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Fräulein Lina saß in einer Ecke des Sophas. Sie hatte ihr bestes seidenes Kleid angezogen, erst kürzlich nach der neuesten Mode geändert. Es war schon ziemlich spät am Tage, denn Fräulein Lina hatte lange mit den wirthschaftlichen Verhältnissen im Hause ihres Bruders, des Herrn Daniel Lindenberg, zu thun gehabt, dem sie eifrig und ruhmvoll vorstand; noch mehr Zeit jedoch erforderten heut ihre eigenen Angelegenheiten, denn sie hatte eine geheimnisvolle Jagd auf mehrere graue Verräther angestellt, welche endlich glücklich gefangen und erbarmungslos in aller Stille aus der Welt geschafft wurden. Jetzt war ihr braunes Haar dafür auch schön und duftend gescheitelt, und sie setzte auf diesen fleckenlosen Grund ein Häubchen von Kanten mit rosigen Schleifen und rosigen Bändern und blickte dann mit Selbstzufriedenheit in den Toilettenspiegel.
Kommt man in gewisse Jahre, sagte sie dabei leise zu sich selbst, so muß man einige größere Aufmerksamkeit auf sein Aussehen verwenden. Man braucht gar nicht eitel zu sein, ich bin gewiß sehr weit davon entfernt, denn worauf sollte ich wohl, eitel sein? Allein es gehört zur Ordnung und zum anständigen Benehmen, und man muß den Leuten nichts zu reden geben, besonders wenn man einen so vorlauten jungen Naseweis im Hause hat, wie Sabine ist, der über Alles seine Bemerkungen macht. Im Uebrigen sehe ich doch wirklich noch recht gut aus, lächelte sie in den Spiegel hinein, und kann Gott dafür danken, denn wie verhalten sich manche Andere dagegen, die jünger sind, als ich!
Hier hielt Fräulein Lina inne und blickte scheu umher, als hätte sie ein schreckliches Geheimniß ausgeplaudert. Es däuchte ihr, als habe sie ein Geräusch gehört; allein es war nichts, es kam Niemand. Sie konnte ohne Störung ihren Anzug vollenden und ihren Monolog fortsetzen.
Wer sollte denn auch jetzt wohl kommen? sagte sie. Mein Bruder hat viel zu viel mit sich selbst zu thun, mit seinen Zeitungen, seinen gelehrten Forschungen und mit Sabinen, seinem Herzblättchen. Das Herzblättchen aber ist davon gelaufen, um sich neue Musikalien und Bücher einzuholen, wahrscheinlich wird es auch wohl die Frau Hofräthin besuchen und dort wie gewöhnlich kleben bleiben, was aber endlich den Herrn Professor betrifft – ja, der studirt oder liest Collegia und vergißt darüber die ganze Welt, also auch –
Hier hielt Fräulein Lina abermals inne und diesmal täuschte sie sich nicht, es kamen wirklich Schritte den Gang herunter auf ihre Thür los, und kaum hatte sie mit eiliger Hand ihre Jagdgeräthe, sammt einigen Büchschen und Töpfchen in den Toilettenkasten gesteckt, als auch schon ein Kopf sichtbar wurde und eine laute, scharfe Stimme fragte:
Bist du hier, Lina?
Ja, lieber Bruder, erwiderte Fräulein Lina.
Es war somit Herr Daniel Lindenberg, der seine Schwester aufsuchte; einige Augenblicke darauf stand er vor ihr. Der große, stattliche Mann, wohlbeleibt, mit wohlgebildetem Gesicht, sah seiner Schwester ähnlich, allein er schien im Betreff grauer Haare andere Ansichten zu haben, als diese. Er überließ es offenbar seinem Kopfe, sich in derjenigen Farbe zu bleiben, welche ihm am besten behagte, doch schien dieser Kopf selbst nicht recht zu wissen, was er wollte. Auf seiner hohen Stirn hatte es ihm zwar beliebt, jeden Zweifel zu beseitigen, er hatte dort die reine Fahne der Unschuld aufgepflanzt, im Uebrigen aber stritten sich mehrere andere um den Sieg, und Niemand konnte sagen, welches die wahre Grundfarbe seiner Vergangenheit sei oder die Farbe seiner Zukunft sein würde.
Das rothe, vollwangige Gesicht des Herrn Daniel Lindenberg, mit seinen lebhaften Augen, der langen, schmalen Nase und dem vollgebildeten Mund, hatte, obwohl man ihm nachrechnete, daß er in der Mitte der Fünfzig sein müsse, noch etwas Jugendliches, nur störten dabei die ergrauten Augenbrauen; sein Gesicht besaß überhaupt bei ernsten und festen Zügen viel Freundliches und Einnehmendes, doch gab es auch gewisse Falten und einen Ausdruck darin, der weit mehr starrsinnig als nachgiebig und bei Weitem mehr selbstbewußt und selbstvertrauend aussah, als willfährig und schwach.
Der stattliche Mann hielt auch wie seine Schwester etwas auf seinen Anzug. Er steckte gegenwärtig in einem bequemen Hausrock, doch dieser bestand aus feinem Stoff und war mit blauem Tibet geschmackvoll ausgeschlagen. Im Uebrigen erschien Herr Lindenberg vollständig gekleidet und sein glatt rasirtes Kinn in ein Seidentuch gelegt, zu dessen beiden Seiten die sauberen Kragenspitzen weit hervorschauten. In der Hand hielt er ein großes Zeitungsblatt.
Seine ersten Worte waren: Wo ist Sabine?
Sie ist ausgegangen, lieber Bruder, erwiderte Fräulein Lina weich und unterwürfig.
Ausgegangen! rief Herr Daniel Lindenberg, indem er seine Schwester strafend anblickte. Warum weiß ich nichts davon?
Sie hat dich wohl nicht stören wollen, lieber Bruder, sagte Fräulein Lina mit derselben Sanftmuth, auch wollte sie bald zurück sein.
Man kann nicht mehr in Ruhe seine Zeitung lesen, erwiderte Herr Lindenberg sich über die Stirn streichend. Ich habe den Kopf so voll von allerlei wichtigen Dingen; nun muß mir auch das neue Störungen verursachen.
Was hast du denn für Aergerniß, lieber Bruder? fragte Fräulein Lina theilnehmend.
Herr Daniel Lindenberg sah sie still und nachdenklich
Es ist gar keine Frage, wer Recht hat, antwortete er nach einigen Minuten. Adam Smith, oder diese erbärmlichen Krämer, die keine Begriffe von dem haben, was sie thun.
Fräulein Lina schwieg stille, denn ihr Bruder sah sie an, als gehöre sie selbst zu diesen erbärmlichen Krämern. Es ist lächerlich! rief er, indem er sie noch schärfer durchbohrte, wie weit die Tollheit bei alten verbrauchten Menschen geht!
Bei diesen anzüglichen Worten fühlte Fräulein Lina eine sittliche Empörung. Ich weiß nicht, sagte sie erröthend, womit du solche harte Beschuldigungen rechtfertigen willst.
Ich werde sie rechtfertigen, versetzte Herr Lindenberg mit erhöhtem Stolz, oder vielmehr es wird sich selbst rechtfertigen, Lina, denn da hilft keine Schminke, keine Spiegelfechterei. Die Wahrheit kommt doch an den Tag; du wirst es sehen, es hilft Alles nichts. Zuletzt wird man mit allen solchen Kunststückchen doch nur ausgelacht.
Aber Bruder! erwiderte Fräulein Lina verwirrt und aufgeregt. Ich begreife nicht, wie du mir das Alles sagen kannst!
Ja so, du, antwortete Herr Lindenberg besänftigter, du verstehst freilich nichts davon, aber der Professor soll mir kommen. Heut steht es in der Zeitung, der Magistrat hat an das Staatsministerium geschrieben, es soll dem Kornwucher steuern, soll Gesetze geben, damit das Korn billig werde, und die Herren Stadträthe große Semmeln zum Frühstück essen können. Ist das nicht dumm, albern, verrückt!
Fräulein Lina sah bei dieser Aufklärung und ihres Bruders Gelächter ihren Irrthum ein, allein sie nahm sich als gute Hausfrau des gescholtenen Magistrates nichts destoweniger an.
Man braucht nicht eben Stadtrath zu sein, sagte sie, um große Semmeln zu lieben, und eine Schande ist es, wie klein die Brote jetzt sind.
Bist du denn wirklich so so kurzsichtig, Lina, fragte Herr Lindenberg erstaunt, indem er seine Hände mit dem Zeitungsblatt auf seinen Rücken legte und den Oberleib zu ihr vorbog, um nicht einzusehen, daß kleine Brote eine wahre Wohlthat für uns, wie für die gesammte Menschheit sind?
Eine Wohlthat? fragte Fräulein Lina. Das begreife ich nicht.
So, sagte Herr Lindenberg mitleidig, indem er an sein Kinn faßte und sehr würdevoll nickte, das begreifst du nicht. Wenn also die Ernte schlecht oder mittelmäßig ausfällt, und man wollte fortfahren große Brote zu backen, würde dann nicht sehr bald eine vollständige Hungersnoth eintreten? Die Vorräthe würden verzehrt werden, die Speisekammern so leer sein, daß nicht ein Korn übrig bliebe, und wir könnten uns zuletzt unter einander selbst aufessen, wie die Menschenfresser in der Südsee, welche ihre eigenen Kinder nicht verschonen. Schauderhaft!
Herr Lindenberg sprach mit dem vollen Gefühl der Wahrheit, und sein Gesicht drückte das Entsetzen aus, das er vor den Folgen der großen Brote empfand. Auch Fräulein Lina wurde davon ergriffen, sie sah sehr ernsthaft ihren Bruder an, und obgleich es ihr schwer fiel, ihre Vorurtheile zu besiegen, sagte sie dennoch: du hast Recht, Bruder, es ist nothwendig zum Wohle der leidenden Menschheit, wenn diese etwas hungert; aber möchte es kommen, wie es wollte, wir würden uns doch bei der schrecklichsten Hungersnoth nicht selbst anfallen, und du, Bruder, du würdest doch nicht – nein, das könntest du niemals – das könntest du nicht, und wenn es dein Leben kosten sollte!
Meine liebe Schwester, antwortete Herr Lindenberg würdig und belehrend, wenn es einem Menschen ans Leben geht, so kann er Alles, denn unter dergleichen Umständen hören alle Rücksichten auf.
Du könntest also Sabinen verzehren! rief Fräulein Lina mit Heftigkeit.
Sabinen! erwiderte Herr Lindenberg überlegend, und dann mit energischer Entschlossenheit: Wenn es durchaus sein müßte, warum nicht! Denn, Lina, der Trieb der Selbsterhaltung ist der erste und höchste in jedem Menschen. Aber – er fing an zu lachen und fuhr dabei fort: Das sind ja Thorheiten, Lina, man muß die Consequenzen nicht auf die Spitze treiben.
Aber es ist schrecklich! rief Fräulein Lina, ihre Hände ringend, wenn man bedenkt, was durch Noth geschehen kann. Ein Familienvater, der eine zahlreiche Familie besitzt –
Warum hat er sie! fiel Herr Lindenberg ein.
Aber Bruder, wenn er verheirathet ist?
Warum ist er verheirathet! schrie Herr Lindenberg. Gott sei Dank! fügte er gelassener hinzu, daß du nie geheirathet hast, Lina. Es ist dir doch gewiß lieb!
Du kennst meine Grundsätze, Bruder, sagte Fräulein Lina, indem sie den Toilettenkasten zuschloß.
Du bist immer verständig gewesen, erwiderte Herr Lindenberg, ich freue mich darüber.
Leichtsinnige Ehen giebt es genug, setzte Fräulein Lina hinzu, während sie den Kasten fortstellte.
Jede Ehe ist leichtsinnig, sprach Herr Lindenberg entscheidend, ich habe es kennen gelernt; man muß vor der besten zittern. In jetziger Zeit aber muß sich jeder vernünftige Mensch noch viel mehr davor hüten.
Warum denn in jetziger Zeit, lieber Bruder? fragte Fräulein Lina aufmerksam. O, du meinst –
Ich meine nichts, unterbrach er sie, denn ich halte nichts von Meinungen, aber ich bin aus Gründen überzeugt, daß das Heirathen jetzt noch viel weniger vernünftig ist, als früher, und preise mich glücklich, daß Sabine – O, sagte er sich unterbrechend, ich habe ganz vergessen, warum ich eigentlich gekommen bin, aber du weißt es wohl schon?
Wie sollte das möglich sein! erwiderte Fräulein Lina.
Nicht? fuhr er fort, indem er seine Hände auf den Rücken legte, sich vorbeugte und seine Schwester betrachtete. Aber du hast dich ja so prächtig ausgeputzt, als würden Gäste erwartet!
Wir erwarten ja auch einen Gast; du hast den Professor eingeladen.
Richtig, den habe ich eingeladen! Ich habe so viele wichtige Fragen in meinem Kopf, daß ich nicht mehr daran dachte. Aber Lina, fügte er mit seinem verständigen Lächeln hinzu, wenn du um unseren guten Professor dir solche Mühe gegeben hast, so bedaure ich dich. Der sieht nichts davon und empfindet nichts davon. Du könntest wie Eva im Paradiese erscheinen, er würde nicht das Geringste bemerken.
O, Bruder, sagte Fräulein Lina erregt.
Es ist gut, fiel Herr Lindenberg ein, ich freue mich, daß du dich geputzt hast, denn wir werden andere Gäste bekommen, die sich besser darauf verstehen. Eben schreibt mir die Hofräthin, daß ihr Sohn, daß Ferdinand in einer Stunde hier sein wird. So habe ich denn gleich den Karl hingeschickt und sie beide einladen lassen, bei uns zu speisen, wenn es ihnen angenehm wäre.
Da werde ich in schöne Verlegenheit gerathen, rief Fräulein Lina erschrocken, denn ich bin nicht darauf eingerichtet, einen jungen Herrn zu bewirthen, der seit Jahren so vornehm zu leben gewohnt ist.
Gar keine Umstände sollst du mit ihm machen, gar keine, sagte Herr Lindenberg. Er ist Adjutant beim Prinzen Friedrich und mag an der prinzlichen Tafel meinetwegen alle Tage Fasanen gespeist haben, aber als Offizier hat er die Verpflichtung, genügsam zu leben; hörst du, Lina, er ist dazu verpflichtet!
Herr Lindenberg setzte den Finger auf seine Brust und sprach mit Nachdruck:
Adam Smith, Lina, sagt von dem Soldatenstande, daß dieser überhaupt der allergenügsamste im Staate sein müsse, da er am wenigsten zur Vermehrung des Nationalvermögens beitrage.
Fräulein Lina schien durch diesen Beweis ihres Bruders zwar nicht überzeugt zu sein, allein sie fand sich in das Unabänderliche und machte im Stillen einige verwegene Pläne, was für die unerwarteten Gäste und zur Verherrlichung ihres eigenen Ruhms geschehen könnte. Die Frau Hofräthin von Stein war eine Dame, welche in allen Künsten der höheren wirthschaftlichen und häuslichen Durchbildung als Notabilität zu betrachten war. Sie besaß einen durchdringenden Blick und eben so feinen Geschmack und da der selige Hofrath ein ausgezeichneter Kenner wie Verehrer der pikantesten und interessantesten Gaumenbelustigungen bis an sein seliges Ende gewesen, hatte sie in den Jahren einer langen und glücklichen Ehe ausgezeichnete Erfahrungen machen können.
Fräulein Lina hatte auch aus der Freundschaft dieser vortrefflichen Frau schon manchen großen Nutzen gezogen, denn manches Geheimniß war dadurch in ihren Besitz gekommen. In Folge der Regeln der Nationalökonomie und seiner hohen Verehrung für Adam Smith war Herr Daniel Lindenberg treu bei dem Satze stehen geblieben, daß die unproductiven Arbeiter, das heißt die reichen Leute, welche von den Zinsen und Einkünften ihres Vermögens leben, für den Nationalwohlstand am besten sorgen helfen, wenn sie ihre Einnahmen auch wieder ausgeben und nicht etwa das unproductive Tauschmittel, Geld, zusammenzusparen suchen. Herr Lindenberg lebte daher, wie ein für das Wohl der Menschheit besorgter reicher Mann leben muß. Er war wohlthätig und nach allen Seiten freigebig, auch liebte er, wie sein verewigter Freund, der Hofrath von Stein, die genußvollen Stunden, welche für so viele beglückte Sterbliche des Lebens höchsten Reiz enthalten.
Fräulein Lina ging in diesem Augenblick ein ganzer Küchenzettel voll großartiger Gedanken durch den Kopf, in der nächsten Minute aber verblaßte dieser vor einer anderen Gedankencombination, welche so überraschend auf sie eindrang, daß sie ihren Bruder mit erschrockenen Augen starr anblickte.
Herr Lindenberg hielt noch immer seine Hände auf seinem Rücken und schien geneigt zu sein, seine belehrenden Grundsätze zu vervollständigen. Bei dem veränderten Anblick seiner Schwester richtete er sich jedoch auf, zog seine Hände hervor und sagte sorglich: Ich weiß nicht, was dir ist, Lina, aber du siehst aus, als ob uns ein Unglück bevorstände.
Ein Unglück, will ich nicht behaupten, versetzte sie, aber Sabine –
Was ist mit Sabinen?
Ich glaube wirklich, sie ist zu der Hofräthin gegangen, sagte Fräulein Lina.
Nun, und was weiter?
Sie wird also mit Herrn Ferdinand, dem Herrn Adjutanten, vielleicht dort zusammentreffen.
Das ist allerdings möglich. Sie bringt ihn vielleicht sogar gleich mit.
Mitbringen? fragte Fräulein Lina vorwurfsvoll.
Warum denn nicht? erwiderte Herr Lindenberg. Sie kennen sich ja aus alter Zeit, wenn auch Jahre seitdem vergangen sind.
Aber, lieber Bruder, ein junger Offizier und –
Fräulein Lina sprach nicht weiter, allein ihre Mienen drückten hinlänglich aus, was sie verschwieg.
Meine liebe Schwester, antwortete Herr Lindenberg mit einem feinen Lächeln, indem er den blauen Tibetkragen weiter überschlug, ich merke wohl, was dich beunruhigt; sei jedoch ohne alle Sorge. Ich habe längst daran gedacht, was sich ereignen könnte, und habe meine Maßregeln genommen. Adam Smith sagt mit dem größten Rechte, daß die Voraussicht bei guter Zeit am besten jedes zu erwartende Uebel überwinde, und diese vortreffliche Lehre hat Jean Baptiste Say noch weiter entwickelt, indem er allen Menschen dringend anräth, für die Sicherheit ihres Lebens jederzeit und zu jeder Stunde zu sorgen. Das heißt, Lina, nicht etwa Sicherheit schlechtweg, sondern Sicherheit ihres Glücks, ihres Wohlstandes, ihrer Güter. Sabine ist mein theuerstes Gut, für dessen Erhaltung ich daher auch ganz natürlich alle möglichen Vorsichtsmaßregeln anwende.
Vorsichtsmaßregeln sind sehr gut, erwiderte Fräulein Lina mit sanfter Stimme, allein, lieber Bruder, ich kann nicht umhin dir zu bemerken, daß ich es nicht für sehr vorsichtig halte, wenn Sabine –
Stille! stille! fiel Herr Lindenberg pfiffig lächelnd ein, ich weiß was du sagen willst, aber ich weiß auch was ich will, kann, abwende und thue. So wenig du Gefahren zu fürchten hast, so wenig ist es bei ihr der Fall. – Ich bin stolz darauf, Lina, sehr stolz!
Herr Lindenberg sah wirklich wie ein Imperator aus, als er sein Haupt mit Selbstgefühl aufhob und einige triumphirende Schritte machte; im nächsten Augenblicke aber blieb er stehen und blickte erwartungsvoll nach der Thür hin.
Da kommen Sie wohl gar schon! rief er aus. Laß dir durchaus nichts merken, Lina. Man muß sich in nichts mit Verboten einmischen, sagt Adam Smith, es regelt sich Alles ganz von selbst. He, Sabine, hier sind wir – oho, Professor!
Mit diesen Worten hatte Herr Lindenberg die Thür geöffnet, aber er gewahrte draußen nicht seine Tochter, sondern den Professor Herbart, den er zum Mittag eingeladen. Jetzt jedoch war er bei dessen Anblick kaum weniger erstaunt als Fräulein Lina, denn es schien Beiden unerhört, daß der Professor sich zu solcher Zeit zu seinen Freunden verirrte.
Der Professor hatte die Ehre, mit Herrn Lindenberg verwandt zu sein, allerdings nur sehr entfernt durch Seitenverwandtschaften, zu welchen ein gutes Gedächtniß gehörte, um den eigentlichen Zusammenhang zu begreifen; allein dies war doch ausreichend gewesen, um den Professor in Haus und Familie einzuführen, wo er seit zwei Jahren ein ziemlich oft und gern gesehener Gast war.
Obwohl der Professor einen Lehrstuhl an der Universität inne hatte, auch Mitglied der Akademie war, hätten doch diejenigen sehr geirrt, welche daraus auf einen alten und ehrbaren Herrn schließen wollten. Professor Herbart war ein berühmter Sprachgelehrter, dabei jedoch nicht über die Dreißig hinaus, auch sah er eben nicht so aus, wie man sich einen gelehrten deutschen Professor gewöhnlich denkt, das heißt blaß und hager und steif und pedantisch, sondern eigentlich wenig oder gar nicht gelehrt. Er war nicht von hoher oder schöner Gestalt, aber doch von gefälliger und gelenkiger Form, und sein Gesicht mit dem schwarzen Kinn- und Backenbart, der Freundlichkeit darin, der breiten freien Stirn, über welcher ein dichter Wald von dunklem Haar wuchs, und den lebhaften Augen, welche unter einer silbernen Brille hervorblitzten, ließ nichts von sibyllinischer Weisheit merken. Weit eher hatte er etwas von dem Ansehen eines jungen Herrn, der in der Gesellschaft seinen Platz zu behaupten versteht und bei den Damen Glück macht, was auch gewiß der Fall gewesen wäre, wenn der Professor nur gewollt hätte.
Aber er wollte kein Glück bei den Damen machen, wenigstens entwickelte er keine ernsthaften Gefühle dafür; auch mangelte es ihm, trotz aller Lust zur geselligen Theilnahme, an der nothwendigen Dreistigkeit. Ein einladender Blick aus feurigen Augen verschüchterte ihn eben so sehr, wie ein schmachtendes Lächeln. Wurde er scharf angesehen, so fing er wohl gar an zu stottern, und ein zutrauliches Entgegenkommen brachte ihn alsbald in solche Verwirrung, daß er entweder davonlief, oder nicht mehr recht zu wissen schien, was er that und antwortete.
In dem Hause des Herrn Daniel Lindenberg, seines Verwandten, gefiel es dem Professor aber besonders gut, denn er konnte fast mit Allen darin gut auskommen und gerieth selten in Verlegenheit. Herr Lindenberg unterhielt sich mit ihm über die verschiedenartigsten Gegenstände, und seine Vielwisserei und Rechthaberei machte dem Professor sehr viel Vergnügen. Er, der auf seinem Gebiete des Wissens außerordentlich viel wußte, in vielen anderen Dingen aber völlig unerfahren war, fand hier einen Mann, der sich auf zwanzig wohlgesattelten Steckenpferden umhertummelte.
Herr Lindenberg war ein Nationalökonom, ein Baumeister, ein Pferdekenner, ein Techniker, ein Chemiker, ein Staatsmann, ein Ingenieur, kurz er wußte mit Allem Bescheid, und seine Ansichten waren die allein richtigen. Er las Zeitungen und Tagesblätter, kannte Schriftsteller und Dichter, besaß viele Bücher und beschäftigte sich mit allen möglichen Zeitfragen. Er hatte sogar ein Paar Flugschriften über Geldverhältnisse und Handel geschrieben, welche das einzige Richtige nach seiner Meinung enthielten, was überhaupt darüber gesagt werden konnte, und wenn der Professor auch Ursache hatte daran zu zweifeln, so erregte sein Verwandter doch seine ungeheuchelte Bewunderung.
Es ließ sich nichts an Herrn Lindenberg biegen oder zurichten. Was er glaubte, war sein Evangelium; was er sich zusammengelesen und zusammengesetzt hatte, konnte von keinem Heiligen widerlegt werden; was er bewies, dafür gab es keinen Gegenbeweis. Es war eine Lust, ihn anzuhören, die Weisheit strömte von seinen Lippen, und man durfte nur nicht zu viele Einwendungen machen, so blieb er der liebenswürdigste Lehrer und Erklärer. Er dagegen bestritt Alles, denn er wußte Alles, und selbst der Professor wurde zu seiner unendlichen Belustigung von ihm zuweilen über die Ursprünge des Sanskrit oder über die persische und assyrische Keilschrift und andere ähnliche Dinge unterrichtet.
Der Professor konnte Stunden lang zuhören, sich die Hände vor Entzücken reiben und hinter der silbernen Brille die fabelhaftesten Gesichter über die geistigen Bojazzosprünge seines verehrten Vetters schneiden, aber er konnte auch eben so lange bei Fräulein Lina sitzen, wo es ihm nicht weniger behagte. Er fühlte für sie eine ganz besondere Zuneigung und an ihrer Seite eine Ruhe, über welche er sich so wenig Rechenschaft gab, wie zu geben wußte.
Fräulein Lina sorgte für ihn freundschaftlich und mütterlich, das stimmte ihn dankbar. Sie kaufte für ihn häufig ein, was in seinem Haushalt mangelte, merkte zu seinem Erstaunen auf der Stelle, wo ihm etwas fehlte, und beglückte ihn mit Aufmerksamkeiten, die ihm sehr willkommen waren. Der Professor fragte wenig nach Tafelgenüssen oder Wein, aber er liebte den Kaffee, und Niemand bereitete diesen so vollkommen, wie seine theure Freundin; auch liebte er süßen Kuchen, und nichts war so gewiß, als daß Fräulein Lina ihn auf's Reichlichste damit versorgte.
Er war ihr daher sehr zugethan, plauderte und lachte gern mit ihr, ließ sich schelten, hielt ihr auch wohl das Strickgarn und saß oft sehr lange, wenn sie mit einer Arbeit beschäftigt war, und sah sie an. Man hätte glauben sollen, daß Fräulein Lina seine Gedanken ganz ausfülle, aber der Professor dachte an gar nichts, darum sah er so glücklich aus. Fräulein Lina konnte fragen und sagen, was sie wollte, er wurde nicht unruhig dabei. Es fiel ihm gar nicht ein, daß ihre Blicke ihn verwirren könnten, und bis zu dem Tage, an welchem er jetzt so unerwartet ins Haus kam, war er niemals durch Fräulein Lina's Anblick in eine Beklemmung gerathen.
Die Einzige im Hause, mit der er nicht im besten Vernehmen stand, war Sabine, Fräulein Lina's Nichte, Herrn Lindenberg's jugendliche Tochter; allein dies war sehr leicht erklärlich, denn Sabine war, wie ihre Tante von ihr sagte, ein Naseweis, der über Alles seine Bemerkungen zu machen hatte. Der Professor war ihr ein Gegenstand, mit welchem sie sich oft mehr, als Noth that, beschäftigte, und ihre naiven Fragen und Zumuthungen versetzten ihn zuweilen in keine geringe Verlegenheit, denn sie sprach nicht selten mit unerhörter Kaltblütigkeit über Gegenstände, vor denen er idamhaft erröthete.
Fräulein Sabine war jedoch überhaupt ein seltsames Mädchen. Sie war ohne Mutter erzogen, und ihr Vater hatte bei seinen Grundsätzen ihr die Flügel wachsen lassen, wie diese wuchsen. Ihr lebhafter Sinn übersprang alle Formen, und ihre regellose Einbildung gab sich allen möglichen Vorstellungen hin. Sie sprach, wie ihr Vater, über Alles, und ihre Behauptungen waren oft ganz so bestimmt, wie die seinigen. Der Professor fürchtete sich daher vor ihr, vermied sie, so viel dies anging, und flüchtete sich unter Fräulein Lina's Schutz, welche sich seiner regelmäßig annahm.
Als Fräulein Lina jetzt den Professor so unerwartet erblickte und sein verwirrtes Lächeln, wie seine scheuen Blicke bemerkte, überfiel sie ein Schreck.
Was ist Ihnen geschehen, lieber Professor! rief sie ihm entgegen, denn es war ihr gewiß, daß etwas Außerordentliches geschehen sein mußte.
Geschehen? antwortete der Professor, indem er seinen Hut auf die Erde fallen ließ und sich danach bückte, wodurch sein Gesicht roth wurde. Es braucht nichts zu geschehen.
Nichts zu geschehen! Freund Professor! fiel Herr Lindenberg ein, indem er sehr lehrreich aussah. Es liegt in den Principien der Schöpfung, daß fortgesetzt etwas geschehen muß. Bewegung ist Leben, Stillestand ist Tod; aber diese Bewegung darf keine Unruhe sein, und Sie sind unruhig, Sie sehen erhitzt aus, Sie blicken suchend umher. Was suchen Sie also, Professor? Hier bin ich, hier ist Lina.
Es ist mir im Grunde ganz gleichgültig, sagte der Professor noch verwirrter.
Nun, Lina, das ist ja allerliebst! lachte Herr Lindenberg.
Ich kann es nicht denken, daß wir dem Herrn Professor so gänzlich gleichgültig sein sollten, erwiderte Fräulein Lina sanft ihre Augen aufschlagend.
Reden Sie! rief Herr Lindenberg energisch, wir können es nicht glauben.
Sie können es nicht glauben? fragte der Professor, welcher bisher starr durch seine Brillengläser gesehen hatte. Ja, was war es doch? Man kann Manches nicht glauben, aber – er besann sich einen Augenblick und setzte dann hinzu: Ich hätte es selbst nicht geglaubt, es ist jedoch wahr, durchaus wahr!
Er fing an zu lachen und rieb sich die Hände, wie es seine Gewohnheit war, wobei er so liebenswürdig freundlich aussah, daß kein Zürnen aufkommen konnte.
Wetter, Professor! schrie Herr Lindenberg, indem er ihn an der Schulter faßte, wachen Sie auf! Was wollen Sie?
Was ich will? fragte der Professor, indem er sich besann. O, richtig! Mein bester Freund, es ist mir so vor dem Gedächtniß, als ob Sie – oder ist es nicht wahr? das heißt, daß Sie –
Daß ich Sie eingeladen habe, heut mit uns zu speisen, fiel Herr Lindenberg ein, das ist zuverläßlich wahr; aber Sie kommen ein Paar Stunden zu früh. Es schadet gar nichts, im Gegentheil, es ist mir lieb, Professor. Wir wollen zusammen frühstücken und dann will ich Ihnen zeigen, wie viele Narren es hier giebt.
Der Professor nickte vergnügt.
Es ist eigentlich eine Narrheit, beweisen zu wollen, daß es Narren giebt, sagte er, hinter seiner silbernen Brille die Augen zukneifend. Oho, theuerster Freund, es ist närrisch, sehr närrisch, also erlauben Sie, daß ich mich gar nicht weiter wundere.
Meinetwegen, sagte Herr Lindenberg würdevoll, wundern Sie sich nicht darüber, indeß finde ich es doch einigermaßen sonderbar –
Lieber Bruder, lächelte Fräulein Lina, indem sie ihre Hand beschwichtigend auf seinen Arm legte und ihn unterbrach, der Professor hat seine zerstreute Stunde. Es muß ihm etwas begegnet sein.
Mit wem haben Sie denn zu thun gehabt? Mit einer Hexe oder mit des Teufels Großmutter selbst? fragte Herr Lindenberg gereizt lachend, daß Sie so ganz aus dem Häuschen sind?
Ist sie noch nicht hier? versetzte der Professor seine Hände reibend, indem er sich umsah.
Haben Sie sie denn gesehen?
Ja wohl, sagte der Professor. Darüber bin ich eben so erstaunt.
Darüber würde ich ebenfalls sehr erstaunt sein, lachte Herr Lindenberg. Wie sah sie aus?
Wie Sie!
Wie, ich? Donnerwetter! Herr Lindenberg trat zurück. Wie komme ich dazu?
Sie sind ja der Vater, schrie der Professor jubelnd auf, also eben deswegen
Ich! unterbrach ihn Herr Lindenberg würdevoll seinen Kopf erhebend. Ich, der Vater!
Sabinen's Vater, lächelte Fräulein Lina. Du hörst doch, lieber Bruder, daß der gute Professor von Sabinen spricht, die er gesehen haben muß. Ist es nicht so, lieber Professor?
Der Professor nickte und lachte heftig, rieb seine Hände mit außerordentlicher Geschwindigkeit und grinste aufs Freundlichste.
Gewiß, sagte er, so ist es. Gesehen habe ich sie und in welcher Begleitung!
Haha! schrie Herr Lindenberg, war der Satan bei ihr?
Noch schlimmer, sagte der Professor; ein fürchterliches Wesen mit einem langen Degen an der Seite.
Was! lachte Herr Lindenberg, sollte das möglich sein? Wissen Sie es gewiß, Professor?
Sie gingen dicht bei mir vorüber, aber Sabinchen sah mich nicht an.
Sie hatte zu viel mit diesem Satan zu thun. Wohin ist er mit ihr abgefahren?
Das weiß ich nicht; jedenfalls über den Markt fort. Es beunruhigte mich, theuerster Freund, denn es kam mir vor –
Was kam Ihnen vor?
Als ob sie – oho, ich kann mich irren, aber –
Der Professor gerieth in Verlegenheit und fing an lustig zu lachen, Herr Lindenberg lachte noch viel lustiger und lauter.
Als ob sie recht gerne bei dem Satan wäre, nicht wahr?
Der Professor nickte mit aller Macht.
Und als ob sie mitsammen in die Hölle fahren wollten?
Wirklich! wirklich! rief der Professor, es kamen mir sonderbare Gedanken in den Kopf. Ich habe Fräulein Sabinchen noch niemals so gesehen.
Wie haben Sie Sabinen denn gesehen? fragte Lina.
O, so – ich weiß nicht, ihre Augen leuchteten und ihr Gesicht – er blickte in Fräulein Lina's Gesicht und fing an zu stottern und verwirrt zu sprechen. Diese Augen ruhten so eigenthümlich auf ihm und schienen sich an ihm fest zu bohren, auch das Lächeln, das ihre Blicke begleitete, war so sonderbar, daß der Professor es ebenfalls noch niemals so gesehen hatte. Er verstand einige Dutzend Sprachen, diese jedoch war ihm so ungeheuerlich und unbekannt, daß er das vor in Angst gerieth. – Sie sehen beinahe eben so aus, Fräulein Lina, stotterte er, und wie gewöhnlich in seiner Verlegenheit fügte er etwas Unpassendes hinzu. – Es ist mir sehr gleichgültig, was für Augen gemacht werden. Ich fahre doch nicht mit in die Hölle.
Welche Hölle meinen Sie? fragte Fräulein Lina.
Nun ich, lachte der Professor seine Hände reibend, oho, ich ich heirathe niemals!
Bravo, Professor, bravo! rief Herr Lindenberg, Sie sind für solche Thorheit viel zu verständig, und das sind wir Alle. Ich merke jetzt wohl, daß Sie Sabinens wegen gekommen sind. Seien Sie ruhig, dieser Satan wird sie nicht in die Hölle führen, es hat keine Noth damit. Jetzt aber lassen Sie uns frühstücken, Professor.
Es währte aber noch einige Stunden, ehe Sabinens helle Stimme durch das Haus klang. Ihr Vater hatte dem Professor inzwischen eine lange Vorlesung über die Nothwendigkeit der hohen Getreidepreise gehalten und die gegenwärtige Theuerung aller Lebens- und Leibesbedürfnisse mit den triftigsten Gründen gerechtfertigt. Er war voller Freude über seine Ueberzeugungen und über die Zustimmung des Professors, der gar nichts einwandte, doch seine Augen weit offen hielt, von Zeit zu Zeit grinste und seine Hände zusammenrieb.
Fräulein Lina kam nochmals herein, sicher in der Absicht etwas zu sagen oder zu hören, allein sie sagte nichts, denn sie wagte nicht ihren Bruder zu unterbrechen, der im vollen Zuge war und dem Professor aus nationalökonomischen Schriften bewies, daß jeder Mensch nach den einzig wahren Regeln göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit sich frei und ungehindert bewegen müsse, um sich so glücklich zu machen, wie er es vermöge.
Fräulein Lina hörte eine Weile zu und betrachtete den Professor dabei, der überaus glücklich zu sein schien, obwohl er kein Zeichen freier Bewegung von sich gab und weder sah noch hörte; dann blickte sie auf die Uhr und blickte auf die Straße hinaus, indem sie quer durch das Zimmer ging, allein dies half ihr eben so wenig; endlich klapperte sie mit ihren Schlüsseln und stieß ein Paar Gläser aneinander, wodurch sie bewirkte, daß Herr Lindenberg seine Stimme mit noch größerer Kraft erhob; eben aber, als sie voller Verzweiflung wieder zur Thür hinaus wollte, rief er ihr nach:
Das solltest du noch mit anhören, Lina, nämlich, daß man niemals ungeduldig werden soll, wenn man in seinen Erwartungen sich getäuscht findet, weil man bei ruhiger Erwägung immer einsehen wird, daß man erwartete, was man überhaupt nicht hätte erwarten sollen.
Aber, lieber Bruder, antwortete Fräulein Lina sanftmüthig, ich wundre mich, daß du selbst nicht ungeduldig wirst, da deine Erwartungen sich gewiß ebenfalls nicht erfüllen.
Meine Erwartungen erfüllen sich immer, sagte Herr Lindenberg ruhig lächelnd, also habe ich nicht nöthig, ungeduldig zu werden.
Es ist die Frage, ob sie sich immer erfüllen werden, fiel Fräulein Lina ein.
Dann hätte ich eben nichts erwarten sollen, Lina; es würde also jedenfalls unweise sein, ungeduldig zu werden.
Aber, mein Gott! rief Fräulein Lina in ausbrechender Verzweiflung, es ist beinahe Mittag, und Sabine ist noch nicht hier.
So, sagte Herr Lindenberg lächelnd, das meinst du also? Allein du hast eben so wohl Unrecht. Sabine macht das Recht ihrer freien Bewegung geltend und sucht glücklich zu sein.
Ich begreife dich nicht, erwiderte seine Schwester. Du kannst Sabinen sonst kaum eine Stunde missen, bist besorgt um sie, sobald du sie nicht siehst, jetzt aber –
Herr Lindenberg winkte mit lächelnder Selbstgefälligkeit.
Sie wird schon kommen, sei du ganz ohne Sorge, Lina. In diesem Falle habe ich nicht die geringste Ungeduld, weil ich meine Erwartungen wohlbedächtig calculirt habe, deren Richtigkeit sich erweisen wird. Aber – hörst du wohl, da ist sie schon!
Mit diesen Worten stand Herr Lindenberg auf, denn die Stimme seines Kindes war von ihm eher gehört worden, als von allen Anderen, und diese Stimme hatte etwas Elektrisches für ihn. Trotz aller seiner Versicherungen, daß er durchaus nicht ungeduldig sei, malte sich in seinen Mienen eine ungeduldige Freudigkeit, und seine Augen richteten sich so verlangend auf den Eingang, woher Sabine kommen mußte, als wollten sie ihr entgegenfliegen.
Nach einigen Augenblicken trat sie herein, eilte auf ihren Vater zu, der sie mit offenen Armen erwartete. Indem sie ihn herzte, rief sie zugleich:
Ich bringe sie mit, Papa, Beide! Sie sind gleich hier, Ferdinand und seine Mutter. Er kann vier Wochen hier bleiben, dann muß er wieder fort.
Du bist lange ausgeblieben, Lina, sagte der Papa ihr die heißen Wangen streichelnd.
Ich traf ihn bei seiner Mutter, und bald darauf kam Karl und brachte deine Einladung. Nun mußte er aber zunächst auf die Post, um Geld zu erheben, das dort für ihn bereit lag, und dahin begleitete ich ihn, während die Hofräthin sich fertig machte, mit uns zu gehen, sobald wir zurückkehrten. Dies geschah denn auch, und nun sind wir hier. Komm nur, Papa, du mußt ihn sehen.
Den Professor schien Sabine nicht zu beachten, er war aber auch ruhig sitzen geblieben, hatte nur den Kopf höher in den Nacken gezogen und blickte ihr durch seine große silberne Brille, einige Falten auf der Stirn ziehend, ungefähr so nach, als sei sie ein tartarischer oder braminischer Buchstabe, den er nicht recht lesen konnte.
Sabine war jedoch kein seltsamlicher Schnörkel zum mühsamen Entziffern, sondern weit eher ein offen aufgeschlagenes Buch voll allerlei hübscher, fantastischer Bilder. Groß von Gestalt, schlank bis zur Magerkeit, mit dunklem Haar und sonnigen Augen, besaß ihr Gesicht allen Zauber, der dazu gehört, daß Jedermann gern hineinsieht. Es lag etwas Keckes und Sicheres darin, ein starkes Maß von Furchtlosigkeit und Selbstvertrauen, und doch schien dies entfernt von Uebermuth und Hochmuth. Ihre Augen hatten nichts Schüchternes, sondern einen hellen Glanz, bei alledem waren sie weich und von sanftem Feuer, das die festen Züge ihres Gesichts belebte, die zu fest gewesen sein würden, wenn nicht der feingeformte Mund und ein lieblicher, lächelnder Zug um diesen die Strenge gemildert und aufgehoben hätte.
Eben trat die Hofräthin herein, in Begleitung ihres Sohnes, und Herr Lindenberg empfing Beide als werthe, erwünschte Gäste. Mit aller Galanterie der guten alten Zeit küßte er seiner Freundin die Hand und umarmte den jungen Offizier, den er von Kindesbeinen an gekannt und dessen Vormund er gewesen war.
Alle Wetter ja! rief er, groß und stattlich ist er geworden, Ferdinand, oder wie, he! ich muß wohl sagen, der Herr von Stein, der Herr Adjutant!
Mein bester, mein väterlicher Freund! erwiderte der junge Mann, ich hoffe bei Ihnen dieselbe Liebe und Theilnahme noch immer zu finden, welche mich mein ganzes leben über begleitete. Nennen Sie mich Ferdinand und nennen Sie mich Du, wie Sie es immer gethan und wie ich es gewöhnt bin. Ich würde mich Ihnen entfremdet fühlen, sollte es anders sein, und das darf nicht geschehen.
Nein, nein! das darf nicht geschehen, rief Herr Lindenberg. Also Ferdinand, mein lieber Sohn, du sollst deinen Willen haben. Mein Haus soll dir so heimisch sein, wie es je gewesen.
Und mit Sabinen, bester Papa, fiel Ferdinand ein, habe ich mich auch schon auf den alten Fuß gesetzt. Wir werden wieder Schmetterlinge fangen und Drachen steigen lassen. Ist es nicht wahr, Sabine, das wollen wir!
Ja Ferdinand, das wollen wir, sagte Sabine, indem sie in seine dargebotene Hand einschlug.
Recht, meine lieben Kinder, recht! lachte der gute Papa, macht euch so viele Freude, wie ihr immer könnt. Was meinen Sie dazu, theuerste Freundin?
Die Frau Hofräthin ließ ihre klugen Augen auf dem jungen Paare ruhen und lächelte. Es war eine kleine Frau von anstandsvoller Bedächtigkeit und feinen Formen. Sie sprach niemals etwas Unüberlegtes, verlor auch niemals die äußere Ruhe.
Sie sind Beide noch in dem Alter, wo man gern Schmetterlinge fängt und Drachen steigen läßt, versetzte sie, somit wird es ihnen an Lust und Freude daran nicht fehlen.
Wir machen es Alle so, versetzte Herr Lindenberg, mögen wir auch so alt werden, wie Methusalem; Jeder läuft seinem Drachen und seinen Schmetterlingen nach. Und dazu haben wir auch sämmtlich dasselbe Recht, beste Frau, denn ein Jeder muß sein Capital vermehren, für sein Wohlbefinden arbeiten, wie er immer kann. Habe ich Recht, Professor?
Oho, ja!
Sieh hier, da ist der Professor Herbart, Ferdinand, mein gelehrter Herr Vetter, den du noch nicht kennst.
Der Professor hatte bis dahin im Hintergrunde hinter dem Rücken der Sprechenden und im Schutze der hohen Lehne seines Polsterstuhles wie in einem Festungswerke gesessen. Er hatte allerdings zugehört, was gesprochen wurde, aber er hatte dabei an manches Andere gedacht, zuletzt aber hatte er sich in ein gewisses lethargisches Wohlbehagen versenkt, in welches die Stimmen wie aus weiter Ferne zu ihm hereinschallten, und es machte ihm geheimes Vergnügen, so theilnahmlos sich davor verstecken zu können.
Als jedoch Herr Lindenberg ihn bei Namen rief, war er um so rascher auf seinen Beinen, keinesweges verdrossen oder widerwillig, sondern wie gewöhnlich höflich, freundlich lachend und seine Hände reibend. Er richtete die silberne Brille auf den jungen Offizier, der ihn ebenfalls aufmerksam ansah und sich verbeugend bemerkte:
Ich habe schon öfter von Ihnen gehört, Herr Professor, denn noch ehe meine Mutter und Sabine mir Ihren Namen nannten, war der gelehrte Ruf desselben selbst bis zu mir gedrungen; um so mehr freut es mich jetzt, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.
Der Professor verbeugte sich ebenfalls.
Oho! sagte er, also wirklich, Sie haben von mir gehört, von Sabinchen!
Sabine nickte ihm zu, und wie sie ihn ansah, wurde er verwirrt. –
Das ist mir eigentlich gleichgültig, fuhr er fort, denn, o, ja, wir sind lange bekannt, ich habe die Ehre – da kommt Fräulein Lina!
Der Professor wurde zu seinem Glücke von seiner Freundin aus der Verlegenheit gezogen. Die Augen des Offiziers sahen so muthwillig aus, und Herr Lindenberg legte die Hände auf den Rücken und streckte seinen dicken Kopf so lachlustig gegen ihn vor, daß vollends sich sein Denken wie ein Mühlrad im Kopfe herumdrehte; jetzt aber unterbrach Fräulein Lina die Scene, und wiederum war der Professor vergessen. –
Lina hatte sich, als Sabine die Gäste ankündigte, davon gemacht, noch einen raschen Blick in die Küche geworfen, dann die häusliche Schürze von sich geschleudert und kehrte nun ganz als Dame im Seidengewande zurück.
Herr von Stein empfing sie als seine Freundin, an welche er oft gedacht und sich nach ihr gesehnt, die Frau Hofräthin umarmte ihre liebe Lina, und während viele Complimente gewechselt wurden, hatte der Professor Zeit genug, den Herrn Adjutanten genauer zu betrachten, der mit liebenswürdiger Beweglichkeit der Fröhlichste unter den Fröhlichen schien.
Der Professor besaß den tief eingeimpften Gelehrtenabscheu gegen den Wehrstand, und diese Gefühle hatten sich auch sogleich bei ihm geltend gemacht, als er Sabinen unerwartet in Gesellschaft eines jungen Offiziers sah. Er war arg erschrocken darüber, auch fiel ihm nicht sogleich ein, was er öfter gehört, daß die Frau Hofräthin einen Sohn habe, der einen Degen trug. Die Frau Hofräthin war jedoch ebenfalls seine besondere Freundin nicht; er sah sie selten, hörte niemals hin, wenn von ihr die Rede war, und hatte auch äußerst wenig sein Gedächtniß mit dem Herrn Adjutanten belästigt, bis dieser nun plötzlich vor ihm stand.
Der Professor konnte sich schwerlich Rechenschaft geben, warum, wenn er sein allgemeines Mißtrauen gegen den ganzen Stand abrechnete, dieser junge Offizier so wenig Gnade vor seinen Augen fand, denn jedenfalls war Ferdinand von Stein ein Mann, der nicht leicht mißfallen konnte. Jugendlich frisch und wohlgebildet, mit einem offenen gesunden Gesicht, das doch dabei keinen Mangel an intelligentem Ausdruck besaß, mit den klugen, klaren Augen seiner Mutter, der heiteren Unbefangenheit eines raschen, lebendigen Jünglings und der Geschmeidigkeit, welche Stellung und Verhältnisse ihm gegeben, schien er allerdings ein ganz anderes Wesen, als der Professor. Gelehrt wie dieser war er allerdings nicht, doch hatte er Mancherlei gelernt, besaß ein vortreffliches Gedächtniß, vermochte klar und bestimmt über Vieles zu denken und hatte Kraft und Muth, männlich zu fassen und zu verfolgen, was er wollte. –
Die Frau Hofräthin trug den ganzen mütterlichen Stolz auf diesen Sohn in ihren lächelnden Mienen. Herr Daniel Lindenberg bekam die Hände nicht vom Rücken, er schwelgte in vergnüglichen Empfindungen, Sabinens leuchtende Augen aber sahen wie verzaubert aus, und Fräulein Lina selbst war derartig von der anregenden Unterhaltung gefesselt, daß sie weder an den Professor, noch an ihren Vanillenpudding dachte, der in der Küche zum eigenhändigen Einrühren ihrer harrte.
Nach langen Mittheilungen und vielerlei Fragen und Antworten, Scherz und Lust in Fülle, speiste Herr Lindenberg jedoch mit seinen Gästen sehr gut. Fräulein Lina erhielt von der Frau Hofräthin ausgesuchte Complimente und zärtliche Blicke, wegen der Vortrefflichkeit ihrer verschiedenen Leistungen, und dem Hausherrn wurde Aehnliches zu Theil von ihrem verwöhnten Sohne, der die Weine seines verehrten Freundes weit über die der prinzlichen Tafel stellte.
Herr Lindenberg fühlte sich dadurch auch eben so sehr geschmeichelt, wie seine Schwester, denn wie was er dachte und urtheilte unzweifelhaft das allezeit Richtige und Vernünftige war, so konnte auch was er besaß, trank und aß, auswählte und kaufte immer nur das Beste sein. Da er Alles wußte und Alles kannte, so mußte er auch ein guter Weinkenner sein, und er sprach in einer Weise davon, als ob sich das ganz von selbst verstehe.
Seine Zufriedenheit mit der Bewunderung seines höflichen jungen Freundes versteckte sich unter einer Art lächelndem Mitleid mit dessen Unschuld, und er erklärte ihm dafür sehr ausführlich und lehrreich den Gehalt jedes Weines an Phosphorsäure, kohlensaurer Kreide, Zuckerstoff, Alkohol, weinsteinsaurem Kali, aromatischen Riechstoffen, Pflanzenleim, stickstoffhaltigen Körpern, Wasser und freier Säure, so daß Allen, die es vernahmen, Hören und Sehen dabei verging. Der Professor machte seine Augen unter der silbernen Brille noch weiter und starrer auf, und der Frau Hofräthin fiel die Gabel vor Erstaunen aus der Hand, was Alles in dem einen Glase Wein enthalten sei, das vor ihr stand. Herr Lindenberg mischte alle diese geheimnißvollen chemischen Namen und Stoffe so vortrefflich unter einander, daß Keiner ein Wort davon verstand, während er jedoch versicherte, daß man Alles dies auf's Genaueste kennen müsse, wenn man ein Urtheil über guten Wein haben wolle.
Der Professor war in seinen lichten Stunden zuweilen ein Zweifler, und wenn er sich im gereizten Zustande befand, konnte er sogar zum Spötter werden. Er hatte von gutem Wein nicht die geringste Kenntniß, doch nahm er sein Glas, trank es aus und setzte es klirrend nieder und lachte dazu.
Nun Freundchen, was sagen Sie? fragte Herr Lindenberg.
Essig! sagte der Professor.
Sabine konnte sich nicht enthalten laut aufzulachen, Ferdinand lachte ebenfalls, aber er schüttelte dabei den Kopf, die Frau Hofräthin schüttelte ihn noch stärker, Herr Lindenberg schüttelte ihn am stärksten.
Da sieht man, sprach er strafend, wie es dem ungebildeten Geschmack geht, wenn er sich bis zur Kritik erhebt. Dieser Wein, Freundchen, ist ein ausgezeichnetes Gewächs, chemisch untersucht, von den vortrefflichsten reinsten Bestandtheilen in den richtigsten Verhältnissen. Keine Weinfälscherei, wie sie Weinhändler machen, die ihre angenehmen Getränke für Unwissende zurechtbrauen.
Oho, lachte der Professor, es ist mir einerlei, Praxis geht über Theorie, Weinhändler wissen nichts von Chemie, aber sie haben Zungen.
Sie haben doch auch eine Zunge?! fragte Herr Lindenberg spottend.
Die habe ich, versicherte der Professor, und es fehlte nicht viel, so hätte er den praktischen Beweis dafür angetreten, denn er sah ganz danach aus; allein er besann sich noch zur rechten Zeit, fing an zu lachen und sagte: Lassen wir Jedem seinen Geschmack und seine Zunge. Was jung und lieblich ist, schmeckt gut. Alte, saure Waare mag chemisch die reinsten Bestandtheile haben, ich kann keinen Gebrauch davon machen.
Der Professor sah dabei so schelmisch aus, blinzelte die Damen durch seine Brille an und Sabinen zumeist, daß eine allgemeine Fröhlichkeit eintrat, in welche sich die Unterhaltung auflöste. Die Folgen jedoch wurden für den Professor nicht so angenehm. Herr Lindenberg vergaß ihm den Angriff auf seinen Wein und noch mehr auf seine Weinkennerschaft nicht sogleich; er ertheilte im Laufe des Tages ihm verschiedene Denkzettel, was jedoch der Gelehrte so wenig empfand, als wenn eine Schildkröte von einer Fliege gestochen wird.
Seine Seele war von ganz anderen Dingen erfüllt, oder vielmehr, es sammelten sich darin verschiedene dunkle Ahnungen und Vorstellungen, ohne daß sein Kopf diese aufzufassen und darüber nachzudenken vermochte. Er sah sich vernachlässigt von seiner sonst so getreuen Beschützerin, Fräulein Lina, und wußte nicht, warum ihm dies geschah. Bisher hatte er es kaum recht bemerkt, wie seine Freundin für ihn sorgte. Sie hatte für ihn stets die besten Stücke von jeder Schüssel, ganz besonders aber sorgte sie für seinen Kaffee und für den süßen Kuchen, den er liebte. Nebenbei hatte sie auch freundliche Worte und allerlei Zeichen ihrer aufmerksamen Rücksichten, heut dagegen fehlte ihm Alles und Jedes, was er gewohnheitsgemäß beanspruchte.
Fräulein Lina bekümmerte sich nicht um ihn, wenigstens nicht mehr, als um jeden Anderen. Die Höflichkeit wurde nicht von ihr verletzt, der Professor empfand jedoch trotz alledem eine sonderbare Leere. Es war ihm, als fehlte ihm etwas, und doch wußte er nicht, was es sei. Der junge Offizier lief mit Sabinen in dem Garten umher, Fräulein Lina spazierte mit der Frau Hofräthin durch die Gänge, und die Frau Hofräthin schob vertraulich ihren Arm unter Fräulein Lina's Arm. Herr Lindenberg war bald da, bald dort, sehr munter und guter Laune, der Professor dagegen saß in der Laube wie festgenagelt, aß, ohne zu wissen was er that, den Kuchenkorb leer, stieß darauf den Sahnentopf um und warf eine Tasse vom Tische, als er nach einer Cigarre greifen wollte.
Dies war freilich keinesweges etwas ganz Besonderes, denn der Professor hatte schon verschiedene Tassen und andere Gegenstände zerbrochen, und Fräulein Lina hatte darüber gescherzt, diesmal jedoch warf sie einen Blick auf ihn, der durchaus nicht scherzhaft war; das Lachen kam allerdings hinterher, die Unruhe des Gelehrten und seine Verwirrung konnten jedoch damit nicht beschwichtigt werden. Es war vergebens, daß Herr Lindenberg ihm Alles verzieh und wie immer mit ihm vertraulich und belehrend plauderte, vergebens auch, daß Sabine ihn ausfragte und aufforderte mit ihr und Ferdinand Ball zu spielen und über den breiten Graben zu springen, wie sie dies vor Jahren mit ihrem Spielgefährten und jetzt so eben wieder gethan. Dem Professor fehlte etwas, er mochte sich zwingen, wie er wollte, immer wieder fiel er in seine Erstarrung zurück, und endlich war er plötzlich verschwunden. Man suchte ihn vergebens, er hatte sich in der Stille empfohlen, was er noch niemals gethan.
Erst mehrere Stunden später ging auch die Frau Hofräthin mit ihrem Sohne nach Haus, und Ferdinand suchte die Sünden des Professors durch einen recht langen Abschied zu vergüten. Es gab noch in den letzten Minuten immer wieder etwas mitzutheilen. Sabine hatte zu erinnern und Verabredungen auf den nächsten Tag zu nehmen, die Frau Hofräthin hatte einzuladen und zu bitten, und als endlich das letzte Wort gesprochen schien, begann Herr Lindenberg noch eine lehrreiche Abhandlung über Pferdezucht und Pferdehandel, da Ferdinand geäußert hatte, daß er, wenn sich die Gelegenheit böte, ein Baar gute Pferde zu kaufen beabsichtige. Herr Lindenberg erklärte eine Viertelstunde lang die verschiedenen Racen und deren Kennzeichen, Behandlung, Pflege und Wartung der Pferde, und worauf beim Pferdekauf gesehen werden müsse, wenn man nicht betrogen sein wolle, indem er zuletzt versprach, selbst nach ausgezeichneten Thieren umzuschauen. Herr von Stein bewies ihm seine Dankbarkeit, und endlich entließ ihn der kenntnißreiche Freund mit huldvollem Lächeln. Sabine rief ihm nach:
Denke nicht weiter an die dummen Pferde, sondern denke an mich, Ferdinand, das ist viel besser.
Ferdinand gelobte es ihr, die Frau Hofräthin umarmte Fräulein Lina, und der Sohn führte seine Mutter durch die dunklen Straßen nach Haus.
Nun, sagte sie, als sie mit ihm allein in ihrem behaglichen Zimmer sich befand, wie bist du zufrieden?
Womit, liebe Mutter? erwiderte er.
Komm her und setze dich zu mir, fuhr sie fort, indem sie in die Ecke des Sophas rückte.
Er that nach ihrem Gebot. Sie legte ihre Hand in die seine und sah ihn mit einem eigenthümlichen Ausdruck an, daß er laut zu lachen anfing.
Ich soll Bekenntnisse ablegen, sagte er, soll dir beichten, nicht wahr?
Wenn du etwas zu beichten hast, so soll es mir lieb sein, erwiderte sie.
Wären es auch nur vor der Hand meine sündigen Gedanken, fuhr er fort. Ja wohl, Mama, Sabine hat mir außerordentlich gefallen, obwohl –
Nun? fragte sie, als er schwieg.
Obwohl ich sie auch etwas anders wünschen möchte.
Das klingt bedenklich, aber ich verstehe dich – versetzte sie, du bist mit ihrem Benehmen nicht ganz einverstanden, während du an ihrer Person nichts auszusetzen findest. Es ist wahr, sie hat viel Excentrisches, das an Männern schon nicht gefallen kann, bei Mädchen aber noch weniger angenehm erscheint.
O! fiel er lebhaft ein, Sabine gehört nicht zu den gewöhnlichen Mädchen. Was Andere verschweigen, spricht sie aus, was ihnen unpassend erscheinen mag, wird von ihr nicht verborgen und verhüllt. Sie fragt nicht nach den neuesten Moden und ebenso wenig nach allem äußeren Schein. Aber was thut das, liebste Mutter? Ihre edle, schöne Natur weiß sich vortrefflich zu behüten.
Und dennoch hast du ein Obwohl für sie? lächelte Frau von Stein.
Ich wollte sagen, fuhr er fort, es sei ein kindliches Herz, das seinen Empfindungen und Eingebungen sich in voller Ursprünglichkeit überläßt, dabei jedoch den wunderlichsten Einbildungen anhängt.
Sie ist fantastisch und eigenwillig, versetzte die Mutter.
Nicht eigenwillig, unterbrach er sie, sondern ein anderer Wille hat von früh an auf sie eingewirkt und ihren Kopf mit Eindrücken und Ansichten gefüllt, die sich darin verwurzelt haben.
Sie ist ihres Vaters Tochter, lächelte die Hofräthin, sie hat seinen Charakter.
Den hat sie nicht, erwiderte er lebhaft. Es wird ihm auch nicht gelingen.
Was gelingen?
Ihr seine Thorheiten aufzuprägen.
Die Hofräthin betrachtete ihren Sohn einige Augenblicke, als erwartete sie, daß er fortfahren sollte; als dies nicht geschah, begann sie:
Sage mir doch, lieber Ferdinand, welche Thorheiten du meinst?
Er besann sich und machte eine abwehrende Bewegung, dann antwortete er:
Man könnte es für Koketterie halten, wenn bei ihr daran gedacht werden könnte, oder für kindische Einbildungen des Augenblicks, wenn der Ernst nicht allzudeutlich wäre. Sie hat bei ihrer sorglosen Fröhlichkeit aber so viel Verstand und bei ihrer Offenherzigkeit so viel Reflection, daß man bange werden kann vor dieser Ueberlegung. Wir haben gesprungen und gelacht und über Gott weiß was Alles gesprochen. Sie ist voller Einfälle, die über ihre Lippen sprudeln, und diese Lippen sind so süß, so lieblich, so bezaubernd – ich möchte Alles für sie thun, aber denke mir – sie hat mir wiederholt erklärt, daß sie niemals heirathen werde.
So weit also seid ihr schon gekommen? lächelte die Frau Hofräthin.
Bei irgend einer Gelegenheit sagte sie es, als die Rede von einer Dame war, die wir beide kennen und die sich verlobt hat; aber sie sagte es mit solcher Bestimmtheit und erklärte ihren Widerwillen so energisch ernsthaft, daß ich nicht daran zweifeln kann.
Und du?
Ich machte Einwendungen, fragte, ob ich selbst keine Aussicht habe; worauf sie mir eröffnete, daß ich am allerwenigsten jemals darauf hoffen dürfe, und damit lief sie davon zu dem Professor in der Laube.
Würdest du denn wirklich Sabinen heirathen? fragte die Mutter nach kurzem lächelnden Besinnen.
Ob ich es würde, Mama? Mit dem größten Vergnügen.
Dann mußt du es thun, sagte sie mit ihrem feinen Lächeln.
Du giebst mir deine Erlaubniß?
Als du noch ein Kind warst, wünschte es schon dein Vater, und es lag in unseren Zukunftsträumen, daß Sabine einst deine Frau werden sollte. Es paßte sich Alles auch vortrefflich. Du bist acht Jahre älter, als sie, bist nicht ohne Vermögen, und Lindenberg ist noch mehr begütert. Sabinens Mutter war meine Freundin, dein Vater der innigste Freund ihres Vaters. Lindenberg hat früher gewiß auch selbst daran gedacht, jetzt freilich will er nicht.
Was will er denn? fragte Ferdinand heftig.
Er will seine Tochter am liebsten für sich behalten.
Dieser unnatürliche Tyrann! schrie Ferdinand. Es soll ihm nichts helfen, er muß sie mir geben!
Das denke ich auch, erwiderte die Mama. Wir müssen ihn dazu bewegen.
Aber wie, liebe Mutter? Ich werde sie von ihm fordern.
Doch nicht eher, mein Sohn, bis Sabine damit einverstanden ist.
O, allerdings, antwortete er bedenklicher. Aber was kann ich thun! Er hat die größte Gewalt über sie. Sie hängt an ihm, wie an einem Heiligen. Seine abscheulichen Lehren sind ihr Evangelium geworden.
Sobald sie dich liebt, werden alle ihre Bedenken verschwinden, lächelte die kluge Frau. Denke darüber nach, mein Herr Adjutant, wie du dies Herz eroberst. Halb ist es ganz gewiß schon dein, in der anderen Hälfte aber sitzt der Herr Papa mit seinen schönen Grundsätzen.
Wir werfen ihn aus allen seinen Positionen! rief Ferdinand.
Gut, wir werfen ihn, erwiderte sie. Und nun gieb mir einen Kuß und träume von ihr. Morgen wollen wir unseren Feldzugsplan entwerfen.
Herr Lindenberg hatte während dieser Nacht ebenfalls einige Pläne gemacht, oder doch, wie er es nannte, seine Erwartungen nochmals überlegt und gefunden, daß Alles ganz vortrefflich eingeleitet und vorbereitet sei. Mit dieser Ueberzeugung hielt er einen gesunden Schlaf und saß am Kaffeetisch nun Sabinen gegenüber, seine Zeitungen lesend, ab und zu aber richteten sich seine Augen über den Rand der Blätter fort auf ihr Gesicht.
Herr Lindenberg richtete es so ein, daß sie nichts davon merkte. Sie las ebenfalls ein Zeitungsstück, er konnte somit seine Prüfungen unbehindert fortsetzen.
Es steht sehr gut, sagte er zu sich selbst, ich entdecke nicht die geringste Unruhe. Sie hat bis jetzt kein Wort von Ferdinand gesprochen, und das ist ebenfalls ein gutes Zeichen. Läge er in ihren Gedanken, so würde sie diese bald zur Sprache bringen, denn sie ist nicht daran gewöhnt, etwas zu verbergen, was sie beschäftigt. Wie freundlich und klar ihre Augen sind, wie ruhig sie athmet und in der Zeitungsbeilage liest, worin doch gewiß nichts Wichtiges steht, sondern nur allerlei Anzeigen, die ihr immer gleichgültig waren. Ruhe und Geduld sind die besten Beweise für ungestörte innere Zufriedenheit, wogegen Unruhe und Verstimmung die ersten Symptome aller der Leidenschaften und Narrheiten sind, mit denen wir unser Leben selbst vergiften.
Wenn ich das bedenke, fuhr er heimlich fort, nachdem er seine Tasse geleert hatte, ohne daß Sabine aufblickte, so könnte ich eher glauben, daß Lina sich gestern die Keime zu einem Nervenfieber geholt hat, denn so mürrisch und reizbar habe ich sie noch nie gesehen. Aber was dieses anbelangt, so wäre es ein Fall – Herr Lindenberg lächelte voller Vergnügen – der mir sehr angenehm sein würde.
In dem Augenblick hob Sabine ihre glänzenden Augen auf und ließ das Zeitungsblatt sinken. Es ist wirklich wahr, rief sie aus, da steht es!
Was denn, Kind, was giebt's? fragte er.
Ich hab's nicht glauben wollen, fuhr Sabine fort.
Was hast du denn gelesen? Hat der Magistrat wieder Petitionen eingereicht?
Eine Heirath, sagte Sabine. Ich habe die Heiraths- und Verlobungsanzeigen gelesen, Papa.
Die Heirathsanzeigen, lachte Herr Lindenberg. Was geht das dich an? Eine schöne Beschäftigung!
O, sagte sie, das ist abscheulich. Wir hatten uns beide zugeschworen, daß wir niemals heirathen würden. Ferdinand hat mich aber gestern schon damit bekannt gemacht.
Womit?
Er hat mich ausgelacht.
Warum denn, Kind?
Nun, Papa, sieh doch hier. Marie Landau, meine Freundin, die im vorigen Jahre zu ihrer Tante reiste und noch dort ist, hat sich verlobt.
Das ist ein leider nur allzu gewöhnlicher Leichtsinn, Kind. Aber was hat dir Ferdinand gesagt?
O, er hat mir gesagt, daß er den Mann kenne, der ebenfalls ein Offizier und sein Freund sei.
Aha! nun merke ich es, sagte Herr Lindenberg. Er hat sich seines Freundes natürlich angenommen und deine leichtsinnige Freundin belobt.
Dazu ist er nicht gelangt, erwiderte Sabine, denn ich erklärte ihm, daß ich wenigstens meinen Schwur besser halten würde.
Recht, mein Binchen, nickte Herr Lindenberg erfreut. Um dessentwegen hat er dich ausgelacht?
Noch mehr, er hat mit mir gewettet!
Gewettet habt ihr? Worauf?
Daß kein Jahr vergehen würde, so hätte ich meinen Schwur vergessen.
Das ist ja geradezu unverschämt! rief Herr Lindenberg. Ich hoffe das nicht von dir, mein Kind. Du wirst deinen Verstand nicht verlieren.
Gewiß nicht, Papa.
Sage mir, Sabine, begann Herr Lindenberg – ich möchte eine Frage an dich richten.
So frage, Papa, antwortete sie, als er schwieg und sie bedenklich ansah.
Du mußt aber ganz aufrichtig sein, mein liebes Kind, fuhr er fort, denn von deiner Antwort wird Manches abhängen. – Wenn nun Ferdinand selbst die Absicht hätte, dich zu heirathen? Wie würde es dann mit deinem Schwur stehen?
Glaubst du, Papa, erwiderte Sabine bedächtig, daß er solche Absichten haben könnte?
Das wäre wohl möglich, Kind, ja, es ist mir sogar wahrscheinlich, nickte Herr Lindenberg. Als deine Mutter noch lebte und der Hofrath, mein Freund, wurde zuweilen davon gesprochen. Frauen machen sich gern solche Pläne mit ihren Kindern. Du hast Ferdinand nun in drei Jahren nicht gesehen, sage mir, ob du je daran gedacht hast, und gewünscht hast, daß er dein Mann werden möchte?
Nein, Papa.
Und seit gestern, wo du ihn wiedersahst, ist dir ein solcher Gedanke auch nicht eingefallen?
Nein, Papa. Ich habe ihm auch erklärt, daß er darauf niemals zu rechnen hätte.
Das hast du ihm erklärt, Sabine! rief Herr Lindenberg vergnügt lachend. Wie kam das?
Sabine erzählte sehr ruhig die Veranlassung, und ihr Vater hob seinen Finger auf und sagte, sie unterbrechend:
Siehst du, ich irre mich nicht. Seine Mutter hat nicht umsonst so lange getrieben, bis er gekommen ist, denn du bist jetzt in dem Alter, wo Gefahr im Verzuge droht. Es könnte sich leicht ein Anderer einfinden, der den Bissen fortschnappte, welcher nach ihrer Meinung ein fetter Bissen ist.
Papa, sagte Sabine lachend, indem sie ihren langen, etwas dünnen Hals und ihren nicht sehr fleischigen Arm aufhob, ich bin, wie du siehst, ein magerer Bissen, im Uebrigen aber hat es keine Gefahr, auch wenn Ferdinand noch drei Jahre fortgeblieben wäre.
Das wissen aber die Leute nicht, und das denkt der Herr Adjutant eben so wenig, lächelte Herr Lindenberg spitzbübisch. Wie geht es denn überhaupt in der Welt zu, mein Binchen, bei den Verlobungs- und Heirathsangelegenheiten? Ein Mädchen wartet, bis Einer kommt, der Lust hat, sie heim zu führen. Ist sie jung und vermögend, vielleicht sogar leidlich hübsch, so finden sich wohl bald Mehrere ein, und sie hat die Auswahl. Wird sie älter, oder ist sie arm, so greift sie nach dem Ersten Besten, der sich anbietet; alle aber verkaufen sich mit Haut und Haar in ein ungewisses Loos, denn welche kann sagen, was ihrer wartet! Diese ganze Eheangelegenheit, mein Kind, ist nichts, als ein Handel um gegenseitige Vortheile, und wenn nicht beide Theile dabei betrogen werden, so doch der eine gewiß.
Und das ist immer der Fall, Papa? fragte Sabine.
Immer, sagte Herr Lindenberg mit der größten Gewißheit: Du kannst es dir ja leicht denken. Du führst zum Beispiel jetzt ein heiteres, schönes Leben. Du bist meine Freude, mein Stolz, mein ganzes Glück auf Erden. Du hast keine Sorge, keine Noth, keinen Gram, Alles, was du wünschest, was ich dir gewähren kann, wird dir erfüllt. Du lebst mit deinen Büchern, deinen Liedern, deinen Freunden in vollem Einverständniß. Alles, was du thust, ist gut und recht, Niemand tadelt dich, Niemand schilt dich, da ist keiner, der dir widerspricht, dich kränkt, Verdruß oder Aerger bereitet. Und dies schöne freie, selbstständige Leben, mein theures Kind, möchte ich dir für immer erhalten und kann es dir versprechen, denn du hast nicht nöthig, die Heirath als eine Versorgung zu betrachten.
O, wie abscheulich! rief Sabine.
Nicht doch, lächelte Herr Lindenberg, es ist dies, richtig betrachtet, der einzige vernünftige Grund, um das Heirathen zu vertheidigen. Sein Capital vermehren und sich sicher stellen soll ein Jeder, und sobald man von diesem Gesichtspunkte auszugehen nöthig hat, ist die Heirath gerechtfertigt; man muß dann freilich aber auch alle Chancen der Speculation tragen und die Sorgen als nothwendig hinnehmen. Wo dies nicht der Fall ist, finde ich es unbegreiflich, wie man sich ohne Noth allen möglichen Schiffbrüchen aussetzen kann.
Aber, Papa, sagte Sabine, du hast ja doch selbst geheirathet!
Herr Lindenberg nickte würdevoll und nahm seine lehrreiche Weisheitsmiene an.
Das habe ich, Kind, Einmal; verstehe mich wohl, einmal! zum zweiten Male jedoch nicht; obwohl ich, als deine Mutter mir entrissen wurde, noch in den Jahren war, wo ich es hätte thun können; auch, setzte er mit überzeugendem Nachdruck hinzu, mir die Gelegenheit nicht fehlte, eine zweite Heirath zu machen. Ich that es nicht, weil ich mein Glück nicht auf's Spiel setzen wollte, denn bei jeder Heirath ist dies der Fall. Es ist ein Spiel, Sabine, und warum soll man spielen, wenn man es nicht nöthig hat? Als ich deine Mutter heirathete, spielte ich, weil ich spielen mußte. Deine Mutter gefiel mir. Die Augen, Sabine, haben bei solchen Dingen einen leider allzugroßen Antheil, zugleich aber handelte ich auch nach den Regeln der richtigsten Haushaltungsgesetze, denn deine Mutter brachte mir ein bedeutendes Vermögen zu.
Du verkauftest dich also ebenfalls! rief Sabine.
Ganz gewiß, mein Kind, lächelte Herr Lindenberg, ich verkaufte mich mit dem klaren Bewußtsein einer bestimmten Nothwendigkeit, und ich habe mit deiner Mutter eine sogenannte glückliche Ehe bis an ihr allzufrühes Ende geführt; bei alledem ist uns beiden zuweilen ohne Zweifel mehr als einmal der Wunsch gekommen, hätten wir doch unsere selbstständige Freiheit nicht aufgegeben! Deine Mutter war ähnlich wie du im sorglosen Glück aufgewachsen; wie manche Noth, wie manchen Kummer hat sie nachher ertragen müssen. Mancherlei schwere Zeiten kamen, ein ziemlich großer Haushalt lag ihr ob, dann folgten Mutterpflichten und Sorgen, es folgten Krankheiten und Kümmernisse, und das Alles gehörte zu einer glücklichen Ehe, liebe Sabine. Wie nun erst, wenn dies Spiel gänzlich fehlschlägt, wenn man getäuscht und betrogen wird, wenn Noth, Reue und Gram über uns herfallen und nirgend Rettung ist!
Sabine sah still vor sich hin.
Glaubst du denn, sagte sie darauf, daß das überall geschieht und man keinen Ersatz dafür hat? Es ist doch sonderbar, daß sich nicht sehr Viele davor fürchten. Es giebt doch verständige Menschen genug, und Marie, die den Offizier nun heirathet, war sonst immer klug und vorsichtig.
Das möchte ich doch sehr bezweifeln! rief Herr Lindenberg, denn wenn das Heirathen überhaupt schon ein Wagespiel ist, das in Sorgen und Gefahren stürzt, so ist die Spitze davon, wenn man es mit einem Soldaten versuchen will.
Warum, Papa? fragte Sabine.
Warum, fragst du? erwiderte Herr Lindenberg strafend; beim ersten Nachdenken, Kind, muß dir das einleuchten. Kann denn wohl ein Soldat, ein Mann, der nur an Krieg und Blut denkt, so sanft, geduldig und nachsichtig sein, wie man sein muß, wenn man eine Frau glücklich machen will?
Aber Papa! rief Sabine, ich glaube doch, daß Ferdinand gut und nachgiebig ist.
Das ist unmöglich! versetzte Herr Lindenberg mit Energie. Jeder Soldat muß einen stolzen Charakter haben, er muß nach Krieg und Gewalt lechzen. Alles ist bei ihm Befehl und Pflicht, und dienstmäßiger Gehorsam und Unterwürfigkeit. Kannst du denken, daß er dieß Alles nicht auch von seiner Frau verlangt?
O, ich würde mich nicht unterjochen lassen, sagte Sabine stolz lächelnd.
Siehst du wohl, Kind, unterbrach sie Herr Lindenberg, du willst frei sein, doch sobald man heirathet, wird man zum Knecht.
Noch weiter aber, fuhr er fort, als Sabine schwieg, es stellen sich noch ganz andere Gründe entgegen, wenn wir bedenken, daß Soldaten erstens überhaupt das Nationalvermögen nicht vermehren, dann aber auch ihr eigenes Capital gewöhnlich nicht gehörig zusammenzuhalten und zu vermehren wissen. Sie gehören zu den Arbeitern, von denen Adam Smith sagt, daß ihre Productivität auf Kosten aller übrigen Productivität stattfindet, und deren Selbsterhaltung dabei gewöhnlich nicht allein das gesammte Arbeitslohn verschlingt, sondern auch das Capital aus Plus in Minus verwandelt, so daß Einnahmen und Ausgaben ihren rechtmäßigen Standpunkt verlieren.
Sabine schüttelte den Kopf.
Ferdinand giebt nicht mehr aus, als er einnimmt, sagte sie. Seine Mutter lobte ihn gestern wegen seiner Sparsamkeit und Ordnung.
Herr Lindenberg schüttelte ebenfalls den Kopf.
Ich spreche durchaus nicht von ihm, lächelte er, ich fälle ein allgemeines Urtheil, unbeschadet aller Ausnahmen. Aber wenn diese Seite sehr gewichtiger Bedenken, welche die größte Vorsicht einflößen müssen, dich weniger angreift, so giebt es noch andere Gründe. Ich setze den Fall, es ist Jemand so verwegen einen Soldaten zu heirathen; ich setze ferner den Fall – merke wohl auf, Sabine, ich sage etwas, was mir unmöglich scheint, aber ich will es bei alledem annehmen – also das Wagestück fällt glücklich aus, es wird daraus, was man eine glückliche Ehe nennt, auf welchen Pfeilern ist denn dies Glück gebaut? Jeder Tag, jede Stunde kann es vernichten. Heut bricht Krieg aus, morgen muß der Soldat fort, übermorgen wird er todt geschossen, oder gräßlich verstümmelt, oder er wird übergeritten oder gefahren, mit Pulver verbrannt, mit Säbeln zerschnitten, mit Bajonetten gespießt. Eben noch geht er gesund und munter fort, in der nächsten Minute bringt man seine Leiche. Denke dir die Angst, die Noth, die schreckliche Unruhe, die Verzweiflung, alle die fürchterlichen Schmerzen, welche jeder fühlende Mensch empfindet, die ganz besonders aber ein Weib empfindet, wenn ihr Herz an dem Manne hängt, den sie sich gewählt.
Sabinens Gesicht erblaßte, während ihr Vater ihr alle diese Schrecken schilderte. Um ihre Lippen zuckte ein Schmerz, den ihre Augen widerspiegelten, indem sie zugleich von den Empfindungen glänzten, die ihr Herz füllten. Herr Lindenberg aber, der sonst nicht sehen konnte, wenn sein Binchen eine betrübte Miene zog, war heut nicht allein gleichgültig gegen das, was er sah, sondern er erfreute sich daran und vermehrte ihre Pein.
So ist es, mein liebes Kind, sagte er. So wird uns die Freiheit geraubt und wir machen uns gegenseitig unglücklich, hängen unser Leben an ein anderes fremdes Leben, stürzen uns in Noth und Unruhe und opfern dafür unseren Frieden und unsere Unabhängigkeit. Der Künstler, der Gelehrte, der denkende Mensch überhaupt geht dabei unter. Adam Smith würde in seinem ganzen Leben nicht sein großartiges System erfunden haben, wenn er geheirathet hätte, Alexander v. Humboldt hätte sich niemals so mit der Natur beschäftigen können, wenn er mit einem Weibe, mit Kindern, mit häuslichen Sorgen zu thun gehabt. Kein bedeutender Mensch muß heirathen! Alles Große wird dadurch verhindert. Die Ideen sterben, die Ideale verkümmern, alle geistigen Kräfte vertrocknen. Die Welt würde eine ganz andere sein, wenn diese traurige Verirrung der Gefühle nicht vorhanden wäre. Ich sage dir, Sabine, es läßt sich gar nicht berechnen, welchen Standpunkt die Menschheit einnehmen würde, wenn der Apfelbaum nicht im Paradiese gestanden hätte!
Es ist wahr, sagte Sabine traurig und mit ihren Gedanken beschäftigt, es muß schrecklich sein, wenn der Tod wie ein Räuber hereinbricht. Ich möchte es nicht erleben!
Darum hüte dich davor, mein Kind, sagte Herr Lindenberg gerührt. Je weniger der Mensch zu verlieren hat, um so glücklicher ist er.
Sollte Ferdinand wohl eben so denken? fragte Sabine nachsinnend.
Wenn es nicht der Fall ist, antwortete Herr Lindenberg, so täuscht er sich über sich selbst. Ein Soldat darf nicht heirathen. Ich habe dir schon gezeigt, wie er nicht im Stande ist, eine Frau glücklich zu machen, allein auch er selbst hat den größten Schaden davon. Alle großen Feldherrn, von Alexander und Cäsar ab bis auf Napoleon, haben einstimmig behauptet, daß kein Soldat ein Weib nehmen müsse, weil er dadurch seine Energie, seinen Muth, seine Todesverachtung verliert. Die Frau und die Familie hängen wie Bleigewichte an ihm. Er zerfällt mit sich selbst, mit seinem Stand, mit Grundsätzen und Gewissen, verdammt sich selbst, verdammt die ihn dahin gebracht, und so entstehen Zerrüttungen, die nicht zu lösen sind.
Ich werde kein Bleigewicht sein! rief Sabine, aber du hast ganz Recht, Papa. Ich fühle mich glücklich, wie ich bin, und habe keine Lust mich zu verkaufen an wen es auch sei.
Herr Lindenberg erwiderte nichts weiter darauf, denn seine Schwester kam, und er war von seinen Erfolgen so weit befriedigt, daß er vor der Hand nicht weiter fortfahren mochte. Er war jedoch sehr heiter und sehr zärtlich gestimmt, und diese vortreffliche Laune währte den ganzen Tag fort, obwohl Fräulein Lina ihm hinreichende Gelegenheit gab, auch die andere Seite herauszukehren.
Fräulein Lina erklärte nämlich, daß sie zu Haus bleiben und nicht in die Gesellschaft zu der Frau von Stein gehen werde. Alle Vorstellungen und alle Bitten halfen zu nichts; Fräulein Lina, die gewöhnlich nachgiebig war und ihres Bruders Wünsche als Befehle beachtete, blieb unerklärlich hartnäckig. Sie schützte, wie es am bequemsten ist, Unwohlsein vor, obwohl Herr Lindenberg sich nicht erinnerte, seit Jahren die geringste Klage von ihr gehört zu haben. Er mußte sich endlich darein fügen und that es, ohne unwillig zu werden, denn eigentlich war es ihm so unlieb nicht, wenn seine Schwester Sabinen nicht begleitete.
Es war von ihm nicht unbeachtet geblieben, daß die Frau Hofräthin gestern ganz besonders freundschaftlich sich um Lina bemüht und in vertrautester Weise mit ihr verkehrt hatte. Eine geheime Ahnung sagte ihm, daß dies nicht absichtslos geschehen sei. Er kannte Frau von Stein und deren Klugheit und zweifelte nicht daran, daß sie für ihre Absichten arbeitete; daß sie solche hatte, sah er aus Allem, was er beobachtete. Mit vielen Schmeicheleien und Liebesworten brachte er von Sabinen auch Alles heraus, was Ferdinand mit ihr gesprochen und was seine Mutter mit ihr gesprochen. Die letztere hatte allerdings keinerlei Andeutungen gemacht, und eben so wenig ließ sich dies eigentlich von ihrem Sohne behaupten, aber wie wäre dergleichen auch bei einem ersten Besuche möglich gewesen.
Von seiner Schwester dagegen konnte Herr Lindenberg gar nichts erfahren. Sie behauptete, mit Frau von Stein nur sehr gleichgültige Sachen gesprochen zu haben, drückte sich jedoch über den galanten und liebenswürdigen Offizier so theilnehmend aus, daß ihr Bruder es für das Beste hielt, ihr keine weitere Eröffnung zu machen. Ein eigenthümlicher Gedanke überkam ihn dabei, den er freilich zunächst mit Spott behandelte und verlachte, welcher aber dennoch mehrmals wieder in seinen Kopf zurückkehrte. Er rechnete heimlich das Alter seiner Schwester nach, die aus zweiter Ehe seines Vaters stammte, der hochbetagt noch einmal geheirathet hatte. Fräulein Lina mußte an fünfundzwanzig Jahre jünger sein, als er. Dann ging er verschiedentlich bei ihr vorüber und betrachtete ihr Gesicht, es sah in der That noch gar nicht so übel aus. Er forschte hin und her, leimte ihre Antworten und seine Bemerkungen zusammen und ging endlich mit Sabinen zu der Frau Hofräthin, denn Fräulein Lina ließ sich durchaus nicht dazu bewegen.
Im Hause der Frau von Stein hatte sich eine Gesellschaft versammelt, deren größter Theil früher zur Stelle war, als Herr Lindenberg und Sabine. Es fanden sich mehrere verwandte und befreundete Familien ein, zu welchen verschiedene Jugendfreunde und Genossen Ferdinands kamen, die sich seiner Rückkehr mit ihm erfreuen sollten. Es mochte zufällig sein, daß die verschiedenen Familien auch mit jungen hübschen Töchtern und verschiedenen Nichten reichlich bedacht waren, gewiß aber konnte nicht leicht eine artigere Schaar zierlicher Fräulein beisammen gesehen werden. In ihrem gewählten Putz und Blumenschmuck glichen sie selbst einer Blumenflor, auf welcher auch die Blicke des ärgsten Hypochonder mit Vergnügen gehaftet hätten, allein hier gab es feinen solchen Unglücklichen. Die jungen Herren sowohl, wie die alten, schienen sich in ihrem Element wie Fische im frischen Wasser zu befinden, die Unterhaltung war so lebhaft und so allgemein froh und bewegt, daß Herr Lindenberg und Sabine zunächst fast unbemerkt den Kreis vermehrten, welcher sich um Ferdinand versammelt hatte.
Sabine konnte einige Minuten lang in ihres Vaters Schatten geborgen zuhören, was ihr ungetreuer Freund einigen der hübschen Fräulein von den Vergnüglichkeiten am Hofe des Prinzen erzählte, und ihre Blicke hingen so fest an ihm, daß sie nicht gewahrte, wie nach und nach sie doch auch beobachtet wurde, bis Ferdinand selbst sich umwandte, zugleich aber auch die Frau Hofräthin, welche aus dem Speisesaal zurückkehrte, wo sie eine Specialrevüe abgehalten, Herrn Daniel Lindenberg entgegeneilte. Während sie mit Bestürzung und Bedauern vernahm, daß eine äußerst heftige Migräne ihre liebe Freundin Lina entfernt hielt, begrüßte Ferdinand Sabinen; aber es war sonderbar, wie zurückhaltend sie vor ihm stand und wie stolze, kalte Blicke sie über den Kreis der Zuschauer fliegen ließ.
Für alle diese Damen und Herren war sie eine ziemlich fremde Erscheinung, von welcher man mehr gehört als gesehen hatte. Wenige nur fanden sie zuweilen bei Frau von Stein, die Meisten kannten sie kaum, denn Herr Lindenberg war wohl mit manchen Familien oberflächlich in Berührung gerathen, doch stand er ihnen fern, denn er gab keine großen Gesellschaften, besuchte auch keine und besaß eigentlich gar keine Freunde. Er galt als Sonderling, seine Tochter nicht minder, und was man von dieser und ihren Eigenthümlichkeiten gehört, fand seine theilweise Bestätigung schon beim ersten Anblick.
Jedermann wußte, daß Herr Lindenberg ein vermögender Mann sei, trotz dessen ging Fräulein Sabine daher, daß man sich fast ihrer schämen mußte. Nicht der geringste Schmuck war an ihr bemerkbar, mit Ausnahme einer Perlenschnur um ihren langen Hals, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Dabei fiel ihr langes dunkles Haar von der Stirn zurückgekämmt ihr lockig in den Nacken nieder, bis auf die Säume des hochheraufgehenden weißen Mullkleides, das obenein nicht einmal Aermel nach der neuesten Mode hatte.
Die jungen Fräulein warfen sich lächelnde Blicke zu über die Geschmack- und Anstandslosigkeiten, welche sie bemerkten. Keine von ihnen wäre in solchem Aufzuge um Vieles nicht über die Straße gegangen. Nicht einmal die Crinoline war hier in ihrem Rechte, Sabine sah so dünn aus, wie ein getrockneter Stockfisch, und ihr Vater hätte wahrlich nicht reich zu sein brauchen, um sie so lächerlich armselig ans Tageslicht zu bringen.
Spott mischte sich mit Mißachtung über diesen Mangel an Lebensart und Schönheitssinn, zugleich jedoch wurden beide gemildert von einer wohlthuenden Empfindung, denn schön konnte Niemand Sabinen finden, Gefahren vor nachtheiligen Vergleichen waren somit in ihrer Nähe nicht zu besorgen.
Bei alledem ergab es sich im Laufe des Abends, daß Sabine doch auch ihre Anziehungskraft besitzen mußte. Verschiedene der jungen Herren beschäftigten sich mit ihr, und unter diesen waren mehrere, welche beharrlich danach strebten ihr zu gefallen, der aber, von dem man dies am meisten erwartete, befand sich nicht darunter. Es konnte nicht unbekannt sein, welche Freundschaft die Familien verband und was davon gehofft werden durfte. Der klugen Frau von Stein traute man auch den besten Willen zu, ihren Sohn mit einer reichen Frau zu beglücken, und dieser Sohn dachte wahrscheinlich liberal genug, um die Tochter seines Vormundes in Betracht zu ziehen; allein auch das schärfste Auge konnte nicht bemerken, daß ihr irgend ein Vorzug zu Theil werde. Sie nannten sich allerdings mit dem vertraulichen Du, und es hatte Aufsehen erregt, als gleich zuerst Sabine fragte:
Warum bist du heut nicht zu mir gekommen? Ich habe dich erwartet, Papa auch, wir Alle.
Ich muß mich entschuldigen, erwiderte er. Ich hatte viele Besuche zu machen.
Und es gab so viele angenehme Unterhaltung dabei, daß du uns vergessen hast.
Nicht vergessen, lachte er, aber ich muß bekennen, daß mir so viele liebenswürdige Theilnahme bezeigt wurde, daß meine Zeit allzu schnell verrann.
Er blickte die aufhorchenden Fräulein so verbindlich dankbar an, daß jedem das Herz schlug. – Was hatte er denn auch nöthig, das magere, große Mädchen besonders zu begünstigen, das mit den langen Knochenfingern die Perlen faßte und zerrte, und dabei sagte:
Ein Jeder muß seine Zeit benutzen, so gut er kann, um sein Capital zu vermehren.
Diese Bemerkung war wohlgeeignet, die Fröhlichkeit zu vermehren, besonders als Ferdinand von Stein mit der ihm eigenen Grazie versicherte, das dies auch seine Absicht sei. Seine schimmernden blauen Augen flogen so schalkhaft bittend und eindringlich wiederum über den Kreis der Fräulein, daß jedes ein elektrisches Zucken empfand, denn womit wollte er sein Capital vermehren? Er wollte sich vermählen, das schien gewiß genug, aber war er nicht selbst vermögend genug, um nach den Capitalien des Herrn Lindenberg nicht lüstern zu sein? Daß er nach der Zugabe nicht besonders lüstern war, bewiesen seine Antworten, denn mit einer Angebeteten hätte er nicht so offenherzig verfahren, und wer daran noch zweifeln wollte, der konnte später bemerken, wie gering seine Zuneigung sein mußte.
Es wurde getanzt, allein er tanzte kaum einmal mit ihr und gewiß aus Verdruß darüber schlug sie andere Anerbietungen aus und begnügte sich mit Zusehen und den weisen und lehrreichen Gesprächen, welche sie mit ihrem Vater und anderen gereiften Personen führte, während die muntere Jugend sich vor ihr in Schlangengewinden drehte, und Herr Ferdinand von Stein, der beste Tänzer und, was seinen Ruhm noch mehr erhöhte, auch der ausdauerndste blieb.
Herr Lindenberg sah und hörte Alles und in seinem Herzen war Freude, aber auch Wachsamkeit. Er ließ sich nicht so leicht täuschen, weder durch die Gleichgültigkeit des Herrn Adjutanten, noch durch die Freundlichkeit der Frau Hofräthin, welche sich öfter neben ihn setzte und seine Unterhaltung beanspruchte. Es genügte ihm auch nicht, daß er bei Tische, wo er an der Seite der Wirthin seinen Platz erhielt, Sabinen neben einem Fremden sitzen sah, während Ferdinand gegenüber zwischen den beiden schönsten der jungen Damen sich befand, die seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchten. Er fand so viel Absichtliches darin, daß sein Mißtrauen sich nicht abschwächen konnte, allein Sabine selbst hielt sich vortrefflich. Sie gab kein Zeichen von Unruhe und Unzufriedenheit, fröhlich und kindlich, wie immer, schien sie sich darüber zu freuen, daß Ferdinand so lebhaft, so tanzlustig und so liebenswürdig sei, und sie hörte es mit begeistertem Lächeln, wie die Frau Hofräthin allerlei Glückwünsche empfing, die den vortrefflichen Eigenschaften ihres Sohnes galten.
Ein bejahrter Verwandter bezeigte sich ganz besonders theilnehmend.
Wie alt ist er jetzt? fragte er.
Sechs und zwanzig Jahre, mein lieber Cousin.
Ein prächtiges Alter! rief der Cousin, der wird es weit bringen. Er muß nur eine Partie machen, die ihm unter die Arme greift. So eine Generalstochter oder dergleichen mit mächtigen Connexionen.
Meinen Sie? lächelte Frau von Stein.
Gewiß, sagte der Cousin, so muß ein junger Mann heirathen, der vorwärts kommen will; sonst geht's nicht.
Ich hoffe, es wird gehen, fiel die Frau Hofräthin ein, und indem sie sich zu Sabinen wandte, blickte sie diese so eigenthümlich an, als fragte sie, was meinst du dazu?
Sabine antwortete mit unverkennbarer Beistimmung, dann ging sie in ein Nebenzimmer, wo sie allein war, und dort stand sie vor dem Blumentische still, auf welchem Frau von Stein eine Anzahl Myrthenbäumchen pflegte. Mehrere darunter befanden sich in voller Blüthe, und vor sich hin lächelnd in ihren Gedanken brach Sabine ein Paar kleine Zweige ab und hielt diese in ihren Fingern, als eine leise Hand ihren Arm berührte.
Mit einem Umschauen erkannte sie Ferdinand, der hinter ihr stand und die Myrthenblüthen betrachtete.
Hier finde ich dich, um Myrthenkränze zu flechten, scherzte er. Für wen sind sie bestimmt? Für meine Braut?
Hast du eine Braut? fragte sie.
Und wenn ich eine hätte?
Sage es mir aufrichtig.
So würde ich es dir vertrauen.
Du hast also noch keine?
Nein, Sabine, aber – ich möchte eine haben.
Freilich, du mußt heirathen, erwiderte sie. Es ist gerechtfertigt, wenn du es thust, denn es wird dir nützlich sein, und du wirst dein Glück dadurch machen.
Das hoffe ich, liebe Sabine, ich hoffe sehr glücklich zu werden.
Du mußt nur recht verständig deinen Calcul machen, wie mein Vater sagt.
Ich werde in meiner Rechnung nichts vergessen und dich dabei zu Rathe ziehen.
Mich! lachte Sabine, ich verstehe zu wenig davon, aber wenn du mich fragen willst, will ich dir wenigstens immer meine aufrichtige Meinung sagen.
Gut, erwiderte er, und dasselbe will ich thun, wenn du mich zu deinem Geheimrath ernennst.
Armer Ferdinand! versetzte sie, auf diese Anstellung wirst du lange warten müssen, denn du weißt ja, daß ich niemals heirathen werde.
Man kann das doch nicht so bestimmt sagen, Sabine.
Das kann ich bestimmt sagen, antwortete sie ernsthaft, denn man soll anständiger Weise doch nur heirathen, wenn es Vortheile bringt, und wo wären diese für mich? Denke dir, wie viele Sorgen und Noth mich erwarten könnten, wie ich meine Freiheit und Selbstständigkeit aufgeben müßte! Was würde mir als Ersatz dafür?!
O, sagte er in plötzlicher Bewegung ihre Hand drückend, hast du denn noch nicht gehört, daß es eine große himmlische Macht giebt, welche alle Noth versüßt, alle Sorgen erleichtert?
Welche Macht meinst du? unterbrach sie ihn.
Die uns allein versöhnt mit diesem Erdenleben, die unsere Leiden fortküßt, uns über alle Schmerzen erhebt. Der Prometheusfunken, liebe Sabine, den Gott uns gegeben hat zur Versöhnung mit ihm. Hast du nichts davon empfunden?
Nein, sagte Sabine, indem ihre Finger leise zitterten.
Nicht? fragte er mit so seltsamer Stimme und einem so wunderbaren Glanz in seinen Augen, daß ein Schauder über Sabinen hinlief, dem ein Strom von Gluth nachfolgte. Empfandest du nichts davon?
Wie nennt man das? Was ist es? fragte Sabine.
Die Liebe! theure Sabine. Sie ist die große Zauberin, die allein glücklich machen kann. Keine Schätze, keine Vortheile, kein Tand, mag er heißen, wie er will, können mit ihr streiten, von keiner Noth, keiner Sorge läßt sie sich erschrecken. Wo sie erscheint, verschwinden alle Klagen, und wo sie weilt, da ist das Glück.
Seine letzten Worte wurden von der kräftigen Stimme des Herrn Lindenberg übertönt, der sich im Nebenzimmer hören ließ, und als ob er der zauberische Liebesgott selbst sei, war er im Stande sofort Wunder zu bewirken. Denn kaum hatte Ferdinand ihn gehört, als der Ausdruck seines Gesichts, seiner Sprache und seiner Augen, welche Sabinen so seltsam berührt hatten, im Augenblick verschwand. Es war wieder der fröhliche, geschmeidige Freund, der Sabinens Arm nahm und in lustiger Weise bat:
Einmal mußt du noch mit mir tanzen, beste Sabine, dann will ich dich nicht weiter belästigen, du darfst nicht so grausam sein, mir alle Gunst entziehen zu wollen.
Damit gingen sie Beide dem Herrn Lindenberg entgegen, der nicht allein in der Thür erschien, sondern die Frau Hofräthin spazierte an seinem Arme und sie streckte ihre Hand Sabinen entgegen und lächelte ihr vertraulich zu.
Nun, da sind sie ja, rief sie, und ich denke, es geht Alles gut. Nicht wahr, Sabinchen, es fehlt dir nichts?
Es fehlt mir gar nichts, sagte Sabine. Es war mir zu heiß im Saale.
Zum ersten Male in ihrem Leben hatte Sabine gelogen. Es war ihr unerklärlich, warum sie es that, sie war durch nichts dazu gezwungen. Auf der Stelle erschrak sie davor, allein es war zu spät. Es kostete sie die größte Mühe, ihren Vater anzusehen, der unter seinen grauen Augenbrauen die Augen zusammenzog und seinem Gesicht einen Ausdruck von Spott gab, der sie plötzlich ganz nüchtern machte. Dabei hob Herr Lindenberg seinen Finger auf und sagte in seinem lehrreichen und liebevollen Tone:
Nimm dich vor der Erhitzung in Acht, mein Kind, es kommt gar zu leicht die Erkältung hinterher!
Sabine hätte sich auf der Stelle von Ferdinand befreien und zu ihrem Vater fliehen mögen, denn eine sonderbare Bangigkeit überkam sie, allein Ferdinand hielt sie gar zu fest. Er drückte leise ihre Hand und indem er sie fortführte, sagte er mit einem Anflug trotzigen Uebermuthes:
Ohne Sorge, bester Papa, ich werde Sabinen vor jedem Feinde beschützen, der ihr gefährlich werden kann.
Am nächsten Tage war Herr Lindenberg nicht in so heiterer Laune als bisher, denn er hatte einen Theil seiner Sicherheit verloren, weil das Benehmen seiner Tochter ihm nicht gefiel. Er konnte nicht sagen, daß Sabine sich geändert habe, in sich gekehrt oder zerstreut sei, im Gegentheil war sie sehr freundlich und sorglich um ihn her, suchte alle seine Wünsche zu errathen und blickte ihn oft mit ihren großen, tiefen Augen auf's Zärtlichste an. Ueber die Gesellschaft bei der Frau Hofräthin gab es viel zu sprechen und Sabine äußerte sich mit Offenheit über Alles, was sie bemerkt hatte, über Eines aber äußerte sie sich nicht, und das war es eben, was Herrn Lindenberg beunruhigte.
Er wollte gern wissen, was in dem Seitenzimmer bei den Myrthenbäumen vorgegangen sei, wollte aber keine directen Fragen thun, denn dies war ganz gegen seine Grundsätze. Sabine sollte selbst dazu gelangen, er wollte sie durch dialektische Kunst dazu treiben. Kein Zwang sollte ihr angethan werden, sie sollte freiwillig, durch eigene Ueberzeugung sich dazu entschließen; doch alle Versuche, sie zu bewegen, scheiterten. Sabine that, als habe sie kein Gedächtnis.
Herr Lindenberg wurde zuletzt zweifelhaft, besonders da Sabine ihm freimüthig mittheilte, was der bejahrte Cousin zu der Frau Hofräthin gesagt hatte. Er fand dies natürlich durchaus richtig, denn es paßte zu dem, was er selbst darüber als das allein Richtige hingestellt.
Siehst du wohl, mein liebes Kind, sagte er, das ist die Ansicht eines klugen und welterfahrenen Mannes, der bei der ganzen Familie als ein Orakel gilt und seinen Weisheitsruhm auch gewiß verdient. Ja wohl, hat er Recht! Wenn Ferdinand heirathen will, so muß er eine Frau von angesehener Familie nehmen, die ihm Begünstigungen verschafft, damit er schnell viele Andere überspringt.
Aber, Papa, sagte Sabine, das ist doch jedenfalls eine Ungerechtigkeit.
Durchaus nicht! versetzte Herr Lindenberg, das sieht blos so aus. Es muß ein Jeder dafür sorgen, wie er sich am besten hilft und sein Glück sichert. Thue ich dies, so erfülle ich meine Pflicht. Ich habe nicht danach zu fragen, wie dies meinen Nachbarn oder Mitmenschen gefällt, diesen bleibt es unbenommen, ebenfalls für ihr Wohlergehen bestens zu arbeiten. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn ich bei meinen Arbeiten für mein Lebensglück mich zunächst rechts und links umsehen müßte, um gewiß zu sein, ob mir Niemand ein schiefes Gesicht zieht. Wir können bei dem, was wir thun, unmöglich erwarten, es Allen recht zu machen, daher ist der Trieb der Selbsterhaltung, der Trieb uns selbst zu sichern, der höchste aller Triebe. Adam Smith sagt, wir dürfen uns durch keinerlei Bedenken irre machen lassen über die volle Freiheit unseres Handelns im Interesse unserer wahren Wohlfahrt, und es stimmt dies mit vielen Aussprüchen des großen Dichters Göthe überein, wie zum Beispiel: »Das Glück deiner Tage wäge nicht mit der Goldwage!« oder: »Was die Menschen meinen, das ist mir einerlei, mit Allen sich vereinen geht nicht, denn wir sind zwei. Doch zu dem Selbstverständniß, da giebt es guten Rath: Nach sichernder Erkenntniß erfolge rasche That!«
In Goethes »Zahmen Xenien« heißt es allerdings durchaus abweichend:
Und was die Menschen meinen,
Das ist mir einerlei;
Möchte mich mir selbst vereinen,
Allein wir sind zu zwei;
Und im lebend'gen Treiben
Sind wir ein Hier und Dort,
Das eine liebt zu bleiben,
Das andere möchte fort;
Doch zu dem Selbstverständnis
Ist auch wohl noch ein Rat:
Nach fröhlichem Erkenntnis
Erfolge rasche Tat.
Herr Lindenberg lächelte schlau, indem er diesen Götheschen Spruch zum Besten gab, und suchte dabei nach dem Buche, das mit anderen im Fache stand.
Warte nur, sagte er, hier stehen noch mehr dergleichen prächtige Lehren, wie gleich hier.
Er blickte auf, aber Sabine war nicht mehr da, und er ließ das Buch sinken und sprach gelassen:
Rasche That, das ist die Hauptsache. Die fröhliche Erkenntniß habe ich, so bleibt denn eigentlich nichts weiter übrig. Was wäre ich für ein Thor, wenn ich mir mein einziges Kind nehmen lassen sollte, die mein ganzes Glück ist. Habe ich sie für einen Anderen oder für mich mit so vieler Liebe und Treue groß gezogen, daß ich in meinem Alter einsam darben und entbehren sollte? Ich will nicht! also muß ich sorgen, Sabinen mir zu sichern, wie es angeht. Das ist meine Aufgabe.
Sabine hatte inzwischen Fräulein Lina aufgesucht und sie fand die geschäftige Tante bei häuslichen Arbeiten, welche sie einige Zeit theilte und dabei mit ihr plauderte. Von dem Feste der Frau Hofräthin war hinreichend gesprochen worden, dagegen fiel es Sabinen ein, jetzt zu fragen, wie Lina denn den Tag verlebt habe.
Bist du ganz allein gewesen? fragte sie.
Fräulein Lina besann sich ein Weilchen, dann erwiderte sie:
Allerdings, bis auf kurze Zeit, wo der Professor hier war.
Der Professor, lachte Sabine, das war dir wohl sehr lieb?
Lieb? ich weiß nicht, warum es mir lieb sein sollte.
Nun, du hast ihn doch gewiß sehr süß behandelt.
Sabine, sagte Fräulein Lina ernsthaft, du weißt oft nicht, was du sprichst.
Aber, Tante Lina, er liebt ja die Süßigkeiten ganz unmäßig. Ich will dir ein Geheimniß verrathen.
Ein Geheimniß, das den Professor betrifft?
Ja, sagte Sabine.
Behalte lieber dein Geheimniß, lächelte Fräulein Lina neugierig.
Nein, du mußt es hören. Sie trat näher heran und sagte halblaut: Dieser Professor wäre ein Mann zum Heirathen.
Zum Heirathen! rief Fräulein Lina erstaunt. Was fällt dir denn ein, Sabine?
Bei ihm würde man seine Selbstständigkeit nicht verlieren, fuhr Sabine fort; ich glaube, man könnte thun, was man wollte, er würde immer zufrieden sein.
Fräulein Lina hatte sich erholt, sie kämpfte jedoch mit dem Unwillen, der sich in ihren Augen malte.
Du bist sehr im Irrthum, sagte sie, wenn du glaubst, daß der Professor kein Mann sei, der sich Achtung zu verschaffen weiß und Kraft besitzt, um seinem Willen Geltung zu verschaffen.
Muß denn der Mann solche Kraft besitzen? fragte Sabine.
Dafür sind es Männer. Wir Frauen sollen sanft und bescheiden sein, fügte sie mit einem anzüglichen Blicke hinzu, den Sabine nicht beachtete, aber leider ist dies oft nicht der Fall. Wir sind das schwächere Geschlecht, darum ehren wir den männlichen Willen kluger und einsichtsvoller Männer. Der Professor ist aber ein so gelehrter und hochgeehrter Mann, daß es sehr unrecht ist, über ihn zu witzeln.
Er ist also sehr klug? fragte Sabine.
Das ist er ganz gewiß! antwortete Fräulein Lina in stolzer Haltung.
Sabine stand einige Minuten nachdenkend, dann legte sie ihre Hand auf die Schulter ihrer Tante und fragte zutraulich:
Du liebst ihn wohl, Tante Lina?
Ein Schlag ins Gesicht hätte keine solche Wirkung auf Fräulein Lina machen können, als dieser Schlag auf ihr Gewissen. Was sie sich selbst bestmöglichst zu verbergen suchte, das sprach diese vorlaute Nichte von achtzehn Jahren aus, als erkundige sie sich nach irgend einem Lieblingsgericht ihrer Tante. Eine dunkelrothe Wolke, aus Scham und Aergerniß gewebt, legte sich auf Fräulein Lina's Stirn, dennoch wagte sie nicht heftig zu schelten; sie setzte sich vielmehr auf das hochgesattelte Pferd der Respectsperson, begegnete Sabinens Blicken mit völliger Abweisung und sagte mit stolzer Betonung:
Du bist noch zu jung, Sabine, um solche Fragen an mich zu richten. Es ist gänzlich unschicklich und verletzt mich.
Aber Tante, fiel Sabine ein, eben weil du so viel älter bist als ich, wünschte ich von dir eine Aufklärung.
Ich habe dir keine zu geben, versetzte Fräulein Lina noch mehr erzürnt, und jetzt bitte ich dich mich zu verschonen.
Mit diesem Gebot entfernte sie sich nicht wenig beunruhigt über den Blick, den dies geschwätzige Mädchen in ihr Innerstes gethan hatte. An der Thür aber blieb sie stehen und begann nochmals:
Du bist so formlos, Sabine, daß man sich davor entsetzen muß. Ich bitte dich, sprich von mir in solcher Weise zu Niemandem. Was sollte man von mir denken? Dein Vater selbst, mein guter Bruder, – schweige gegen Jeden davon. Du mußt doch endlich aufhören, dich wie ein Kind zu benehmen!
Sabine wollte sich vertheidigen, allein Fräulein Lina ließ ihr keine Zeit dazu, denn sie schlug die Thür zu und ließ sie allein.
Nachdenklich blieb Sabine stehen, sie konnte sich den Unwillen ihrer Tante nicht erklären.
Was habe ich ihr denn gethan, fragte sie sich, und warum soll ich kindisch sein?
Sie trat in den Garten hinaus und war so beschäftigt mit ihren Gedanken, daß sie zunächst nicht bemerkte, wie der Professor ihr entgegen kam, welcher durch die Gartenthür eingetreten war, und eben so viel mit sich selbst zu thun haben mochte. Denn erst als sich Beide ganz nahe waren und der Professor in den großen Gang einbog, wo Sabine an der Laube stand, erblickten sie sich gegenseitig. Den Professor schien die Lust anzuwandeln umzukehren, er machte eine unwillkürliche Schwenkung, allein Sabine lief ihm nach und stand im nächsten Augenblicke schon vor ihm.
Guten Tag! sagte sie, ihm ihre Hand bietend, das ist schön, daß ich Sie finde.
Der Professor richtete seine silberne Brille auf sie und lachte in seiner Weise mit dem ganzen Gesicht.
Ich habe nicht geglaubt, Sie anzutreffen, erwiderte er.
Wen glaubten Sie denn anzutreffen? fragte sie.
Die Frage wirkte auf sein Nachdenken. Er stand, als besänne er sich auf etwas.
Sonderbar! grinste er dann, ich weiß selbst nicht, wen ich antreffen wollte und wie ich eigentlich hier herein kam.
Meinetwegen sind Sie gekommen, versicherte Sabine.
O, wirklich! sagte er verwundert.
Weil ich mit Ihnen etwas zu reden habe.
Sehr gut! lachte der Professor seine Hände reibend.
Setzen Sie sich zu mir hier in die Laube.
Der Professor folgte ihrem Wink, er war sehr erwartungsvoll, aber auch verlegen, denn Sabine sah ihn sonderbar durchdringend an; er konnte das nicht ertragen.
Nun! rief er, seine Hand zurückziehend, die sie berührte, was giebt's?
Was ist Liebe? fragte Sabine langsam. Erklären Sie mir das.
Der Professor blieb erstarrt sitzen. Sein Gesicht war freundlich, aber es sah aus, als hätte ihm Jemand eine Grobheit gesagt, und er traute seinen Ohren nicht.
Oho! wie so? stotterte er.
Sie sind ein kluger Mann, der Alles versteht, Lina sagt es auch, fuhr Sabine fort. Was ist also die Liebe? Es ist eine Macht, das weiß ich, die mit göttlicher Gewalt ausgerüstet ist, die Alles kann, die zaubermächtig in unser Leben greift und der nichts zu widerstehen vermag. Doch sagen Sie mir, woran erkennt man sie? Was denken Sie davon?
Ich, sagte der Professor noch immer stier blickend, ich denke nichts; es läßt sich nichts denken.
Also es läßt sich nichts darüber denken, erwiderte Sabine überlegend; ich glaube, daß Sie Recht haben. Ist die Liebe eine solche zauberische Macht, so wird sie mit Denken nicht erklärt werden können. Man wird sie empfinden müssen, aber wie sind die Empfindungen beschaffen, die sie erregt? Sagen Sie mir das.
Empfindungen, oho! rief der Professor, deren giebt es viele. Empfindungen hat jedes Individuum; Empfindungen müssen empfunden werden.
Also es giebt keine bestimmten Empfindungen dafür, sagte Sabine, sondern ein Jeder empfindet sie nach seiner Natur oder seinem Charakter. Das ist wahr, ich sehe es ein. Aber wenn ich es nun bin, lieber Vetter Herbart, wenn ich liebe, wie werden da meine Empfindungen sein?
Was weiß ich es! lachte der Professor. Oho, Fräulein Sabine – er blickte in ihre Augen und verwirrte sich davor ganz schrecklich. Denn diese sahen ihn mit demselben Ausdruck an, wie er sich erinnerte sie gesehen zu haben, als sie mit dem jungen Offizier an ihm vorüber ging. Sie glänzten sternenhell von einem in der Tiefe brennenden Feuer und strahlten zärtlich fragend und bewundernd ihn an, als wollten sie ihn durchglühen. Er verlor den Faden seiner Gedanken und rief unhöflich aus: Ich verstehe von diesen Empfindungen gar nichts, es ist mir auch gleichgültig!
Sie verstehen nichts davon, sagte Sabine nachsinnend, ohne den Ausdruck in ihrem Gesicht zu ändern, es ist Ihnen gleichgültig, o! ich verstehe Sie, lieber Vetter Herbart, und ich denke, wir werden uns Beide verstehen, wenn wir unsere Empfindungen austauschen. Der Papa sagt, man muß sich nicht verheirathen, man verliert seine Sicherheit und Ruhe und begeht einen Selbstmord. Wenn man aber liebt, wie ist es dann? Ist es wirklich wahr, daß die Liebe Alles ersetzt, was man verliert? daß man alle Noth, alle Sorgen mit dem Geliebten leicht erträgt?
Sie rückte dabei dem Professor näher, der seinerseits sich zurückzog, und als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, seine Hände abwehrend vorhielt. –
Indem ich mir das denke, kommt es mir vor, als müßte es so sein, fuhr Sabine fort. Es ist mir, als hätte ich schon große Noth und Unruhe, und als müßte ich Ihnen um den Hals fallen und Trost suchen.
Bei ihrer Bewegung sprang der Professor auf beide Beine und sah durchaus nicht danach aus, als könnte er Trost geben. Er griff an seinen Hals, als wollte er sich überzeugen, ob Sabine nicht schon daran hinge, und während er im ganzen Gesichte roth über die Vorstellung wurde, stotterte er:
Jetzt auf keinen Fall!
Warten Sie, Vetter, sagte Sabine. Ich muß Ihnen Alles sagen, was ich denke.
Ein ander Mal! ein ander Mal! rief der Professor.
Sie sind der Einzige, der es wissen soll. Bleiben Sie.
Der Professor sprang hastig aus der Laube. Sabine folgte ihm nach und haschte ihn am Aermel; allein er riß sich los und entkam ihr mit solcher Hast, daß er in einen Stachelbeerstrauch stürzte. Empfindlich geritzt, war er doch schnell wieder auf und beantwortete ihren verlockenden Nachruf nur mit einem wiederholten Hut- und Handschwenken.
So gelangte er ins Haus, in die Thür und in das Zimmer des Herrn Lindenberg, der gemüthlich und wohlig lächelnd noch immer im bequemen Polster saß und sich mit Göthes zahmen Xenien beschäftigte.
Als der Professor mit verwildertem Gesicht hereinschoß, schaute Herr Lindenberg nach ihm auf und legte dann trotz seines Erstaunens mit Gelassenheit das Buch auf den Tisch und das Seidenbändchen zwischen die Blätter, ehe er es zuklappte. Dabei behielt er den Gelehrten im Auge, der seinen Hut mit beiden Händen auf dem Rücken hielt, Oberkörper und Kopf vorstreckte und ein gespenstisches Lachen zum Besten gab. Auf seiner Backe rieselte ein Blutstropfen nieder bis in den Bart, und unter der silbernen Brille, die ihm schief auf der Nase saß, funkelten seine Augen, keinesweges entsetzt, sondern weit eher wie in großer Freude.
Freund! Professor! rief Herr Lindenberg aufstehend, indem er ernsthaft wurde, was ist Ihnen geschehen?
Ganz verrückt! lachte der Professor heftig mit dem Kopf nickend.
Sie? fragte Herr Lindenberg.
Sie! antwortete der Professor.
Mäßigen Sie sich, sagte Herr Lindenberg würdevoll. Was ist geschehen?
Verliebt! rief der Professor mit noch stärkerem Grinsen.
Sie? fragte Herr Lindenberg abermals.
Sie! antwortete der Professor darauf.
Das geht mir denn doch beinahe über den Spaß, sagte Herr Lindenberg, wobei er den Professor bedauerlich anblickte. Was soll denn daraus werden? Freund, Professor! besinnen Sie sich.
Heirathen! nickte der Professor äußerst vergnügt.
Sie? schrie Herr Lindenberg.
Sie! antwortete der Professor mit aller Gewalt.
Herr Lindenberg breitete beide Arme aus und schlug die Hände zusammen, daß es schallte.
Gott und Vater! sagte er, wie hat dies Unglück geschehen können. Freund, Professor! es wäre schrecklich, wenn Sie wirklich in Verrücktheit verfielen.
Ich nicht, oho! versteht sich, lachte der Professor. Sie!
Ich will darauf nichts erwidern, seufzte Herr Lindenberg kummervoll, denn leider sehe ich, wie es sich verhält. Es ist traurig, wie vielen geistreichen Leuten es so geht.
Ganz und gar nicht, sagte der Professor lebhaft winkend. Es fällt mir gar nicht ein, aber sie – ich bin davon gelaufen.
Dieser Unglückliche! murmelte Herr Lindenberg. Sie bluten ja an der Backe – und wie sehen denn Ihre Hände aus! Sie sind ja ganz zerkratzt.
Die Nadeln haben mich gestochen, sagte der Professor seine Hände betrachtend. Es schadet nichts. Denken Sie doch, sie wollte mir um den Hals fallen.
Um den Hals! Armer Professor! Wo denn?
In der Laube.
Herr Lindenberg horchte auf. In meiner Laube?
Ja, ja, eben jetzt.
Wie weit geht doch das krankhafte menschliche Vorstellungsvermögen! sagte Herr Lindenberg voller Bewunderung. Wer wollte Ihnen denn um den Hals fallen?
Der Professor fing an ganz ausgelassen zu lachen.
Wissen Sie denn gar nichts davon? flüsterte er. Hat sie Ihnen nichts von ihren Empfindungen für mich vertraut.
Um des Himmels willen, wer? fiel Herr Lindenberg ein. Sie meinen doch nicht – meinen doch nicht etwa –
Der Professor nickte heftig. Freilich, meine ich, die meine ich sagte er. Sie war in der Laube, hielt mich fest, wollte von mir wissen, was – was – mit Gewalt! – was Liebe sei!
Herr Lindenberg setzte sich würdevoll nieder, legte seinen Arm auf den Tisch und trommelte mit den Fingern darauf. Es dauerte einige Minuten, dann schlug er das Buch wieder auf, blickte hinein und sah auf eine Stelle, welche er laut las:
Warum willst du das junge Blut
So schnöde von dir entfernen?
Sie machen es alle hübsch und gut,
Aber Sie wollen nichts lernen.
Hierauf hob er seinen Kopf auf, blickte den Professor lange bedächtig an, der sehr verdutzt aussah, und sagte würdevoll lächelnd:
Das eben ist es, wir müssen alle lernen, ich auch und Sie ebenfalls. Man lernt niemals genug, und wenn man glaubt recht viel zu wissen, sieht man plötzlich ein, daß man gar nichts weiß.
Also Sie wissen nichts? grinste der Professor, der sich seine Hände rieb.
Kommen Sie her, Freund, setzen Sie sich zu mir, erwiderte Herr Lindenberg, und beantworten Sie meine Fragen. Wir wollen beide uns des jungen Blutes annehmen und es nicht von uns entfernen, sondern es zum Lernen, also zur Einsicht bringen. Also antworten Sie.
Nach einer Viertelstunde wußte Herr Lindenberg zwar nicht Alles, aber doch sehr Vieles und er ging mit sich selbst zu Rathe, welchen weisen Gebrauch er davon machen solle.
Seine nächste Sorge war, seinem Verwandten dringend zu empfehlen, keinem Menschen eine Mittheilung über den Auftritt zu machen, den er in der Laube erlebte.
Sabine ist in dem Alter der Gefühlsirrungen und Ueberschwenglichkeiten, sagte er. Sie hat Ihnen einen Beweis gegeben, wie unschuldig sie denkt und wie groß Ihr Vertrauen zu Ihnen ist, aber auch wie nothwendig, daß sie etwas lerne. Ich werde ihr selbst die nöthige Aufklärung über die Liebe verschaffen, oder wenn es Zeit sein wird, sollen Sie es thun. Für jetzt beruhigen Sie sich, Freund, es hat gar nichts zu sagen. Ihre Hände thun Ihnen gewiß sehr wehe?
Es ist eine etwas unangenehme Empfindung darin, sagte der Professor.
Die Liebe bringt es so mit sich, erwiderte Herr Lindenberg lehrreich lächelnd. Sie werden sich künftig um so mehr davor hüten.
Oder auch nicht! rief der Professor.
Wie? fragte Herr Lindenberg, ist das Ihr Ernst?
Ich kann's nicht wissen, lachte der Professor, starr durch seine Brille schauend.
Herr Lindenberg dachte einige Minuten lang nach, der pfiffige Zug lag um seine Mundwinkel.
Ein jeder Mensch hat die Pflicht, sein Capital zu vermehren und für sein Glück zu sorgen, sagte er darauf ihn gütig anlächelnd. Sie haben diese Pflicht sowohl wie ich, und der Geringste wie der Höchste unter den Menschen, es giebt dabei keinen Unterschied. Sie sind mein Verwandter und mein Freund, somit achte und schätze ich Sie, das ist Ihnen bekannt. Kommen Sie alle Tage zu uns, kommen Sie Morgens und Abends, Vormittags und Nachmittags, ich lade Sie dazu ein. Beschäftigen Sie sich mit Sabinen, ich wünsche es; es wird nur angenehm sein. Wollen Sie?
Der Professor schien Bedenken zu haben. Ich weiß nicht, ob's nicht wiederum mein Blut kostet, sagte er, und ob – oho! ich weiß wirklich nicht.
Sie sollen Nichts zu fürchten haben, versicherte Herr Lindenberg. Lina soll Sie unterstützen. Das ist eine Heilige, die alle Thorheiten dieser Welt verachtet.
Fräulein Lina, das ist gut! nickte der Professor vergnügt. Sie soll dabei sein, sehr gut!
Als Wächter gegen jeden Liebeszauber, sagte Herr Lindenberg. Sie wird schon dafür sorgen, daß keine Halsfallerei mehr vorkommen kann. Also Sie kommen, Professor, so oft es angeht, und im Verein wollen wir alle drei, Sie, Lina und ich, Sabinen belehren und unser Glück wie das ihre zu sichern suchen. Wollen wir?
Wir wollen! sprach der Professor. Ich will die griechischen und persischen Dichter durchsehen, was sie über die Liebe sagen, auch Platon und Aristoteles; ferner werde ich Hegels Phänomenologie des Geistes zu Rathe ziehen.
Thun Sie das, Freund, sagte Lindenberg ihn umarmend, gehen Sie gründlich ans Werk. Jetzt nach Haus. Ziehen Sie die Dornen aus Ihren Fingern, wir wollen sorgen, daß Rosen an deren Stelle wachsen.
Als der Professor hinaus war, schritt Herr Lindenberg auf und ab, die Hände auf seinen Rücken gelegt, über die Abentheuer des Professors und dessen vortreffliche Vorsätze herzlich lachend. Nach und nach aber wurde er ernsthafter und endlich zogen sich seine grauen Augenbrauen unbehaglich zusammen. Er konnte nicht daran zweifeln, daß Sabine gestern am Myrthentische der Frau Hofräthin von der Zaubermacht der Liebe gefährliche Dinge gehört haben mußte, und daß kein Anderer dies Gift in ihr Ohr geträufelt, als der leichtsinnige junge Offizier. Sein Verdacht war also vollkommen gerechtfertigt; was konnte er aber thun, um sich vor dem Unglück, das ihm drohte, zu schützen?
Sein Kind verlieren, es an einen Mann abtreten, der es aus seinen Armen fort in die weite Welt führte, war ihm schrecklich zu denken. Er hatte den Sohn seines verstorbenen Freundes allerdings lieb, er wußte Niemand, den er lieber hätte, sich selbst hatte er jedoch jedenfalls am liebsten. Niemand stand ihm näher, er besaß das Recht und die Pflicht, sein eignes Wohlergehen zu sichern. Andererseits verargte er es seinem jungen Freunde durchaus nicht, wenn dieser sein Capital vermehren, sich ebenfalls glücklich machen wollte. Er würde zu dessen Beistand bereit gewesen sein, wenn er es ohne eigenen Schaden gekonnt hätte. Endlich blieb Sabine zu bedenken, welche nicht minder das Recht besaß, für ihr Wohlergehen zu arbeiten, allein Herr Lindenberg erkannte sich durchaus nicht die Pflicht zu, für ihr Glück sein Glück aufzugeben. Er liebte sie mit größter Zärtlichkeit, sie hing an ihm mit allen Banden ihres jungen Lebens, sollte er jetzt einem Eindringling weichen, der den Rest seiner Tage ihm zur Qual machen wollte? –
Ein tyrannischer Vater hätte ein Strafgericht begonnen, seine Thür verschlossen, den Freier abgewiesen, dazu konnte Herr Lindenberg in seiner allseitigen Gerechtigkeit sich aber durchaus nicht verstehen. Ein hartes, strenges Wort konnte er Sabinen niemals sagen, Gewalt mochte er ihr um keinen Preis anthun, im Uebrigen aber war es seine Aufgabe, in jeder möglichen Weise zu verhindern, daß er sein Eigenthum nicht verliere.
Sabine war auf dem besten Wege, die Liebe kennen zu lernen, doch noch war das Unheil nicht geschehen. Wäre sie über ihre Empfindungen im Klaren gewesen, so hätte sie den armen Professor nicht in solche Angst gebracht. Sie kämpfte offenbar mit ihren guten Grundsätzen gegen die sehnsüchtige, dunkle Gewalt in ihrem Herzen, es kam somit darauf an, jene zu stärken, diese zu verdächtigen und die Feuerfunken auszulöschen, ehe ein Brand daraus entstehen konnte.
Durch Herrn Lindenbergs Kopf gingen verschiedene Pläne, und einige darunter erregten ihm selbst Bedenken, weil ihm allerlei mögliche Folgen einfielen, aber er verwarf diese schwächliche Empfindelei sehr bald.
Auf jeden Fall, sagte er, ist Selbsterhaltung die erste und heiligste Menschenpflicht, und Adam Smith sagt mit begründeter Ueberzeugung: Man lasse sich niemals von den Erfolgen schlechter und falscher Lehren irre machen, sondern vertheidige standhaft das Rechte, das schließlich immer zum Siege gelangen wird. Aber da kommt Sabine schon, ich kann somit sogleich eine Bombe abschießen.
Sabine kam, aber sie kam nicht allein, Ferdinand war bei ihr, und voller Heiterkeit ging Herr Lindenberg Beiden entgegen. Wer ihn sah, wie er scherzen und lachen konnte, hätte nicht geglaubt, daß er etwas Anderes wünschen könne, als dies junge Paar glücklich zu machen und sein eigenes Glück darin zu finden. Die Gesellschaft von gestern bot Stoff genug zu neckenden Bemerkungen, und die Art, wie Ferdinand mit allen jungen Damen galant umgegangen, hatte Herrn Lindenberg ganz besonders gefallen.
So ist es recht, sagte er, man kann in unserer Zeit Alles sein, nur nicht sentimental, denn wir leben nicht unter arkadischen Schäfern, wenn's auch zuweilen noch Schäfchen giebt, die Hirtenspiele aufführen möchten. Aber Gott sei Dank! deren giebt's nur noch wenige. Eine reale Zeit will reale Menschen.
Die Menschen machen die Zeit, sagte Ferdinand.
Richtig! fiel Herr Lindenberg ein, und da wir in einer aufgeklärten Zeit leben, müssen die Menschen aufgeklärt sein.
Wer nicht aufgeklärt ist, muß aufgeklärt werden, erwiderte der übermüthige junge Offizier.
Das ist unsere Pflicht, sagte Herr Lindenberg würdevoll; wir handeln dabei sowohl im Interesse unserer selbst, zum Besten der menschlichen Fortentwickelung. Du hast gestern gewiß eifrig im Felde der Aufklärung gearbeitet. Ich habe so etwas gehört.
Was haben Sie denn gehört?
Daß du allen hübschen Mädchen ewige Liebe geschworen hast, wie's einem jungen aufgeklärten Cavalier zukommt!
Hörten Sie, daß ich allen Liebe schwor, so hat's nichts zu sagen, lachte Ferdinand.
Warum hat das nichts zu sagen? fragte Sabine.
Weil mir gesagt worden ist, daß man nur Eine lieben kann, erwiderte er.
O! rief Sabine hastig – sogleich aber verstummte sie, denn was sie sagen wollte, sollte ihr Vater nicht hören. Es fiel ihr ein, daß Ferdinand ihr versprochen hatte, daß er sie zu Rathe ziehen wolle, und es kam ihr vor, als wisse er heut Eine, die er lieben werde. Ihr Vater aber schlug ein homerisches Gelächter auf.
Eine, rief er, das heißt alle Tage Eine. Wie lautet das lustige Soldatenlied: Heut lieb' ich die Johanne und morgen die Susanne, das ist Soldatentreu! – Haha, mein Söhnchen! liebe du sie sämmtlich, es ist gegen alle zeitgemäße Aufklärung, nur Eine zu lieben.
Die Liebe ist allerdings eigennützig, sagte Ferdinand mit komischer Bedächtigkeit, aber was sollte aus meinen Mitmenschen werden, wenn ich Alles für mich allein nähme?
Freie Concurrenz, mein Söhnchen! schrie Herr Lindenberg. Mache dir kein Gewissen daraus, zu nehmen, was du kriegen kannst. Es ist der größte Unverstand, wenn man dem Strebsamen Vorwürfe machen will über seinen Eigennutz. Jedermann hat die Pflicht, bestens für sich zu sorgen; der große Regulator, der das rechte Gleichgewicht herstellt, ist die freie Concurrenz. Also concurrire du in dem Artikel Liebe, aber nimm dich in Acht, daß du keine schlechten Geschäfte macht. Die schlechten Geschäfte sind sehr allgemein darin. Weißt du, warum?
Weil die Waare so oft verfälscht wird.
Nein, weil's überhaupt eine schlechte Waare ist, mit der Jeder seinen Handel treiben will. Liebe ist eine Begierde. Ein aufgeklärter Mensch steht über den Begierden. Es ist ein krankhafter Zustand von Blut und Nerven. Komm her, laß uns sehen, was der große Dichter und Denker Göthe darüber sagt.
Er griff nach dem Buche, schlug es auf und rief: Da steht gleich ein capitaler Vers, der durch Leber und Nieren geht:
Liebe leidet nicht Gesellen,
Aber Leiden sucht und hegt sie;
Lebenswogen, Well' auf Wellen,
Einen wie den Andern trägt sie.
Einsam oder auch selbander,
Unter Lieben, unter Leiden,
Werden vor und nach einander
Einer nach dem Andern scheiden.
Also was sagt der große Göthe damit? fragte er, seinen Finger bedächtig erhebend und seine Stirn in Weisheitsfalten legend. Nichts duldet diese schreckliche Begierde neben sich, keine Geselligkeit, keinen Freund, nichts Gutes und Vernünftiges – Leiden sucht sie und Leiden schafft sie – und was sind endlich die Folgen davon? Daß Alles zu Grunde geht, sich trennt, sich auflöst und zuletzt Alles einerlei ist.
Länger konnte Ferdinand sein Gelächter nicht zurückhalten. Herr Lindenberg machte ein Gesicht, als hätte er Arsenik genommen. Dem jungen Offizier fiel eben auch ein Göthe'scher Spruch ein. –
Im Uebrigen seid frisch und munter, lachte er, legt ihr nicht aus, so legt ihr unter. Wenn's aber doch einerlei ist, so kann's Jeder halten, wie er will, werthester Papa, er kommt endlich richtig am Ende an.
Ei freilich, mein Söhnchen, erwiderte Herr Lindenberg ebenfalls lachend, aber wir haben die Pflicht, so vergnügt als möglich anzukommen. Du bleibst doch bei uns?
So lange es nur irgend möglich ist, erwiderte Herr von Stein.
Deine Mutter kommt nicht?
Heute nicht. Wir sind beide bei dem General von Henkel zum Thee eingeladen.
Herr Lindenberg machte sein lehrreiches Gesicht.
Dahin gehe du, mein Söhnchen, sagte er, da greif' an und liebe tapfer, so viel du lieben kannst, damit dieser Henkel dir ein Henkel werde, oder auch, daß Fräulein Henkels Arm sich in deinen Arm henkele, um Lebenswellen mit dir zu durchschwimmen.
Aber bester Papa, erklärte Ferdinand, Fräulein von Henkel hat ein zu verständiges Alter erreicht, um noch ans Schwimmen zu denken.
Als ob's das Alter thäte, spottete Herr Lindenberg. Alter schützt vor Thorheit nicht, heißt das gute schöne Sprüchwort. Thorheit wird zur Weisheit und Weisheit zur Thorheit, es kommt allein auf die Anwendung an.
So müssen wir zusehen, wie unsere Thorheiten die Weisheit beschämen, sagte Ferdinand, indem er Sabinen seine Hand bot und sie fortführte, wogegen sie nichts einzuwenden hatte.
Herr Lindenberg nickte ihnen vergnüglich nach, denn er war überzeugt, daß er jetzt so leicht nichts zu besorgen hatte, aber er nahm sich doch vor, auf seiner Hut zu sein, seine guten Saaten nicht verderben zu lassen und seinen Plan gleich weiter zu verfolgen.
Er suchte seine Schwester auf und fand sie eben wieder mit ihrer Toilette beschäftigt. Leise war er bis an ihre Thür geschlichen und sah durchs Schlüsselloch, wie sie vor dem Spiegel saß und mit Sorgfalt ihr Haar und ihren Putz ordnete. Sein Spott darüber wurde von seinem Wohlgefallen überwältigt, denn Fräulein Lina's eitles Benehmen paßte zu seinem Vorhaben auf Beste. Nach einigen Minuten schlich er zurück und kam dann mit starken Schritten wieder.
Da bist du ja, Lina! rief er hinein, und siehst ganz allerliebst aus. Wahrhaftig, wie ein junges Mädchen in ihren Schmetterlingsjahren.
Fräulein Lina fuhr von ihrem Platze auf und schien verlegen. Ihr Bruder ließ ihr keine Zeit zu Worten zu kommen.
Ferdinand ist hier, fuhr er fort, er kann aber heut nicht lange bei uns bleiben. Ich möchte ein paar Worte mit dir reden, Lina.
Was wünschest du, lieber Bruder? erwiederte sie sanftmüthig wie immer.
Er ging auf sie zu, legte die Hände auf seinen Rücken und blieb vor ihr stehen.
Ein Wort im Vertrauen, begann er. Du weißt, Lina, wie sehr ich dich schätze, wie hoch ich deine häuslichen Tugenden verehre und welchen Werth ich darauf lege, dich bei mir zu haben.
Aber Bruder! fiel Fräulein Lina verwirrt über diesen Eingang ihm in die Rede, ich begreife nicht –
Bei alledem, unterbrach sie Herr Lindenberg ohne darauf zu achten, bin ich deinem Glücke nicht entgegen; denn du hast die Pflicht, so glücklich zu sein, wie du kannst.
Ich weiß nicht, was du meinst, lispelte Fräulein Lina noch verwirrter.
Ich sehe es an deinem glühenden Gesicht, daß du es weißt, sagte Herr Lindenberg huldvoll lächelnd, und du hast dich dessen durchaus nicht zu schämen, Lina. Alle Menden folgen den Trieben ihrer Gefühle, und ich billige diese Gefühle, wenn sie vernünftig sind.
Mein Gott! was soll das? erwiderte Lina. Hat Sabine in ihrer Unbesonnenheit –
Nichts hat Sabine, fiel er ein. Sabine ist allerdings unbesonnen, daher müssen wir mit unserer Besonnenheit sie überwachen und vor Unbesonnenheiten bewahren. Sage mir jetzt, liebe Lina, möchtest du – heirathen?
Ich – ich, stotterte Lina, das würde – eine große Unbesonnenheit sein.
Keinesweges, keinesweges! lächelte Herr Lindenberg. Im Gegentheil, es wäre klug, wohl überlegt, verständig nach allen Seiten hin.
Du, sagte Fräulein Lina leise und mit gesenkten Augen, du würdest dazu rathen?
Ich würde mich herzlich darüber freuen, meine liebe Schwester, denn ich würde diese Wahl außerordentlich glücklich und paßlich nennen. Du hast kein Vermögen, aber du hast allerdings einen Bruder, der dich so reichlich ausstatten wird, wie er immer kann.
Er hat ja auch selbst Vermögen, flüsterte Fräulein Lina.
Das hat er, sagte Herr Lindenberg, und dazu Amt und Einkommen, welche wachsen werden.
Und allgemeine Achtung, lispelte Fräulein Lina.
Große Achtung, verdiente Achtung, trotz seiner Jugend, du aber hast deine Tugenden, deine Häuslichkeit, deinen stillen, freundlichen Sinn, deine weibliche Sanftmuth und dabei doch auch deine Entschiedenheit und deine praktische Lebenskenntniß. Es kann nichts besser passen.
Meinst du wirklich, lieber, guter Bruder? fragte sie dankbar.
Aus voller Ueberzeugung, Lina. Dazu kommt, daß seine Mutter so klug und verständig ist, und daß sie dich vor allen Anderen liebt und schätzt.
Fräulein Lina stand erstarrt, es war, als höre und sähe sie nicht, während ihr Bruder ihr die Situation ausmalte. Die Absicht der Frau Hofräthin schien ihm ganz gewiß; es war ihm auch ganz gewiß, welche Gefühle in ihrem Sohne walteten, und er machte sich ein Vergnügen daraus, seine Schwester daran zu erinnern, wie lebhaft Ferdinand nach ihr gefragt, und wie er heut, trotz seiner Einladung bei dem General, nur hergekommen sei, um sein und seiner Mutter Bedauern auszudrücken, sie gestern nicht gesehen zu haben.
Fräulein Lina befand sich in einer peinlichen Lage. Sie hatte Aeußerungen gethan, die, wenn sie diese jetzt widerrufen hätte, zu anderen Bekenntnissen führen mußten. Sie hätte ihrem Bruder Geständnisse machen müssen, welche sie nicht machen konnte. Er dachte, wie es schien, gar nicht an den Professor, an den zu denken doch weit näher lag. Es war ihr nicht eingefallen, daß er Ferdinand von Stein meinen möchte, ja sie fand dies halb lächerlich, halb unmöglich. Sie war um ein halbes Dutzend Jahre älter, als der fröhliche junge Offizier, und dies fiel ihr zunächst ein, als sie zögernd erwiderte:
Der Unterschied der Jahre dürfte doch wohl zu bedenken sein.
Nicht im Geringsten! rief Herr Lindenberg energisch, darin liegt ja eben das Allervernünftigste in dieser Sache, weil es die Ausgleichung der Unterschiede zwischen euch bildet. Du bist der ältere und verständige Theil, er ist leichtfertig, übermüthig, ein flotter Tänzer, ein wilder Reiter. Bekäme er eine ähnliche Frau, so würden sich beide in kurzer Zeit wenn nicht die Hälse brechen, so doch der Eine des Anderen langsamer Untergang sein. Du hängst dich als Gewicht an seinen Hals, damit er nicht durchgehen kann, so giebst du eurem beiderseitigen Glück die nothwendige Sicherheit und Festigkeit. Du mußt das einsehen, Lina. Nichts ist verderblicher, sagt Adam Smith, als der Mangel an nachhaltiger Ausdauer in Ausführung aller Associationszwecke, wenn die Theilnehmer zu flüchtigen und leichtfertigen Sinnes sind und nicht die nöthige moralische Kraft und den Ernst der Ueberzeugung besitzen. Gewiß, Lina, es kann nichts Gescheiteres geschehen. Ich bin kein Freund von Heirathen, wir sind es beide nicht, aber ich preise deine Einsicht in diesem Falle, denn hier liegt der nützliche Zweck klar vor, hier ist glücklicher Erfolg vorauszusagen.
Ich sollte denken, erwiderte Fräulein Lina stockend, daß – ich muß gestehen, lieber Bruder – daß gewiß viele Menschen glauben dürften –Sabine passe sich besser für ihn.
Wo denkst du hin! sagte Herr Lindenberg würdevoll und strafend. Sabine mit ihren achtzehn Jahren, ihrer Unkenntniß des Lebens, ihrer geringen Einsicht in alle Dinge, ihren Einbildungen und Sonderbarkeiten, wäre die unpassendste Wahl, die gedacht werden kann.
Aber Sabine hat einen so regsamen Verstand und so kräftigen Willen, daß sie sich schnell Alles aneignen wird, was ihr fehlt, fiel Lina hartnäckig ein, besonders wenn ihr Herz –
Siehst du wohl! unterbrach sie ihr Bruder lehrreich winkend, das ist eben die Sache, Lina. Sabine muß so bleiben, wie sie ist, es muß Niemand von ihr eine Umwandlung in eine verständige, ernste Hausfrau fordern. Es würde ihr dann gehen, wie der Blume, der eine rauhe Hand den Blüthenstaub abwischt. So lieblich, so kindlich, so eigenthümlich, wie sie ist, muß sie sich erhalten, es darf nichts davon verloren gehen.
Wie soll das aber möglich sein? fragte Lina.
Herr Lindenberg lächelte pfiffig und blinzelte dazu. Ich habe meine Gedanken, sagte er, und erwarte, daß sich das Vernünftige in der Welt zuletzt immer von selbst macht. Ich habe bemerkt – das bleibt aber ganz unter uns, Lina daß der Professor Sabinen sehr zugethan ist.
Der Professor!
Ich sage nichts dazu, aber ich verdenke es ihm nicht, fuhr Herr Lindenberg fort, und Sabine kann wirklich nichts Besseres thun, als sich mit ihm vereinigen, wenn sie doch einmal heirathen will und soll.
Aber Bruder, sagte Fräulein Lina so gedehnt, als kämpfe sie mit einem Kinnbackenkrampf, ich glaube nicht, daß Sabine daran denkt.
Gewiß denkt sie daran! rief Herr Lindenberg, ich weiß es, daß sie daran denkt. Es kommt nur darauf an, ihren Gedanken die bestimmte Richtung zu geben. Darauf sollst du einwirken, Lina.
Ich? fragte Fräulein Lina erschrocken.
Du mußt einsehen, sagte ihr Bruder, daß es für unser allseitiges Wohl am besten ist, in dieser Richtung zu arbeiten. Es könnte sonst sein, Lina, daß bei der Leichtfertigkeit der Jugend, die nicht nachdenkt und so gern unbesonnen handelt, unangenehme Begriffsverirrungen entständen. Laß Sabine nicht mehr allein, leite sie auf den richtigen Weg. Pst! er faßte seiner Schwester Arm und deutete auf den Garten hinaus – da sind sie beide. Geh, meine liebe Schwester, geh! Leiste ihnen Gesellschaft, entwickle deine eigene Liebenswürdigkeit. Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Sorge für dein Glück, Lina! Laß sie nicht aus den Augen.
Er schob sie zur Thüre hinaus, und Fräulein Lina ließ sich nicht nöthigen. Sie war betäubt von dem, was sie gehört, froh ihren Bruder verlassen zu können, denn jeder Augenblick vermehrte ihre Verlegenheit. Sie sollte Sabinen dem Professor und dem Professor Sabinen empfehlen; sie sollte sich selbst Ferdinand empfehlen, daß sie ihn verhinderte mit Sabinen allein zu sein, und daß sie diese jugendliche Nichte bewachte. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr mit aller Gewißheit, was sie zu erwarten hatte, dennoch aber wagte sie nicht ihrem Bruder zu widersprechen; als er jedoch zuletzt ihr einschärfte, für ihr Glück zu sorgen, kam ein gewisser Trotz in ihre Brust, und zur Thür hinaus sagte sie sich leise:
Ich werde für mein Glück sorgen, das ist allerdings meine Pflicht. Wie ich es anfangen soll, weiß ich freilich noch nicht, aber es wird sich finden.
Herr Lindenberg stand inzwischen hinter der Gardine auf der Lauer und sah mit Vergnügen, wie seine Schwester in den Garten trat und mit Ferdinand von Stein sich begrüßte. Dieser verließ Sabinen, um Fräulein Lina entgegen zu eilen, und Herr Lindenberg konnte sein freudiges Gesicht beobachten, er konnte sehen, wie er ihre Hände küßte und diese festhielt, und Auge in Auge so angelegentlich mit ihr sprach, wie es der ergebenste und zärtlichste Freund nur thun konnte. –
Er ist galant zu ihr, sagte er heimlich lachend, das wird ihren Eifer noch mehr verstärken. Sie wird sich einbilden, daß sie wirklich die Einzige sei, der er seine Huldigungen darzubringen habe, und sie wird daher Sabinen los sein wollen, ihr also den Professor eben so warm empfehlen, wie sich bemühen, Ferdinand bei ihr herabzusetzen. Je eifersüchtiger sie wird, um so besser wird sie mir helfen.
Herr Lindenberg war ganz entzückt über seine außerordentliche Schlauheit. Es fiel ihm durchaus nicht ein, daß er seine Schwester täuschte und mißbrauchte; er machte sich auch kein Gewissen darüber, welche Schmerzen sie ertragen müßte, wenn endlich die Wahrheit an den Tag käme. Er traute ihr die Thorheit zu, daß Ferdinand Wohlgefallen vor ihren Augen gefunden habe, denn er hatte es an allerlei Zeichen gemerkt, und was er für richtig und gewiß hielt, daran wer nicht zu zweifeln. Daß er das Recht besitze, für sein Glück Alles zu benutzen, was sich benutzen ließ, konnte vollends keinem Zweifel unterworfen sein.
Uebrigens dachte er nicht daran, im Ernst seine Schwester zu missen, denn auch sie gehörte zu seinem Wohlergehen. Wer sollte seinem Haushalte vorstehen? Wer mit solcher Treue und solcher Umsicht Alles leiten und in Ordnung halten? Er würde in schwere Sorgen gerathen sein, wenn Lina wirklich noch hätte heirathen wollen, und Alles aufgeboten haben, um sie davon abzuhalten. So wenig wie Sabine sollte sie ihn verlassen, aber es war ein vortreffliches Mittel für seine guten Zwecke, wenn sie unglücklich liebte und vergebens hoffte, Sabinen dem Professor zujagen half, um dafür selbst gejagt zu werden. Der Adjutant machte zuletzt, daß er wieder zu seinem Prinzen kam, der Professor wurde zu seinen Sanskritwurzeln geschickt, Sabine und Lina aber waren gerettet, und Herr Lindenberg hatte sein Glück gesichert. Mehr wollte er nicht.
Eine ganze Woche verging, alle Tage kam Ferdinand in das Haus und immer wurde er freundlich und zutraulich empfangen.
Herr Lindenberg war voller Liebenswürdigkeit, sowohl zu ihm, wie auch zu der Frau Hofräthin, welche verschiedene Besuche machte, doch sich weniger um Sabinen bekümmerte, als um ihre Freundin Lina, welcher sie die innigste Theilnahme bewies. Auch der Professor kam täglich, sogar mehrmals kam er, und Herr Lindenberg, der Alles beobachtete, hatte seine Freude daran, wie geschickt es seine Schwester veranstaltete, daß Sabine sich mit dem Professor oder dieser mit ihr beschäftigen konnte, während sie selbst Ferdinand von Stein in Beschlag nahm, ihn zu fesseln und zu nöthigen verstand, wohl gar mit ihm allein umherspazierte oder seine Mutter zu bewegen wußte, daß er von beiden Damen festgehalten wurde. Herr Lindenberg erstaunte heimlich darüber, wie wenig Zwang dazu nöthig war, wie sich alles von selbst zu machen schien, wie der lebhafte, fröhliche junge Mann gar keine Ungeduld zeigte, und wie wenige Versuche er anstellte, um zu Sabinen zu entkommen.
Sabine selbst jedoch benahm sich zu seiner Freude ebenso und noch verständiger. Es war eine eigenthümliche Umwandlung mit ihr vorgegangen, die ihrem Vater ganz besonders gefiel. Sabine war still und träumerisch geworden. Sonst so überlaut und ihre Gedanken aussprudelnd, zeigte sie sich nun schweigsam und zerstreut. Es war, als hätten ihre Augen viel von dem leuchtenden Schimmer verloren, der sie sonst so seelenvoll gemacht, und als ob das süße Lächeln um ihren Mund einen verzerrten Ausdruck angenommen. Herr Lindenberg, der sonst zitterte, wenn Sabine nach seiner Meinung angegriffen aussah, und auf der Stelle eine gefährliche Krankheit ahnte, nahm gar keine Notiz davon. Er sah nur, daß Sabine ein zurückhaltendes Benehmen gegen ihren Anfangs so sehr begünstigten Freund angenommen und daß sie sich noch mehr zurückzog und an den Professor anschloß, je mehr Ferdinand durch Fräulein Lina angezogen wurde. Es entstand ganz sichtlich eine Entfremdung und Erkältung zwischen Beiden, und nichts konnte Herrn Lindenberg angenehmer sein. Er war stolz darauf, daß seine Grundsätze diese Wirkungen hervorgebracht, und zweifelte alle Tage weniger an dem vollständigen Erfolg seiner Pläne. Sicher war er seiner Sache allerdings noch lange nicht. Ein geheimes Mißtrauen wachte in ihm unaufhörlich fort und ließ seine Vorsicht nicht einschlafen. Wo es nur irgend eine Gelegenheit gab, benutzte er diese zu Winken und guten Lehren, um Sabinen auf dem rechten Wege zu erhalten, und mit derselben Unermüdlichkeit spornte er seine Vertrauten, den Professor und Fräulein Lina, an, ihn gehörig zu unterstützen.
Dem Professor lächelte das Glück mehr als je und unverhofft. Es wurde ihm gar nicht schwer, sein Versprechen zu erfüllen, denn Sabine kam ihm dabei entgegen. Es schien, als ob sie seit dem Tage, wo sie ihm die verfänglichen Fragen vorgelegt, ihr besonderes Vertrauen ihm erhalten hätte. Sie sah es gern, wenn er kam, erwartete ihn, hatte immer Vieles zu fragen und mitzutheilen und verließ alle Anderen, um ihm den Vorzug zu geben. Das Alles war ersichtlich genug, um es zu bemerken, und Herr Lindenberg rechnete die Ursachen heimlich zusammen, als er mit seiner Schwester ein vertrauliche Gespräch hielt.
Nun, sagte er, sie vergnügt streichelnd, es scheint sich Alles zu machen, Lina. Alles auf dem besten Wege zu sein. Meinst du nicht?
Fräulein Lina lächelte. Ich hoffe allerdings, lieber Bruder, sagte sie. Die Frau Hofräthin ist mir sehr gewogen.
So gewogen, lachte Herr Lindenberg, daß, wenn die dich heirathen könnte, du auf jeden Fall zu einem Manne kämst.
Nun, lieber Bruder Daniel, erwiderte Fräulein Lina ein wenig empfindlich, ich kann nicht leugnen, daß dies – wirklich der Fall sein könnte.
Wirklich! grinste Herr Lindenberg, indem er seinen Spott möglichst unterdrückte. Du machst es ganz vortrefflich, Lina. Du hältst dich an die Mutter, da du den Sohn haben willst. Ich wünsche dir von Herzen Glück dazu, und bin sehr erfreut, daß Ferdinand so empfänglich für deine Wünsche ist.
Ich hoffe, lieber Bruder, fiel Lina erröthend ein, daß seine Wünsche mit den meinigen übereinstimmen.
Versteht sich, rief Herr Lindenberg, es kann ja gar nicht anders sein. Er folgt dir ja auf Schritt und Tritt, wie ein Schoßhündchen, und vernachlässigt Sabinen.
Oder Sabine vernachlässigt ihn, erwiderte Lina. Ich hätte dem Professor in der That niemals eine solche Anziehungskraft zugetraut.
Sei deiner Sache nicht so sicher, warnte Herr Lindenberg lehrreich mit dem Finger drohend. Nach beiden Seiten hin giebt es noch sehr viel zu bedenken.
Ich glaube nicht, daß es noch viel zu bedenken giebt, sagte Fräulein Lina.
Nicht? versetzte Herr Lindenberg. Ich bitte dich, Lina, behalte unser aller Glück im Auge, du könntest dich sonst leicht täuschen. Was Sabine anbelangt, so möchte ich annehmen, daß sie sich mit dem Professor auf einen theoretischen Standpunkt gestellt hat. Es kommt mir vor, als ob sie sich gleichsam wissenschaftlich darüber belehren will, wie es eigentlich mit ihr steht. Ich meine, daß sie mit dem Professor einen Versuch anstellen will, ob sie sich in ihn verlieben kann.
Das wäre doch höchst sonderbar! rief Fräulein Lina aufgeregt, wenn der Professor in dieser Weise –
Sich verliebte, meinst du? lächelte Herr Lindenberg pfiffig nickend. Laß ihn, Lina, laß ihn. Es wäre prächtig, es wäre ein allerliebster Spaß.
Das wäre kein Spaß, versetzte Lina, das wäre – eine sehr ernsthafte Sache, Bruder.
Meinetwegen auch, sagte Herr Lindenberg, jeder Mensch muß für sich sorgen. Aber ich kann es nicht glauben, daß Sabine bis dahin gelangt, denn der Professor ist doch eigentlich kein Gegenstand zum Verlieben.
Das kannst du nicht beurtheilen, versetzte Lina noch immer in Unruhe.
Herr Lindenberg wurde ebenfalls unruhig und nachdenklich. Kannst du es denn beurtheilen? erwiderte er. Wäre es dir möglich, diesen Professor zu lieben?
Lieber Bruder! sagte Fräulein Lina, ich – wie soll ich – verschone mich –
Er ließ sie nicht ausreden.
Freilich, du, sagte er, du hast einen andern Gegenstand; aber es ist wahr, Lina, Weiber verlieben sich ja oft in die häßlichsten und abgeschmacktesten Tölpel. Allein dieser Professor ist stich- und feuerfest. Haha, Lina, glaubst du, daß der sich verlieben könnte?
Man kann es nicht wissen, sagte sie mit leiser Stimme.
Er ist viel zu tugendhaft, viel zu keusch, Lina. Er fiele in Ohnmacht, wenn Eine ihn küssen wollte –
Aber Bruder, lächelte Fräulein Lina.
Mache den Versuch, Lina; ich sage dir, er läuft davon und schreit um Hülfe, wenn du deine Arme aufthust. Aber sei ganz ruhig, er wird dich nicht incommodiren; Sabine wird schon mit ihm fertig werden. Halte du dein Glück so fest, wie du immer kannst, und wende jede mögliche Vorsicht zu deiner Sicherheit an.
Ich sagte dir schon, lieber Bruder, daß ich einige Erwartungen hege, erwiderte Lina.
Wirklich! Dann operire mit Geschicklichkeit weiter, und sobald ihr im Reinen seid, laß es mich sogleich wissen, denn du kannst denken, welchen Antheil ich daran nehme.
Lina versprach es ihm.
Herr Lindenberg operirte jedoch auch für seine eigene Rechnung fort, und dazu gab es verschiedene Wege, von denen er sich Vortheile versprach. – An einem der nächsten Tage war er ungemein beflissen, der Frau Hofräthin seine Freundschaft zu beweisen. Er wußte es so zu veranstalten, daß er mit ihr längere Zeit allein blieb, und er benutzte dies, um sein Herz vor ihr auszuschütten. Er führte seine Freundin zurück zu den schönen Zeiten ihrer Jugend und zu den Erinnerungen, welche sich daran knüpften. Er sprach von denen, die ihnen beiden theuer gewesen, und von den Schicksalen, welche sie beide erfahren, bis ihre Empfindungen sich zu einer Wehmuth gesteigert hatten, die sich in ihren Blicken und Mienen widerspiegelte.
Die Frau Hofräthin war behutsam genug gewesen und ihre besonnene Klugheit auch nicht geeignet, sich von uns fruchtbaren Klagen beirren zu lassen; sie kannte ihren alten Freund viel zu gut, um nicht zu wissen, wie wenig er selbst dazu geneigt war und mit welcher Lebensphilosophie er Unabänderliches zu tragen wußte, damit es seine Ruhe nicht störe. Nach und nach jedoch verfehlte sein Anblick doch nicht die Wirkung. Da saß er, ergraut und gebeugt, erweicht von seinen Gedanken, kummervolle Seufzer auf seinen Lippen, die Augen trübsinnig in das dunkle Meer der Vergangenheit gerichtet, dessen Wellen er mit seinem matten Lächeln begleitete.
Es war unmöglich, ihm nicht dahin zu folgen, und je mehr dies geschah, desto erwärmender wurde ihre Theilnahme. Die kluge Frau verlor jedoch auch darüber ihre eigenen Absichten nicht aus dem Gedächtniß, sie suchte diese Stunde zu benutzen, und indem Beide gefühlvolle Blicke und Worte wechselten, erwartete sie den Augenblick, um einen kühnen Handstreich auszuführen.
Es kommt nichts von dem zurück, was wir verloren, seufzte Herr Lindenberg.
Wir werden denen nachfolgen, die wir liebten, flüsterte sie.
Und bis dahin haben wir unsere Erinnerungen an das Glück alter Tage.
Wir haben uns selbst, mein lieber Freund, fiel sie ein, ihre Hände ausstreckend.
Er hielt diese fest und blickte sie stumm an. Wenn mein verewigter Stein uns so sehen könnte, sagte er voller Rührung.
Und Johanna, meine liebe Johanna! fügte sie nicht weniger bewegt hinzu.
Er preßte seine Augen zusammen, sie machte es ihm nach und wischte dann mit dem Taschentuche darüber fort. Ihre Wimpern waren feucht geworden, die Thränen kamen ihr freiwillig zu Hülfe, als Herr Lindenberg mit zitternder Stimme sprach:
Je älter wir werden, um so einsamer wird es um uns, um so kümmerlicher kommen und um so rascher welken unsere Hoffnungen, bis die letzte abfällt.
Wir haben unsere Kinder, lieber Freund, sagte die Frau Hofräthin ihn trostvoll anblickend, indem sie entschlossen den ersten Schlag that.
Gott sei Dank! die haben wir!
Und sie sind beide gut, wir werden in ihnen unsere Freundschaft weiter leben sehen.
Der Himmel gebe es, erwiderte Herr Lindenberg fromm und demüthig. Ein reiches Leben liegt vor Ferdinand, ein Leben voll glänzender Erfolge. Er ist seines Vaters Abbild, bei seinem Anblick muß ich jedesmal an ihn denken.
Wie ich an Johanna, wenn ich Sabine sehe.
Ferdinand wird noch einmal General werden, Sie werden es erleben, rief Herr Lindenberg.
Sabine wird Glück um sich her verbreiten, lächelte sie.
Er wird seine Braut mit Orden schmücken, sagte er.
Sie wird eine Rose ohne Dornen sein.
Er kann sogar Minister werden, Excellenz!
Was habe ich davon? erwiderte sie seufzend. Ich wollte, er hätte einen andern Stand gewählt, einen friedlicheren, damit er in meiner Nähe leben könnte.
Hindern Sie ihn nicht, sagte er eifrig, es ist sein Beruf, und nichts kann ehrenvoller sein. Mein seliger Freund sah es gern, da sein eigener Vater ebenfalls ein wackerer Offizier gewesen.
Aber Sie selbst waren nicht damit zufrieden, lächelte Frau von Stein, und gaben sich viele Mühe, um Ferdinand davon abzubringen.
Um keinen Preis würde ich es jetzt thun, fiel er ein. Er hat eine prächtige Carriere gemacht. Jung, ein tüchtiger Kopf, dabei angenehm und gewandt und obenein reich und ein Edelmann. Es kann ihm gar nicht fehlen!
Ferdinand hat allerdings Vermögen, sagte Frau von Stein, eben aber, weil er dies hat, könnte er es besser benutzen.
Ich wüßte nicht, wie er es besser benutzen sollte, erwiderte Herr Lindenberg, indem er mißbilligend den Kopf schüttelte.
Er könnte ein Gut kaufen, industrielle Unternehmungen beginnen.
Fürchterlich! schrie Herr Lindenberg. Er soll sich nicht ins Unglück stürzen, nicht in Sorgen, Noth und Elend. Wissen Sie, liebe, theure Freundin, was Sie da sagen?
Herr Lindenberg nahm seinen lehrreichen Ton an und fuhr darin fort:
Handel und Industrie sind die Klippen der menschlichen Existenz, sie sind trügerisch und verlockend, denn sie sind, wie man sagt, die Quellen des Reichthums, für die Völker sowohl wie für jeden Einzelnen. Aber wo ist die Sicherheit, wo ist der feste Grund? Was der fleißige, strebsame, umsichtige Mann sein halbes, oder sein ganzes Leben über unablässig arbeitend aufgebaut, stürzt oft in einer Stunde zusammen. Eine einzige unglückliche Krisis ruinirt ihn, bringt ihn an den Bettelstab. Bankerotte brechen aus und ziehen ihn unverschuldet mit hinein. Er speculirt, ein Kaufmann muß speculiren –
Der reelle Geschäftsmann wird niemals über seine Kräfte hinausgehen, das habe ich von Ihnen oft gehört, unterbrach ihn die Frau Hofräthin.
Was heißt über seine Kräfte hinausgehen! erwiderte Herr Lindenberg mit einem traurigen Stirnfalten. Ein Industrieller, ein Kaufmann, jeder Mensch, der Handel und Geschäfte treibt, muß speculiren, und sobald die Speculation ihm sicher erscheint, muß er wagen; allein die besten und sichersten Speculationen können fehl schlagen. Bleibe Jeder davon!
Sie selbst haben doch manche gute Geschäfte gemacht, lächelte die Frau Hofräthin, und vor noch nicht langer Zeit sagten Sie mir, daß Sie noch immer nicht ganz sich zurückziehen könnten, weil Sie es für Pflicht hielten, nicht zu den unproductiven Arbeitern zu gehören.
Herr Lindenberg schlug schwermüthig seine Augen nieder, deckte seine rechte Hand über seine Stirn, sann hinter diesem Schleier eine Minute lang nach und ließ ihn dann wieder fallen, wobei er keine Antwort gab, doch murmelte er einige unverständliche Worte.
Sie werden sich dessen wohl noch erinnern, fuhr die Frau Hofräthin fort.
Sehr gut! O ja, sehr gut! sagte Herr Lindenberg ihr zuwinkend, aber ich wollte – allerdings nein, ich wollte nicht.
Er hob mit Energie seinen Kopf auf und sprach mit fester Stimme:
Ich bedaure nicht, denn warum sollte ich es thun? Aber da sehen Sie, beste Freundin, wie es damit geht. Es ist ein warnendes Beispiel, was geschehen kann, trotz aller Erfahrung und aller Einsicht, denn Beides bat mir nicht gefehlt.
Mein Gott! rief Frau von Stein erschrocken. Sie –
Ich! sagte Herr Lindenberg mit Seelenstärke, ja ich – sprechen wir nicht weiter davon, es läßt sich nichts daran ändern.
Aber wie – wie kann das sein? fragte die Frau Hofräthin, welche dennoch weiter sprach.
Soll ich davon reden, erwiderte Herr Lindenberg langsam nach allen Thüren blickend, gut, so will ich es thun. Ich habe einige sehr bedeutende Verluste gehabt. Schweigen Sie darüber, beste Freundin, ich weiß, Sie werden schweigen. Ich werde nicht darben, nein, das werde ich nicht. So schlimm steht es nicht, aber – er beugte sich zu ihr hin – ich bin kein reicher Mann mehr. Mein Kind wird immer noch einmal bescheiden leben können, doch weiter nichts, durchaus weiter nichts. Da sehen Sie die Folgen der Speculation, der Unternehmungen, der productiven Arbeit.
Sie erschrecken mich aufs Höchste! sagte Frau von Stein.
Nicht doch, erwiderte er mit der Gelassenheit eines Weisen. Wir werden uns in Zukunft ein wenig mehr einschränken, weiter nichts. Aber da sehen Sie, was kommen kann, wenn man an Vermehrung des Nationalwohlstandes Theil nimmt, und wie gut und vortrefflich es ist, zu den Verzehrern zu gehören, denen die Tauben gebraten in den Mund fliegen. Um des Himmels willen also keine Unbesonnenheit, theuerste Freundin! Lassen Sie meinen lieben Ferdinand auf den Wegen des Ruhms und der Ehre. Dort wird er wachsen und gedeihen. Versprechen Sie mir das zu meiner Beruhigung und zu Ihrem und seinem Wohle.
Alles, was dazu beitragen kann, ihn zu beglücken, will ich gern versprechen, erwiderte die besorgte Dame, und Herr Lindenberg drückte ihr dankbar die Hände und hing eine Reihe weiser Lehren daran, mit denen er seine Bekenntnisse und seine treuen und väterlichen Warnungen vervollständigte.
Während dessen hatten in einem anderen Theile des Hauses Sabine und Ferdinand sich zusammengefunden, und uneingedenk ihrer Pflichten hatte Fräulein Lina sich gewissenlos entfernt und sie allein gelassen. Es war in dem artigen Gartensalon, der auf die kühlen Laubengänge hinaussah und dessen Eingang eine Veranda, von Weingerank umgittert, bildete.
In dem Saale stand zur Sommerszeit Sabinens Flügel, und eben war sie dabei, um auf Ferdinands Bitten ihm etwas vorzuspielen und zu singen. Er saß neben ihr und betrachtete sie, wandte ihr die Blätter um und lächelte ihr Beifall zu; endlich faßte er auch nach ihrer Hand und küßte diese, was sie geduldig litt, obwohl sie dabei zuckte.
Das war schön, sagte er, jetzt mußt du mir noch ein Abschiedslied singen. Morgen muß ich fort von hier – daran will ich immer denken.
Willst du denn fort? fragte sie.
Ich kann ja doch nicht bleiben, lachte er. Heut habe ich einen Brief vom Prinzen erhalten, der mich sobald als möglich zurückruft. In einer Woche spätestens muß es geschehen.
Höre, sagte sie, sich zu ihm wendend, wenn ich du wäre, so schriebe ich deinem Prinzen, ich käme nicht.
So, versetzte er, was würdest du denn aber hier thun, wenn du ich wärest?
Ich – ich ginge alle Tage zu Sabinen! rief sie lebhaft lachend.
Zu Sabinen, die mich nicht mag.
Die dich nicht mag, erwiderte sie, indem sich ihre Augen nachdenklich auf ihn hefteten, und ihren Kopf leise schüttelnd, setzte sie hinzu: Ich weiß es noch immer nicht.
Was weißt du nicht, liebe Sabine?
Sie antwortete nicht darauf, wandte sich um und begann das Lied, das er begehrte, aber schon nach den ersten Noten hörte sie wieder auf und warf das Blatt fort:
Das ist ein dummes Lied! sagte sie, es ist so kläglich traurig, daß man sich die Ohren zuhalten möchte. Wenn etwas nicht sein kann, gut, so muß man keine Umstände machen, und wenn es sein muß, eben so wenig. Du mußt fort, sagst du; ja freilich, ich sehe es ein, du mußt fort, da du ein Soldat bist, und ich muß hier bleiben, weil ich dich nicht begleiten kann.
Du könntest ja ebenfalls unter die Soldaten gehen, lachte er.
Als was? fragte sie ernsthaft.
Nun, als mein tapferer Kamerad! rief er, sie mit einem Blicke anschauend, der ihr Blut in Bewegung brachte.
Es ist sonderbar, sagte sie an ihre Brust fassend, wie mein Herz dabei schlägt. Aber mein lieber Vater hat doch Recht.
Worin hat er Recht?
Es geht nicht an, ich kann dich nicht begleiten, denn ich könnte es nicht ertragen.
Meine Nähe, liebe Sabine?
Weil ich dich lieb habe.
Er blickte sie entzückt an. Weil du mich lieb hast! Hast du mich denn recht lieb?
Ich glaube es beinahe, lächelte sie, aber – fügte sie rasch hinzu, deine Frau möchte ich doch nicht werden.
Noch immer nicht, sagte er zwischen Fröhlichkeit und Wehmuth schwankend.
Nein, erwiderte sie mit Bestimmtheit.
Auch nicht, wenn du mich liebst, liebe, theure Sabine, bat er innig, indem er ihre Hand festhielt.
Wenn ich dich liebe? Ja, das ist es! das weiß ich nicht! rief sie sich losreißend. Ich glaube es nicht, aber da kommt mein guter Freund, der Professor. Bei ihm bin ich gern, da wird mir wohl.
Sie lief auf die Veranda hinaus dem Professor entgegen. Ferdinand blieb in dem Saale, der Aerger stand ihm auf der krausen Stirn, und doch glänzte Freude in seinen Augen.
Sie weiß es nicht, murmelte er, aber ich weiß es. Wie hat der alte gräuliche Egoist ihr das wunderliche Köpfchen verdreht, und seine kalte Faust in ihr warmes Herz gedrückt. Ich will sie fortschaffen, er soll sie herausgeben. Es soll ihm nicht gelingen, sie seinen Götzen zu opfern.
Mit diesen Worten entfernte er sich, und zur rechten Zeit, denn Herr Lindenberg war im Begriff ihn aufzusuchen, nachdem die Frau Hofräthin ihn verlassen hatte, um zu ihrer Freundin Lina zu gehen. Herr Lindenberg war von seiner Schlauheit so erfreut und innerlich belustigt, daß ihm gelüstete, noch mehr Eisen zu schmieden, und schon hatte er ein neues bereit, das heiß genug war.
Er spielte gern Schach und bildete sich ein, ein außerordentlicher Schachspieler zu sein. Einen ganzen Haufen Schachbücher hatte er gelesen und studirt, und wie er über Alles mit Gelehrsamkeit sprach, so auch über dieses Spiel, von dem er aufs Genaueste anzugeben wußte, wie man spielen müsse, um keine Partie zu verlieren. Auch Ferdinand verstand zu spielen und mußte bald ans Schachbrett, um Niederlagen zu erleiden. Es war Herrn Lindenberg um so interessanter, da sehr häufig die Partien längere Zeit für ihn ungünstig standen, bis er zuletzt jedes Mal mit einigen vortrefflichen und entscheidenden Zügen sie doch immer gewann. Natürlich schrieb er dies seiner überlegenen Kunst zu und er versäumte nicht, dem ehrerbietig bewundernden Scholar in langen lehrreichen Mittheilungen aus Philidor, Elias Stein, Alexander, Lord Cunningham und anderen Vorbildern zu erklären, warum er beständig verlieren müsse.
Als Herr Lindenberg heut seinen jungen Freund suchte und an das Schachbrett schleppte, hatte er mehrere Gründe dazu. Zunächst den schon mehrfach berührten, um den Professor zu unterstützen und Sabinen zu sichern, dann den, um sich selbst eine vergnügliche Stunde zu bereiten, endlich aber, um seine beglückenden Zwecke zu fördern. Die Frau Hofräthin hatte sich mit bedenklichem Gesicht, unter dem wiederholten Versprechen, an Niemand ein Wort zu verrathen, entfernt, jetzt sollte ihr Sohn an die Reihe kommen.
Das Schachspiel war schon aufgestellt und Ferdinand wie immer höflich bereit, den Anordnungen seines gütigen Beschützers Folge zu leisten.
Du bist doch dazu gestimmt, sagte Herr Lindenberg ihm wohlwollend zulächelnd, oder bist du nicht gut gestimmt?
Warum sollte ich nicht gut gestimmt sein? fragte Ferdinand.
Herr Lindenberg blickte ihm in die Augen, die ihn unschuldig anschauten.
Du hast also keinerlei, was dein Gemüth beschwert, deine Gedanken beschäftigt?
Ich bin nicht in der Lage, um mir Gemüthsbeschwerden zu machen, lachte Ferdinand übermüthig.
Das ist mir lieb! nickte Herr Lindenberg wohlgefällig, denn so muß man beschaffen sein, um dies wunderbare Spiel mit Hingebung zu spielen. Nur keine Zerstreuung, keine Gedanken an einen anderen Gegenstand, sonst geht auf jeden Fall das Spiel verloren. Jetzt setze dich, mein Söhnchen, und laß uns anfangen.
Ferdinand setzte sich und versprach sein Möglichstes zu thun. Es dauerte auch nicht lange, so hatte er seinen Gegner in einen doppelten Angriff gebracht, der den Verlust einer kleinen Figur zur Folge hatte.
Herr Lindenberg betrachtete nachdenklich seinen Schaden.
Da haben wir es, sagte er. Siehst du wohl, wie richtig meine Bemerkungen sind. Man muß durchaus ruhig im Gemüthe sein, wenn man keine Fehler begehen will.
Sie befinden sich somit in einer gemüthlichen Unruhe? erwiderte Ferdinand spottend.
Ja wohl, mein Kind, ja wohl! seufzte Herr Lindenberg seine Stirn reibend und auf das Spiel blickend, aber warte, du sollst dennoch nicht weit kommen.
Er that einen neuen Zug, in dessen Folgen er sich abermals bedrängt sah, und gerieth darüber in verstärkte Verwunderung. Ich sehe wirklich heut nicht recht klar, sagte er, aber das macht eben, weil ich – er blickte auf und sah nachdenklich über den Tisch fort.
Darf ich fragen, was Ihr Gemüth so sehr beunruhigt? fragte Ferdinand.
Ich will dir einen guten Rath geben, begann Herr Lindenberg sich würdevoll aufrichtend, der von großer Wichtigkeit ist, für dein ganzes Lebensglück. Wenn du einmal heirathen solltest, nimm keine Frau, die nicht kerngesund ist. Gesund muß sie sein, das ist die erste Bedingung zu allem Glück, denn ich sage dir, mein Söhnchen, eine gesunde Frau kann schon mancherlei Last verursachen, aber eine kranke ist fürchterlich.
Das läßt sich denken, erwiderte der junge Mann. Leider ist die Erziehung unserer jungen Damen aber danach eingerichtet, daß die meisten wenigstens an den Nerven leiden, wenn sie einen Mann nehmen.
Nerven! sagte Herr Lindenberg verächtlich, das ist gar nichts; das ist Modesache, das gehört zum guten Ton. Aber es giebt noch ganz andere Qualen. Schwache Lungen, schwache Brust, Herzfehler! Das ist schrecklich!
Herzfehler sind allerdings ein sehr allgemeines Uebel, fiel Ferdinand ein.
Spotte nicht darüber, warnte Herr Lindenberg schwermüthig nickend. Meine gute Johanne ist mir daran entrissen worden, und leider sind diese Fehler erblich. Das ist sehr niederdrückend, seufzte er, sehr niederdrückend!
Wie? fragte Ferdinand mit erschrockenem Gesicht. Sie glauben doch nicht etwa, daß – daß Sabine –
Stille, flüsterte Herr Lindenberg ihm zuwinkend, ganz stille, mein Söhnchen, das darf Niemand hören, man muß solche Besorgnisse nicht laut werden lassen. Ich sage nichts, ich glaube nichts – es wäre schrecklich, wenn ich es glauben müßte, und du kannst wohl denken, daß ich es nicht glauben will; nein, ich will's nicht glauben! Aber Sabine hat allerdings lange schon über heftiges Herzklopfen und über Beklemmungen geklagt, was mich zuweilen sehr besorgt gemacht hat. Und jetzt noch mehr, denn wie sieht sie aus: ganz verändert! Ihre Augen liegen tief und um ihre Lippen liegt ein Schmerzenszug, gerade wie bei ihrer Mutter. Ich habe heut mit unserem Arzte gesprochen, der meine Hoffnungen auch nicht eben vermehrte. Das geht mir Alles durch den Kopf. – Sabine muß vor jeder Aufregung in Acht genommen werden; man muß sie behüten, wie eine zarte Blume, daß ihr kein Schaden geschieht.
Das muß man wahrlich thun! erwiderte Ferdinand lebhaft.
Nicht wahr, du hast es auch schon bemerkt? fragte Herr Lindenberg betrübt.
Daß sie ein wenig bleich und angegriffen aussieht, aber ich habe nicht geahnet, daß das Uebel so tief liegen könnte.
Sehr tief, erwiderte Herr Lindenberg feierlich, entsetzlich tief! Wer weiß, ob es je geheilt werden kann.
Es muß jedes Mittel angewandt werden.
Allerdings, jedes Mittel! Ach, mein Kind, du nimmst den herzlichsten Antheil, das weiß ich.
Weiß es Gott! das thue ich! sagte der junge Mann. Mein eigenes Leben würde ich hinwerfen, um das ihre zu retten.
Du kannst nicht helfen, seufzte Herr Lindenberg seine Hände drückend, leider kannst du nicht helfen, aber ich danke dir, mein Kind, für deine Liebe. Sabine muß Ruhe haben, die zarteste Schonung, nichts darf geschehen, was sie aufregen könnte. Ihr Leben hängt an einem Seidenfaden. – Du stehst ganz entsetzt aus!
Ich bin auch entsetzt über das, was Sie sagen.
Darum, mein Sohn, wiederhole ich dir, hüte dich vor solchem Unglück; denn es ist ein Unglück, ein grenzenloses Unglück, eine Frau zu haben, deren Herz nicht in Ordnung ist.
Sie haben wohl Recht, bester Papa; aber ach! die arme Sabine!
Herr Lindenberg drückte den Finger auf seine Lippen.
Kein Wort davon, was hilft das Klagen! Wir wollen das Beste hoffen.
Verabsäumen Sie nur nichts, was helfen kann, bat Ferdinand.
Sei ohne Sorge, lächelte Herr Lindenberg, der die Lust an seinem Erfolg nicht länger unterdrücken konnte. Wir wollen jetzt lieber aufhören zu spielen, fügte er sanftmüthig hinzu, denn deine Stimmung ist nicht mehr, wie sie war.
Lassen Sie uns weiter spielen, erwiderte Ferdinand.
Aber du wirst ganz sicher verlieren, mein Söhnchen.
Meine Partie steht gut. Ich hoffe, Sie werden verlieren.
Das werde ich nicht, denn du überlegst nicht, und weißt nichts vom Endspiel.
Darauf kommt es allerdings an, rief Ferdinand; doch wir wollen sehen.
Du mußt den Philidor und den Bilguer studiren, wenn
du gewinnen willst, sagte Herr Lindenberg belustigt. Du wirst sehen, daß deine rohe Empirik gegen meine taktische Kunst nichts ausrichten kann.
Ich werde mich bestreben, erwiderte Ferdinand, Ihnen zu beweisen, daß alle Kunst zuweilen an der Macht der Natur zu Grunde geht.
So komm heraus, mein Söhnchen, ich will dich empfangen! lachte Herr Lindenberg, indem er sich mit Siegesgewißheit bereit setzte.
Da bin ich schon, erklärte Ferdinand, der seinen Zug that.
Und es dauerte nicht sehr lange, so stellte Herr Lindenberg sein übermüthiges Lachen ein, und wiederum nicht sehr lange, so zogen sich seine grauen Augenbrauen ärgerlich zusammen, und abermals nicht so lange, so wurde er zornig über seine Verluste, und als eben Fräulein Lina mit der Frau Hofräthin, dem Professor und Sabinen hereintraten, sagte Ferdinand schach und matt! und Herr Lindenberg warf die Figuren um.
Mehrere Tage lang konnte Herr Lindenberg seine Niederlage nicht vergessen. Es war ihm fatal, daß dieser junge Mensch ihn besiegt hatte, der vom Schachspiel so gut wie nicht verstand; mit rachsüchtiger Freude bemerkte er daher, wie Sabine ihn dafür züchtigte, indem sie noch viel mehr als bisher ihre Aufmerksamkeit dem Professor zuwandte, so daß es Jedermann auffallen mußte. Hatte Fräulein Lina früher für ihren gelehrten Schützling gesorgt, um ihn mit Lederbissen zu bedienen, so war Sabine jetzt noch eifriger und aufmerksamer um ihn bemüht, was der Professor so anmuthig und dankbar als möglich vergalt. Er saß an ihrer Seite, richtete seine Rede hauptsächlich an sie, grinste sie durch die silberne Brille an und scherzte und lachte in munterer Laune, was ihm ganz vortrefflich gerieth, da er nicht in Verlegenheit gesetzt wurde und nicht von ihm selbst die Rede war. Ferdinand von Stein versuchte bei solchen Gelegenheiten zuweilen sich als Stein des Anstoßes zu erweisen. Sabine blieb jedoch vor jeder Verlockung taub.
So geschah es auch eines Abends, wo Sabine sich so zutraulich mit ihrem gelehrten Verwandten beschäftigte, daß der Professor darüber seine Heiterkeit verlor und unbestimmten grauenhaften Ahnungen zu verfallen schien. Er wurde unruhig und suchte Sabinen mehrmals zu entlaufen, die jedoch den Deserteur alsbald wieder einfing. Es kam dem Professor nämlich zuweilen an, als drehe eine unsichtbare Macht ihm den Kopf auf seinem Halse herum und zwänge ihn, nach einem Gegenstande umherzusuchen. Ob dieser Gegenstand etwa Fräulein Lina sei, wußte er nicht, allein er sah nachher nur stier auf sie hin, als sie mit Ferdinand sprach, der ihr heimlich vieles ins Ohr zischelte, worüber sie lachte und dann eben so heimlich antwortete. Der Professor dachte allerdings gar nichts darüber, Sabine machte es ja eben so mit ihm; allein seine Augen unter den Brillengläsern thaten sich noch weiter auf und er versank in eine Art Erstarrung, aus welcher er zuletzt auffuhr und sich verwundert umsah, denn es war ihm, als hätte Fräulein Lina ihn beim Namen gerufen. Es war jedoch Herr Lindenberg gewesen, der ihn aufforderte, sein Glas zu füllen.
Endlich gingen sie alle nach Haus, und Herr Lindenberg befand sich allein und konnte, was er schon öfter gethan, die Schachpartie wieder aufstellen und darüber nachdenken, wie er sie verloren hatte, indem er zugleich andere Gedanken damit verband. Er empfand eine gewisse Unruhe, indem er sich daran erinnerte, welche Worte dabei gefallen waren. Die verrätherischen Absichten des jungen Offiziers leuchteten daraus hervor.
Wart, sagte er, du sollst erfahren, was Endspiele sind; ich weiß nicht, wo der Fehler steckt, aber – er hob seine Augen und als er seine Schwester erblickte, die zu ihm hereingetreten war, sagte er mit vollkommener Ruhe: Ich bin unschuldig, Lina. Ich habe mir nicht das Geringste vorzuwerfen. Wenn wir das von uns sagen können, so haben wir alles gethan, was von uns gefordert werden kann. Irrthümern sind wir sämmtlich unterworfen, dafür sind wir Menschen, und es fällt mir gar nicht ein, Lina, etwa abzuläugnen, daß ich mich nicht auch zuweilen irren könnte.
Ich glaube nicht, daß du dich irrest, lieber Bruder, lächelte Fräulein Lina.
Doch, erwiderte Herr Lindenberg, die Hand zwischen seine Rockknöpfe schiebend. Doch Lina, fuhr er mit Energie fort, es ist dennoch möglich; denn Irrthum muß sein. Er ist nothwendig, weil wir eben durch unser Irren zum Kern aller Wahrheit, zu der Idee geführt werden.
Aber deine Ideen sind immer die richtigen, sagte Lina.
Ich hoffe es, ich erwarte es, ich strebe nach dem Richtigen, erwiderte Herr Lindenberg, weil davon jedes menschliche Wohlsein abhängt. Dennoch kann ein Irrthum vorkommen, ohne jedoch unsern Glauben zu erschüttern, daß wir thaten, was in unseren Kräften war, um das zu thun, was wir thun mußten. Jetzt verstehst du mich, Lina.
Es ist möglich, erwiderte Fräulein Lina, aber ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, was ich thun muß, denn Bruder –
Fräulein Lina stockte und schlug die Augen nieder, indem sie ihre Hände faltete.
Du hast dich doch nicht geirrt, sagte sie, denn Er –
Wer?
Er – Ferdinand.
Was ist mit ihm?
Er hat mir angeboten – das heißt, mich gebeten du sagtest, es sei eine gute Partie.
Schach! rief Herr Lindenberg.
O, Bruder, lächelte Fräulein Lina, dazu würde es zu finster im Garten sein, obwohl wir Mondschein haben.
Herr Lindenberg stemmte beide Arme auf und sah seine Schwester an.
Im Garten? fragte er. Du, Lina?
Lina senkte wiederum ihre Augen nieder und lispelte verschämt.
Es ist mit uns dahin gekommen; in einer Stunde wollen wir uns im Garten treffen. Er erwartet mich dort.
Er erwartet dich dort? wiederholte Herr Lindenberg ungläubig und bestürzt. Warum?
Mein lieber Bruder, erwiderte Lina schüchtern, du hast es mir ja dringend empfohlen, für mein Glück jede mögliche Sorge zu tragen.
O, so – du glaubst also wirklich, Lina! Alle Wetter!
Er hat mich so dringend gebeten, versetzte Fräulein Lina, daß ich glaubte, eine Pflicht zu erfüllen, wenn ich darauf einging; inzwischen ist allerdings zu bedenken, – ob ich – ich weiß nicht, Bruder.
In einem Augenblick überlegte Herr Lindenberg sehr Vieles. Es schien ihm unglaublich, daß Ferdinand wirklich beabsichtigen könnte, was seine Schwester sich einbildete, andererseits war dies aber doch jedenfalls mehr, als bloße Einbildung. Er würde es zu anderer Zeit eben so abgeschmackt, wie lächerlich gefunden und seine Schwester wie eine alte Närrin behandelt haben, zugleich auch äußerst erschrocken darüber gewesen sein, jetzt jedoch erblickt er in diesem Stelldichein ein ganz vortreffliches Ereigniß zur Beförderung seiner nächstliegenden Absichten, denn es kam ihm sogleich ein Gedanke, wie dies zu benutzen sei.
Du mußt hingehen, das versteht sich, sagte er.
Aber allein, mit einem jungen Offizier, erwiderte sie ängstlich. Wenn ein Mensch es erführe – mein Ruf – Sabine –
Dein Glück, fiel Herr Lindenberg ein, bedenke dein Glück, Lina, das ist mehr werth, als dein Ruf. Was hilft uns alle Tugend, der allertrefflichste Ruf, wenn wir kein Glück haben! Ich bitte dich, mache keine Umstände. Du hast die Pflicht, dich in den Garten zu begeben, um für dich zu sorgen und aller Concurrenz die Spitze zu bieten.
Fräulein Lina machte noch einige Einwürfe, allein ihr Bruder setzte ihr mehrere andere siegreiche Gründe entgegen, und es entging ihm nicht, daß sie diesen gern sich zuneigte. –
Du meinst also wirklich, daß ich es thun muß, sagte sie zuletzt schamhaft.
Auf jeden Fall und ohne alles Besinnen, versetzte er.
Und in meiner Stelle würdest du eben so handeln?
Ich würde mich durch nichts abhalten lassen.
Dann will ich es thun, erwiderte sie entschlossen, denn ich weiß mich durch dich gerechtfertigt.
Ich will's vertreten gegen Jedermann, Lina, gegen Kaiser und Reich, rief Herr Lindenberg sich würdevoll aufrichtend. Wir können nicht darnach fragen, was etwa die allgemeine Moral gegen unsere Handlungen einzuwenden hätte. Sobald es darauf ankommt, uns vor gefährlichen Verlusten zu beschützen, müssen wir Alles thun, um den Bankerott abzuwenden.
Geh du nur, flüsterte er hinter ihr her, als Lina ihn verlassen hatte und er Alles wußte, was er wissen wollte, ich habe durchaus nichts dagegen, daß du für deine Wohlfahrt sorgst, aber auch ich besitze dasselbe Recht und werde mir dies nicht beeinträchtigen lassen.
Er sah nach der Uhr und lächelte listig die Zeiger an, dann setzte er sich nieder und wartete geduldig, indem er den Philidor hervorholte und zu lesen begann. Es wurde still in dem Hause, und auf der Straße pfiff der Nachtwächter. Herr Lindenberg blickte behaglich nach dem blassen Schimmer, der den Mond ankündigte, und dann horchte er nach dem Gang hinaus, wo er leise Schritte hörte, worauf er sogleich wieder das Buch vor das Gesicht hielt und nachdenklich hinein starrte.
Sabine sagte ihm jeden Abend gute Nacht, denn ohne ihre Küsse und Umarmungen hätte er keine Ruhe gefunden. Alle Zärtlichkeit in seinem Herzen strömte dann über Sabinen, und er erwartete die Minute immer mit größter Glückseligkeit.
Auch heut war dies nicht weniger der Fall, obwohl Herr Lindenberg Anfangs that, als hörte er nicht, daß sein Kind hereinkam. Erst als Sabine bei ihm stand, richtete er sich auf und sah sie liebevoll und erstaunt an. Sie war noch nicht im Nachtkleide, sondern vollständig angezogen.
Aber Kind, sagte er, willst du denn nicht ins Bett?!
Ich kann nicht schlafen, Vater, antwortete sie.
Wie? du kannst nicht schlafen? In deinem Alter freut man sich auf die poetischen Träume.
Ich mag nicht schlafend träumen, erwiderte Sabine ihre Locken schüttelnd, ich träume wachend genug.
Wovon träumst du denn? fragte er, indem er sie umfaßte und an sich zog. Erzähle es mir.
Erst beantworte mir eine Frage, Papa, versetzte sie. Du liebst mich doch gewiß, theurer Papa?
Ob ich dich liebe? erwiderte er. Mehr, als Worte ausdrücken können. Mein liebes, geliebtes Kind! wer in der ganzen Welt kann dich so lieben, wie ich es thue!
Mit dem innigsten Ausdruck seiner Gefühle blickte er sie an und preßte sie an sein Herz, während ihre Arme sich um seinen Hals schlangen und ihre Lippen ihn küßten und wider küßten.
Ich weiß es ja, sagte sie dabei, du liebst mich und ich liebe dich so unendlich. Was ist das nun, daß ich bisher so ruhig und glücklich in deiner Liebe war und nie daran dachte mehr zu begehren? Dich niemals verlassen wollte, niemals aufhören wollte, dir allein zu gehören?
Möchtest du mich denn verlassen? fragte er.
Ich möchte dich nicht verlassen, ich will dich nicht verlassen! Aber ich träume davon mit wachen Augen.
Sie lehnte sich an ihn und lächelte träumerisch. Während ich hier, während ich bei dir stehe, sagte sie, denke ich an ihn.
An wen?
An Ferdinand, und ich möchte, er wäre hier, oder ich möchte, daß ich bei ihm sein könnte.
Als er hier war, Sabine, hast du dich wenig um ihn gekümmert, sagte Herr Lindenberg. Du hast, wie ich bemerkte, dich weit mehr mit unserem guten Professor beschäftigt.
Das that ich, Papa, antwortete sie, aber ich habe doch an ihn gedacht.
Warum thatest du es, liebe Sabine?
Willst du es wissen?
Allerdings möchte ich es wissen.
Ich wollte versuchen, ob es möglich sei, nicht an ihn zu denken, sagte sie, und ob ich den guten Vetter und Freund, der bei uns bleibt und kein Soldat ist, nicht eben so lieb oder noch lieber haben könnte.
Und das ist dir nicht gelungen?
Nein, Papa, erwiderte sie betrübt, es will mir wirklich nicht gelingen. Ich mag mir Mühe geben, wie ich will, immer wieder folgen meine Gedanken ihm nach. Woher kommt das?
Das liegt an deinem Willen, liebe Sabine. Du hast den rechten Willen nicht.
Falsch, Papa, ich habe den allerbesten Willen, betheuerte Sabine ihre großen Augen aufhebend.
Denkst du auch daran, was ich in meiner Sorge um dich und dein Wohl dir vorstellte?
Ich habe nichts vergessen, lieber Papa, und dennoch ich weiß, daß Alles wahr ist, was du sagst, denn du kannst nichts sagen, was nicht wahr und recht wäre – dennoch kommt es mir vor, als müßte ich es nicht glauben.
Das wäre ein großes Unglück, mein Kind, sagte Herr Lindenberg bewegt.
Aber wenn es nun wirklich so wäre, wie Ferdinand behauptet, fiel Sabine lebhaft ein. Wenn ich ihn liebte?
Weißt du auch, was das heißt? fragte Herr Lindenberg. Deinen Vater verlassen, dem fremden Manne nachfolgen, Noth und Kummer zur Beute werden. Wie viele Tausende schon haben das bereut, wie Wenige sind glücklich geworden! Die Liebe ist eine Leidenschaft, mein Kind, die dem Feuer gleicht, das verzehrt und zerstört. Sie ist wie das vernunftlose, entfesselte Element, mit dem kein Bund zu machen ist. Und wohin führt denn die Liebe im besten Falle, Sabine? Zu einer Heirath, mit aller ihrer Eintönigkeit und ihrer Ermattung. Lieben kann man nicht ewig, denn die Liebe, wie jede Flamme, verzehrt sich bald und läßt nur Asche und Schlacken, läßt eine Wüste zurück. Möchtest du denn um einen Traum, um eine Sinnestäuschung alle Sicherheit deiner Zukunft aufgeben? Möchtest du dem Zufall dein Schicksal anvertrauen?
Sabine hörte sinnend zu, aber das Feuer in ihren Augen verminderte sich nicht. Ich weiß es noch nicht, sagte sie endlich, aber ich denke mir, daß, wenn man sein Schicksal wählt, man auch ertragen muß, was es bringt.
Herr Lindenberg hielt ihre Hand fest und sagte ängstlich lächelnd:
Sehr wahr, mein liebes Kind, man muß wohl überlegen, was man thut, und dann sich vor keinem Mißgeschick fürchten. Vor sechs Jahren, als du am Nervenfieber niederlagst, war ich Tag und Nacht an deinem Bette. Die Aerzte hatten dich aufgegeben, mich wollte man mit der Drohung entfernen, daß es mein eigener Tod sein würde, aber ich fürchtete den Tod nicht; denn ich war entschlossen, ihn mit dir zu theilen. Damals, Sabine, wurdest du mir zum zweiten Male geboren, und keine Macht der Welt hätte mich von dir trennen können.
O! mein geliebter, theurer Vater, rief Sabine ihn küssend, das war deine große Liebe, und so denke ich es mir, so muß die Liebe sein. Man muß sich in den Tod fügen können, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.
Das könntest du also auch? sagte er.
Ich glaube, daß ich es könnte, antwortete sie mit leuchtenden Augen.
Für unseren guten Professor aber wohl nicht?
Für ihn? Das muß ich doch erst überlegen, versetzte Sabine nachdenkend.
Herr Lindenberg nickte ihr lächelnd zu. Ich kann es mir wohl denken, sagte er, und doch würde er es für dich thun.
Glaubst du denn, daß er mich liebt? fragte sie lebhaft.
Liebes Kind, erwiderte Herr Lindenberg, das ist eine Frage, welche ich dir nicht beantworten kann, aber wie äußert sich denn die sogenannte Liebe? Man sucht dem geliebten Gegenstand zu gefallen, so sehr man es vermag. Man fühlt sich zu ihm hingezogen, man hängt an seinen Blicken, Alles, was er sagt und thut, ist schön und wohlgefällig.
Richtig, Papa, fiel Sabine ein, man möchte nichts Anderes hören und sehen und kann nichts Anderes denken.
Am liebsten aber möchte man mit ihm allein sein, besonders wenn der Mond scheint und die Sterne verschwiegen funkeln.
Das ist ganz allerliebst, Papa, lachte Sabine.
Ja wohl, mein Kind. Wenn aber der Geliebte nun etwa mit einer Anderen im Mondschein umherspaziert, Arm in Arm und Brust an Brust, zärtlich flüsternd? Wie gefällt dir das?
Das ist abscheulich! rief Sabine.
Da siehst du, was die Liebe bei den meisten Menschen ist! Oder auch man bildet sich ein, geliebt zu werden, und plötzlich entdeckt man, daß man sich schrecklich getäuscht hat, daß eine Andere vorhanden ist, die dem jungen galanten Herrn besser gefällt. So geht es her in der Welt, mein Kind, das sind die Folgen unserer Täuschungen.
Sabine sah ihn bang an. Das würde Ferdinand aber niemals thun, sagte sie endlich.
Nicht? Warum nicht?
Weil – weil –
Weil er dich liebt, meinst du? Weißt du es denn? Hat er es dir gesagt?
Nein – aber dennoch –
Dennoch. Wenn er dich aber nicht liebt?
O, das würde er doch niemals thun! wiederholte sie mit Bestimmtheit den Kopf schüttelnd.
Herr Lindenberg nahm eine feierliche Miene an, blickte umher, horchte und sagte dann mit dumpfer Stimme:
Kannst du schweigen, Sabine?
Gewiß, Vater.
Willst du, was du auch sehen magst, keinen Laut von dir geben?
Sie nickte ihm zu und sah ihn fragend an.
So begleite mich.
Wohin?
Du sollst selbst entscheiden, wer Recht hat, du oder ich, erwiderte er, indem er sie fortführte. Begleite mich, aber sprich kein Wort.
Leise gingen sie Beide durch die Zimmer bis in den Gartensaal. Nichts regte sich mehr im Hause, alle Fenster waren finster, der Mond hinter weißen Wolken warf sein mattes Licht auf ihren Weg. Herr Lindenberg trat auf den Zehen an die Thür, welche auf den Perron führte, und öffnete diese behutsam; dann winkte er Sabinen und führte sie unter das Weinspalier.
Es ist Niemand hier, sagte Sabine aufgeregt.
Stille, flüsterte er, warte einen Augenblick. Sieh dort, den großen Gang hinauf. Siehst du nichts?
Ich höre sprechen, erwiderte sie aufhorchend. Es lacht Jemand. Wessen Stimme ist das?
Er drückte ihr den Arm und deutete den Finger ausstreckend auf einen dunklen Gegenstand, der sich zwischen den Bäumen fortbewegte. Dann sah er seitwärts in Sabinens Gesicht und er lächelte heimlich über die Art, wie sie sich krampfhaft an ihm festhielt.
Rühre dich nicht, zischelte er ihr ins Ohr, sie kommen uns näher.
Sabine rührte sich nicht. Starren Blickes sah sie aus ihrem Versteck die Gestalten nahen, aber als diese unter der Veranda stille standen, fühlte Herr Lindenberg, wie durch ihren ganzen Körper ein schauderndes Zittern flog, das sich in eine wohlbehagliche Wärme bei ihm selbst verwandelte.
Bis jetzt hatten die Lauschenden nicht verstehen können, was jene sprachen, die in vertrauter Weise dicht beisammen gingen. Hand ruhte in Hand, doch nun verschwanden die letzten Zweifel. –
O, wie danke ich Ihnen, beste Lina, für alle Ihre Güte, sagte Ferdinand. Ich möchte mich Ihnen zu Füßen werfen.
Dann würde ich Sie aufheben müssen, erwiderte Fräulein Lina. Doch was sagt ihre Mutter dazu?
Meine Mutter ist meine innigste Freundin, sie wird meine Liebe segnen.
Zunächst müssen wir darüber Gewißheit haben, fiel Fräulein Lina ein.
Zweifeln Sie nicht daran, erwiderte er. Wenn ich geliebt bin, wie Sie es betheuern, so mag geschehen, was will. Wiederholen Sie es mir, theuerste Lina, es macht mich unendlich glücklich.
Ich denke, Sie müssen es wissen, daß sie heiß und innig geliebt sind, sagte Fräulein Lina.
Womit soll ich Ihnen diese Himmelsbotschaft lohnen! rief er, indem er vor ihr nieder kniete und ihre Hände küßte. Sie sind ein Engel, Lina! Ich bete Sie an!
Um Gottes Willen, stehen Sie auf! flüsterte Fräulein Lina erschrocken. Ich wäre des Todes, wenn man – haben Sie nichts gehört?
Gar nichts. Aber was fürchten Sie? Lassen Sie kommen, wer da will, ich werde die Wahrheit nicht verschweigen.
Es trat eine augenblickliche Stille ein; sie horchten Beide, es rührte sich nichts.
Sehen Sie wohl, beste Freundin, es will Niemand kommen, der uns zur Rechenschaft ziehen möchte, lachte er zu dem Perron hinauf. Meinen Sie, daß Jemand uns belauschen könnte?
Nein, nein! sagte Fräulein Lina ängstlich, indem sie sich entfernte. Es ist sehr spät, ich muß eilen.
Halten Sie ein, sagte er ihr nachfolgend, vielleicht wäre es besser, wenn wir –
Herr Lindenberg verstand nichts mehr, seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Sabinen, die in ihrem regungslosen Schweigen verharrte.
Wir wollen auch gehen, flüsterte er ihr zu. Sie gab keine Antwort. Eben wurde das Mondlicht heller, ein lichter Strahl fiel durch die Weinranken auf ihr Gesicht. Als er hineinblickte, sah er, daß sie geisterbleich war, aber ein Lächeln spielte um ihre Lippen; wie versteint hing es daran fest. Ihre Augen starrten weit offen noch immer auf die Stelle hinab, als sähe sie die Beiden dort noch stehen; sie hörte auch wiederum nicht, als ihr Vater seine Worte wiederholte.
Erst als er ihren Namen nannte, wandte sie sich um und ging an ihm vorüber in den Saal, ohne auf ihn zu warten. Leise schloß Herr Lindenberg die Thüren. Mit pfiffigem Lächeln horchte er von der Treppe auf Sabinens Schritt, dann langte er wohlzufrieden in seinem Zimmer an. Ihm war vollkommen behaglich zu Muthe.
Am nächsten Tage war Herr Lindenberg gegen seine Gewohnheit frühzeitig angekleidet und merkwürdiger Weise ernster und einsilbiger, als alle Tage vorher. Fräulein Lina erschien zunächst beim Kaffee, er dankte jedoch auf ihren Gruß, ohne von seinen Zeitungen aufzublicken, mit einem grimmigen Brummen auf dem Kehlkopf und hatte augenscheinlich keine Lust, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Eine dicke Falte lag über seiner Nasenwurzel, als höchst bestimmtes Zeichen einer aufgeregten Stimmung, auch kehrte er sich an kein Tassen- und Schlüsselgeklapper, sondern beharrte bei seinem Beschlusse, nichts sehen und nichts hören zu wollen, bis endlich Sabine erschien.
Sogleich verwandelte sich sein Antlitz wie ein Januskopf. Er warf die Zeitung fort und breitete ihr seine Arme entgegen.
Guten Morgen, mein Herzenskind! sagte er. Du hast doch gut geschlafen?
Sehr gut geschlafen, lieber Papa.
Und fühlst dich auch ganz wohl, mein Binchen?
Sehr wohl, lieber Papa.
Herr Lindenberg lachte vergnügt.
Die Jugend hat immer einen gesunden Schlaf und rothe Wangen, rief er aus. Setze dich, Kind. Was siehst du nach dem Himmel hinauf? Es wird heut ein prächtiger Tag werden.
Ob der Professor heut kommen wird? fragte Sabine.
Hast du Sehnsucht nach ihm?
Große Sehnsucht habe ich, sagte Sabine.
So wollen wir ihn holen lassen, wollen ihn einladen. Schicke gleich hin, Lina, oder wart, ich will es selbst thun.
Sabine nickte ihm dankbar zu, und das Gespräch wurde eine Zeit lang fortgesetzt, wobei Herr Lindenberg dafür sorgte, daß es keine Wendung nehmen konnte, welche an die Vorgänge des letzten Abends erinnerte; er brauchte sich jedoch keine besondere Mühe zu geben. Sabine selbst schien alle Erinnerungen daran verschlafen zu haben. Sie antwortete wenig, sah in die Zeitungsblätter, warf diese hastig wieder fort und lachte, als Fräulein Lina mit Sanftmuth sagte:
Du scheinst sehr aufgeregt zu sein, liebe Sabine.
Sehr ruhig, sehr gesetzt, obgleich ich noch sehr jung bin, erwiderte sie.
Aber deine Hände sind brennend heiß. Ich fürchte –
Fürchte du nichts, rief Sabine, wir wollen uns beide nicht fürchten. Aber es wird ein langer, langweiliger Tag kommen, wir müssen sehen, wie wir mit ihm fertig werden.
Mein Gott! sagte Lina ihr nachblickend, als sie hinaus war. Ich bin sehr erschrocken, lieber Bruder.
Herr Lindenberg hielt das Zeitungsblatt vor seinem Gesicht und antwortete nicht.
Du mußt es ebenfalls sein, bester Bruder, fuhr sie fort. Denn es ist erschreckend. Sie trat dabei dicht an ihn heran.
Das ist wieder eine von den gewöhnlichen Dummheiten, rief er aufblickend.
Ich begreife nicht, wie du es Dummheit nennen kannst, erwiderte sie. Es ist Wahrheit!
Lina, sagte Herr Lindenberg würdevoll, mische dich nicht in diese Angelegenheiten, oder bringe wenigstens die nöthige Einsicht mit.
Aber, lieber Bruder, antwortete Fräulein Lina, du kannst unmöglich deine Augen verschließen.
Meine Augen, sagte Herr Lindenberg, was sind meine Augen? Was frage ich nach meinen Augen?! Hier ist einzig und allein die Frage, was heißt Capital, was ist Capital?!
Nun, wenn du auch derartig fragen willst, lieber Bruder, sagte Fräulein Lina, so mußt du dir doch eingestehen, daß dies ein Capital vom höchsten Werthe ist.
Es ist ein bloßes Tauschmittel, Lina, weiter nichts, fiel Herr Lindenberg ein. Verlaß dich darauf.
Ein bloßes Tauschmittel! sagte Fräulein Lina erstarrend. Höher achtest du es nicht?
Durchaus nicht, antwortete Herr Lindenberg. Es ist mir einzig und allein ein Mittel zum Zweck Für den Zweck muß Alles als Mittel dienen.
Mein Gott! sagte Lina, du kannst doch deinen Zwecken nicht Alles opfern wollen.
Allerdings, versetzte Herr Lindenberg energisch, wenn es sein muß, Alles.
Alles! schrie Fräulein Lina. Dein höchstes Gut!
Es ist eine Waare, Lina, nicht als eine Waare, die mir, wie alle Waaren, so viel werth ist, wie ich sie nöthig habe.
Gott steh uns bei! sagte Fräulein Lina ihre Hände faltend und erbleichend, was du sagst, ist fürchterlich. Es erinnert mich daran, was ich schon einmal von dir mit dem größten Entsetzen hörte.
Ich weiß nicht, was es war. Was war es? fragte Herr Lindenberg.
Daß du Sabinen im Gefühl deiner Selbsterhaltung verzehren könntest, und jetzt erklärst du sie für eine Waare, die verhandelt wird. Ich bitte dich, lieber Bruder, es ist mir so, als könnte es so kommen.
So, sagte Herr Lindenberg bedächtig, von Sabinen sprichst du, daran dachte ich nicht. Hier steht ein Artikel von irgend einem Narren, der das Geld als Capital betrachtet, es giebt aber kein anderes Capital, als die Arbeit, diese ist das einzige wahre und richtige Volkscapital.
Aber ich spreche von Sabinen, fiel Fräulein Lina ein. Sie sieht so krank aus, daß ich auf's Aeußerste besorgt bin.
Du bist um sie besorgt? fragte er spöttisch.
Du solltest es ebenfalls sein. Beachte doch ihr geisterhaftes Ansehen, dabei diese Unruhe, dies gedankenlose Hinstarren und Auffahren, dies krampfhafte Zucken in ihrem Gesicht und in ihren Augen. Es ist mir, als ob ein Wurm sich um eine Blüthe windet, in welche er sich einbohrt!
Wie du poetisch bist, lachte Herr Lindenberg. Aber es hat gar nichts zu sagen, Lina. Es ist die allerleichteste Sache von der Welt. Alle jungen Mädchen schwärmen und werden blaß und mager dabei. Du hast ja selbst dir des Gedankens Blässe seit einigen Tagen angekränkelt. Ehe! oder macht es die Mondscheinpromenade!
Bruder, versetzte Fräulein Lina erröthend, vielleicht verdiene ich deinen Spott, aber ich will nicht länger schweigen, du sollst wissen –
Herr Lindenberg hielt sich beide Ohren zu.
Nichts will ich wissen! schrie er, gar nichts will ich wissen! Du hast das Recht, glücklich zu sein, und darfst nicht die geringste Rücksicht dabei nehmen. Das ist das höchste Princip des Lebens, also kehre dich an nichts. Sabine wird es eben so machen und ich, jeder Mensch, muß es so machen. Ich will gleich zu dem Professor schicken, das ist der Mann, den Sabine nöthig hat. Und jetzt, guten Morgen, Lina! arbeite du für dein Wohl. Arbeit ist das einzige Capital.
Ich muß dir aber sagen, Bruder, rief Fräulein Lina hinter ihm her, daß dein eigenes Capital verloren gehen wird.
Ich habe keine Zeit mehr! schrie Herr Lindenberg, indem er sich entfernte. Sehe Jeder, wie er's treibe,sehe Jeder, wo er bleibe.
Und wer steht, daß er nicht falle! murmelte Fräulein Lina vor sich hin. O! Ferdinand hat Recht. Er ist mit aller seiner Güte und seinen edlen Eigenschaften ein Egoist der allerschlimmsten Art, der nur mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden kann. Und es bleibt nichts übrig, er muß geschlagen werden, fuhr sie fort. Ach! der arme Professor.
Herr Lindenberg hörte nichts von diesem Monologe. Er verließ nach kurzer Zeit sein Haus, machte verschiedene Geschäfte ab und langte einige Stunden später bei der Frau Hofräthin, seiner alten Freundin, an. In seinem Busen wimmelte es von Schlangen, aber sein Antlitz ließ nichts davon ahnen. Es war so heiter und sonnig, wie der Sommertag. Im breitschößigen blauen Frack, der glänzenden, gestärkten Wäsche und hohem Kragen, der von Fräulein Lina's vortrefflichen Talenten das schönste Zeugniß ablegte, trat der stattliche Mann in gewohnter Sauberkeit herein, küßte galant der Frau Hofräthin die Hand und begrüßte sie liebenswürdig, wie ein Cavalier.
Die Frau Hofräthin war aber auch ein würdiger Gegenstand seiner Artigkeit. Die feine Dame mit den klugen Augen, den weißen beringten Fingern und anmuthigen Formen hatte die Reste ihrer Schönheit bestens verwahrt, und sie unterstützte diese mit Seide und Kanten, vielleicht sogar mit mancherlei Pulvern und Essenzen, mit denen sich Fräulein Lina's edler Zweck verfolgen ließ, nicht allein vor Gott, sondern auch vor den Menschen wohlgefällig zu wandeln.
Herr Lindenberg fand, daß dies ganz besonders heut also der Fall war. Seine liebenswürdige Freundin lächelte ihm jugendlich entgegen, und er konnte sich nicht enthalten, ihr seine freudige Bewunderung auszudrücken.
Das macht, weil ich Sie erwartet habe, erwiderte Frau von Stein, indem sie ihre zarte Hand anmuthig in die seine legte und dazu fein und vertraulich lächelte.
Wirklich! fragte er, Sie haben mich erwartet? Ich bin stolz darauf, von Ihnen erwartet zu werden. Aber warum haben Sie mich erwartet?
Weil ich es wünschte, sagte sie, daß Sie kommen möchten.
Also eine vollständige Sehnsucht.
Eine brennende Sehnsucht nach dem lieben Freunde, der mir neulich erst bewies, wie wahr und aufrichtig seine Zuneigung ist.
Welche niemals enden wird! rief Herr Lindenberg feierlich ihre Hand küssend. Das wäre ein großes Unglück für mich.
Sie haben mir immer getreulich zur Seite gestanden, erwiderte sie, und sind Ferdinands edelster und bester Freund gewesen.
Wo ist er? fragte Herr Lindenberg. Es geht ihm doch gut?
Sie schwieg einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf.
Es geht ihm, wie ich beinahe glauben muß, nicht sehr gut, fuhr sie leiser fort, wenigstens finde ich, daß er sich heut in großer Aufregung befindet.
Blutandrang, antwortete Herr Lindenberg an seiner Stirn reibend.
Nach dem Herzen, flüsterte sie mit dem Finger auf die Herzstelle tippend.
Oho! lächelte Herr Lindenberg, indem er seine grauen Augenbrauen in die Höhe zog und seine Augen vergnüglich leuchten ließ. Ist es gewiß?
Zweifeln Sie daran?
Herr Lindenberg streichelte vertraulich ihre Hand.
Er ist jung, sagte er, wir waren auch einmal jung und hatten unsere Illusionen.
Und wir waren glücklich! fiel sie ein.
Darauf kommt Alles an, sagte er. Auch Ferdinand wird glücklich werden. Er wird diesen Standpunkt nicht aufgeben, um Phantomen nachzulaufen.
Er hat mir erklärt, nur nach seinem Herzen zu wählen.
Nach dem Herzen! nickte Herr Lindenberg. Was ist das Herz? Was man so nennt, sind die Gefühle, sind die Empfindungen. Gut, ich sage nichts gegen die Empfindungen, aber sie müssen auf Grundsätze zurückgeführt werden. Und das wird geschehen; er wird seinen Gefühlen die grundsätzliche Unterlage geben.
Das wird er, erwiderte sie. Ferdinand wird zwar nicht nach Geld und Gut fragen, denn er bedarf dessen nicht, aber er wird nicht leichtsinnig wählen, sondern ein liebenswerthes Mädchen, das ihn wahrhaft zu beglücken vermag.
Haha! sagte Herr Lindenberg den Finger aufhebend, also schon Bekenntnisse gemacht.
Ich denke, wir kennen sie beide sehr genau.
Ich? fragte Herr Lindenberg pfiffig lächelnd. Sollte ich wohl?
Guter, lieber Lindenberg, unterbrach sie ihn, wer kann es anders sein, als Sabine! Auf wen könnten sich meine Hoffnungen freudiger richten, als auf das Kind meiner geliebten Johanna!
So? Wirklich? Allerdings! sagte Herr Lindenberg sich sanft verneigend, aber –
Ich weiß, was Sie bedenken, erwiderte sie. Sie denken an Sabinens Gesundheit. Sie sind zu besorgt.
Er machte ein verneinendes Zeichen.
Nun denn – wir haben zwar nie uns klar darüber ausgesprochen, was doch so nahe lag. Ich habe jedoch meine geheimen Wünsche immer festgehalten, und Ferdinand –
Es können Umstände eintreten, wo alle Wünsche nichts helfen, unterbrach er sie.
Umstände! Zielen Sie damit auf Ihre Verluste? Können Sie glauben, daß das mich oder Ferdinand bestimmen könnte?
Nein, theuerste Freundin, nein! sagte er mit Festigkeit, ich kann das nicht glauben und werde es nicht glauben, aber – hat er Ihnen denn gebeichtet, daß seine Unruhe von Sabinen herrührt?
Ich habe mich wohl gehütet ihn auszuforschen, allein er weiß, wie theuer mir dies liebe, unschuldige und eigenthümliche Kind ist. Und kann sich denn etwas schicklicher und besser passen? Alle Verhältnisse stimmen so schön, die jugendlichen Herzen sind für einander geschaffen.
Herr Lindenberg hörte mit hochgezogenen Augen zu. Er nickte zuweilen beistimmend und dankbar, aber die Falten der bedächtigen Weisheit verschwanden nicht von seiner Stirn.
Was ich höre, meine theuerste Freundin, sagte er darauf, entspricht meinen Gefühlen; jedoch voll tiefer Wahrheit sagt der große Göthe: Gefühle erhellen nicht, sie sind ein Feuer ohne Licht! Und so ist auch mir, beste Freundin, dabei zu Muthe. Wo haben wir die Gewißheit? Wo liegt bei allem Vorstellungsvermögen die von diesen jugendlichen Herzen gewählte Uebereinstimmung? Wer steht uns dafür, daß sie bei Anlage Ihres Capitals für diesen erwünschten Zweck wirklich arbeiten?!
Theurer Freund, antwortete Frau von Stein lächelnd. Ferdinand hat kaum einen anderen Gedanken, als den, in Ihr Haus zu Sabinen zu eilen.
Zu Sabinen? fragte Herr Lindenberg im Tone des Zweifelns. Sollte es Sabine sein?
Nach wem könnte er sonst so große Sehnsucht haben? Sie sind ihm werth und theuer, allein –
Es giebt doch außer mir noch andere lebendige Wesen darin, fiel er ein. Zum Beispiel, Lina.
Die Frau Hofräthin lachte, aber ihre klugen, klaren Augen blickten ihn doch scharf an. Das kann wohl Ihr Ernst nicht sein, lieber Lindenberg, sagte sie darauf, daß Sie glauben könnten – oder ist es mehr, als ein Scherz, ist es eine Vermuthung?
Herr Lindenberg zog seine Schultern hoch in die Höhe und hielt sie dort fest. Es ist Alles möglich, sagte er. Ich weiß es nicht, aber es könnte doch sein, und wenn es nun so wäre? Gesetzt den Fall, es wäre so?
Es ist nicht Alles möglich, guter Lindenberg, und kann nicht Alles der Fall sein, erwiderte sie. Lina – wer könnte ernsthaft dabei bleiben! Kehren wir zum Ernst zurück. Wenn also Ferdinand Sabinen liebt, wie ich es glaube, würde er Ihnen willkommen sein?
Das ist gar keine Frage! rief Herr Lindenberg. Das heißt unter der Voraussetzung – er hielt inne und zog gelehrte Falten.
Theuerste Freundin, sagte Herr Lindenberg, es ist ein allgemein anerkannter Grundsatz, daß zu allen Compagniegeschäften die Associés völlig einverstanden sein müssen.
Und Sabine, meinen Sie
Herr Lindenberg räusperte sich.
Sabine hat von jeher eigentlich keine Neigung zum Heirathen gehabt.
Das sind Mädchengrillen. Wenn sie liebt, ist es aus damit.
Dazu kommen ihre Gesundheitszustände und deren Bedenklichkeit.
Das könnte freilich bedenklich machen, allein die Aerzte sind ja oft der Meinung, daß die Ehe häufig zur Gesundheit verhilft. Ich selbst war sehr schwächlich, und bin eine recht gesunde Frau geworden. Eben weil Sie Sabinen für kränkelnd halten, obwohl sie gewöhnlich recht frisch und stark aussieht, müssen Sie ihre Verheirathung wünschen.
Herr Lindenberg war mit seinen Gründen überall in die Enge getrieben. Die werthe Freundin saß so klarblickend dicht vor ihm, wie der Gerichtsvollstrecker vor dem bösen Schuldner. Es blieb ihm nur der Hauptgrund übrig, der alle anderen niederschlug.
Ich wünsche es auch, sagte er, wünsche es aus voller Brust, von ganzer Seele. Doch Alles in der Welt, beste Freundin, nur keinen Zwang! lieber alle meine Wünsche aufgegeben, als Zwang anwenden. Freie Concurrenz ist die nothwendige Grundlage zum Wohlergehen aller Menschen.
Also Concurrenz! lächelte Frau von Stein. Giebt es denn Concurrenten? Sie müssen das allerdings besser wissen, als ich, fügte sie hinzu, als er ein beistimmendes Zeichen machte.
Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, sagte er nachdenklich langsam, daß dieser Gedanke sich bei Betrachtung der Umstände einfinden muß. Und wenn man erwägt, daß Gewohnheit den tiefsten Einfluß auf alle Körper- wie Lebenszustände äußert; wenn man ferner erwägt, daß Bewunderung vor vorzüglichen Eigenschaften leicht ein junges Herz gefangen nimmt; wenn endlich ein Verwandter am leichtesten inniges Vertrauen erwirbt, so darf man sich durchaus nicht darüber wundern.
Meinen Sie den Professor Herbart? fragte die Frau Hofräthin.
Er nickte mit wehmüthiger Gelassenheit.
Die Frau Hofräthin schien zu erschrecken. Das wäre allerdings traurig, flüsterte sie vor sich hin. Aber ich habe nie gehört, daß Sabine ihn bevorzugte, und dieser Mann mit seinen Seltsamkeiten und scheuem Wesen – paßt er denn für Sabinen?
Das muß sie selbst am besten wissen, sagte Herr Lindenberg bedauerlich.
Das muß sie allerdings wissen, rief die Frau Hofräthin, allein – Es scheint mir ganz unmöglich zu sein!
O, meine liebe Freundin, erwiderte er sanft und belehrend, wer wollte wohl den Maßstab der Vernunft an die Neigungen des Menschen legen? Es ist dies ein Gebiet, für welches bis jetzt ein auch nur einigermaßen sicherer Wegweiser nicht gefunden wurde.
Frau von Stein schwieg einige Minuten lang und rief dann lebhaft aus:
Mein Gott! Sie jagen mir Furcht ein. Allerdings ist es mir auch so vorgekommen, als ob Sabine diesen gelehrten Herrn in letzter Zeit sehr vertraulich behandelte, aber er ist ihr Verwandter und Freund.
Mit steigender Sehnsucht verlangt sie nach ihm, fiel Herr Lindenberg ein. Heut beim Kaffee schon fragte sie nach ihm und ich mußte ihn rufen lassen. Dabei freute sie sich auf den Mondschein, um mit ihm Promenaden zu machen.
Dann ist es allerdings weiter mit Beiden gekommen, als ich dachte, sagte Frau von Stein unruhig aufstehend. Ich muß bedenken, was uns zu thun übrig bleibt. Ferdinand – ich glaube er kommt so eben.
Der liebe, prächtige Ferdinand! rief Herr Lindenberg wehmüthig aus. Ich habe ihn so recht von Herzen lieb, und was mich betrifft –
Sagen Sie ihm kein Wort, flüsterte sie. Ich werde ihm sein Schicksal verkündigen und ihn bestimmen, vielleicht schon morgen abzureisen.
Das dürfte, wie wehe es mir auch thut, doch das Beste sein, versetzte er seufzend. Aber unsere Freundschaft, meine verehrte Freundin –
Lassen Sie mich sorgen, fiel sie ein. Ich danke Ihnen für Ihre Schonung; ich weiß genug. Unsere Freundschaft darf nicht leiden.
Indem er ihr dankbar für diese großmüthige Zusicherung die Hand küßte, trat Ferdinand herein und eilte fröhlich auf seinen väterlichen Freund zu, der ihm die Arme entgegenbreitete. Der junge Mann sah so beglückt aus, daß Herr Lindenberg ihn mit einem Bräutigam verglich, worauf ihm Ferdinand mit strahlenden Augen antwortete, daß er bald Einer zu werden hoffte. Die kluge Frau Hofräthin mischte sich sogleich ablenkend ein, und Herr Lindenberg dachte daran, was er soeben versprochen hatte, und schwieg ebenfalls.
Ferdinand's erste Frage war nach Fräulein Lina's Befinden, dann erst kam Sabine hinterher, was zu einem bedeutsamen Blicke des alten Herrn auf seine verehrte Freundin Anlaß gab. Er verkniff jedoch sein schelmisches Lächeln und wandte sich auch von diesem verfänglichen Gegenstande ab, um Ferdinand ein Paar Pferde anzupreisen, welche er gesehen und genau untersucht hatte. Der Preis war hoch, aber für diese ausgezeichneten Thiere dennoch ein wahrer Spottpreis. Mit Andacht hörte Ferdinand eine Zeit lang zu, was Herr Lindenberg von der Vorzüglichkeit dieser echten Racepferde mittheilte, und deren Merkmale erklärte, auch was er über Sattelung und Spannung sagte, und einige Einwendungen über den Haufen warf.
Du verstehst nicht sehr viel davon, bemerkte er zuletzt.
Ich habe mich zu wenig bisher damit beschäftigt, erwiderte Ferdinand bescheiden.
Folge also meinem Rathe, sagte Herr Lindenberg mit voller Befriedigung, so wirst du am allerbesten fahren.
Sein junger Freund sagte dies dankbar zu, und nach manchen Späßen und Liebesworten verließ Herr Lindenberg ihn endlich mit der Aufforderung an Mutter und Sohn, sich doch recht bald sehen zu lassen, was Beide willig versprachen.
Herr Lindenberg hatte aber kaum sich unsichtbar gemacht, als der junge Offizier übermüthig an zu lachen fing. Er weiß Alles! er kennt Alles! er versteht Alles! rief er dabei seine Mutter umfassend. Ein Paar Pferde hat er mir ausgesucht, von denen das eine brustlahm ist, das andere Gallen in den Hufen hat. Aber ich bin der junge unwissende Mensch, obwohl seit fünf Jahren Cavallerieoffizier. Ich bin auch ein miserabler Schachspieler, obwohl ich im Schachklub für einen der ersten Spieler gelte, aber dafür bin ich auch in Fräulein Lina's Liebesnetze versunken, und Sabine, die verarmte, herzkranke Sabine, ist glücklich gerettet.
Er muß geheilt werden, lächelte die Mutter.
Geheilt und gebessert, fiel er ein. Laß dir sagen, was ich mit meinem Herzblättchen, Lina, verabredet habe, während Sabine und der Herr Professor vor unseren Augen umherspazierten.
Herr Lindenberg eilte inzwischen seinem Hause zu. Ihm war so wohl und leicht zu Muthe, als schwebe das Glück vor ihm her und er folge ihm nach mit Springfedern unter den Beinen. Es löste sich Alles behaglich auf, was ihn beunruhigen konnte, und einzig und allein durch seine Geschicklichkeit, durch seine Klugheit, mit welcher er für Sicherung seines Wohlergehens gearbeitet hatte. Die einzige dunkle Stelle, über welche er nicht einig werden konnte, war gleichgültig geworden. Ob Sabine, ob Lina die zumeist Bedrohte sei, es kam nicht weiter darauf an. Die Frau Hofräthin werde dem Herrn Sohn schon den Kopf zurechtsetzen, artige Riegel waren ihm überall vorgeschoben, und wenn er morgen sein Bündel schnürte, so war der ganze Spaß aus. Alles kehrte dann zur schönsten Ordnung zurück. Er behielt sein Kind und seine ganze Lebensfreude unberührt; keine fremde Hand drang räuberisch mehr in sein wohlerworbenes Eigenthum, und was den Professor anbelangte, so war dieser ja überhaupt kein Wesen, dem irgend ein Leid geschehen konnte. Auch er, der ergötzliche Freund, kehrte zu der heiligen Ruhe seiner Studien zurück und konnte mit chinesischen und tartarischen Wurzeln auf's Zärtlichste schwärmen. Sabinens Spielerei nahm entweder von selbst ein Ende, oder es gehörte sehr geringe Mühe dazu, den Frieden abzuschließen.
Eine Menge wohlthuender Gedanken begleiteten das Gefühl beglückender Selbstzufriedenheit, mit welchem Herr Lindenberg seinen Triumph feierte.
Man muß nie etwas ohne bestimmte Grundsätze und niemals Gewaltthätiges thun, sagte er. Es macht sich Alles wie von selbst, ganz gemüthlich, sobald man nur sich nicht beirren läßt, immer bei der Wahrheit zu bleiben, und diese höchste Wahrheit ist, daß ein Jeder so glücklich zu sein sucht, wie er sein kann.
Indem er mit diesen Worten auf den Lippen seine Thür öffnete, stand er plötzlich vor dem Professor, der soeben hinaus wollte. Der Professor hatte den Hut verkehrt auf dem Kopfe und sah so verwirrt aus, als befände er sich abermals auf der Flucht. Er prallte zurück, als sein Verwandter unerwartet ihm den Weg versperrte, und sah ihn mit scheuen Blicken an.
Wo wollen Sie denn hin? fragte Herr Lindenberg ihn ergreifend.
Fort, erwiderte der Professor an seinen Kopf fassend; denn sehen Sie, ich bin der Meinung, daß ich – oho! ich halte es nicht länger aus.
Was halten Sie nicht länger aus? fragte Herr Lindenberg, indem er seinen Gefangenen noch fester packte und in sein Zimmer zog. Wo ist Sabine?
Bei dieser Frage sah der Professor sich erschrocken um und sagte dann mit wachsender Verlegenheit: Es ist mir noch niemals so bange gewesen bei irgend einer Aufgabe. Ich kann's nicht thun.
Was können Sie denn nicht thun?
Oho! Sie – ich kann's nicht sagen, antwortete der Professor, indem er roth wurde, denn Sie – oho! Sie würden in Wuth gerathen.
Gegen Sie? fragte Herr Lindenberg. Was ist geschehen?
Noch nicht, aber, es soll geschehen. Sabine – sie will –
Sie will Sie doch nicht ermorden? lachte Herr Lindenberg.
Ermorden? fragte der Professor erschrocken, sollte das ihre Absicht sein? Sie hat –
Was hat sie denn?
Mich eingeladen.
Wozu?
Zu – zu, der Professor senkte seine Augen schamvoll nieder – zu einem heimlichen Besuch.
Alle Wetter! rief Herr Lindenberg. Heimlich?! Wann? Wo?
Heut Abend nach zehn Uhr, wenn Alles schläft, stammelte der unglückliche Professor. Ich soll mich durch das Pförtchen einschleichen – sie will mich erwarten – oho! will es offen halten.
Was haben Sie geantwortet? fragte Herr Lindenberg, der sehr freundlich und ermuthigend lächelte.
Ich – ich habe eigentlich nichts geantwortet. Ich war so bestürzt, ich lachte, oder was, ich weiß es nicht. Fräulein Lina kam dazu. Oho! ich lief davon.
Herr Lindenberg sah sehr nachdenklich und bedächtig aus. Er that einen langsamen Schritt auf den Professor zu, der sich zurückzog. –
Ich werde nicht hingehen, stotterte er, ich werde auf keinen Fall hingehen.
Sie müssen hingehen, sagte Herr Lindenberg befehlend. Sie sollen hingehen. Es ist nothwendig.
Der Professor schob seine silberne Brille dicht an die Augen.
Aber – ich weiß nicht – ich fürchte mich!
Seien Sie ganz ohne Sorgen, sagte Herr Lindenberg ihm die Hand reichend, ich werde in Ihrer Nähe sein. Thun Sie Alles, was sie von Ihnen wünscht, Sie thun es mit meiner Erlaubniß, Freund.
Aber wenn Sie nun, flüsterte der Professor – sie hat heut schon einmal mit beiden Händen mich an meinen Kopf gefaßt und mich mit sonderbaren Augen betrachtet. Es war mir so –
Wie war Ihnen? fragte Herr Lindenberg.
Als ob sie – oho! rief der Professor, als ob sie – mich küssen wollte!
Sie wird Ihnen nichts zu Leide thun, versicherte Herr Lindenberg sanftmüthig, nur müssen Sie Alles befolgen, was sie befiehlt. – Freund, Verwandter, fuhr er fort, Sie werden mir und Sabinen einen großen Dienst leisten, Sie müssen sich küssen lassen, oder auch selbst küssen, wenn sie es begehrt. Es ist eine Handlung großmüthiger Menschenliebe, Sabine ist krank. Ihr Capital, mit dem sie arbeitet, ist in Verwirrung gerathen, wir müssen sie vor dem Concurs retten, verstehen Sie wohl? Wir müssen sie retten.
Der Professor nickte so lebhaft, daß seine silberne Brille wackelte.
Also, sagte Herr Lindenberg würdevoll lächelnd, indem er ihn fortführte, müssen wir nichts scheuen, um die Eingriffe in unsere Menschenrechte abzuwenden. Unser Glück ist unser unantastbares Eigenthum.
Der Professor ließ ein beistimmendes Oho! hören und wackelte noch stärker mit der silbernen Brille.
Indem aber Beide verschwanden, öffnete sich die Nebenthür und Fräulein Lina wurde sichtbar. Einige Augenblicke blieb sie horchend stehen, dann schränkte sie ihre Hände zusammen und murmelte aufgeregt:
Sogar die Vernunft spricht er seinem einzigen Kinde ab, er ist selbst total unvernünftig. Und dieser arme, edle Professor wird von ihm verführt, allein er soll nicht verloren gehen. Ich werde ihn retten!
Und der Mond leuchtete wiederum durch die Gänge des Gartens, und heut war er silberhell, und der Himmel voll Sterne, und die Nacht so warm und duftig, wie schwärmerische Liebe sie wünschen mag.
Sabine stand seit einer Viertelstunde unter den Bäumen und beobachtete die kleine Gartenpforte voller Ungeduld, eben so schweigsam stand ihr Vater in dem Gartensaale hinter dem angelehnten Fenster und beobachtete sein Töchterchen. Es war ihm so wohlig zu Muthe, so angenehm, daß er in seinem Glück schwelgte, denn Alles war vortrefflich gegangen. Ferdinand war gar nicht mehr erschienen, die Frau Hofräthin eben so wenig, die Erklärung zwischen Mutter und Sohn hatte gewiß derartig gewirkt, daß der junge Herr sich weitere Mühe sparte. Sabine hatte nicht nach ihm gefragt, und Lina sah aus wie eine Leichenpredigt, so ernsthaft und Gott ergeben, der Professor aber war auf alle Fälle vorbereitet, zu erdulden, was ein Mensch erdulden kann.
Es währte noch einige Zeit, und Herr Lindenberg gab sich dunklen Ahnungen hin, daß der Professor, den er den ganzen Tag über beschirmt und behütet, und der sich unter seine Flügel gerettet, wie das Küchlein unter die Flügel der Henne, undankbar und treulos geworden sei; Sabine hatte sich eigentlich auch um ihn nicht viel mehr gekümmert, wenigstens ihn in keine verfänglichen Gespräche verstrickt, sondern nur zuweilen lange und feurig angeschaut. Erst als er sich am Abend empfahl, hatte sie ihm die Hand gereicht und mit besonderer Betonung gesagt:
Auf Wiedersehen, mein lieber Vetter Herbart! Vergessen Sie nicht!
Worauf der Professor mit großer Gewalt oho! sehr gut! gesagt hatte.
Wenn er nur nicht etwa über ein chinesisches oder siamesisches Manuscript gerathen ist und die Einladung dennoch vergessen hat, murmelte Herr Lindenberg; doch er muß kommen. Halt! da ist er schon.
Eben klapperte das Schloß an der kleinen Pforte, und mit der zufriedensten Genugthuung sah Herr Lindenberg, wie Sabine ihren Platz verließ, dem Nahenden entgegeneilte und wie sie ihre Arme ihm entgegenbreitete und ihre lebhafte Stimme hören ließ, welche bis zu ihm hindrang.
Ja, es war der Professor; jetzt konnte er ihn erkennen. Jetzt kam er mit Sabinen den Gang her auf, sie hing an seinem Arm und dann legte sie diesen auf seine Schulter, doch dagegen schien er sich zu sträuben. Es half ihm jedoch nichts, sie hielt ihn noch fester und dann verschwanden sie im Schatten der Bäume. Aber nach einem Weilchen kehrten sie zurück, und Sabine schlug den Weg zu der Lindenlaube ein, die vom herrlichsten Mondschein bestrahlt ihr Inneres in geheimnißvolles Dunkel hüllte.
Der unglückliche Professor schien auf dem Wege zum Hochgericht begriffen zu sein, denn er machte die größten Anstrengungen, diesem schaurigen Orte zu entgehen, wo er schon einmal viele Angst erduldete. Er stemmte sich und wollte rückwärts, allein Sabine zog ihn weiter, und er folgte endlich geduldig, wie ein Opferlamm, zum Ergötzen des heiteren Papa's, der sich Mühe gab, sein Lachen zu mäßigen.
Es währte jedoch nur einige Minuten, so wurde seine Aufmerksamkeit von einem anderen Gegenstande fast noch mehr angezogen. An derselben Stelle, wo Sabine gestanden hatte, sah er es sich regen und nein – es war nicht ein Einzelner, der dort sich verbarg, sondern es waren deren Zwei.
Man konnte von jener Stelle aus die Lindenlaube genau beobachten, und Herr Lindenberg lachte teufelmäßig, indem er sich seine Hände in den Mund steckte und seine Schultern vor Vergnügen hin- und herschob.
Ich hab's vermuthet, flüsterte er, es war in der That bei einiger Ueberlegung vorauszusehen, sobald Sabine nicht auf ihrer Hut war. Und sie ist nicht vorsichtig gewesen, sonst hätte Lina nichts merken können. Sie hat es aber gemerkt, und hat den Herrn Adjutanten bestellt, um ihm dies schöne Schauspiel zu zeigen. Ich lobe Lina, ich muß ihr mein Compliment machen! Sie handelt nach durchaus richtigen Grundsätzen, um die Concurrenz abzuschneiden, denn wenn dieser stolze junge Mensch Sabinen am Halse des tugendhaften Professors sieht, wird Gift in seinen Adern fließen. Ich hoffe es, ich wünsche es, es ist so! Lina ist klug, sehr klug! Ich hätt's eben so gemacht, es ist nur Schade, daß Alles vergebens sein wird, weil Einer da ist, der noch klüger ist, der es noch besser versteht, sich und sein Eigenthum zu sichern.
Plötzlich hielt Herr Lindenberg ein, denn hinter sich in dem Saale hörte er leise Schritte, und als er umschaute, erblickte er eine dunkle Gestalt, welche ihre Hand nach ihm ausstreckte. Herr Lindenberg war ein aufgeklärter Mann, der nicht an Gespenster glaubte, dennoch lief ein Schauder über seine Haut und eine verwirrende Empfindung durch seinen Kopf.
Wer ist da?! fragte er bestürzt.
Ich, antwortete die Erscheinung.
Sie, sagte Herr Lindenberg. Sie sind hier?
Ganz gewiß, war die Antwort. Er ist ebenfalls hier.
Leider ist er hier, seufzte Herr Lindenberg. Beruhigen Sie sich, theuerste Freundin. Man muß in solchen Angelegenheiten ohne alle Leidenschaft sein.
Darum sehen Sie mich zu dieser Stunde in Ihrem Hause, erwiderte Frau von Stein. Ich mußte Sie aufsuchen. Ich habe mit Ferdinand gesprochen.
Was sagte er?
Er hat einen Brief erhalten, der alle Vorstellungen vergebens machte.
Von Lina? flüsterte Herr Lindenberg heimlich lachend, indem er kläglich stöhnte.
Sie forderte ihn auf zu diesem heimlichen, nächtlichen Besuch.
Und da ist er schon, da, flüsterte Herr Lindenberg. Was thun wir nun?
Bei dieser Frage trat die Frau Hofräthin ihm einen Schritt näher und sagte mit ruhiger Fassung:
Billigen Sie Ferdinands Wahl?
Ich? versetzte Herr Lindenberg, indem er beide Hände abwehrend ausstreckte. Ich kann dies leider nicht billigen.
O, wenn es Sabine wäre! fiel sie ein.
Ja, wenn es Sabine wäre, sagte er, wenn diese Herzen sich gefunden hätten; leider aber ist keine Hoffnung mehr dazu.
Man muß nichts erzwingen wollen, erwiderte sie.
Kein Zwang, keine Gewalt! versetzte er. Ein jeder Mensch, ein jedes Wesen hat das Recht glücklich zu sein.
Sabine sowohl wie Lina, so auch Ferdinand und wir selbst, theuerste Freundin.
Aber bedenken Sie, unterbrach sie ihn.
Ich bedenke Alles, ich überlege Alles, betheuerte Herr Lindenberg energisch.
Wenn nun Ferdinand wirklich –
So lassen Sie ihn, erklärte er. Der Mensch ist ein zur Freiheit geschaffenes Wesen; lassen Sie ihn, wenn er sein höchstes Eigenthum, sein Ich, allen Beschränkungen überhebt.
Sehr gut, bester Lindenberg, widersprach die Frau Hofräthin, allein, wenn Sabine –
Wenn Sabine dort aus der Laube träte, fiel er energisch ein und brächte mir den Mann, den sie sich auserwählt, sei er, wer er sei, ich würde ihre Menschenrechte achten.
Das würden Sie wirklich! Ich soll also –
Herr Lindenberg lächelte diabolisch und drückte ihre Hände. Ruhig abwarten, sagte er, ganz ruhig. Das Vernünftige macht sich ganz von selbst. In der freien Concurrenz arbeitet die Contremine gegen die Mine; man hat durchaus nicht nöthig Gewaltmaßregeln zu fordern, wie etwa der dumme Magistrat gegen die Theuerung. Es wird auf jeden Fall von selbst wieder billig.
Aber die dabei verhungerten, was sagen die? fragte die Hofräthin.
Es war nothwendig, beste Freundin, es ging eben nicht anders! lächelte Herr Lindenberg. Ich würde mich nicht darüber beschweren, wenn ich versichert wäre, daß es bei den richtigsten Grundsätzen nicht anders möglich war.
Nun, in Gottes Namen denn! sagte Frau von Stein, so wollen wir Beide erwarten, was geschieht und, was kommen mag, als das Vernünftige betrachten und uns unterwerfen.
Das wollen wir! versetzte Herr Lindenberg spitzbübisch erfreut, nur keine Klagen, keine Vorwürfe! Im Augenblick aber hielt er inne, denn aus der Laube erscholl ein lautes Geschrei, dem ein helles Gelächter nachfolgte, in welches sich mehrere Stimmen mischten. –
Sabine hatte mit dem Professor unter diesem mondhellen Geblätter eine Unterredung geführt, welche von Anfang an einen unheimlichen Eindruck auf ihn machte. Er sah sie neben sich sitzen, dann und wann von einem blassen Gefunkel überzittert, in welchem er ihre blitzenden Augen erkannte. Dabei lag ihre Hand wiederum vertraulich auf seiner Schulter und er fühlte ihren Athem, der seine Stirn zu berühren schien. Was sie jedoch, zu ihm sagte und von ihm verlangte, war noch viel schrecklicher.
Wissen Sie, Vetter Herbart, sagte sie, warum ich diese Zusammenkunft mit Ihnen verabredet habe?
Nein, ich weiß es nicht, erwiderte er.
Weil ich Ihnen ein Geheimniß vertrauen will.
Oho, Geheimniß, sehr gut! sagte er.
Wissen Sie, was gestern Abend hier geschehen ist?
Nichts! antwortete der Professor.
Dann hören Sie. Es gingen zwei hier im Garten umher, sie saßen auch wohl hier, wo wir sitzen, und hielten sich fest umschlungen.
Sie schlang ihren Arm dichter um ihn und drückte ihn an sich, er rührte sich nicht. –
Legen Sie Ihren Arm auch so um mich, sagte sie; jetzt drücken Sie mich an Ihre Brust.
Nein! nein! rief der Professor.
Ich will es so haben! rief sie lauter, und er fügte sich darein, weil ihm einfiel, was er versprochen hatte. Was fühlen Sie jetzt? fragte sie.
Nichts! versicherte der Professor leise zitternd.
Ich fühle auch nichts, sagte Sabine. – Nun haben Sie mir doch gesagt, daß Sie in Ihren Büchern gefunden, Liebe sei eine dunkle Sehnsucht, die bei der Nähe und noch mehr bei der Berührung einer anderen Person erwacht. War es nicht so
Oho! richtig! stotterte der Professor. Liebe ist Sehnsucht.
Und darin mischt sich ein Neid, fiel Sabine ein. Man beneidet jeden Anderen, den diese Person freundlich betrachtet, oder ihm Zeichen ihrer Freundschaft giebt. Wenn ich nun gestern von Ferdinand umarmt worden wäre und Sie hätten es gesehen, was würden Sie empfunden haben?
Nichts! schrie der Professor seine Stirn wischend.
Ich auch nichts, wenn Sie Lina umarmt hätten, sagte Sabine. Aber jetzt küssen Sie mich.
Oho! wie so? fragte der Professor verwirrt.
Weil ich es will, sagte Sabine. Knien Sie nieder.
Der Professor dachte wiederum daran, was ihr Vater ihm eingeschärft. Mechanisch senkte er sich vor ihr nieder und lag geduldig da.
Jetzt sehen Sie mich an, fuhr sie fort.
Der Professor rückte den Kopf in die Höhe, drückte aber beide Augen zu.
Nun rufen Sie:
Sie sind ein Engel, Sabine, ich bete Sie an!
Teufel! schrie der Professor voller Entsetzen, indem er in den Sand fiel und liegen blieb, denn er hörte eine Stimme neben sich, und ein anderes Wesen kniete an seiner Stelle, das plötzlich in die Laube gedrungen war und ihm den Stoß versetzt hatte.
Niemand soll dich Engel nennen, rief diese Stimme, Niemand dich anbeten, Niemand deine süßen Lippen küssen, als ich allein!
Sabine gab keine Antwort, aber der Professor hörte ein Schallen höchst verdächtiger Art, und indem er sich aufraffte, sah er im Halbdunkel, wie Sabinens Kopf ganz mit dem des fremden Wesens verschmolz, und wie ihre beiden Arme ihn dicht umschlungen hatten.
Theure, geliebte Sabine! rief die Stimme in abgebrochener, sonderbarer Art dabei.
Du liebst mich also! fragte sie.
Mehr, als ich sagen kann!
Aber du hast gestern Lina geküßt.
Die gute, die edle Lina! rief die Stimme. Auf meinen Knieen dankte ich ihr für ihren Trost, daß du mich liebtest, Sabine. Es war mir dabei, als könnte ich dich damit rufen, als müßtest du kommen, deine Arme nach mir ausstrecken und mich fragen: Liebst du mich, oder diese da?
Nein, nein! sagte Sabine, mich liebst du, ich weiß es jetzt, und ich liebe dich; keinen Anderen in der Welt, dich allein!
Hören Sie es, erwiderte der Beglückte, indem er sich an den Professor wandte, der sich auf seine Beine stellte. Mich liebt sie allein, und wer sie mir nehmen will, wer er auch sein möge, er muß sein Leben lassen, oder das meine nehmen!
Mit größter Heftigkeit, wie zum Schwur oder zum Schlag, hob er den Arm auf, aber der Professor bückte sich mit großer Gewandtheit und sprang darunter fort. Er war sehr furchtsam und dazu von der erduldeten Noth, sammt Allem, was er gehört und gesehen, in größter Aufregung. Mit einem jähen Hülfsschrei taumelte er an den Pfosten der Laube und sank in Fräulein Lina's Arme, die wie ein Schutzgeist am Ausgange erschien.
Hülfe! schrie der Professor sie umklammernd.
Niemand soll Ihnen ein Leid thun! erwiderte Fräulein Lina, indem sie mit himmlischer Kraft und Milde ihre Hände über ihn ausbreitete.
Fort! beste Lina, fort! rief der Professor, der sich noch fester hielt, und er empfand eine eigenthümliche, wohlbehagliche Empfindung an der weichen Stelle, wo er ruhte.
Lassen Sie uns gehen, lieber Freund, erwiderte sie. Ich will Ihnen Alles erklären, besorgen Sie nichts mehr.
Bei Ihnen, oho! nein! rief der Professor mit neuem Lebensmuth.
In dem Augenblick ließ sich Herr Lindenberg hören.
Was giebt es? rief er. Professor! wer schrie da? Sabine!
Der Professor antwortete nicht, er war mit Fräulein Lina verschwunden, aber Sabine antwortete aus der Laube:
Bist du da, Papa?
Ja, Kind, was hast du vor?
Er will mich durchaus heirathen, Papa.
Ist er toll geworden?!
Nein, Papa, er scheint mir ganz vernünftig zu sein.
Kommt Beide heraus, sagte Herr Lindenberg am Eingang der Laube. Was sind das für Streiche! Freund, Verwandter, wie kommen Sie zu solchen phantastischen Ausschweifungen! – Alle Wetter! was ist das? Ferdinand?
Wie Sie sehen, mein lieber Papa, sagte Ferdinand bescheiden, indem er neben Sabinen stehen blieb, die ihn an der Hand fest hielt.
Herr Lindenberg blickte sie beide starr an. Mondlicht fiel in ihre Gesichter. –
Du bist es also, begann er, der sich hier eingeschlichen hat? fragte er.
Ein jeder Mensch hat das Recht, für sein Wohlergehen zu arbeiten, mein bester Papa, erwiderte Ferdinand.
Und ich weiß es jetzt gewiß, Papa, daß ich ihn liebe! rief Sabine.
Weißt du es gewiß, mein Kind? erwiderte Herr Lindenberg mit erhobener Stimme und seinen Arm warnend aufhebend. Weißt du aber auch, was dich erwartet?
Alles, was kommen möge, will ich getrosten Muthes ertragen, Papa, fiel sie ein. Ich will ihn nie verlassen!
Das kannst du! das willst du! Wählst du so zwischen deinem Vater und ihm? fragte er aufgeregt und zitternd.
Ja, Papa, ich bleibe bei ihm, sagte Sabine, denn ich liebe ihn ja.
Der Mensch ist ein zur Freiheit geschaffenes Wesen, sprach die Frau Hofräthin, indem sie den verstummten Papa umfaßte. Ohne Leidenschaft, lieber Freund!
Ich bin getäuscht worden, rief Herr Lindenberg heftig aus.
Keinesweges, verehrter Papa, fiel Ferdinand ein. Die Mine arbeitet gegen die Contremine, die freie Concurrenz bringt alle Verhältnisse in das rechte Gleichgewicht. Das sind Grundsätze, deren Richtigkeit Sie anerkennen müssen.
Und haben wir nicht beide gelobt, was geschehen möge, als das Vernünftige anzuerkennen? sagte die Frau Hofräthin. Waren Sie es nicht, der Sabinens Wahl billigen wollte, der ihre Menschenrechte achten wollte, der alle Gewalt verabscheut?
Sehr richtig, versetzte Herr Lindenberg, sehr richtig.
Dann können Sie uns nicht zürnen! rief Ferdinand.
Durchaus nicht, mein Söhnchen, durchaus nicht!
Und dürfen uns Ihren Segen nicht versagen.
Wo ist Lina? fragte er.
Hier, sagte Fräulein Lina, indem sie mit dem Professor hinter den Gebüschen hervorkam.
Meine liebe Schwester, sagte Herr Lindenberg mit edler Fassung, wir werden uns beide trösten müssen. Es thut mir leid, sehr leid, aber indem wir uns sagen, wir thaten, was wir vermochten, um unser Wohlergehen zu sichern, müssen wir uns über Fehlschläge beruhigen. Sabine will mich verlassen; komm du dafür in meine Arme, ich will –
Nein! unterbrach ihn der Professor.
Wie so, nein? fragte Herr Lindenberg.
Ich liebe auch, schrie der Professor heftig nickend und zum Erstaunen des Herrn Lindenberg schlang er seinen Arm um Fräulein Lina.
Auch du, Lina! rief Herr Lindenberg erschüttert.
O, Bruder, lispelte Fräulein Lina, jeder Wurm hat das Recht glücklich zu sein. Du selbst machtest es mir zur Pflicht, dafür zu sorgen.
Papa! rief Sabine, du darfst nicht böse werden, das steht dir sehr schlecht. Wir haben alle rechtschaffen gearbeitet.
Und was ein Trauerspiel hätte werden können, ist ein Lustspiel geworden, sagte Ferdinand.
Beweisen Sie Ihre Grundsätze, flüsterte die Frau Hofräthin.
Herr Lindenberg richtete sich stolz auf.
Meine Grundsätze, sagte er würdevoll, sind die durchaus richtigen, kein Wort mehr darüber! Morgen früh komm zu mir, mein Söhnchen, ich werde dir zeigen, wie es mit Sabinens Vermögen steht. Meine Schwester statte ich aus, Professor, im Uebrigen – seine Stimme fing an ein wenig zu zittern – bin und bleibe ich ein entschiedener Gegner alles Zwanges. Es wird in Zukunft, wenn du mein Kind mit dir fortnimmst, Ferdinand, und wenn Lina – es wird in meinen alten Tagen – er verstummte plötzlich und sagte dann mit Entschiedenheit: Ein jeder Mensch muß für sich sorgen! Gute Nacht!
Noch einen Augenblick lieber Freund, sprach die Frau Hofräthin, indem sie ihn festhielt. – Ferdinand hat die Absicht, uns nicht zu verlassen. Er hat Gelegenheit sich ganz in der Nähe vortheilhaft anzukaufen und rechnet dabei auf Ihre großen Kenntnisse und Ihren wohlthätigen Beistand.
Täglich wird Sabine bei Ihnen sein, theurer Papa, oder Sie bei ihr, fügte Ferdinand hinzu.
Auch denke ich, fuhr die Frau Hofräthin fort, daß der Herr Professor gewiß recht gern bereit sein wird, in das obere Stockwerk zu ziehen, zu der Frau Professorin Lina, um seine Studien in der neu entdeckten Sprache hier in Ihrem Hause unter Ihren Augen und Ihrer Aufsicht fortzusetzen.
Sehr gut, sehr gut! grinste der Professor seelenvergnügt.
Und so scheint es mir, fügte die kluge Dame mit ihrem feinen Lächeln hinzu, als würde sich nicht viel verändern, was Unruhe und Sorge in Ihr Leben bringen könnte. Nur werde ich wohl künftig häufiger noch als bisher zu meinem lieben alten Freunde kommen, um ihm Gesellschaft zu leisten und mit ihm von dem vergangenen Glück und von den Zukunftshoffnungen zu leben. Wir werden alle einen frohen Familienkreis um ihn bilden, und werden ihm beweisen, daß er Recht hat, denn wir werden alle streben, so glücklich zu sein, wie wir es vermögen.
Papa! Papa! rief Sabine auf ihn zufliegend und an seinem Hals hängend, liebe mich, küsse mich, segne dein Kind!
Da war es vorbei mit seiner Standhaftigkeit. Sie umringten ihn alle mit Liebens-Worten und Namen, Sabine fühlte ein Paar große heiße Tropfen auf ihre blühenden Wangen fallen, dann aber hob er den Kopf auf gegen den Mond und stampfte mit dem Fuß dabei in unerschütterlicher Ueberzeugung.
Seid glücklich, meine Kinder! sprach er würdevoll, ja wir wollen alle glücklich sein. Was aber das Princip betrifft, so gebe ich nicht nach, keinen Finger breit, kein Haar breit! – Man lasse sich durch keine Fehlschläge irre machen, sagt Adam Smith, wenn die Grundsätze richtig sind; und dabei bleibt es!