ihm Dank schuldig, so offen und redlich gehandelt zu haben. O, hätte er, von einem falschen Ehrgefühl verleitet, mir seine Hand gereicht, wir würden gewiß sehr unglücklich geworden sein. Gottes Segen über ihn! Er verdient es, glücklich, geehrt und von der Welt anerkannt zu werden.
Der Finanzrath sah sie mit erstaunten Blicken an. Er begriff diese freudige Entsagung nicht, aber ein Gefühl der wärmsten Verehrung erfüllte ihn. Er sah in das stille, lächelnde Gesicht Rosaliens, und in die dunkeln Augen, welche in der reinsten Erhebung glänzten. Dann küßte er ihre Hand.
Sie haben Recht, sagte er, dieser Mensch verdient den Schatz nicht, den er so leichtsinnig aufgibt.
Völlig falsch, versetzte sie lebhaft. Stern hat lange geprüft und wie ein Mann gehandelt. Es war kein Leichtsinn, er konnte nicht anders. Es war Ueberzeugung, und diese ist achtungswerth.
Forstberg lächelte über diese edelmüthige Schwärmerei, aber der Gedanke in ihm wurde fester, daß Rosaliens Liebe selbst erkaltet sei, und es ihr keine große Ueberwindung gekostet habe, einen Mann aufzugeben, dessen grübelnde Kälte einer heftigen Leidenschaft so schroff entgegenstand. Er betrachtete die hohe, schlanke Gestalt, das edle Gesicht mit den großen lebendigen Augen, und er sagte sich selbst, daß Rosalie, ohne schön zu sein, wie Sidonie, einen unendlich höhern Reiz besitze, den Reiz einer fesselnden Anmuth, jenen Gürtel der Grazien, ohne welchen die Schönheit bald in Gleichgültigkeit stirbt.
Sidonie war eine Dame der Gesellschaft, ein Kind ihrer augenblicklichen Einfälle, eine verzogene Göttin des Salons, die in der leichten Sprache des alltäglichen Umgangs sich mit Feinheit und Selbstgefühl bewegte, und für witzig und geistreich galt, weil sie mit Laune oder Malice über Alles zu sprechen wußte.
Rosalie schöpfte aus der Tiefe eines klaren Verstandes, und ihre Worte bildeten Ausdrücke von Gedanken, die nachhaltig aus einem reichen Herzen kamen. Es war eine Mischung von Geist und Gemüth, die selbst in den geringsten Beziehungen sich kund machte; sie lebte in einer Welt voll idealer Gestalten und Träume; aber sie gab sich ihnen nicht hin, sie täuschte sich nicht selbst, sondern verknüpfte sie mit der realen Wirklichkeit, und suchte dieser eine schönere Fassung zu geben.
Forstberg fühlte sich stets mehr angezogen von der edeln, würdevollen Ruhe und Sicherheit dieses seltenen Mädchens. Als Stern ihr Herz einzunehmen schien, hatte er diesen nie um einen Besitz beneidet, der ihm schimmernd, aber auch kalt, wie Erz erschien; jetzt sah er, wie unter der weißen Decke ein grüner Frühling wehte, eine Herzensgüte, ein warmes heißes Leben, das mühsam nur von dem beherrschenden Willen gebändigt wurde.
Er kam wieder und immer wieder, und mit jedem Male lernte er sie mehr bewundern. Die zarte Liebe und Aufmerksamkeit für den alten Vater rührte ihn tief. Der Professor war oft mürrisch und launenvoll, wie Künstler sind, die ein Leben hinter sich haben, welches, ihrer Meinung nach, ihnen nur schmerzlichen Undank gegeben hatte. Rosalie wußte diese finstern Wolken von seiner Stirn zu scheuchen, und je öfter sie wiederkehrten, je mehr war sie bereit, alle frohe Laune, alle Heiterkeit und tausend schöne Träume hervorzusuchen, bis der letzte traurige Gedanke verschwunden war. Erst wenn das sorgende Gemüth des alten Mannes sich beruhigte, wurden ihre freundlichen Züge ernst und nachdenkend, und mit gewaltsamer Anstrengung schien sie die innern Schmerzen zu besiegen.
Forstberg wagte nicht zu reden. Ihre bittenden und befehlenden Blicke schienen ihm zu gebieten, den heiligen Kummer nicht anzutasten. Er versuchte daher lieber, sie zu zerstreuen, er erzählte ihr das Neue des Tages, gemischt mit tausend komischen Vorfällen des Lebens, und er war ein geschickter Erzähler, denn bald gewann Rosalie dann ihre Ruhe wieder, und das Gespräch erhob sich unbemerkt aus der Alltäglichkeit zu einem höhern Standpunkte.
Sie zeigte ihm ihre kleinen, künstlerischen Versuche; der Professor tadelte diese, und Forstberg vertheidigte ihren Werth; man sprach über Kunst und Wissenschaft, man zog Bücher hervor, die Meisterwerke der Dichter; Rosalie las mit ihrer süßen, begeisterungsfähigen Stimme, und es gab einen Austausch von Gedanken, die einen tiefen Eindruck auf den jungen Finanzrath machten. Er fühlte sich erhoben durch ihren Umgang, eine edle Vergeistigung trat in sein Leben, und Antheil an Interessen stellte sich ein, welche er früher abgewiesen oder verspottet hatte.
Seinen lebhaften Bemühungen gelang es, eine freundliche Wohnung zu einem sehr billigen Preise zu finden. Ausnehmend gefiel Rosalien das kleine Häuschen, welches getrennt von großen Vorgebäuden am Eingange eines schönen Gartens stand, und von ihnen allein bewohnt werden sollte. Die neugemalten Zimmer wurden von dem letzten falben Laube der Rebe verdüstert, welche an der ganzen Breite emporstieg, und schwermüthig sprach der Wind mit den alten Linden und Ulmen, die gespenstisch grau in langen Reihen an der andern Seite hinabstanden.
Rosalie vergaß, daß der nahende Winter hier einsam, öde und lang sei. Sie dachte an den Frühling, der diese weiten Räume mit Laub und Blüthen füllen würde, und der schwermüthige Zug ihres Herzens fand eine wohlthuende Nahrung in dem Contraste der heimischen Wohnlichkeit dieser stillen Gemächer und der tiefherbstlichen Todesnähe der Natur, welche mit jedem Blicke nach Außen sich fühlbar machte.
Rosalie wußte nicht, daß der Besitzer des Hauses ein Freund Forstbergs sei, durch dessen Vermittelung nicht allein der Zins so unbedeutend gestellt war, sondern mancherlei Bequemlichkeiten, welche die Zimmer zierten, auch freundlich den neuen Bewohnern überlassen wurden. Forstberg wagte es nicht, seiner stolzen Freundin irgend ein Zeichen seiner thätigen Theilnahme zu bieten, welche sein Reichthum ihm leicht machte. Er fühlte so zart wie Rosalie, und erkannte, daß ein solcher Eingriff ihr schönes Verhältniß gestört haben würde. Mit großer Behutsamkeit that er, was er thun mußte, und mit den reinsten Empfindungen fühlte er sich als den geheimen Schöpfer so mancher kleinen Freuden, die das geliebte Mädchen in ihrer Einsamkeit glücklich machten.
Der alte Professor war entzückt über die schönen warmen Teppiche in den Zimmern, die der Besitzer so bereitwillig darin gelassen hatte, und Rosalie freute sich über ein klangvolles Instrument, welches unter dem Vorwande, daß man keinen Platz dafür habe, mit der Bitte, es zu benutzen, ihr ganz überlassen war.
Bald war alles so zierlich und sorgsam eingerichtet, so traulich und bequem jedes Plätzchen, und eine wohlthätige, sinnende Ruhe lag so zauberisch über dem Ganzen, daß Forstberg die Lobsprüche über den freundlichen Geist nicht unterdrücken konnte, der hier so anmuthig gewaltet hatte. Rosalie lächelte und führte den Freund vor ihre neueste Arbeit, ein kleines zierliches Bildchen. Es war das Häuschen selbst und der große Garten mit den einzelnen düsterrothen Malven und schwankenden Astern zwischen entlaubten Bäumen und Gehegen. Die Abendsonne warf einen letzten zitternden Blick durch die Tinten des kalten Herbsthimmels, und vor der Thür des Häuschens beleuchtete sie zwei jugendliche Gestalten, deren Hände sich vereinten, während ein Greis in Silberhaaren die Augen gedankenvoll zu dem Hoffnungssterne erhob, der leise und einsam über ihm aus den Nebeln der Nacht trat.
Forstberg erkannte leicht, daß er es sei, der hier neben der holden Meisterin stehe, und eine heilige Freude glänzte in seinen Blicken. Er vorzüglich hatte Rosaliens Eifer geschürt, ihr schönes Talent weiter zu bilden, und gegen ihr Vorhaben geredet, Musikunterricht zu ertheilen, ein Gedanke, der ihm peinlich und verletzend war. Die kleinen Bilder, welche sie seitdem gemalt hatte, waren immer auf seinen Betrieb durch Andere für ihn erkauft worden, und diese scheinbare Anerkennung hatte allein den Widerspruch und Tadel des Vaters erstickt, der seiner Tochter stets mit großer Hartnäckigkeit entgegentrat und den Undank der Welt gegen die Kunst und die Künstler aus seinem eigenen Beispiele vorstellte.
Mit vergessender Heftigkeit ergriff Forstberg Rosaliens Hand und drückte diese zitternd an seine Brust.
Dies Bild, sagte er, muß mir gehören, Sie müssen es für mich bestimmt haben, es darf keinem Andern zukommen.
Nur für Sie ist es bestimmt, versetzte Rosalie lächelnd. Ja, mein theurer Freund, einst, wenn Sie nach langen Zeiten an Stunden zurückdenken, die mir ewig lieb und werth sein werden, soll dies Bild Ihnen mein eigenes zurückrufen.
Forstberg wollte eine schnelle und vielleicht entscheidende Antwort geben. Sie sprach aus seinen glänzenden feuchten Augen und schwebte auf der geöffneten Lippe. Plötzlich aber senkte er den Blick, und verdüstert, wehmüthig legte er die Hand auf die hohe Stirn.
Rosalie beobachtete ihn und führte ihn hinaus in den glänzenden Abend. Der Himmel hing voll zahlloser Sterne, deren funkelnde Pracht einen sanften Dämmerschein über den stillen Garten warf.
Sie sind betrübt, mein Freund, sagte sie sanft. Es geht Etwas in Ihrem Herzen vor, das Sie mir verbergen wollen.
Nichts, meine theure Rosalie, nichts, versetzte er abwehrend.
Und wenn ich es wüßte, erwiderte sie. Ich verstehe Ihr plötzliches Verstummen, Forstberg. Ihre edle Freundschaft empfand plötzlich für mich einen Schmerz, den ich nicht mehr kenne. Heut ist Stern's Hochzeitstag, ich weiß es, und während wir hier einsam stehen, während meine Hand in der Ihren ruht, und die Minuten gehen und kommen, sitzt er an der reichen Tafel, oder sein Arm ruht um Sidoniens Leib, und sein Mund trinkt ihre Küsse. Ja, ich höre ihr Liebesgeflüster, es ist mir, als sprächen die Sterne davon; aber ich bin ruhig, mein Freund, mein Puls hat keinen schnelleren Schlag, und in mir ist es Frieden. Frieden mit der Welt, mit mir und mit Gott.
Ist eine solche Ergebung, eine solche Stille des Grabes Frieden zu nennen? sagte Forstberg. Dürfen Sie ungestraft die Schwächen der menschlichen Natur abwerfen, die sanften Schwächen einer beleidigten Weiblichkeit? Es wäre mir lieber, Rosalie, Sie zürnten und weinten, bis die Leidenschaft sich erschöpfte und aus der Ruhe neue Hoffnungen wüchsen.
Sie verstehen mich nicht, mein theurer Freund, versetzte sie. Ich leide auch, mein zagendes Herz will den Trost in Thränen, und öffnet sich dann in neuer Stärke, nicht in Erschlaffung, den Hoffnungen. Diese bringen mir Versöhnung, Ausgleichung, Erhebung; sie sind ein stolzer Strom, der eine wunderbare Kraft in mir entzündet. Keine Stille des Grabes ist mein Frieden; er geht weit darüber hinaus, über Himmel und Sterne und über alle Zukunft. Verstehen Sie mich nun?
Ich bewundere Sie, sagte Forstberg leise.
Das ist ein kaltes Wort, erwiderte Rosalie. Es gibt zwei Welten, Forstberg. In der einen liebt und haßt man, wenn Leidenschaft und heißes Blut uns beherrschen, und das sogenannte Schicksal treibt mit uns sein launenvolles Spiel; die andere aber öffnet sich uns erst, wenn wir den Kampf mit uns selbst bestanden haben, wenn das kleinliche Getriebe des Lebens hinter uns liegt, und das Herz groß und tief genug empfindet, sich mit dem unvermeidlichen Schicksale der Menschheit zu versöhnen. Seine Dornen haben auch mich verwundet, und mancher Schmerz steht mir wol noch bevor, aber gewiß auch manche Freude. Ich klage nicht, daß ich leide; es liegt in dem wechselnden Verhängniß, es ist die menschliche Bestimmung, welche erfüllt werden muß. Ich bin versöhnt mit Allem, was mich treffen kann, denn ich weiß, es verrinnt, wie die Zeit, deren Kinder wir sind; und ich hoffe und vertraue und suche in mir selbst den nöthigen Schutz vor unserem Erbtheil, der Schwäche.
Und haben Sie Stern geliebt? fragte Forstberg fast ängstlich.
Heiß geliebt, wie mein Herz lieben kann, versetzte sie mit zitternder Stimme.
Und das Gefühl, das Sie Schwäche nennen, Rosalie, ergreift Sie nicht in dieser schmerzlichen Stunde? –
Sie blickte stumm zum Himmel auf, und mit unendlicher Wehmuth sah sie dann den Fragenden an.
Gute Nacht, mein Freund, sagte sie und reichte ihm die Hand. Es ist spät und ich habe noch viel zu schaffen.
Rasch entfernte sie sich, und erglühend und im Streit mit sich selbst blieb Forstberg lange stehen. Bald drangen Töne der Musik aus dem Zimmer, Beethoven's unsterbliche sehnsuchtsvolle Klagen, die heiligste Erhebung einer Seele, welche in Schmerzen und Zweifeln sich verliert und irdische Bande abstreifend sich zum Himmel rettet.
Forstberg lehnte an der Einfassung des Geländers, und sein Blut rollte fieberisch. Zwei Gewalten stritten in seiner Brust. Eine heiße Hingebung an dies seltsame schöne Wesen, und ein geheimes Grauen vor dieser unnatürlichen Kraft. So versunken in sich selbst, sah er nach einer Weile den Professor kommen und bei sich vorüber in das Haus gehen. Die Töne schwiegen und Forstberg eilte in seine Wohnung und wachte sinnend bis tief in die Nacht.
Stern's Hochzeitstag war vorübergegangen, und er befand sich im vollen Glücke des Besitzes einer liebenden, schönen Gattin. Auch die Eltern hatten ihm weniger wahre Noth gemacht, als er glaubte. Der alte Stern hatte sich mit vieler Vorsicht benommen, und so wenig wie seine geputzte Gattin einen Anstoß erregt; dennoch aber waren die einfachen Leute der Gegenstand der größten Sorge und die Ursache einer fortgesetzten peinigenden Unruhe für das geängstigte Brautpaar gewesen.
Man hatte sie neugierig betrachtet, und die wenigen Worte, welche sie sich erlaubten, belächelt. Man flüsterte sich da und dort etwas zu, und Stern glaubte jedesmal zu verstehen, daß es ein hämisches Urtheil über die verlegenen Alten sei. Er erröthete vor Zorn und Schaam und hatte doch nicht den Muth, durch ein freies, edles und würdiges Entgegenkommen seine Eltern und sich selbst zu ehren.
Sidonie, welche am Tage zuvor mit so vieler Herzlichkeit sich benommen und die leisen Entschuldigungen ihres Verlobten eifrig abgewiesen hatte, indem sie erklärte, daß der brave Mann im schlechten Rocke ihr unendlich mehr gelte, als ein besternter Narr, die Eltern ihres Gemahls aber ihre theuern Verwandten seien, die Jedermann ehren solle und müsse, war nun nicht minder verwirrt in der glänzenden Gesellschaft; und ein glühendes Roth bedeckte ihre Wangen, als sie die Präsidentin mit dem alten Stern reden sah, der unbefangen von seinen Verhältnissen, seinem Treiben und Leben erzählte, und dann der höhnische Blick der alten Dame sich auf sie richtete.
Erst mit dem Ende des Festes hörte die Sorge auf, und die nächsten Tage waren im Freudenrausche des jungen Glücks nicht geeignet, eine unmuthige Empfindung auftauchen zu lassen. Sidonie behandelte die Eltern ihres Mannes mit aller Schonung, aber doch mit einer gewissen vornehmen Herablassung, und leise Zeichen einer wachsenden Unruhe umwölkten ihren Blick, wenn bei den verschiedenen Gesellschaften und Besuchen die alten Leute gegenwärtig waren.
Mit dem Medicinalrath war es anders. Sidonie hatte die Gegenwart der Eltern am Hochzeitstage theils als ein nothwendiges Uebel betrachtet, theils war es eine edelmüthige Empfindung, oder eine Eitelkeit, mit welcher sie, der Welt gegenüber, sich als frei von albernen Vorurtheilen zeigen wollte; aber ihre Erziehung und die wankelmüthigen Eindrücke des Blutes, denen sie allein folgte, überwältigten bald ihre Vorsätze. Mit jedem Augenblicke ward ihr die Nähe dieser Menschen lästiger, und jeder Besuch verstärkte ihr Widerstreben.
Stern dagegen war nur am ersten Tage verwirrt und von falschen Gefühlen bewegt. Bald hatte er auch Gelegenheit zu bemerken, daß Viele der Achtungswerthesten dieser freimüthigen Anerkennung der edelsten Pflichten gegen seine Eltern Bewunderung zollten. Er warf mit Stolz die erniedrigende Schaam fort; in der großen Wohnung war Raum genug, den Eltern wurde ein schönes Zimmer eingeräumt, und Stern war nun in seinem Hause der zärtlichste Sohn, welcher mit wachsender Liebe die Eltern vor Allen auszuzeichnen strebte und rücksichtslos nicht bemerkte, wie schwer es Sidonien wurde, in seine Freude einzustimmen.
Endlich nach zwei Wochen, als eines Morgens beide Gatten im zärtlichen Gespräch vereint plauderten, kam es zu einer Erklärung. Sidonie hatte lange von den Vergnügungen des Winters, von Gesellschaften, Putz und häuslichen Angelegenheiten gesprochen, als sie plötzlich fragte, wann wol die Eltern wieder abreisen würden?
Wünschest Du, daß sie reisen? sagte der Medicinalrath lächelnd.
Ich denke, versetzte sie schmeichelnd, wir geben in der nächsten Woche den großen Ball, wo wir nöthig alle Zimmer gebrauchen. Und offen gestanden, lieber Gustav, Du wirst einsehen, die alten Leute passen nicht zu unsern Kreisen, sie sind nicht gewohnt, sich hier zu bewegen, und wie sie ihr eigenthümliches Leben vermissen unter ihren Genossen, die sie verstehen, so geht es auch uns.
Stern war schmerzlich berührt von dieser Erklärung.
Des Balles wegen also, sagte er, soll ich meine Eltern zwingen, abzureisen?
Früher oder später muß es ja doch sein, erwiderte sie. Ich fordere das nicht, aber die Welt, die Umstände. Es sind herzensgute Menschen, aber, Du verstehst mich, lieber Gustav, es ist doch für das gebildete Gefühl unmöglich, sich mit ihnen auszugleichen.
Und wenn meine Eltern nun immer hier in der Stadt bleiben wollten? sagte Stern.
Sidonie erröthete.
Ich hoffe, sagte sie hastig, Du wirst einsehen, daß das nicht angeht.
Ich sehe nun ein, daß ich mich täuschte, erwiderte Stern; allein so lange meine Eltern bleiben wollen, ist dies Haus das ihre.
Dann, sagte Sidonie zornig aufstehend, möchtest Du leicht Dich noch mehr getäuscht haben. Das Schrecklichste in der Welt ist, sich lächerlich machen.
Sie wollte sich entfernen, als die angelehnte Thür des Zimmers geöffnet wurde und der alte Stern schnell hereintrat.
Halt, Frau Tochter, sagte er, nicht dort hinaus. Ich komme, Euch zu sagen, daß unsere Zeit hier abgelaufen ist. Wir müssen nach Haus, je eher je lieber, ich und die alte Frau, die drüben schon Alles zusammenpackt. Und so muß es denn an ein schnelles Abschiednehmen gehen, denn draußen in der Vorstadt geht ein Wagen früh ab.
Sidonie stand in großer Verwirrung vor dem alten Manne, der in seiner groben Hand die ihre hielt und die andere seinem Sohne reichte.
Meine Kinder, sagte er, laßt nie die Sonne über irgend einem Zorne untergehen, und Du, mein Sohn, umarme gleich Deine gute Frau.
Wollen Sie mich beschämen mit meinem Unrecht, das Sie hörten? rief Sidonie und senkte beschämt den Blick.
Ich habe nichts gehört, sagte der alte Stern, und bemühte sich zu sühnen. Aber ich weiß, daß meine Frau Tochter ein braves, gutes Herz besitzt.
Sidonie warf sich an die Brust ihres Mannes und eine zärtliche, stumme Versöhnung ward geschlossen.
Die alten Eltern reisten. Der Ball ward gegeben, glänzende Feste folgten und die kleine Störung war vergessen. Sidonie war zu schön, und ihr Gemahl fügte sich leise seufzend ihren Wünschen und Bitten, wie oft er diese auch als thöricht erkennen mochte.
Von Natur einfach und mäßig und durch Erziehung und Schicksale an eine weise Sparsamkeit gewöhnt, war Stern, und aus verschiedenen Gründen, gar kein Freund großer Kreise. Seinem ernsten Charakter sagte dies leichte Treiben wenig zu, und wie sein Geist keinesweges geeignet war, in der Gesellschaft zu glänzen, so hielt er es selbst der Würde des Arztes nicht angemessen, irgend eine Eigenschaft zu cultiviren, welche den Mann der Mode und des Tages bezeichnet.
Gern hätte er, der bei seinem wachsenden Geschäftskreise vom frühsten Morgen an bis zum Abenddunkel ununterbrochen thätig war, die wenigen Stunden, welche ihm zur Erholung blieben, in häuslicher Stille an der Seite einer geliebten Frau und im Kreise weniger Freunde verlebt; aber Sidoniens Sinn war diesem Verlangen ganz entgegen, und Stern sah sich gezwungen, ihren Wünschen nachzugeben; denn mit welchem Rechte konnte er der jungen, schönen und lebenslustigen Frau zumuthen, einsam mit ihm zu sein und Einladungen auszuschlagen, da ihr ganzes Sinnen nur darauf gerichtet war? Er fühlte sehr wohl, daß er Sidonien einen Ersatz schuldig sei für die einsamen Stunden der ganzen langen Tage, wo er seinen Beruf erfüllte, und die, nie sich ändernd, Monate, Jahre, ihr ganzes Leben über; ihn größtentheils von ihr entfernten.
Daß sie den häuslichen Sinn nicht zeigte, bedauerte er, aber entschuldigte es auch. Sidonie war im Genuß des Lebens erzogen, in verschwenderischen Vergnügungen aufgewachsen, und Zerstreuung, Erfüllung ihrer Ansprüche, war ihr das erste Bedürfniß des Glückes. Grausam wäre es gewesen, hätte er gewaltsam beschränken wollen, was sie nicht freiwillig zu opfern geneigt war.
Nur das Eine betrübte ihn, daß sie nicht erkannte, was er that; daß sie ganz natürlich fand, was er unter geheimen Qualen erfüllte, und nicht selten mit ihm schmälte, wenn er, nach ihrer Ansicht, zu spät erschien, um sie zu einem Feste zu führen, oder ein plötzlicher Ruf, welchen der Arzt so oft zur unbequemen Zeit empfängt, ihn von neuem entfernte. Gern hätte sie es gesehen, und als Zeichen der Liebe betrachtet, wenn er in solchen Fällen ihr Vergnügen seiner Pflicht vorgezogen hätte; allein in diesem Punkte war er unerbittlich, und nach einer ernsten Scene, in welcher er mit Strenge erklärte, niemals mehr eine solche Zumuthung hören zu wollen, wagte Sidonie nichts wieder.
Eine andere Ursache des wachsenden Unmuths waren die großen Kosten, welche ein glänzender Haushalt und die gehäuften Vergnügungen sowol, wie die Prachtliebe der jungen Frau hervorriefen, die nicht minder durch Geist, als durch blendenden und theuern Schmuck Neid und Bewunderung zu erregen suchte. Im Hause ihrer Eltern war sie an volle Befriedigung der feinsten und ausgesuchtesten Toilette gewöhnt und keinesweges hatte Sidonie die Begier nach der berauschenden eitlen Lust verloren, welche der Centralpunkt so vieler weiblicher Sehnsucht ist.
Der Geheimerath hatte sich daran, und an den eigenen Gelüsten der Tafel ruinirt, denn trotz seines großen Gehaltes waren beträchtliche Schulden gemacht worden, und die vielen Ansprüche Sidoniens wurden nicht von einem äquivalenten Nadelgelde In alter Zeit rechtlich jener Betrag, den ein Mann seiner Ehefrau in regelmäßigen Abständen gab. Über dieses Geld konnte sie für persönliche Zwecke und Anschaffungen, etwa für Kleidung, frei verfügen, insoweit unterlag sie also nicht der Vormundschaft ihres Mannes. begleitet.
Stern's Einnahmen waren beträchtlich, allein mit geheimer Furcht berechnete er, daß sie doch nicht hinreichen würden, alle Ausgaben zu decken, und finstere Falten zogen sich auf seiner Stirn zusammen, als er die vielen laufenden Rechnungen empfing, welche größtentheils Sidoniens Lust an Dingen zuzuschreiben waren, die er als Verschwendung mißbilligte. Aber diese Falten glätteten sich bald wieder unter Sidoniens Küssen und Bitten. Er liebte die schöne Schmeichlerin, welche so süß und unbefangen über seine leisen Vorwürfe lachte und, wenn er von dem theuern Preise eines Schmuckes sprach, ihm erzählte, wie reizend sie darin erschienen sei, und welchen Schrei des Neides sie überall erregt habe.
Stern hoffte auf die Zeit, welche seine Gattin zu einer andern Ansicht vom Leben führen sollte, zuvörderst aber auf das Ende des Winters, wo dann viele Vergnügungen, welche ihm besonders mißfielen, die Soiréen und vor allen die Bälle, denen Sidonie als leidenschaftliche Tänzerin vorzugsweise sich hingab, aufhören mußten. Aber der Winter verging und Anderes fand sich, das nicht minder die Gefühle des Unmuths nährte.
Der ernste, verständige Mann mit seiner strengen Liebe zur Ordnung war empört über die wenige Sorge, welche seine Gattin ihren häuslichen Pflichten widmete. Betrügerische Versuche der Dienstleute wurden von ihm entdeckt und Vorwürfe erfolgten, welche Sidonie mit Heftigkeit erwiderte. Sie erklärte ihrem Mann geradehin, daß sie keinesweges gesonnen sei, nach dem Ruhm einer wirthschaftlichen Hausfrau zu geizen, und Stern sprach in ungemessenen Worten von den Thorheiten, das Leben in Tanz und Lust zu vergeuden, und aus dem Leichtsinn einen Beruf zu machen.
Nach heftigem Streite entfernte sich der Medicinalrath und seine Gattin suchte weinend Schutz und Trost bei den Eltern, bei denen sich so eben die Präsidentin befand. Der Geheimerath runzelte die Stirn und sprach in Gemeinsätzen von dem Recht und Unrecht auf beiden Seiten, die Mutter aber schloß Sidonien heftig in die Arme und warf die Schuld auf den unverständigen Mann; denn wann hätte eine Mutter in solchen Fällen der Tochter nicht Recht gegeben!
Siehst Du, mein Kind, sagte die Präsidentin, hättest Du meinen Ermahnungen gefolgt, Du würdest jetzt Forstberg's glückliche Frau sein. Ein Mensch, wie Stern, der überall an die Form stößt, und nichts von Erziehung und Gesellschaft weiß, mußte Dich unglücklich machen. Ihm würdest Du nur genügen, wenn Du selbst an den Heerd trätest, oder mit Wedel und Bürste in der Hand das Haus durchzögst, und dann Abends an seiner Seite Strümpfe stricktest bis Mitternacht, während er Krankengeschichten erzählte.
So betrübt Sidonie war, mußte sie doch über diese Ausmalung lachen.
Wenn es auch nicht so arg ist, sagte sie, aber wahr bleibt nur zu Vieles. Die Frau eines Arztes ist immer ein beklagenswerthes Geschöpf. Von Morgen bis zum Abend fährt Stern umher, und kommt er endlich, so ist er müde, abgespannt, verstimmt und launenvoll. Ich sehe ihm den Unmuth an, daß er nur meinen Wünschen leben soll, und lieber würde er einsam in seinem Zimmer ruhen, lesen und rauchen, die abscheuliche Pfeife im Munde, die ich in meiner Nähe nicht dulde, und dann mit mir und ein paar langweiligen Freunden die Zeit verplaudern, als Gesellschaften besuchen, die er abgeschmackt, fade und nach und nach unerträglich findet. Ich bitte Dich, liebste Mutter, was soll meine Zukunft sein? Soll ich in meiner Jugend verkümmern? Ach! Ich empfinde ganz, daß ich eine Thörin war. Stern ist geizig, er bedauert und berechnet jede Ausgabe. Seine Erziehung, seine frühere Armuth haben ihn an eine Einfachheit gewohnt, die mir unerträglich ist. Ich glaube, er möchte mich bereden, daß der Mensch, um gesund zu sein, von den gröbsten und einfachsten Nahrungsmitteln in Einer Schüssel leben soll, und man Jahr und Tag mit Einem Kleide haushalten könne.
Als sie dies sagte, trat Stern herein, und vor seinem großen ruhigen Auge senkte sich Sidoniens Blick in Beschämung.
Es thut mir leid, sagte er, daß Du Andere, und wenn diese auch Deine theuersten Verwandten sind, zu Vertrauten in den kleinen Störungen unseres häuslichen Glückes machst. Die Ehe ist ein so zartes elektrisches Band zwischen zwei Herzen, daß jede fremde Berührung nur schmerzend wirkt.
Das klingt recht philosophisch und empfindsam dabei, versetzte die Präsidentin boshaft lächelnd, allein besser wäre es gewesen, wenn Sie meiner Nichte nie Gelegenheit geboten hätten, ihren Kummer äußern zu müssen.
Und wem soll sie denn ihr Leid klagen, sagte die Geheimeräthin lebhaft, wenn nicht uns, ihren Eltern und Verwandten? Machen Sie auch daraus selbst eine Anklage für mein armes Kind?
In der That, lieber Stern, rief der Geheimerath zwischen Begütigung und Unwillen schwankend, Sie gehen zu weit, Sie fordern zu viel von Sidonien.
Der Medicinalrath sah sie alle ruhig an, dann reichte er seiner Gattin die Hand und sagte:
Ich muß nach Hause, liebe Sidonie, willst Du mich begleiten?
Impertinent! rief die Präsidentin halb laut. Ich hoffe, Du bleibst, mein Kind.
Bleiben Sie, Stern, rief der Geheimerath, lassen Sie uns ausführlich sprechen.
Nicht über mein Verhältniß zu Sidonien, lieber Vater, sagte der Medicinalrath. Es würde ein Riß durch das Allerheiligste sein. Ich klagte nie und werde nicht klagen; Sidonie mag sich fragen, ob ich wirklich der geizige, mürrische Mann bin, wie sie sagt, aber wir Beide allein müssen uns verständigen; kein Zeugenverhör, keine Einsprüche, kein Proceß vor dem Tribunale wohl- oder übelwollender Verwandten. Ich gehe, Sidonie, und wünsche, Du folgest mir.
Die junge Frau stand ungewiß, aber die Bande der Zuneigung siegten. Sie eilte auf ihren Gatten zu und warf sich in seine Arme.
Du verkennst mich, sagte sie, Deine Vorwürfe sind ungerecht, aber ich folge Dir gern. Sei gütig gegen mich; sei nachsichtig, ich bedarf es jetzt mehr als je, denn vielleicht hast Du doppelt zarte Rücksichten, mich zu schonen.
Eine heftige Empfindung bemächtigte sich ihrer, sie verbarg das Gesicht an seiner Brust und schlang die Arme krampfhaft um seinen Hals.
O, meine Sidonie! rief Stern voll ahnendem Entzücken, nur glücklich will ich Dich machen, und einig, ganz einig laß uns immer den Weg durch die Welt gehen.
In dieser heiligen Minute war Alles versöhnt, sogar die Präsidentin besiegte den Widerwillen, und im besten Einverständniß trennte man sich.
Die Aussichten auf die Vaterfreuden hatten Stern's Herz weit geöffnet in Liebe und Nachsicht. Er war so zärtlich, so unermüdet sorgsam, daß Sidonie sich wahrhaft glücklich fühlte. Alle ihre Bitten, ihre Wünsche fanden das willigste Ohr, und diese unverdrossene Güte rührte ihr leicht erregbares Herz unendlich.
In solchen Augenblicken fand sie, daß Stern wohl häufig Ursache habe, sich zu beklagen; sie nahm sich vor, mehr in seine Ansichten einzugehen und hörte willig zu, wenn ihr Gatte pedantisch, wie es ihr schien, aber doch höchst verständig, ihr lange Berichte über das Glück der Häuslichkeit und manche kleine Beschränkungen machte, welchen sie die Zustimmung nicht versagte. Stern sagte ihr unverhohlen, daß seine Einnahmen bis jetzt weit hinter den Ausgaben ständen, daß er in Verlegenheiten verwickelt sei, die nur eine weise Sparsamkeit lösen könne, und mit gütigen Blicken forderte er sie auf, ihn dabei zu unterstützen. Sidonie versprach Alles, um es in wenigen Tagen zu vergessen.
Der Winter war vergangen, und die Vergnügungen, gegen welche Stern vergebens gepredigt hatte, machten andern Platz. Kleine Reisen, eine Sommerwohnung, Gesellschaften verminderten die Rechnungen des Doctors nicht, der mit großer Geduld sich in sein Schicksal zu finden schien, und immer auf einen günstigen Punkt der Aenderung wartete. Dieser schien ihm bei den Umständen seiner Gattin zu nahen, und alle seine Hoffnungen ruhten auf dem jungen Weltbürger, der Sidoniens Liebe zur Weltlust abwenden sollte, durch die zärtliche Besorgniß einer jungen Mutter, die das heiligste Glück des Lebens und ihre schönste Zukunft in dem Kinde an ihrem Herzen erblickt.
Hierauf berechnete er Alles und täuschte sich selbst, wenn er seufzend und mit steigender Erbitterung den Leichtsinn seiner Gattin bedachte. Heimlich saß er oft und sann über sein Leben nach. Rosalie stellte sich dann neben die Wirklichkeit und gewaltsam mußte er sich dann seinen Träumen entziehen. Aber die Zukunft war noch nicht geschlossen, er besaß noch Hoffnungen dafür, und mit neuem Muthe erhob er sich aus der Erstarrung und wandte sich beruhigt den widerwärtigen geräuschvollen Kreisen zu, mit welchen sich Sidonie umgab.
So nachsichtig aber Stern auch war, in Einem hatte er fest beschlossen, seinen Willen zu behaupten, und er benutzte jede sanfte, vertrauungsvolle Minute, um Sidonien dafür zu gewinnen. Nichts erschien ihm unnatürlicher, als eine Mutter, welche, bestimmt von der Natur, ihr Kind zu ernähren, die erhabensten Gesetze des Schöpfers so sehr verachten konnte, daß sie alle die angeborene Liebe und Sorgfalt aus der Brust reißen und einer Fremden ihr theuerstes Kleinod vertrauen mochte. Es galt ihm als der grausamste und sündlichste Hochmuth, welchen die moderne Verwilderung des Gemüths erzeugte, als sie Ammen statt Mütter erfand, um eben so wol sich der heiligsten Sorgen und Mühen zu entheben, als in der schlechtesten Eitelkeit mit einer Unnatur zu prunken, welche in andern Zeiten als die größte Schande gegolten hätte.
Zu diesen Meinungen fügten sich weiter die materiellen Bedenken. Als Arzt wußte Stern, wie vielfache Verantwortung auf der Wahl einer solchen mütterlichen Stellvertreterin ruhte, die gewöhnlich den niedrigsten, verwahrlosesten Ständen entnommen, und durch Leichtsinn zur Helferin der hochmüthigen Verkehrtheit gemacht, alle Gemeinheit der Gesinnung, alle Keime der Sünde und die leichtfertigste Sorglosigkeit und Rohheit des Gemüths mit sich vereint. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß die Nahrung eines solchen Wesens vielleicht selbst einen gewissen Einfluß auf die Zukunft seines Kindes haben, oder doch ihre Nachlässigkeit oder brutalen Begierden seine Gesundheit bedrohen könnten, und dies um so mehr, da er überzeugt war, Sidonie würde bald genug, von Vergnügungen umrauscht, sich aller Sorge begeben. Endlich aber wurden auch die Kosten seines Haushaltes dadurch beträchtlich vermehrt, und bei seiner finanziellen Bedrängniß durfte er auch dies nicht unbeachtet lassen.
Sidonie hörte anfangs lachend seine Bitten und schien in manchen Augenblicken auch die Wichtigkeit seiner Gründe zu begreifen; je näher jedoch die Zeit rückte, um so lebhafter wurden ihre Einwürfe. Sie suchte Stern's Besorgnisse zu entkräften; sanfte Bitten und Vorstellungen wechselten mit allen Launen und Widersprüchen, durch welche eine Frau den Willen ihres Gatten zu bekämpfen strebt. Als dieser jedoch hartnäckig und unbeugsam auf seinem Vorsatze beharrte, erklärte sie ihm mit Heftigkeit, daß sie keineswegs geneigt sei, Monate lang sich so große Opfer aufzulegen.
Tausende von Kindern, sagte sie, sind kräftig und gesund bei der Ammenmilch geblieben, und es scheint mir ziemlich lächerlich, nach so vielen Beispielen einen gelehrten Mann von dem Einfluß physischer Nahrung auf die Neigungen sprechen zu hören. Jede Frau, die es irgend vermag, entzieht sich den schrecklichen Beschwerden, den schlaflosen Nächten, dem Geschrei und aller der Pein, welche ein junges Kind verursacht. Und von mir willst Du verlangen, was jeder einsichtsvolle Mann seiner Frau bewilligt?
Wenn Du, versetzte Stern mit gerunzelter Stirn, auch alle meine höhern Gründe verwirfst, so bleib bei dem geringsten stehen. Ich bin so weit, Dir bekennen zu müssen, daß selbst dieser ein unübersteigliches Hinderniß ist. Statt begütert zu sein, bin ich ärmer als je, unglücklicher als damals, wo ich unbekannt und allein, zu Fuß die Straßen durchwanderte und für weniges Geld ein dürftiges Mittagsessen verzehrte. Ich besaß nichts, aber ich hatte ein freies Gemüth, denn ich hatte keine Schulden. Deine Sucht nach Vergnügungen und Verschwendungen jeder Art haben alle meine Bemühungen vergebens gemacht. Ich war schwach genug, dies Alles zu gestatten, aus Liebe zu Dir, aus dem Wunsche, Dich glücklich zu wissen. Ich bitte Dich, Sidonie, ich beschwöre Dich, nur diesmal erkenne, daß alles Glück unserer Zukunft auf Erfüllung meiner Bitte beruht.
Stern umfaßte Sidonien mit einer Angst, die rührend aus seinen kummervollen Mienen sprach. Eine Thräne füllte sein Auge und fiel langsam heiß und brennend auf ihre Hand. Nie hatte Sidonie ihn so ergriffen gesehen. Der kalte, ernste Mann weinte; welcher Schmerz mußte ihn dahin bringen! Dunkle Ahnungen von Dem, was seine Seele erfüllte, bestürmten ihr Herz, sie begriff, daß dies eine ewig entscheidende Minute war, und doch zitterte sie vor der Ausgleichung.
Wenn Deine Umstände so betrübend sind, sagte sie, was ich niemals völlig geahnt habe, warum sprachst Du nicht früher schon offen zu mir?
Er sah sie vorwurfsvoll an.
That ich es nicht? erwiderte er; lagen in unsern frühern Streiten, in allen meinen Andeutungen nicht Bekenntnisse genug, und sollte Dein eigenes Nachdenken Dich nicht zu Ueberzeugungen geleitet haben?
Sidonie erröthete.
Wenn Du mir jetzt aus Bedrängniß meine Wünsche versagst, fuhr sie nach einer Pause fort, so wirst Du es doch erlauben, wenn meine Eltern die Kosten tragen?
Ein Sturm von Empfindungen flog durch Stern's Brust. Ein ungeheuerer Schmerz zog sein Herz zusammen, die letzten Hoffnungen zertrümmerten, und die Wahrheit seiner Zukunft lag vor ihm. Todtenblaß stand er auf und sagte leise:
Du sollst haben, was Du verlangst.
Nein, nein! rief sie angstvoll erschüttert von seinem Anblick, der ihr Gefühl des Unrechts mächtig aufregte; ich will mich in Deinen Willen fügen, Alles soll geschehen, wie Du es wünschest.
Aber diese erzwungene Nachgiebigkeit war kein Heilmittel für Stern. Er empfand zu gut, wie momentan ihr Entschluß sei, wie unfreiwillig sie dazu gekommen, und wie bald sie ihn bereuen würde. Dennoch versuchte er Alles, um diese Versöhnung dauernd zu machen. Er verdoppelte seine liebende Aufmerksamkeit, verscheuchte die finsteren Minuten, in welchen ihr geheimer Unmuth sich zeigte, und schien die zornigen Blicke der Geheimeräthin nicht zu bemerken, welche den Entschluß ihrer Tochter laut mißbilligte und aus deren zweifelhaften Versicherungen Grund genug zum Mißtrauen gegen Stern schöpfte.
Dieser hatte jedoch eine feste, würdevolle Stellung der Familie gegenüber genommen, daß man keine laute Anklage wagte, so lange Sidonie nicht selbst als Klägerin auftrat. Aber eine allgemeine Mißstimmung trennte die Verwandten, Sidonie war einsilbig, oft traf sie Stern in Thränen, ohne den Muth zu haben, nach deren Ursache zu fragen, weil er alle Stürme dann erneut haben würde, und so floh die Freude aus einem Hause, wo man die süßesten der Erde täglich erwartete.
Endlich war der Augenblick da, und mit seligen Gefühlen hielt der Vater den erstgebornen Sohn auf seinen Armen. Dann legte er ihn auf das Bett der Mutter und kniete entzückt an ihrer Seite nieder. Er küßte ihre Hände mit inbrünstiger Zärtlichkeit, und Sidonie lächelte ihm zu. Sie herzte das Kind und drückte es an ihre Brust, dann sagte sie leise:
Würde es nicht besser sein, lieber Gustav, wenn Du jetzt meinen Wünschen nachgäbst?
Das war der tödtende Streich des jungen Glücks. Stern bezwang seine Aufregung und versteckte unter Liebkosungen und Bitten den Aufruhr seiner Empfindungen. Die Versuche, des Kindes, Nahrung zu empfangen, machten Sidonien Schmerzen, sie weinte und klagte; und mehre Tage vergingen unter den rastlosen Bemühungen ihres Gemahls, der alle Mittel erschöpfte, sie mit der Nothwendigkeit der Geduld und den ersten Unbequemlichkeiten auszusöhnen.
Je mehr Stern aber überzeugt war, daß es nur des nöthigen Willens bedurfte, um zum Ziele zu gelangen, um so widerstrebender war Sidonie. Endlich gab er die Hoffnung auf, eine Wärterin mußte das Kind füttern, aber die Lebenskraft des schwachen Organismus war in den Versuchen gebrochen, es welkte hin, und nach einigen Wochen löste sich das kaum erwachte Leben.
Kummervoll beobachtete Stern an der Wiege die krampfhaften Zuckungen des armen Kleinen, während Sidonie düster ihm gegenüber saß. Tiefe Stille war umher, die verhängte Lampe verbreitete eine schwermüthige Dämmerung über das Gemach; die beiden Gatten waren allein.
Plötzlich regte sich das Kind mit gewaltsamer Anstrengung, und mit einem tiefen Seufzer sank es erstarrt zurück. Stern riß den Schleier von der Lampe und das helle Licht fiel auf die Leiche. Sieh hin, rief er mit furchtbarer Stimme seiner Gattin zu, das ist Dein Werk. Sein letzter Seufzer klagt Dich an, Du hattest ihn verlassen und nun verläßt er Dich.
Es ist falsch, rief Sidonie mit Heftigkeit; Dich nur kann er anklagen, denn Deine Grausamkeit – gegen mich, Deine unnatürliche Härte hat ihn getödtet.
Stolz richtete sich Stern auf.
Du lügst, sagte er, und Du weißt es, denn Du erröthest und zitterst vor der Schuld und Deinem Gewissen. Suche Dich zu überreden, daß ich dieses armen Kindes Mörder sei, ich gönne Dir diese Erleichterung; sage es der Welt vor, vielleicht glaubt sie es, aber zwischen uns drängt sich auf ewig dies bleiche Gespenst; gebe Gott, daß es nie Deine Träume störe.
Er entfernte sich schnell und trostlos weinend sank Sidonie auf den Leichnam und bedeckte ihn mit ihren Küssen.
An Rosaliens stillem Leben hatten der Lenz und ein schöner Sommer manches geändert. Sie hatte in dem großen Garten, mitten unter den Blumen und Bäumen, geschäftige und heitere Tage, und nur die Sorge um den alten Vater trübte zuweilen das helle Auge.
Der Professor war seit seiner Pensionirung mit sich selbst aufs Tiefste zerfallen, und ohne krank zu sein, war sein Gemüth ein Raub der ungewohnten Ruhe, die ihn erfinderisch in Selbstqualen machte. Tagelang saß er sinnend und theilnahmlos in seinem Zimmer und schalt auf Jeden, der seine Abgeschiedenheit zu stören wagte, am meisten aber auf seine Tochter, die mit Ernst und Liebe seine trübseligen Träume zu zerreißen strebte.
Tausend Einbildungen wechselten bei ihm. Bald hielt er sich für verfolgt, man stelle ihm nach dem Leben, und dann schloß er sich ein, und war durch nichts zu bewegen, Nahrung zu nehmen, denn Rosalie war es, die ihn vergiften wollte; bald entfernte er sich ganze Tage und Nächte, und kehrte nur zurück, wenn alle die kleinen Ersparnisse der Tochter, mit welchen er sich versehen, gänzlich erschöpft waren. Dann trat die Ruhe der Erschöpfung ein, und das Weh der Erkenntniß marterte ihn. Er war dann gütig und liebevoll und verstand Rosaliens Schmerz, der keine Klage, aber eine vermehrte Nachsicht und die zärtlichste Pflege für den verfallenen Körper hatte.
Forstberg's Zuneigung für Rosalien hatte sich indeß nicht vermindert. Er besuchte sie oft und kehrte stets mit größerer Neigung von ihr zurück. Aber immer war ein fremdes, sonderbares Gefühl in ihm, welches in jeder traulichen Minute ihn zurückhielt, eine entscheidende Erklärung zu wagen. Er wußte nicht, wie es kam, aber seine Zunge war ungehorsam, und er, der sonst so geläufig keck manche Liebesschwüre gesprochen hatte, verstummte, wo er zuerst wahrhaft zu lieben glaubte. Das hochgeartete Gemüth dieses Mädchens machte einen wunderbaren Eindruck auf ihn. Er verehrte sie, er beugte sich vor der Tiefe ihres Geistes und ihrer Empfindungen, und diese Erkenntniß einer höhern Gestaltung machte ihn schüchtern und zum sentimentalen Schwärmer.
Oft berieth er sich mit sich selbst über seine Gefühle, und suchte mit Anstrengung irgend etwas an Rosalien zu entdecken, was einer Verbindung hinderlich sein könnte. Der alte wunderliche Vater dünkte ihm die einzige Schattenseite ihrer Mitgift; aber er war es nicht, der sein Zagen erregte. Sie selbst, die ruhige, stolze Sicherheit ihres Wesens, die kühne Festigkeit ihres Willens, die Kraft eines Gemüthes, das keine Furcht und kein Schicksal kannte, das, erhaben über alle Leidenschaft, vor nichts auf Erden erbebte, flößten ihm eine Ehrfurcht ein, welche stärker war als seine Liebe.
Dieser Zustand war lange Zeit peinlich für Forstberg. Es war ein ewiges Schwanken zwischen entgegengesetztem Wollen und Empfinden. War er in Rosaliens Nähe, so fand er sich wunderbar bedrückt und Alles, was sie that und sprach, schien ihm der Abglanz und Ausdruck einer erhabenen Natur, die irdischen Gefühlen fremd war. Ihre Gespräche nahmen bald ernste Richtungen, ihre Gedanken entzündeten sich an Idealen und selbst das Gewöhnlichste empfing einen höhern Reiz durch die Art und Weise, wie sie darüber sprach.
Und doch war sie so einfach und natürlich, so fern von aller falschen Empfindsamkeit, so rein menschlich und vertraulich, aufrichtig und gütig, daß Forstberg, fern von ihr, nur gegen sich selbst zürnte, dies warme, gefühlvolle Herz kalt und unempfindlich zu nennen.
Ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß Rosalie ganz ihm angehören würde, wenn er wollte; denn ihr Verstand mußte sie leiten; aber er verlangte mehr von ihr; Liebe, feurige Erwiderung seiner Gefühle, und mit klopfendem Herzen suchte er nach den Spuren einer zärtlichen Empfindung und fand nichts, als die Ruhe und Güte einer schönen, befreundeten Seele.
Nach und nach überfielen ihn diese Gedanken auch in ihrer Nähe, und dann saß er einsilbig oder stumm an ihrer Seite, bis er plötzlich aufstand und sich schnell entfernte. Rosalie beobachtete ihn mit Kummer. Es war ihr nicht verborgen, was ihn bewegte, sie wußte, welchen Theil sie daran hatte. Nach ernster Ueberlegung fand sie, daß es hohe Zeit sei, den theuern Freund zu versöhnen, und selbst Schritte zu thun, um ihn der innern Zerrissenheit zu entreißen. Sie war ihm Dankbarkeit schuldig; sie hatte längst erfahren, daß er es war, der heimlich alle ihre kleinen Bilder kaufte, daß sie ihm allein alle die Gemächlichkeit und Ruhe verdankte, in denen sie seit einem Jahre lebte, und diese zarte Freundschaft war ein wohlthätiges Band, welches sie nicht zu zerreißen wagte. Aber Rosalie war diesem edelmüthigen Freunde um so mehr die vollste Wahrheit schuldig, als sie sah, wie schwer seine Zuneigung ihn zu belasten begann.
Es war ein heiterer, sonnenvoller Abend, als Forstberg in den Garten trat. Der Spätsommer leuchtete in voller Schöne aus dem tiefblauen, reinen Himmel, die durchsichtige Luft fächelte ihm mild entgegen und die röthlichen Sonnenstrahlen spielten in den Gipfeln der Bäume, und leuchteten farbenschimmernd und lebhaft von allen Blumen und reifenden Früchten zurück. Ein sanftes, wehmüthiges Gefühl glänzte in Forstberg's Augen. Es fiel ihm ein, wie anders es sein würde, wenn Rosalie ihm hier entgegen käme, wenn die Geliebte ihn als Braut empfinge, und diese Alles belebende, sehnsuchtsvolle Sonne bestimmt sei, sein Glück zu bescheinen.
Traurig und verdüstert ging er den laubigen Gang hinab, es war ihm unmöglich, jetzt Rosalien gegenüber zu treten, er durchstrich die Gänge und stand plötzlich im entferntesten Theile des Gartens vor dem Professor, der ihn ängstlich und verlegen anstarrte. Der alte Mann hatte einen großen Korb in der Hand und lehnte sich an eine Leiter, welche er in die Zweige eines gewaltigen Birnbaumes gesetzt hatte. Seine verfallene Gestalt und der scheue Blick seines Auges zeigten zur Genüge, wie krank und verwirrten Sinnes er sei.
Als Forstberg ihn grüßte, eilte er auf ihn zu und ergriff dessen beide Hände, die er ängstlich drückte.
Verrathen Sie mich nicht, sagte er, sagen Sie Niemanden, wo ich bin, und was ich thue.
Und was thun Sie denn? fragte Forstberg lächelnd.
Ich will Birnen pflücken und sie dann verkaufen, sagte der Alte leise.
Der Garten und seine Früchte sind aber nicht Ihr Eigenthum, erwiderte Jener.
Allerdings, versetzte der Professor; aber sollen wir denn verhungern, steht die Selbsterhaltung nicht höher, als alles Eigenthum? Ich besitze ja nichts, und ich muß doch leben. Seit drei Tagen habe ich nun nichts gegessen. Ist es denn nicht schrecklich, daß ich aus Noth sterben soll?
Und Rosalie hätte nicht für Sie gesorgt? rief Forstberg.
Freilich, flüsterte der Alte; aber wenn ich esse, wird es ja stets weniger und wir haben nichts, um Neues zu schaffen. Das kann ich nicht, das darf ich nicht, wie soll es denn morgen werden, oder gar in der nächsten Woche? Nein, lassen Sie mich, hier sind so viele Birnen, daß es Niemand merkt, und Sie werden mich gewiß nicht verrathen.
Er machte sich los und stieg schnell die Leiter hinauf. Forstberg war tief erschüttert.
Wie viele Qualen noch wird dieser zerstörte Geist sich selbst und Rosalien bereiten! sagte er. Und wenn er endlich geschieden ist, was wird dann ihr Schicksal sein!
Er ging langsam zurück, und sah Rosalien auf der Rasenbank an der Thür sitzen. Sie hatte ein Buch in der Hand, das sie fortlegte und ihm freundlich entgegenkam.
Ich habe Sie lange erwartet, sagte sie, setzen Sie sich zu mir, ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.
Forstberg nahm das Buch auf, es war Goethe's Tasso. Er sah sie fragend an.
Rosalie legte die Hand auf das Buch und sagte lächelnd:
Welcher von den beiden Charakteren, Tasso oder Antonio, dünkt Sie des Mannes würdiger? Der liebeglühende, begeisterte Schwärmer oder der ernste, lebenskluge Welt- und Menschenkenner?
Ich glaube, sagte Forstberg verwundert über diese plötzliche Frage, der Dichter wollte diese beiden strengen Gegensätze des Idealen und Realen hier neben einander stellen, und indem er uns die edelste Gestaltung eines Geistes bewundern läßt, der über seiner innern Welt die andern, außer ihm, vergißt, uns einschärfen, daß es nicht genügt, feurig zu empfinden und im glänzenden Schwunge der Begeisterung die Welt zu vergessen, sondern auch der Blick auf die gegebenen Verhältnisse des Lebens zu richten sei, wenn man nicht darin untergehen will.
So erklären Sie denn Antonio als den Mann, wie er sein soll? sagte Rosalie.
Vergessen Sie nicht, erwiderte Forstberg, daß diese beiden Gestaltungen vom Dichter gleichsam als Repräsentanten zweier Grundzüge des ganzen menschlichen Charakters gezeichnet und in den schärfsten Consequenzen durchgeführt sind. Auf der einen Seite Phantasie und tiefe Empfindung für alles Edle und Schöne, ein Sturm leicht erregter Gefühle, eine glühende Hingebung an den Augenblick, die leichtsinnige Herrschaft der Sinne und des Blutes, ohne Ruhe, ohne Ueberlegung, und auf der andern die kalte, kluge Berechnung, die diplomatische Zähmung aller Leidenschaft, die Durchdringung der sichersten Verständigkeit eines Kaufmannes, der mit Hülfe seiner scharfsinnigen Speculationen den größten materiellen Nutzen aus dem Leben zu ziehen weiß. Es ist der ewige Streit der Herrschaft zwischen Herz und Kopf, zwischen Empfindung und Gedanken, und die Menschheit ist einem der beiden Herrscher unterworfen, ohne gerade doch dem Einen ausschließlich anzugehören. Es fragt sich nur, welche Gewalt die mächtigere ist. Der Verstand mit seinen klugen, kalten Rathschlägen, der aus dem Leben ein Raffinement des Gedankens machen kann –
Oder das heißblütige Herz, fiel Rosalie ein, das in seiner selbstgeschaffenen Traumwelt vom wahren Leben berührt bis zur Narrheit, zum Wahnsinn und zur Verzweiflung geführt wird.
Darum, sagte Forstberg erregter, ist es die größte Wohlthat des Himmels, daß so selten das Eine oder das Andere ausschließlich im Menschen erscheint.
Und, wem gehören Sie als Unterthan an, mein theurer Freund? fragte Rosalie.
Forstberg blickte zu Rosalien empor.
Ich glaube, dem Blute und dem Herzen, erwiderte er lächelnd; denn wenn Ihr Umgang mich auch fast zum Proselyten gemacht hat, so fürchte ich doch, der Augenblick wird stets mächtiger sein, als alle gute Lehre.
Und ich, versetzte sie sinnend, bin also vom Reiche des warmen Empfindens ausgeschlossen. Sie mögen Recht haben und doch haben Sie auch Unrecht. Ich empfinde tief und wahr, und mit Begeisterung zaubere ich mir eine Welt der schönsten Träume. Aber ich mische sie nicht in das Leben, ich vergesse nicht, daß ich träume. Und wer ist glücklicher: der Mensch, welcher sich aussöhnt mit dem Geschick, der mit festem Muthe ihm ins Auge blickt, oder der ewig Hoffnungsvolle, dem tausend Blumen blühen, und der um jede weint und verzweifelt? O ich weiß, er hat auch Freuden, die eine ruhige Brust nicht kennt, und dasselbe Blut, das ihn um jede verfehlte Minute peinigt, hilft ihm leicht auch wieder zur neuen Schwärmerei. Ja, Forstberg, Sie haben Recht, mein Herz ist meiner Vernunft tief untergeordnet, aber besiegt nach einem langen Kampfe ist es nicht getödtet. Wehe Dem, der das von sich sagt, er müßte ein Ungeheuer sein, aber wehe auch Dem, der dem Herzen nur angehört. Das Herz ist ein thörichtes, wankelmüthiges Wesen, sinnlos, leidenschaftlich, heimtückisch und verblendend, das Gespenst des Lebens, das magische Kreise um uns zieht, unsere Sinne benebelt mit zauberisch schönen Gestalten, die, wenn wir zu spät erwachen, zu Gerippen und schrecklichen Phantomen werden. Man muß den Wahn zerreißen, sei er noch so lieblich, und auch Sie träumen, Forstberg; ich muß Sie aufwecken, mein Freund.
Ein elektrischer Strahl zuckte durch sein Herz, als Rosalie jetzt seine Hand ergriff und mild in sein glänzendes Auge schaute.
Sie lieben mich, Forstberg; sagte sie, und seit einiger Zeit sind Sie zu dem Entschluß gekommen, mir Ihre Hand zu bieten.
Und nun, erwiderte Forstberg erschüttert, wollen Sie mir beweisen, daß dies eine Thorheit sei, daß ich nichts zu hoffen habe.
Nein, mein theurer Freund, rief Rosalie, nichts will ich, als Sie zu einer Prüfung auffordern, ob ich Sie wahrhaft glücklich machen kann. Glauben Sie das, so will ich die Ihre sein, und mein Leben, mein ganzes Dasein soll nur Ihnen gehören.
So reden Sie, rief Forstberg, und umfing die schöne Gestalt, ich werde antworten und alle Liebesgötter müssen mir beistehen.
Nehmen Sie zuerst das Bekenntniß, daß ich Ihnen herzlich zugethan bin, sagte Rosalie. Nicht Ihre zarte Freundschaft allein, auch nicht die Dankbarkeit bewegt mich zu diesen Empfindungen, es ist das Gefühl, welches ein guter und verständiger Mensch erregt, der mit den bewegenden Kräften seines Lebens in das meine greift und Anknüpfungspunkte dort findet zu einem fortgesetzten Erkennen. Ich achte Sie hoch, Forstberg, ich empfinde ganz Ihren Werth, ich weiß, daß ich an Ihrer Seite nicht unglücklich sein würde, aber ich liebe Sie nicht.
Langsam fiel Forstberg's Hand aus der ihren, eine brennende Röthe flog über sein Gesicht.
Das ist es, sagte er, Sie lieben nichts, Rosalie, denn Sie hassen nichts!
Ich liebe, versetzte sie mit Ergebung, und ich hasse, aber beides nicht mit der Leidenschaft des Blutes, sondern aus der überzeugenden Kraft meines Geistes. Ich habe Stern geliebt, und ich liebe ihn noch, nichts kann mich davon trennen. Sie sind ein feuriger Mann, Forstberg, das Blut, die Empfindungen des Augenblicks haben großen Theil an Ihrer Zukunft, und ein Wesen, wie ich, kalt, ruhig und überlegend, kann Ihnen nicht genügen. Nicht mein Schicksal bedenke ich, es ist das Ihre, das mich bekümmert. Sie sind gezwungen der großen Welt zu leben, ich liebe den kleinen Kreis vertrauter Freunde; Sie haben alle Vortheile, alle Vorzüge, um ein heiteres, buntes und wechselvolles Leben zu genießen; mein Sinn aber wendet sich der Häuslichkeit, dem sinnenden Glück und einer Stille zu, die Ihnen bald langweilig, vielleicht unerträglich werden würde.
So wenig also habe ich Ihre Achtung erringen können! sagte Forstberg schmerzlich.
Meine Achtung, rief Rosalie, zeigte ich Ihnen nie mehr, als in diesem Augenblicke. Zwei Wege sind für unsere Zukunft denkbar, Forstberg, und beide führen nicht zum Glück. Entweder Sie ermüden an dieser Stille meiner Seele, Sie zerreißen die Bande, welche meine Nähe um ihre ursprüngliche Natur legte, und stürzen sich mit doppelter Heftigkeit in den lauten Kreis des Lebens, und dann, mein theurer Freund, bin ich Ihre Quälerin, der trübe Hintergrund Ihrer Gedanken, der Quell eines Schmerzes, der Ihr ganzes Dasein verwüstet, und Ihr heißes Blut zu allen Ausschweifungen treibt, um die Wahrheit zu vergessen, oder – sie hielt ihre Rede ein und sah forschend in sein bleiches Gesicht, das er fragend auf sie richtete – die Macht meines Wesens ist zu groß für Sie, die aufgezwungene Herrschaft zu gewaltig. Ihr eigenes Leben erstickt darin, Sie vegetiren weiter, ordnen und schicken sich in das Verhältniß, als ein freundlicher gefälliger Mann, aber willenlos, schwach, ewig schwankend, bis die letzte Spur ihrer eigenen Kraft gebrochen ist, und die Maschine gefügig ganz dem fremden Einflusse gehorcht.
Eine lange Pause folgte. Forstberg hielt das Auge auf den Boden gerichtet, in seiner Brust arbeiteten heftige Empfindungen. Liebe und Stolz, ein stürmisches Zürnen über Rosaliens selbstsüchtigen Anspruch, ein Erkennen der Wahrheit und eine schamhafte Erbitterung dagegen, färbten seine Züge mit dem dunkelsten Roth.
Und es gibt nicht einen dritten Weg, sagte er dann, den Weg der Aussöhnung zwischen dem Entgegengesetzten? Halten Sie sich für so unwandelbar und vollendet, Rosalie, daß auch mein Wesen nicht das Ihrige durchdringen und eine Verschmelzung Alles vermitteln könnte? Sie stehen einsam und geschieden von dem Leben, ich versöhne Sie damit. Sie verachten das Gewöhnliche, ich gleiche diesen Streit aus. Wir mischen dies widerstrebende Verhältniß zwischen Verstand und Herz, und während ich Ihnen die Empfindungen des Augenblicks verstärke, geben Sie mir den Adel des Bewußtseins.
Empfinde ich denn nicht? versetzte Rosalie lebhaft ergriffen. Schlägt nicht mein Herz feurig für alles Schöne und Gute; entzückt mich nicht eine Blume, ein Stern, ein Gedanke, ein feuriges Abendroth? Nehme ich nicht Theil an allen Freuden und Schmerzen, die ein Wesen treffen können? Aber was Sie sagen, ist dennoch nicht ohne Wahrheit, und ich bedarf einer Aussöhnung mit den Gestaltungen des Lebens, die mir unerquicklich und öde erscheinen. Glauben Sie das zu können, Forstberg, so bin ich die Ihre. Ja, mein theurer Freund, ich bin es mit freudigem Vertrauen; lassen Sie uns versuchen, glücklich zu machen und glücklich zu sein.
Lebhaft ergriff Forstberg Rosaliens Hand und eben wollte er eine betheuernde Antwort geben, als durch den stillen Garten der krachende Schall eines brechenden Baumes klang.
Was ist das? sagte Rosalie.
Guter Gott! rief Forstberg. Ihr Vater – ich fürchte ein Unglück.
Rosalie lief schnell den Gang hinab.
Bleiben Sie, rief Forstberg, hören Sie mich, Rosalie!
Sie hörte nicht, und schneller als der nacheilende Freund erreichte sie den Baum. Die Leiter lag umgestürzt, ein großer abgebrochener Zweig bedeckte sie, und unter seinen Blättern und Früchten ruhte der regungslose Körper des alten Mannes.
Einen Augenblick starrte Rosalie bleich und zitternd auf die schreckliche Entdeckung, dann schleuderte sie mit Heftigkeit Zweig und Leiter fort und kniete an der Seite ihres Vaters nieder.
Er athmet noch, rief sie, und sprang schnell empor, helfen Sie, Forstberg, helfen Sie schnell.
Mit Anstrengung hob sie den zerschmetterten Körper empor, und Beide trugen ihn langsam in das Haus. Als sie ihn auf sein Bett legten, athmete der Greis tief auf, es war sein letzter Seufzer. Rosalie war auf einen Stuhl gesunken, sie nahm die herabsinkende Hand ihres Vaters und drückte sie in zitterndem Schmerze an ihre Brust.
Forstberg ergriff den Hut und stürzte zur Thür.
Wohin wollen Sie gehen? fragte Rosalie.
Ihnen Hülfe schaffen, einen Arzt, rief er entsetzt.
Bleiben Sie, erwiderte sie sanft, er bedarf des Arztes nicht mehr, er ist todt.
Sie kreuzte die Hände des Geschiedenen auf die ewig stille Brust und küßte seine Stirn. Dann wendete sie sich um. Das letzte Abendroth warf seinen glühenden Schein durch das Fenster, es glänzte mild um das blasse Gesicht des Todes. Erhaben in seinem Glanze stand die edle Gestalt Rosaliens, und geisterhaft lächelnd zerdrückte sie die Thränen in ihren Augen.
Forstberg sah traurig und bestürzt zu ihr hin. Er begriff diese Fassung nicht, die eine erstarrende Kälte in ihm weckte. In diesem schrecklichen Augenblicke hatte sie keine Klage, das vermehrte sein Entsetzen. Leise öffnete sich jetzt die Thür und Stern trat herein. Er sah bleich und angegriffen aus, und langsam, ohne Forstberg zu sehen, ging er auf Rosalien zu.
Da bin ich, sagte er, Du hattest Recht, ich habe ein furchtbares Experiment mit mir selbst gemacht. Ich bin erschöpft, mein Kind ist todt, und meine Frau hat mich verlassen, weil ich sie unglücklich machte. Ich suche Ruhe und Versöhnung bei Dir, Rosalie, willst Du mich aufnehmen, oder muß ich gehen?
Rosalie deutete ernst auf das Bett. Dort liegt mein Vater, sagte sie.
Er ist todt! rief Stern.
Und hier steht mein Verlobter, fuhr Rosalie mit fester Stimme fort.
Stern blickte Forstberg an, und sein gramerfülltes Gesicht belebte sich plötzlich, ein heftiger, krampfhafter Schmerz zuckte darin.
Werdet glücklich! rief er, und seine Stimme tönte wie eine prophetische Warnung – glücklicher als ich, das ist mein Hochzeitswunsch.
Er wendete sich still ab und ging der Thür zu, als Forstberg seinen Arm ergriff und ihn rasch zurück zu Rosalien zog. Ohne Wort legte er Beider Hände zusammen, dann stürzte er hinaus.
Einen Augenblick stand Stern tiefsinnend, versunken in Träumen, dann schlang er mit Heftigkeit beide Arme um Rosalien. Sie lag an seiner Brust, seine Thränen flossen heiß auf ihre weinenden Augen.
Meine Rosalie, rief, er endlich, Du vergibst dem Irrenden?
Wir werden glücklich sein, mein Gustav, sagte sie und blickte mit den großen begeisterten Augen zu ihm empor; ich empfinde es, das ist unsere Bestimmung.
In einem Jahre war Rosalie Stern's glückliche Gattin, der nicht verlegen umhersah, als sein alter Vater fröhliche, einfache Segensworte an der hochzeitlichen Tafel sprach und die Mutter entzückt die geschmückte, junge Frau umarmte.
Als die Vermählten allein waren, reichte Stern seiner Gattin eine Karte, die er vor wenigen Stunden empfangen hatte. Rosalie las lächelnd. Es war die Verlobung der geschiedenen Medicinalräthin Stern mit dem geheimen Finanzrath von Forstberg.
Eine Freude mehr an diesem schönen Tage, rief sie. So nur konnten sie glücklich werden, und Beide werden es sein.