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Nicht weit vom alterthümlichen Thore einer lebhaften Kreisstadt machte die Landstraße, statt geradeaus darauf los zu gehen, einen Bogen, denn ihr im Wege lag ein ziemlich ansehnliches Haus mit seinen Nebengebäuden. Ein Gartengebäude lief weit dahinter fort, und wo es aufhörte, begannen Waldhügel mit hohen Bäumen besetzt, an deren Gipfeln der rothe Abendschein glühte.
Abendlich still dämmerten auch Luft und Land und ließen sich von den Heimchen und Heuschrecken in den Schlaf singen; nur auf der Landstraße klapperte eine Postkalesche der Stadt zu und wirbelte eine Staubwolke auf. Ein Paar Koffer waren hinten aufgeschnürt, und unter dem weit überhängenden Halbdeck saßen zwei Reisende in Mäntel gehüllt und in die Ecken gelehnt. Bei der Dämmerung ließ sich nichts weiter von ihnen erkennen, als aber der Wagen dem Landhause näher kam, richtete der Eine sich auf und steckte den Kopf vor. Die Stadt lag vor ihm mit ihren alten spitzen und zackigen Thürmen, welche sie in den Hussitenkriegen uneinnehmbar gemacht hatten, jetzt aber mit ihren Epheugewinden als ein malerisches Stück Mittelalter allein von der alten trotzigen Wehrhaftigkeit übrig geblieben waren. Blauer Duft vermischte sich mit Nacht und Rauch und umdunkelte den Wohnplatz der friedlichen Bürger; grünende Felder und Matten, der Wald jenseit auf der Höhe und ein Fluß, dessen helles Bett in manchen Windungen sich verfolgen ließ, bildeten einen artigen Rahmen dazu.
Der Reisende that einen raschen Blick darauf, dann heftete sich seine Aufmerksamkeit auf das nahe Haus. Er hatte ein wohlgeformtes, feines Gesicht und klare, scharfe Augen darin.
Schläfst du? rief er seinen Gefährten an.
Ich wache eben auf, war dessen Antwort. Wo sind wir denn?
Dicht bei der Stadt. Und dies hier muß das Haus sein.
So? sagte der andere Herr, indem er gähnte, seine Augen rieb und dann ebenfalls hinausschaute, glaubst du es?
Nach dem, was man uns berichtete, scheint es mir gewiß zu sein. Wir wollen uns gleich davon überzeugen. Heda, Schwager, weißt du, wer hier wohnt?
Der Postillon wandte sich um, nahm die kurze Pfeife aus dem Munde und sagte:
Hier wohnt der Herr Major von Brand und das ist sein Gut. Der ganze Wald gehört dazu, der Acker da drüben auch, und die große Wassermühle unten vor der Stadt ebenfalls. Er hat aber Alles verpachtet.
Er ist also wohl nicht hier?
Ja freilich ist er hier, in dem Hause wohnt er ja.
Hat er keinen Sohn?
Einen Sohn hat er, der ist aber weit fort. Er ist beim obersten Gerichte.
Töchter hat er auch?
Zwei hat er. Ein Fräulein ist schon groß und eins das ist noch klein und bekommt Unterricht von einem Lehrer, den sie im Hause haben.
Du weißt ja sehr gut Bescheid, wie's da zugeht, lachte der Reisende.
Warum sollt' ich nicht? erwiderte der Postillon. Ich bin ein Paar Jahre bei ihm gewesen, darauf bin ich Postillon geworden. Aber ich wollte, daß ich es nicht gethan hätte.
Schäme dich, scherzte der Fremde, man muß niemals bereuen, was man gethan hat.
Das ist wohl wahr, meinte der Postillon, geschehene Dinge sind nicht zu ändern, und gefallen kann man sich auch nicht Alles lassen.
Es ist also wohl ein böser Herr?
Böse ist er eigentlich nicht, das kann man nicht sagen, aber hitzig. Alle Donnerwetter kriegt man auf den Hals, sowie das Geringste los ist.
Da muß mit ihm schlecht Kirschen essen sein.
Wenn's Fräulein nicht wäre, so wär's noch schlimmer, sagte der Postillon. Im Grunde ist er auch gut, denn Geld ästimirt er nicht, und wo was zu geben ist, ist er allemal da.
Hat er denn so viel zu geben? fragte der Fremde.
Na, er nimmt schönes Geld ein, aber übrig wird wohl nichts bleiben. Wie er im vorigen Jahre die Mühle neu baute, hat er borgen müssen. Es geht Alles drauf. Wer da kommt, ist gut aufgenommen, und früher ging's noch größer her, aber das Fräulein ist jetzt an der Spitze und hält's besser zusammen.
Wohnt er schon lange hier?
An die zehn, zwölf Jahre. Er hat's Alles geerbt.
Den Acker hat er verpachtet?
Den hat er verpachtet, blos die Jagd hat er behalten, denn das Jagen ist seine Sache und darin versteht er keinen Spaß. Wenn sie ihm Holz stehlen, das kann er leichter ertragen, aber mit Wilddieben hat er kein Erbarmen. Einen hat er lahm geschossen, es ist noch nicht zwei Jahre her. Der Fuß wird dem Mathis nicht wieder gerade.
Das ist ja ein alter Sakermenter!
Er ist lange Offizier gewesen unter dem Napoleon, hat den spanischen Krieg mitgemacht und auch gegen die Russen. Der fragt wenig danach, wenn er in Wuth ist, hinterher hat's ihm Leid gethan, obwohl er freigesprochen wurde in dem Proceß, den sie ihm machten. Während Mathis im Gefängnisse saß, hat er Frau und Kind erhalten und jetzt, wo er wieder los ist, giebt er noch. Es soll's Keiner wissen, aber es ist doch bekannt, wenn auch der Mathis schimpft. Nah!
Der Postillon nahm sein Horn an den Mund, denn der Wagen rumpelte jetzt über das Pflaster an der Thorbrücke und somit hörte das Gespräch auf, während dessen Dauer die beiden Reisenden verschiedne Blicke gewechselt hatten. Jetzt lachten sie zusammen und sprachen dabei, aber der Postillon hörte nichts davon, auch kümmerte es ihn nicht. Er fuhr zwischen den beiden alten Thorthürmen die schmale krumme Straße hinauf, an der Kirche vorüber auf den Marktplatz, wo sowohl die Post wie der Gasthof zum rothen Bären standen, und da dieser der anerkannt beste von den dreien war, unter denen die Auswahl offen stand, und die Reisenden expreß nach dem besten verlangt hatten, fuhr er sie dahin und blies aus Leibeskräften, so wie er um die Ecke bog.
Der Wirth kannte das Zeichen. Der Kellner lief vor die Thür, er selbst kam hinterher. Es langten nicht viele Fremde hier an, um zu übernachten, die meisten fuhren weiter, eine Extrapost war aber immer ein wichtiges Ereigniß. Ein Dutzend barfüßige Jungen rannten von allen Seiten herbei, am Brunnen blieben die Mädchen stehen, und hinter den Scheiben der Fenster zeigten sich neugierige Gesichter. Vor dem Wirthshause standen eine Menge Bauernwagen mit Kornsäcken beladen, denn am nächsten Tage war Markt, und zur linken Seite im Hause befand sich in üblicher Weise die Schenkstube für das Volk, rechts dagegen ging es in die Gastzimmer für die vornehmere Gesellschaft.
Der Wirth half den beiden Herren beim Aussteigen. Es war ein gemüthlicher dicker Wirth von der alten Art, ohne übermäßige Höflichkeit, aber mit einem zutraulichen und herzlichen Anstrich. Er sah gleich ein, daß er es mit Leuten zu thun hatte, die ihn in Athem sehen würden.
Zwei Zimmer, sagte der feine, schlanke Herr, welcher mit dem Postillon gesprochen hatte.
Sehr wohl, mein Herr, erwiderte der Wirth.
Die besten, fuhr der Reisende fort.
Werden nicht ermangeln, sagte der Wirth.
Sie haben doch gute Betten?
Ganz neue Betten.
Lassen Sie uns sehen, sagte der Reisende, indem er einen mißtrauischen Blick auf das Haus warf. In der Ueberzeugung aber, daß auf jeden Fall nichts übrig bleibe, als anzunehmen, was geboten werde, fügte er hinzu: Lassen Sie die Koffer abschnallen und den Wagen räumen.
Es soll Alles geschehen, versicherte der Wirth.
Halt! noch einen Augenblick, rief der Begleiter des Reisenden, welcher sich ebenfalls heraus gemacht hatte. Der Wirth blieb stehen, der fremde Herr griff in den Wagen und brachte einen polirten Kasten mit Messinggriff zum Vorschein, an welchem er diesen trug. Der dienstfertige Kellner wollte ihm den Kasten abnehmen, allein er wies seinen Beistand zurück.
Ich kann ihn selbst tragen, sagte er mit einer keineswegs angenehmen hohen Kehlstimme, und daß dies der Wahrheit gemäß sei, ließ sich allerdings nicht bezweifeln, denn der Fremde war groß und stark, ein gutes Stück größer als sein Gefährte, doch von Gesicht bei Weitem nicht so angenehm. Es war blaß und dick und hatte leblose, harte, wasserblaue Augen.
Sie gingen nun Alle in das Haus. Die Thür nach der Schenkstube stand offen. Ein dicker Tabaksnebel und schallendes Gelächter drangen daraus hervor. Auf den langen Holztischen brannten ein Paar Talglichter und beleuchteten Bierkrüge und schäumige Gläser, die Bänke und Schemel standen aber meist leer. Der allergrößte Theil der Gäste in Kitteln oder Jacken und kurze Tabakspfeifen zwischen den Zähnen hatte sich in der Mitte der Diele versammelt und bildete beinah einen Kreis. In diesem stampfte ein Kerl auf einer Krücke umher und schrie allerlei Worte, von denen die Vorübergehenden nichts verstanden. Der dicke Reisende wandte sich unwillig davon fort, sein Begleiter fragte den Wirth, was das zu bedeuten habe?
Es ist ein armer Kerl, erwiderte dieser, der Mäuse und Vögel abgerichtet hat, die er marschiren und exerciren läßt.
Solche Vagabonden sollte man nicht dulden, fiel der dicke Herr ein.
Der Wirth zuckte die Achseln. Es will doch ein Jeder leben, meinte er. Einen Augenblick, meine Herren; gleich sollen Licht und Schlüssel bereit sein.
Er lief in die Gaststube. –
Da sind wir in eine schöne Höhle gerathen, bemerkte der dicke Herr.
Es bleibt nichts Andres übrig, sagte der Gefährte. Dergleichen alte Baracken sind oft besser, als sie aussehen.
Das ganze Ding ist von Holz und Fachwerk, fuhr der Dicke bedenklich fort; wenn Feuer entsteht, sind wir verloren.
Um so vorsichtiger müssen wir sein, antwortete der Kleine, indem er seine Augen schelmisch blitzen lief.
Der Wirth kam mit Schlüssel und Licht zurück und ersuchte seine Gäste, die Treppe hinauf zu steigen. Sie war breit und von alterthümlichen Formen.
Die ist noch aus der alten Zeit, sagte der Kleine.
An hundert Jahre alt, erwiderte der Wirth. Jetzt macht man drei Treppen davon.
Aber solch' altes Haus kann plötzlich einstürzen.
Das steht fest wie Eisen, betheuerte der Wirth; ich will Ihnen jedoch, setzte er hinzu, lieber Zimmer in dem neuen Anbau geben, den habe ich massiv im vorigen Jahre aufgeführt.
Das ist gut! rief der Dicke.
Dann bitte ich noch eine Treppe höher zu steigen.
Zwei Treppen hoch wohne ich niemals, sagte der dicke Herr mit Entschiedenheit.
Es sind hohe geräumige Zimmer, versicherte der Wirth, auch sind sie ganz neu tapeziert und ausgestattet.
Der Fremde nahm darauf keine Rücksicht, er wiederholte, daß er niemals zwei Treppen hoch wohnen wolle, der Wirth mußte somit die Zimmer im alten Hause aufschließen; allein er hatte auch hier noch Einsprüche in Empfang zu nehmen. Der Fremde wollte kein Zimmer nehmen, welches nach beiden Seiten Thüren besaß, die in Nebenzimmer führten. Er verlangte eines mit festen Wänden, oder doch höchstens mit einer Seitenthür und ein solches wurde zuletzt auch von ihm gewählt, obwohl es die wenigsten Bequemlichkeiten bot.
Die Koffer, Mäntel und alles Reisegeräth im Wagen wurden nun herbeigebracht, und der dicke Herr untersuchte vorsichtig, ob nichts fehle oder beschädigt sei, während sein Reisegefährte das große Nebenzimmer in Besitz nahm, das Bett einer augenblicklichen Betrachtung würdigte, sich dann aber gleichgültig auf dem Sopha ausstreckte und eine Cigarre anzündete. In dieser Lage hörte er zu, wie sein Freund allerlei Fragen über die Sicherheit des Hauses und der Gegend an den Wirth richtete und wie dieser darauf in bestimmter Weise betheuerte, daß keinem seiner Gäste jemals etwas gestohlen, auch niemals Feuer ausgebrochen sei, von Gewaltthaten aber überhaupt selten einmal etwas vernommen werde.
Als der Wirth hinaus war, nahm der dicke Herr das Licht, leuchtete unter das Bett, dann in die beiden Schränke und in verschiedene Winkel, und als er diese Musterung beendet, trat er zufriedengestellt zu seinem Begleiter herein, der ihn durchaus nicht gestört hatte.
Ich finde, daß du Recht hast, sagte er, wir sind hier besser aufgehoben, als ich dachte. Es sieht reinlich aus und die Betten sind gut und die Preise, nach denen ich mich erkundigte, sind mäßig.
Gestohlen wird auch nicht, gemordet noch weniger, und an Verbrennen ist kein Gedanke, lachte der Kleine.
Sein Freund schien zu erschrecken.
Male den Teufel nicht an die Wand, sagte er, ich kann dergleichen nicht hören.
Dieser Wirth sieht wie die Ehrlichkeit selbst aus.
Man kann keinem Menschen ins Herz blicken, versetzte der dicke Herr, und gerade diejenigen, die so aussehen, als könnten sie kein Wasser trüben, sind die allerschlimmsten.
Aber dann muß man Niemandem trauen.
Was das anbelangt, so traue ich auch Niemandem, das heißt, fügte er hinzu, wo ich nicht bestimmt weiß, daß ich ganz sicher bin, wie bei dir.
Um so größere Ehre für mich.
Du bist mein Freund, das weiß ich, und bist ein gescheuter Kerl, das weiß ich auch. Ich bin froh, daß ich dich mitgenommen habe, und wenn Alles gut geht, so –
So wirst du noch vielmehr mein Freund sein.
Darauf kannst du dich verlassen. Aber was fangen wir jetzt an?
Zunächst werden wir Erfahrungen sammeln, womit dieser ehrliche Wirth uns vor dem Verhungern retten kann.
Richtig, wir wollen essen.
Nach einigen Unterhandlungen und nachdem der dicke Herr nochmals alle Schlösser untersucht, auch seine Casette in den Schrank gesetzt und diesen doppelt verschlossen hatte, gingen sie beide in das Speisezimmer hinunter, wo der Wirth inzwischen längst angelangt war. –
Im vorderen Theil des großen Gastzimmers brannte eine Hängelampe mit breiten Schirm über einem runden Tische, auf welchem verschiedene Tagesblätter und mehrere Zeitungen lagen; im Hintergrunde stand eine gedeckte Tafel.
Es war im Augenblicke Niemand in dem großen Zimmer als ein Herr, der an dem Zeitungstische lesend saß, und der Wirth, der seinen Meerschaumkopf rauchte, auf- und abging und dabei plauderte und lachte.
Ich möchte blos wissen, was er in dem Kasten hat; sagte er. Es muß viel Geld darin sein.
Ist er denn schwer? fragte der Herr am Tische.
Wie Karl ihn nehmen wollte, hat er sich ganz leicht angefühlt.
Es mögen werthvolle Papiere darin sein.
Es ist überhaupt ein sonderbarer Herr, lachte der Wirth. Er sieht aus wie ein Riese, aber der Zwerg, den er bei sich hat, hat sicherlich zehnmal mehr Courage.
Einen Zwerg hat er bei sich?
Ein Zwerg ist es eigentlich nicht, ich meine nur so, sagte der Wirth, wenn ich sie beide vergleiche. Es ist ein hübsches schlankes Männchen; Hände hat er wie ein Mädchen so fein, weiß aber bei alledem –
Hier hielt er inne, denn eben traten die beiden Herren herein, über welche er sein Urtheil gefällt hatte, und der dienstfertige Wirth eilte sogleich zur Stelle, um nach ihrem Begehr zu forschen. Er pries ihnen Entenbraten und Rebhühner an und lächelte wohlgefällig als sein kleiner Günstling beides zu versuchen gelobte und in einem Athem hinterher Salat, Eier, Bier und Wein forderte. Der Riese dagegen begehrte zunächst nur eine Suppe, und der Wirth nickte beim Hinausgehen dem Herrn am Zeitungstische zu mit einer Miene, in welcher deutlich zu lesen war, was sie bedeuten sollte.
Der Herr hatte den Kopf aufgehoben, die beiden Fremden angesehen und seine Augen wieder auf das Zeitungsblatt gesenkt. Dann sah er noch einmal hin, und es schien ihm wahr, was der Wirth sagte, er mußte es zugeben. Der jüngste der Beiden gefiel auch ihm ungleich besser als der schwerfällig Gebaute mit dem gemeinen Gesicht, das nach ihm hinstarrte. Seine Stirne zog sich mit einer unangenehmen Empfindung davor zusammen, das Angaffen verdroß ihn. Er machte eine Bewegung auf seinem Stuhl nach der anderen Seite und sah sich nicht mehr um.
Die beiden Herren unterhielten sich inzwischen laut und ungezwungen. Der Kleine hatte sich an den Tisch gesetzt, ein Stück Brot abgeschnitten und machte lustige Bemerkungen über seinen Hunger und seine Eßlust; der Große ging auf und ab und mit knarrenden Stiefeln dicht bei dem Herrn am Tische vorbei, so daß auf dessen Zeitungsblatt mehrmals sein Schatten fiel, der ihn am Lesen hinderte. Der Herr sagte nichts dazu, aber man sah es ihm an, wie wenig es ihm gefiel. Es war ein kräftig gebauter Mann mit mächtigem Kopf über breiten Schultern; feste, markige Züge, bewegliche Augen und ein stark gebräuntes Gesicht kündigten kein besonders sanftes Gemüth an. Das grauende Haar stand kurz abgeschnitten auf seiner hohen Stirne.
Als er zum dritten Male am Lesen behindert wurde, verlor er die Geduld.
Das ist nicht auszuhalten! sagte er aufblickend.
Der Fremde blieb stehen.
Wie meinen Sie? fragte er mit seiner Fistelstimme.
Ich meine, Sie sind mir im Wege, antwortete der Herr, und sein Blick war derartig streng, daß der Fremde davor erschrak.
Er machte Platz, sagte aber, indem er fortging:
Dies ist eine Gaststube, wie ich denke; ich weiß nicht, ob's hier Vorrechte giebt.
Vorrechte giebt's nicht, erwiderte der Herr am Tische, doch wer mir im Wege steht, den schaffe ich fort – hiermit brach er ab und wandte den Kopf nach der Thür, die soeben geöffnet wurde.
Derselbe Mensch mit der Krücke, welcher die Bauern auf der anderen Seite vergnüglich unterhalten hatte, stampfte herein. Er hielt seine Mütze demüthig in einer Hand, mit der anderen trug er einen Kasten.
Sobald der Herr am Tische ihn erblickte, streckte er seinen Arm befehlend aus und lieferte für seinen eben ausgesprochenen Grundsatz sofort den Beweis. Hinaus! rief er rauh und laut dem Krüppel zu. Packe dich auf der Stelle!
Der Bursche schien überrascht, doch nicht so eingeschüchtert, um ohne Widerrede sich zu fügen. Es ging ihm beinahe wie dem Fremden, der von dem heftigen Herrn angefahren wurde. Seinem langen, hagern Gesicht fehlte es nicht an einem Ausdruck von Verstand und Schlauheit, und in seinen Augen blitzte etwas, das noch schlimmer aussah. Indem er an seinen Rückzug dachte, weil er sich nicht offen zu widersetzen wagte, lag in seinen Mienen doch jedenfalls die Lust dazu, und als seine trotzigen Blicke sich von dem Herrn abwandten, richteten sie sich Hülfe fordernd auf die beiden Reisenden.
Hätte ich das gewußt, sprach er dabei, wie zu sich selbst, so wäre ich sicherlich nicht herein gekommen, aber ich dachte, es könnte hier wohl Jemand sein, der einem verkrüppelten Menschen sein Stückchen Brot gönnte.
Diese Aufforderung ging nicht verloren. Die beiden Reisenden hatten Augen und Ohren ganz natürlich diesem Auftritte zugewandt, der ihren Antheil erregte, und sicher um sich an dem unhöflichen Herrn zu rächen, erhob der Große seine dünne Stimme.
Was habt Ihr da in dem Kasten? fragte er.
Zahme, abgerichtete Vögel, lieber Herr, antwortete der Lahme. Meisen und Hänflinge, lieber Herr, die sich ihr Futter heraufziehen; dabei habe ich auch weiße Mäuse, die auf den Hinterbeinen stehen und mit einem Stöckchen exerciren.
Also ein Künstler! – lachte der Kleine von der Tafel her. Die Kunst muß in Ehren gehalten werden, wenn sie nach Brot geht.
Komm her und zeige uns, was du hast, winkte ihm der Große. Wir wollen deine Künstler beschauen.
Der Lahme setzte seine Krücke in Bewegung, allein so wie er sich anschickte dem Rufe Folge zu leisten, war der Herr vom Tische auch bei der Hand.
Wenn du nicht sofort dich von hinnen packst, sagte er mit gewaltsamer Ruhe, so soll's dich reuen!
Ich thue nichts Unrechtes! erwiderte der Lahme. Die Herren rufen mich, es ist mein ehrlich Gewerbe.
Spitzbube! murmelte der Herr verständlich genug.
Wer mich zum Krüppel gemacht hat, der hat's zu verantworten, was ich bin! rief der Lahme.
Der gewaltige Kopf des Herrn wurde noch röther und schien im Zorn aufzuschwellen.
Wirst du gehen! fragte er, indem er die Zeitung fortwarf.
Der Künstler schwankte in seinen Entschlüssen und blieb stehen. Er war schlau genug, um abzuwarten, was diejenigen thun würden, welche die Sache ebenfalls anging, und darin täuschte er sich nicht.
Aber ich sehe doch wirklich nicht ein, fing der Große an, indem er sich an seinen Gefährten wandte, mit welchem Rechte uns hier befohlen wird, Vögel und Mäuse nicht ansehen zu dürfen?
Vielleicht ist es eine zärtliche Fürsorge des verehrten Herrn für unsere Gesundheit, weil wir sie in unserem Hunger verschlingen könnten, lachte der Kleine.
Lassen Sie sich von dem Kerl zeigen, was Sie Lust haben, sprach der Herr am Tische, aber nicht hier, hier soll er nicht sein.
Das ist ja sonderbar! schrie der mit der dünnen Stimme.
Es ist wahrscheinlich ein Verbot der gnädigen hohen Obrigkeit, spottete sein Begleiter.
Das mag sein, versetzte der Herr, indem er aufstand und seine hohe stattliche Gestalt aufrichtete. Die Obrigkeit duldet keine solchen Subjecte, und hierher gehören sie nicht.
Indem er dem Lahmen näher trat, warf er ein Geldstück in dessen Mütze. Diese Großmuth hatte jedoch nicht den Erfolg, welcher davon zu erwarten war. Mit einem raschen Griff packte der Krüppel das Geld und mit einem höhnischen: Verflucht! warf er es von sich, daß es weit durch das Zimmer rollte.
Bestie! schrie der Herr, voller Zorn nach dem schweren Stock fassend, welcher an seinem Stuhle lehnte. Doch ehe er die gewaltthätige Handlung, welche er beabsichtigte, ausführen konnte, trat ein Mann herein, der sie verhinderte.
Dieser schien sofort zu begreifen, was hier vorging, und indem er zwischen den Lahmen und den Angreifer trat, schützte er jenen zugleich und hinderte diesen, wenn es nöthig gewesen wäre. Sein Erscheinen und seine Einmischung hatte jedoch die Folge, daß der Herr selbst den Stock sinken ließ und sich ruhig verhielt.
Was hast du wieder gethan? fragte der Beschützer.
Ich habe nichts gethan.
Aber du hast vergessen, was du mir versprochen hast.
Ich will mich nicht wie ein Hund treten lassen! schrie der Vogelfänger mit einem wilden erbitterten Blick auf den Herrn am Tische.
Geh, erwiderte der Andere in mildem Tone, sei verständig und danke – er setzte ein paar geflüsterte Worte hinzu, nach welchen der Lahme sich umwandte, seinen Kasten ergriff und das Zimmer verließ.
Der Friedenstifter sah die beiden Fremden an und machte ein paar Schritte nach dem Tische zu. Er trug einen dunkeln Oberrock, in dem er lang und schmal aussah, und den Hut auf dem Kopfe, unter welchem ein Gesicht mit scharf geprägten Zügen hervorschaute. Die Nase herrschte darin vor; die Ruhe in seinen Augen und Mienen und der biegsame Klang seiner Stimme bildeten einen vollständigen Gegensatz zu der rauhen Heftigkeit, welche der Herr am Tische zur Schau trug.
Es ist spät geworden, sagte er, indem er zu diesem trat. Ich wurde verschiedentlich aufgehalten.
Wir können gehen, antwortete der Herr.
Sein Hut hing am Riegel, er mußte dicht an der Tafel vorbei, wo die beiden Fremden saßen. Als er sich ihnen gegenüber befand, wandte er seinen erhitzten Kopf ihnen zu und nach einem augenblicklichen Bedenken blieb er stehen und sagte höflich:
Ich bitte um Entschuldigung, meine Herren, wenn ich Sie belästigt habe.
Als er keine Antwort darauf erhielt, fügte er hinzu:
Ich habe einige Gründe, diesen Kerl nicht in meiner Nähe zu dulden.
Und Sie verstehen das, erwiderte der Dicke. Aber man muß nicht allzu unduldsam sein.
Jeder nach seiner Weise, antwortete der Herr, dem was er hörte nicht zu gefallen schien. Im Uebrigen kann mich Jeder finden, der mich sucht. Ich heiße Brand. Leben Sie wohl!
Seine herausfordernden Worte paßten zu der stolzen Haltung, in welcher er sich entfernte. Und ich heiße Wilkens! schrie der Herr mit der dünnen Stimme hinter ihm her.
Der Herr war schon an der Thür, aber er hielt inne und schien von dem Namen betroffen zu sein. Er sah den Fremden scharf und starr an. Einen Augenblick lang war es, als wollte er umkehren, aber er that es nicht, wandte sich ab und ging hinaus.
Was zum Henker! rief Herr Wilkens, als er mit seinem Freunde allein war, das war er also!
Ich hab's mir gedacht, nickte der Kleine am Tische, indem er sich ein neues Stück Brot absäbelte.
Das ist ein wirklicher Höllenbrand, wie mein Vater ihn nannte, sagte Herr Wilkens.
Wir wollen schon mit ihm fertig werden, versetzte der Kleine behaglich weiter schneidend. Wenn unser Rebhuhn mit unserem liebenswürdigen Wirthe nur erst kommen wollte.
Ich habe einen Widerwillen gegen ihn gefaßt, so wie ich ihn sah, murmelte Herr Wilkens; und obenein – er nahm das Licht vom Tische und leuchtete durch die Stube bis in eine Ecke, wo er sich bückte und das Geldstück aufnahm, das der Lahme fortgeworfen hatte – obenein ist er ein Verschwender. Ein Achtgroschenstück hat er dem Vagabond gegeben. Wahrhaftig, es ist ein Achtgroschenstück!
Wir wollen ihm manches andere dafür abnehmen, theurer Freund. Aber wenn wir nicht bald unsere bescheidene Nahrung erhalten, werden wir vorher verhungern.
Umstände werde ich nicht mit ihm machen, Rachau, sagte Wilkens, indem er das Geldstück in seine Westentasche steckte.
Es ist mir so vorgekommen, antwortete Rachau, als ob er auch kein Freund von Umständen wäre.
Aber ist es nicht sonderbar, wie er uns unerwartet in den Weg laufen muß!
Es ist höhere Fügung, mein lieber Freund Wilkens. Der Himmel ist sichtbar mit uns, er segnet deine gerechte Sache. Ich bin vollkommen überzeugt, daß dieser göttliche Segen dich begleiten wird.
Das blasse, schlaffe Gesicht des Herrn Wilkens hob sich höhnisch auf:
Hast du gesehen, wie er mich anglotzte, als er meinen Namen hörte? Es ist mir jetzt leid, daß ich ihn nicht verschwiegen habe, morgen wäre seine Ueberraschung um so größer gewesen. Er stützte den Arm auf den Tisch und fing an zu lachen.
Morgen wird er oder wir machen ihn höflich, sagte Rachau.
Und was war das für ein Mensch, der herein kam und ihn fortführte?
Das war der Lehrer, der Schulmeister, von dem der Postillon sprach, antwortete Rachau. Jeder Zoll ein Schulmeister! Vor dem haben wir uns in Acht zu nehmen.
Wie so?
Ich habe so eine Ahnung, als ob dieser Bursche Gras wachsen hört, Mücken seigt und Kameele verschluckt und als ob er – Hola! da kommt unser verehrter Wirth und bringt uns die Weisheit, welche wir nöthig haben.
Der Wirth trat mit Wein und Speisen herein und entfaltete seine Schätze vor den lüsternen Blicken der wartenden Gäste.
Am Morgen darauf ging Herr von Brand in seinem Zimmer auf und ab, die Pfeife wollte ihm sichtlich nicht schmecken. Sie war ihm mehrmals schon ausgegangen, und die große Kaffeetasse stand noch halb gefüllt auf dem Tische, was sonst selten der Fall war. Es lag ihm etwas im Kopfe, das er nicht los werden konnte, und Angenehmes konnte es nicht sein, denn sein Gesicht sah aus wie eine Wetterwolke.
Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und blickte nach der Stadt hinaus, auf die Landstraße. Er konnte nicht weit blicken, denn das Haus lag hinter einem Vorhof, und diesen umgab eine Mauer. Es schien jedoch, als ob er Jemand erwartete und als ob seine Unruhe sich vermehrte, je länger er nichts entdecken konnte. Endlich ging die Thür auf, und ein großes, schönes Mädchen trat herein, das ihm freundlich Hand und Kuß bot.
Guten Morgen, lieber Vater, sagte sie.
Guten Morgen, Luise, erwiderte er. Wo ist der Doctor?
Er sitzt mit Toni am Clavier. Soll ich ihn rufen?
Laß ihn sitzen, sagte Herr von Brand.
Er giebt sich viel Mühe mit ihr, fuhr die Tochter fort, sie macht aber auch gute Fortschritte.
Er giebt sich überhaupt viele Mühe, antwortete er übellaunig. Wie lange ist er jetzt hier?
Es wird fast ein Jahr sein. Aber, lieber Vater, du hast deinen Kaffee noch nicht ausgetrunken.
Er schmeckt mir nicht. Er taugt nichts.
Ich habe ihn doch selbst gemacht, sagte sie besorgt.
Wann denkt der Doctor uns zu verlassen? fragte Herr von Brand.
Will er uns denn verlassen?
Ich weiß nicht! rief er in rauher Weise, während er sehr grimmig aussah; aber warum bleibt er überhaupt bei uns?
Er stand vor Luisen stille, deren Gesicht sich röthete, und sah sie an.
Er ist deines Bruders Freund, fuhr er fort, der hat ihn zu uns gebracht, weil seine Gesundheit gelitten hatte. Jetzt hat er sich auscurirt, es fehlt ihm nichts mehr. Ein Mann von seinen Kenntnissen gehört an ein Gymnasium, oder an eine andere gelehrte Anstalt. Ein Mädchen von zwölf Jahren zu unterrichten und mit einem von zwanzig Jahren Musik zu machen, Bücher zu lesen und spazieren zu gehen, dazu ist er nicht bestimmt.
Würdest du ihn nicht auch sehr vermissen, wenn er uns verließe? fragte Luise.
O! allerdings, wir würden ihn Alle vermissen, ich auch, sagte Herr von Brand, sich bedenkend; aber es muß doch so sein.
Ich habe sehr viel gelernt in dieser Zeit.
Was hast du gelernt?
Die helle Röthe kehrte bei ihr zurück.
Französisch und Englisch, fügte sie hinzu.
Und andere Thorheiten! rief er rauh und laut.
Lieber Vater, sagte Luise mit Bescheidenheit, doch nicht ohne einen gewissen Nachdruck, Doctor Gottberg ist, so weit ich ihn kennen lernte, ein sehr achtungswerther Mann, der keinen Thorheiten anhängt. Wir haben ihn überall noch verständig und gut gefunden, und du selbst hast mir gestern erst gesagt, daß du dich freutest, ihn in unserem Hause zu haben. Wie kommt es denn nun –
Da ist er! rief Herr von Brand, indem er zum Fenster hinsah.
Der Doctor? fragte Luise; aber sie merkte sogleich, daß ihr Vater einen Anderen meinte.
Am Hofthor waren zwei Herren erschienen, die beiden Fremden aus dem Gasthause, welche, mit einander sprechend und das Haus betrachtend, sich näherten.
Luise wußte nichts von dem, was am Abend zuvor in dem Gastzimmer des rothen Bären vorgefallen war. Herr von Brand hatte Ursach genug gehabt, darüber zu schweigen, und eben so wenig hatte der Doctor Gottberg gesprochen; das Fräulein war somit nicht im Stande zu errathen, wer diese Beiden sein könnten und was sie wollten. Sie warf einen Blick auf sie und sagte dann:
Kennst du die Herren, lieber Vater?
Führe sie nur herein, erwiderte er in seiner Unruhe reizbar. Unbekannt sind sie mir nicht, ich habe ihren Besuch erwartet. Mehr davon nachher, mein Kind. Geh' ihnen entgegen, zeige ihnen, wo ich zu finden bin. Und halt, noch Eines! – Laß das rothe Zimmer aufschließen und die Betten in Ordnung bringen.
Das rothe Zimmer! Für die Gäste, lieber Vater?
Du verstehst mich doch! Ich spreche deutlich genug.
Luise hörte es wohl, verstand es aber doch nicht. Das rothe Zimmer war das beste unter allen; warum sollten diese Fremden so ausgezeichnet werden?
Sie erfüllte ihres Vaters Befehl und langte in der Hausflur an, eben als die Fremden hereintraten.
Wünschen Sie zu meinem Vater? erwiderte sie den Gruß.
Fräulein von Brand? antwortete der dicke Herr, indem er sie anstarrte und das aufgedunsene Gesicht zum Lächeln verzog.
Mein Vater befindet sich hier im Zimmer, fuhr Luise fort. Ich werde Sie zu ihm führen.
Sie ging in den Corridor hinein, die beiden Herren folgten nach.
Hübsch! sagte Herr Wilkens seinem Freunde in's Ohr. Sie gefällt mir.
Mir auch, antwortete dieser, aber wahrscheinlich geht's anderen Leuten ebenso.
Herr von Brand machte die Thür auf und kam seiner Tochter entgegen.
Herr Wilkens! rief er, ich konnte es denken. Treten Sie herein, seien Sie mir willkommen!
Herr von Brand, sagte Wilkens, indem er der Einladung folgte und vertraulich that, Sie haben gestern ein Wort gesprochen, das ich mir gemerkt habe. Es kann mich ein Jeder finden, der mich sucht, sagten Sie, so habe ich mir denn die Freiheit genommen, Sie zu suchen.
Sie heißen also Wilkens? fragte der Major.
Eduard Wilkens.
Und sind der Sohn des Herrn Emanuel Wilkens.
So steht es in meinem Taufschein, den ich mitgebracht habe.
Lassen Sie stecken, sagte der Major, ich sehe es an der Aehnlichkeit. Gestern konnte ich mich nicht sogleich darauf besinnen, wohin ich diese Aehnlichkeit bringen sollte. Nachdem ich Ihren Namen gehört, fiel es mir ein.
Oho, sagte Eduard Wilkens, seine harten grellen Augen auf ihn heftend, indem er lachte. Sie erinnerten sich an alte Geschichten.
Herr von Brands Gesicht wurde dunkler.
Dieser Herr, fragte er ohne darauf einzugeben, ist ein Verwandter?
Nein, mein lieber Herr von Brand, oder mein lieber Vetter, sollte ich eigentlich sagen, er ist nicht mit uns verwandt, dagegen mein bester Freund. Ich stelle Ihnen den Herrn von Rachau vor, Philipp von Rachau, mein sehr guter Freund, vor dem ich keine Geheimnisse habe.
Der Major verbeugte sich und deutete auf Sopha und Stühle.
Nehmen Sie Platz, meine Herren, es ist mir lieb, Sie bei mir zu sehen.
Es ist nicht wahr, flüsterte Wilkens, während der Major zur Klingelschnur ging und ein paarmal schellte. Es schadet aber nichts.
Nach einigen Augenblicken kam eine Dienerin, der Wein und Speisen zu bringen befohlen wurde. Der Major setzte sich zu seinen Gästen, und bald war eine Unterhaltung im Gange, die lebhafter wurde, als die vollen Gläser dazu kamen. Der Major war kein Mann von Umständen, in seinem Wesen sowohl, wie in seinen Fragen kannte er keine Umschweife, daher kam er denn auch bald dahin, wo er sein wollte.
Nach manchen allgemeinen Fragen, auf welche er vernommen, daß Herr Eduard Wilkens mehrere Jahre im Auslande gelebt, und nach einem Anhange dazu, aus welchem hervorging, daß er seinen Freund Rachau in Paris kennen gelernt und den Sommer über in seiner Gesellschaft in verschiedenen Bädern zugebracht, Homburg jedoch allen anderen vorziehe, weil's da am vergnüglichsten hergehe, erwiderte der Major, daß er dennoch wohl zu der Ansicht gekommen sein müsse, es lasse sich mit der Heimath nichts vergleichen.
Oho, erwiderte Wilkens, das bunte Leben schmeckt besser. Sie würden doch wohl lieber in Paris oder Baden-Baden leben, als hier in dem abgeschiedenen Winkel.
Ich möchte diesen Winkel niemals mehr verlassen, sagte der Major, obwohl ich weit genug in der Welt umher getrieben wurde. Jetzt gilt mir dies Fleckchen Erde mehr, als alle Herrlichkeiten der Welt.
Darin denken wir anders, lachte Eduard Wilkens. Ich wäre noch länger fort geblieben, aber ich mußte nach Haus. Sie haben noch nicht nach meinem Vater gefragt.
Der Major hatte dies allerdings nicht gethan, obwohl die höfliche Erkundigung nahe lag. Auch jetzt, wo er gradezu daran erinnert wurde, schien es ihm schwer zu werden, denn er antwortete nur mit einem stummen, kalten Kopfneigen.
Nun, mein Vater ist todt, sagte Willens. Weiter hätte ich nichts antworten können.
Todt! wiederholte der Major überrascht, doch ohne besondere Theilnahme.
Vor zwei Monaten schon. Es ging schnell mit ihm, ein Paar Tage nur war er krank. Ich bekam ein Telegramm in Homburg, mußte also über Hals und Kopf nach Haus.
Sie fanden ihn nicht mehr am Leben?
Nein, Alles versiegelt und verriegelt. Ich hatte Noth, in mein eigenes Haus zu kommen. Na, es machte sich Alles. Geschwister habe ich nicht, nahe Verwandte auch nicht, Streit um die Erbschaft konnte nicht vorkommen. Es ist mir gestern Abend eingefallen, und ich sagte es auch zu Rachau, als Sie uns verlassen hatten, daß Sie eigentlich mein nächster Verwandter sind.
Ich bin nicht so bewandert, sagte der Major, indeß würden in diesem Fall nicht ich, sondern meine Kinder Ihre Erben sein.
Oho! in welchem Fall? fragte Eduard Wilkens.
Ich meine im Fall Ihres Todes.
Meines Todes! – Das dicke, schlaffe Gesicht schüttelte sich widerwillig. Wie können Sie auf meinen – Er mochte das fatale Wort nicht aussprechen. Ich bin sehr gesund, mein lieber Cousin.
Den Major schien die Furchtsamkeit seines Verwandten zu belustigen.
Der Tod kommt zuweilen, ehe man es denkt, sagte er.
Wir wollen aber leben! fiel Wilkens ein. Stoßen Sie an, mein lieber Vetter. Allerdings, Ihre Kinder würden erben, das heißt, wenn ich jetzt so abgeholt würde. In zwischen hoffe ich, daß ich Zeit genug noch habe.
Das wollen wir wünschen und hoffen.
Und daß ich selbst noch für Erben sorge. Oho! – er sah den Major mit seinen grauwäßrigen Augen unverschämt an – ich denke das zu thun, wenn es mir gefällt.
Herr von Brandt erwiderte nichts darauf. Er trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch und rauchte stärker.
Mein lieber Vetter, ich denke, Sie verstehen, was ich sagen will, fuhr Eduard Wilkens fort.
Sind Sie zu mir gekommen, um mir das zu sagen? fragte der Major.
Zu Ihnen gekommen? Nein, im Grunde ja, erwiderte Wilkens. Ich bin gekommen – er fing an zu lachen – ich habe von dem Testament eigentlich nichts gewußt, aber wie ich mit Rachau meines Vaters Papiere durchsuchte, fanden wir die Abschrift, das heißt die gerichtlich beglaubigte Abschrift, an der nichts abzuleugnen ist.
Die Wetterwolke im Gesicht des Majors fing an zu blitzen.
Glauben Sie, daß ich etwas ableugnen werde?
Wilkens erschrak vor dem Ton und den Blicken.
Nun nein, versetzte er, aber wir brauchen uns nicht zu ereifern.
Herr von Rachau war bis jetzt ein schweigsamer Zuhörer gewesen, als er jedoch sah, daß des Majors Stirn sich noch mehr verfinsterte, mischte er sich ein.
Vergeben Sie mir, begann er, höflich und geschmeidig, wenn ich für meinen Freund das Wort nehme, der von den edelsten und besten Absichten geleitet wird, wie ich gewiß versichern darf. Der Gegenstand ist allerdings dem Anscheine nach peinlich, allein die Schuld liegt nicht an ihm, und was ich von der ganzen Angelegenheit weiß –
Erlauben Sie mir, unterbrach ihn Herr von Brand, daß ich Ihnen Beiden aufrichtig und einfach mittheile, wie es sich verhält, indem ich Ihnen zugleich meine Ehre verpfände, daß kein falsches Wort darin ist. Ich bin hier in der Nähe geboren und kam nach den Kriegen, in denen ich gefochten, hierher zurück. Machte die Bekanntschaft einer Dame und heirathete sie.
Das war meine Cousine, Johanna Werder, die meiner Tante Rothenbaum Gesellschafterin und Pflegerin war, der dies Gut gehörte und die überhaupt ein ansehnliches Vermögen besaß, fiel Wilkens ein.
Wenn Sie erzählen wollen, so kann ich schweigen, sagte der Major unmuthig.
Du würdest wohl thun, Herrn von Brand ruhig anzuhören, fügte Rachau hinzu.
So zurecht gewiesen, lehnte sich Wilkens in die Polster, kreuzte seine Arme und ließ den Major fortfahren.
Die Tante meiner Frau war eine sehr eigenwillige, alte Dame, mit der schwer auszukommen war, und ich kann versichern, daß ich bis an ihr Ende nichts vom genauen Inhalt ihres Testamentes wußte. Sie hatte dies mehrmals umgestoßen und erneut und es noch kurz vor ihrem Tode verändert. Hätte ich gewußt, was sie gethan, so würde ich Alles angewandt haben, um sie davon abzubringen.
Wilkens machte ein höhnisches Gesicht, sagte jedoch nichts.
Die Tante besaß einen näheren Erben als meine Frau, fuhr Herr von Brand fort, einen Bruder –
Meinen Vater, murmelte Wilkens.
Mit dem sie jedoch seit langer Zeit sich entzweit und verfeindet. Der reiche Mann hatte in Breslau ein großes Geschäft; sie hatten sich längst nicht mehr gesehen, alle Verbindungen abgebrochen. Die Tante behauptete, von ihm bei Vermögenssachen schon übervortheilt zu sein.
Das ist nicht wahr, rief Wilkens mit seiner hohen Stimme.
Ich weiß es nicht, doch jedenfalls war dies die Ursache ihrer Feindschaft: Stellen Sie sich nun mein Erstaunen vor, als bei der Testamentseröffnung sich fand, daß meiner Frau und meinen Kindern zwar das gesammte Vermögen zufallen sollte, dabei jedoch die Bedingung angehängt war, daß meine Tochter Luise den Sohn des Herrn Emanuel Wilkens in Breslau, Eduard Wilkens, heirathen sollte, im Fall sich dieser vor ihrem zurückgelegten zwanzigsten Jahre als Freier meldete und ihre Hand begehrte. Bei Verweigerung von ihrer oder meiner Seite aber sollte ihm aus der Erbschaftsmasse ein Capital von zwanzig tausend Thalern ausgezahlt werden.
Ihre Mittheilung stimmt vollkommen zu dem Inhalt der beglaubigten Testamentsabschrift, erwiderte Rachau. Ein Punkt nur bleibt ungewiß, nämlich der, ob in Folge dieses sonderbaren Testaments die ausgeworfene Entschädigungssumme gerichtlich sicher gestellt wurde.
Dies ist nicht der Fall gewesen, sagte der Major. Was bedeutet Ihre Frage darnach?
Sie müssen nicht böse darüber werden, versetzte Herr von Rachau in seiner einschmeichelnden Weise. Es ist eine durchaus folgerechte Frage, über welche in dem Document nichts enthalten ist.
Der heftige alte Soldat antwortete darauf ruhiger:
Es wurde nicht nöthig, eine Frage daraus zu machen; denn als Herr Emanuel Wilkens aus Breslau damals hier anlangte, war er über diese Testamentsclausel so aufgebracht und sein Benehmen so übermäßig heftig, daß wir arg zusammenkamen.
Das war sehr unweise von ihm, lächelte Herr von Rachau.
Er beleidigte uns in empörender Art, fuhr Herr von Brand fort, an der Erinnerung noch sich erhitzend. Er schmähte die Tante, schmähte meine Frau, verleumdete uns als Erbschleicher und verschwor sich, daß sein Sohn von diesem verfluchten Testament niemals Gebrauch machen, lieber – Er hielt inne und sagte gelassen: So reiste er denn wieder fort und ich habe wenig mehr von ihm gehört. Alles gerieth in Vergessenheit.
Es entstand eine Pause. Herr von Rachau schlürfte den Wein aus seinem Glase und sagte dann verbindlich und freundlich wie immer:
Wie alt ist jetzt Ihr Fräulein Tochter?
Noch fehlen ihr einige Monate an zwanzig Jahren.
Es ist somit eine eigenthümliche Bestimmung, könnte man es nennen, mein gnädiger Herr, daß Eduard Wilkens durch seines Vaters Tod eben jetzt zurückgerufen werden muß, und daß wir unter den Papieren des Verewigten die Abschrift des Testamentes finden mußten, von dem er nichts wußte; denn der alte Herr scheint in der That gut darüber geschwiegen zu haben.
Seltsam allerdings, murmelte der Major vor sich hin.
Ich glaube an Bestimmungen, fuhr Herr von Rachau fort, und hier finde ich ganz besonders ein Schicksalswalten darin, da es mir scheint, als sei eine gütige versöhnende, das Rechte fördernde Macht thätig. Ich glaube auch, daß eben dadurch mein Freund Wilkens so lebhaft angetrieben wurde, Ihnen seinen Besuch zu machen.
Und was ist dabei Ihre Absicht, Herr Wilkens? fragte der Major mit soldatischer Freimüthigkeit.
Meine Absicht, mein lieber Cousin? antwortete der Angeredete, seine Hand ausstreckend. Bei Gott! ich habe die besten Absichten. Sie können es denken.
Der Major nahm die Hand, welche ihm geboten wurde, und in der Erregung des Augenblicks vergaß er alles Vergangene.
Sie wollen also meine Tochter kennen lernen? fragte er.
Das ist mein Wunsch.
Und wollen, wenn es sein kann, das Testament wahr machen?
Das will ich, wenn ich nicht abgewiesen werde.
Gut, sagte Herr von Brand, versuchen Sie, was sich thun läßt. Ich habe mir schon während der Nacht und heute, ehe Sie kamen, allerlei Vorstellungen gemacht. Luise aber weiß so wenig von dem, was Ihre Tante für sie ausheckte, wie Sie etwas davon gewußt haben; es würde ihr bange davor geworden sein. Schweigen wir somit Alle darüber; allein sie soll Sie als Freund und Verwandten empfangen, und alles Weitere mag der Himmel fügen.
So hoffe ich, daß wir bald recht gute Freunde werden, fiel Eduard Wilkens ein. Es war doch meine liebenswürdige Cousine, die uns an der Thür empfing? Sie sieht allerliebst aus.
Lernen Sie Luise kennen, Cousin, antwortete der Major mit väterlichem Behagen, so wird sie Ihnen noch besser gefallen. Zunächst jedoch müssen wir Sie einquartieren. Sie wohnen natürlich bei mir, wir haben Raum im Ueberfluß. Also keine Umstände, Ihr Herren, und jetzt noch ein Glas auf gute Hausgenossenschaft und gute Freundschaft, dann wollen wir uns nach meinem Mädchen umschauen.
Im Laufe des Tages war Alles in das rechte Gleis gebracht und das Wohlgefallen des Majors an dem Verlauf des Ereignisses durchaus nicht erheuchelt. Er machte als verständiger Mann seine Berechnungen und unterdrückte dabei, was ihm nicht recht gefallen wollte. Im Geheimen hatte er oft genug an die fatale Bestimmung der alten Tante und an die Wilkens in Breslau gedacht, zuletzt jedoch hatte er Beides so ziemlich vergessen und nicht geglaubt, daß jemals Ansprüche erhoben werden könnten. Von dem Vetter, der seines Erachtens mit allem Recht um die Erbschaft kam, hatte er mit Sicherheit angenommen, daß dieser seinen Sohn niemals schicken würde, um sich seiner Tochter anzutragen, denn nicht allein daß er reich und hochmüthig genug war, um eine bessere Partie für seinen Erben zu verlangen, so war auch die Trennung derartig erfolgt, daß keiner sich nach Annäherung sehnen konnte.
Nun geschah es dennoch, allein die Umstände hatten sich wesentlich verändert, und wenn Eduard Wilkens wirklich Luisen heirathete, so sah der Major nichts darin, was ihm besonders unangenehm gewesen wäre. Eduard Wilkens war ein reicher Müßiggänger und hatte als solcher ein Leben geführt, wie es sich dazu passte. Er sprach viel davon, daß sein Vater sich manche vergebene Mühe gemacht, ihn für den Handel zu erziehen, daß es jedoch viel angenehmer und lohnender sei, wenn man unabhängig bleibe, sich selbst lebe und mit Kunst und Wissenschaften sich beschäftige. Er rühmte seine Sammlungen und erzählte ganz unterhaltend manche Geschichten, wie es ihm gelungen sei, werthvolle Sachen nicht selten bei Trödlern und Altkäufern unter altem Gerümpel zu entdecken und um einen Spottpreis an sich zu bringen. Fein und gewandt zeigte er sich nicht; sein Benehmen, seine Sitten und seine Sprache hatten von Anfang an etwas Gemeines und Anmaßendes.
Was aber der Wirth im rothen Bären von den Seltsamkeiten seines Gastes erzählte, wiederholte sich unter des Majors Augen, als ein Wagen in die Stadt geschickt wurde, um die Habe der Reisenden abzuholen. Wilkens fuhr mit und trug auch diesmal den bewußten Kasten eigenhändig ins Haus. Dies war nun freilich kein Gebäude von Holz, sondern von altem festen Gemäuer. Eine Steintreppe ging von unten auf bis ins Giebelgeschoß, worüber Wilkens sich besonders zu freuen schien, aber mit dem Zimmer gab es dieselbe Noth wie im Bären. Das rothe Staatszimmer hatte zwei Thüren, wogegen der Gast entschiedene Einwände erhob, die so unbesiegbar blieben, daß er lieber auch hier mit einem weit schlechteren Zimmer an der Hinterseite sich begnügte. Dies hatte jedoch überall feste Wände und eine starke Doppelthür mit großen Riegeln, welche Wilkens wohlgefällig prüfte.
Nun, lachte der Major, hier werden Sie gewiß sicher schlafen, obwohl das Zimmer eigentlich im Verruf ist.
Wie so im Verruf? fragte Wilkens.
Es war seiner Zeit das Vorrathszimmer der Tante, ihr Lieblingsaufenthalt, und noch will man zuweilen darin ihr Rumoren und ihre klappernden Pantoffeln hören.
Wenn's weiter nichts ist, erwiderte Wilkens unerschrocken, davor habe ich keine Furcht. An Gespenster glaubt kein vernünftiger Mensch mehr, aber Diebe, Mörder, Gesindel, Einbrecher sind um so störender. Das Haus liegt einsam genug, um solche Gesellen anzulocken.
Der alte Soldat zog ein bedenkliches Gesicht, unter welchem er seinen Spott verbarg.
Eine Kehle ist freilich bald abgeschnitten, sagte er, und solche verwegene Bursche machen gewöhnlich keine Umstände.
Kommt das zuweilen hier vor? fragte Wilkens erschrocken.
Dergleichen kommt überall vor.
Aber was thut man dagegen?
Dagegen läßt sich nichts thun, sagte Herr von Brand, als denjenigen, die uns ans Leben wollen, selbst an die Kehle zu springen. Dem Burschen, den Sie gestern Abend sahen, ist es auch so gegangen. Ich bin Ihnen darüber noch eine Aufklärung schuldig.
Ich habe schon Allerlei gehört, fiel Wilkens ein. Er ist ein Wilddieb.
Ich schoß ihn nieder, ehe er mich niederschießen konnte.
Aber er leugnet, daß er solche Absichten gehabt hat.
Mein lieber Vetter, versetzte der Major, in solcher Lage muß man entschlossen sein. Wenn Jemand mir gegenüber steht, der die Mittel besitzt, mich zu vernichten, so warte ich nicht ab, bis er es thut, sondern ich vernichte ihn, so lange Zeit dazu ist. Das habe ich gethan und würde es immer wieder thun, mag's Recht genannt werden oder Unrecht. Wo es auf Selbsterhaltung ankommt, haben alle Zweifel ein Ende.
Als Herr von Brand dies sagte, war der Hauslehrer mit den beiden Töchtern des Gutsherrn eben hereingetreten, und es schien beinahe, als richtete er diese Vertheidigung gegen den Doctor oder gegen sein eigenes Fleisch und Blut.
Der Doctor Gottberg wurde den Gästen vorgestellt. Eduard Wilkens aber beschäftigte sich weit weniger mit ihm als mit seinen artigen Cousinen, die ihm besser zu behagen schienen. Die zwölfjährige Toni schüttelte jedoch bald ihren blonden Kopf, sah den fremden Vetter lustig von der Seite an und lief zu ihrem Vater, dem sie allerlei Geheimnisse ins Ohr flüsterte, was ihr mit unwilligen Mienen vergolten wurde.
Herr von Rachau unterhielt sich mit dem Doctor und fand, daß derselbe ein sehr bescheidener junger Mann sei. In seiner gewinnenden Weise verstand er dem Gespräch die verschiedensten Seiten abzugewinnen und brachte heraus, daß Doctor Gottberg sich mit Naturwissenschaften beschäftigte, daß er einige Zeit auch darin in einer großen Schule in der Hauptstadt unterrichtete, daß er aufhören mußte, um sich von geistigen Anstrengungen zu erholen, daß er aber auch hier seine Studien fortsetze und in den Wäldern und Waldhügeln der Umgegend manche Ausbeute für seine Herbarien gefunden habe.
Diese Mittheilungen gaben Gelegenheit, über Natur und Reisen weiter zu plaudern, und Herr von Rachau offenbarte ein schönes Talent für Naturschilderungen und Scenerien, die er in den Alpen und Pyrenäen gesehen. Sogar in Algier war er gewesen, und was er von den Zuständen der großen französischen Colonie, dem Völkertreiben darin und den Kriegszügen der Franzosen erzählte, brachte die Erinnerungen und Gefühle des greisen Kriegsmannes hinreichend in Fluß, um lebhaft von den Zeiten zu sprechen, wo er den französischen Fahnen bis in die Sierra Nevada gefolgt war.
So führten sich die Gäste mit Beifall ein und das ländliche Einerlei ward durch ihre Gegenwart angenehm unterbrochen. Auch Eduard Wilkens zeigte sich in seiner Art beflissen, eine günstige Meinung für sich zu erwecken, obwohl er dies am wenigsten vermochte. Er war jedoch eitel genug, einem so artigen Mädchen, wie Luise von Brand, gefallen zu wollen; dennoch reichte seine Höflichkeit nicht so weit, um ihn liebenswürdiger zu machen. Die vertrauliche Weise, in welcher er sich der schönen Cousine näherte, schien Rücksichten für überflüssig zu halten, als sei es nicht nöthig, feinere Formen gegen ein Landmädchen zu beobachten, dessen Schicksal jedenfalls in seiner Gewalt war.
Luise von Brand trug vielleicht auch dazu bei, seine zudringliche Sicherheit zu vermehren, denn sie bildete mit ihrer ruhigen, fast demüthigen Einfachheit den stärksten Gegensatz zu dem anmaßlichen Vetter. Die sanften Züge ihres Gesichts paßten zu Allem, was sie that und sprach. Ihre Stimme war sehr weich und wohllautend, und diese Biegsamkeit drückte sich ihrer ganzen Erscheinung aus. Von kräftiger, doch feiner Gliederung, die sich anmuthig darstellte, war ihr Gesicht nicht eben auffallend schön, doch alle Einzelheiten desselben in Harmonie, und ihre sanften blauen Augen breiteten ein Sonnenlicht darüber aus. Der vorstechende Ausdruck in diesem anziehenden Gesicht schien Ruhe zu sein und ein Anflug jener süßen Melancholie, die auf ein reges Gemüthsleben schließen läßt. Besonnener und milder Ernst streute einen Schatten in ihr Lächeln und diese Milde lag auch in ihren Blicken, deren Freundlichkeit nicht furchtsam, aber bedächtig war.
Beim Mittagsmahl erhielt Eduard Wilkens seinen Platz neben ihr. Die kleine lachlustige Schwester wurde zwischen den Herrn von Rachau und den Doctor gesetzt und sie entwickelte dort ihre gesellige Geschwätzigkeit mit vielem Eifer. Es war ein vergnügliches Mahl, das für alle Theile Genugthuung brachte, denn die ländliche Küche sagte Wilkens im hohen Grade zu, und wohlgefällig hörte er den Major Luisens häusliche Tugenden preisen und wie sie nach dem Tode ihrer Mutter, obwohl noch sehr jung, doch gleich an die Spitze des Hauswesens getreten sei, das nun seit Jahren von ihr geleitet werde.
Das lobe ich mir! rief er, solche Künste zieren eine junge Dame mehr als aller gleißnerische Firlefanz, mit dem die meisten sich behängen. Praktisch muß jeder Mensch sein, die praktischen Frauen sind die allerbesten.
Der Major stimmte dieser Erklärung gern bei und führte das Loblied auf die praktischen Frauen weiter aus, indem er sich an seine verewigte Lebensgefährtin erinnerte, die ein Musterbild der wahren Frau, wie sie sein soll, gewesen war.
Fräulein Luise ist das Ebenbild dieser verehrungswerthen Mutter! rief Eduard Wilkens. Darauf müssen wir anstoßen.
Ich habe keine Ansprüche auf Vollkommenheit zu machen, sagte Luise, indem sie seiner Aufforderung folgte.
Ich bin ein Kenner, Cousinchen, ich kenne die Welt, lachte er ihr zu. Da ich aber auch nicht vollkommen, so passen wir prächtig zusammen.
Toni schlug an der anderen Seite des Tisches ein mächtiges Gelächter auf, Wilkens wandte sich zu dem kleinen Naseweis und er sah auch den Hauslehrer lächeln.
Der hagere, ernsthafte Mensch hatte ihm schon gestern mißfallen, und was Rachau über ihn geäußert, blieb in seinem Gedächtniß.
Du glaubst es wohl nicht? fragte er.
Nein ich glaube es nicht! rief sie entgegen.
Warum denn nicht?
Weil ich's nicht glaube, antwortete Toni, ihn auslachend.
Ei der Tausend, du hast mich wohl gar nicht lieb?
Die Frage machte das aufrichtige Kind nicht verlegen. Mit unschuldiger Fröhlichkeit schüttelte sie ihren blonden Kopf und schlug dabei auf des Doctors Hand, welche sie festhielt.
Den habe ich lieb und den haben wir Alle lieb, sagte sie, denn der ist gut und weiß mehr, als wir Alle wissen.
Das Lachen war allgemein und Eduard Wilkens ließ es nicht daran fehlen. Seine grellen Augen bekamen aber einen boshaften Schimmer, und seine Stimme wurde noch höher und unangenehmer.
Was die Weisheit nicht Alles thut! lachte er, aber du sollst sehen, kleine Toni, daß ich auch sehr weise sein kann, wenn ich gleich kein Doctor bin und gar nichts weiß.
Er sah dabei den Doctor mit spöttischen Blicken an, allein dieser hatte kein Gefühl dafür. Bescheiden antwortete er nur, indem er zu dem Kinde sprach:
Du wirst auch einmal eine praktische Frau werden wollen, liebe Toni, und dazu schadet es nicht, wenn man so viel als möglich lernt.
So viel, wie Luise! fiel das kleine Mädchen ein. Du sollst uns noch recht viel lehren, lieber Doctor Gottberg.
Die naiven Aeußerungen hielten die Munterkeit der Tischgesellschaft im Gange und gaben Anlaß zu anderen Fragen und Antworten, aus denen hervorging, daß Luise nicht allein bei allen ihren praktischen Tugenden Bücher las und fremde Sprachen trieb, sondern daß sie auch eine gute Clavierspielerin sei, wie denn auch der Herr Doctor sich solcher Künste befleißigte.
Die passen zusammen! rief Toni gravitätisch nickend.
Der Major zog seinem verwöhnten Liebling ein finsteres Gesicht und die Aeußerung wurde halb überhört, denn Eduard Wilkens schrie damit zugleich:
Das ist ja herrlich, lauter neue Entdeckungen, schönste Cousine, Luise. Ich liebe die Musik leidenschaftlich.
Und sind selbst wohl gar Musiker? fragte sie.
Ein schlechter Musikant! antwortete er. Nichts als Eduard Wilkens schlechtweg, aber ich lasse mir gerne etwas vorspielen und höre es an, wenn es mir gefällt. Sie sollen sehen, daß ich dankbar bin, wenn es mir gefällt.
Er küßte ihr die Hand und betrachtete sie mit so stieren, sonderbaren Blicken, daß eine glühende Hitze über Luisen hinflog. Eine Ahnung überkam sie, der ein Grauen jählings nachfolgte.
Das ist mir lieb, sagte der Major, daß Sie die Musik lieben, Vetter Wilkens. Wir haben nicht viel Abwechselung in unseren Vergnügungen, Sie werden es bald inne werden.
Es kann wohl sein! lachte Wilkens.
Ihr Herren aus den großen Städten seid an andere Dinge gewöhnt, fuhr der Herr von Brand fort. Da giebt's Theater, Bälle, geistreiche Gesellschaften, wie man es nennt, in Hülle und Fülle. Wir haben nichts, was außer uns liegt, als den rothen Bären und das Montagskränzchen beim Apotheker.
Aber den Garten und den Wald draußen, Papa, wo die schönsten Erdbeeren wachsen, Brombeeren und Heidelbeeren, und wo so viele Vögel wohnen! schrie Toni.
Und Hasen und Rehe, fiel Wilkens ein.
Und Blumen, fuhr Toni fort.
Die der Doctor in seine Botanisirtrommel steckt, neckte Rachau.
Und wo der nichtswürdige Mathis mit seiner Flinte umherschleicht, sagte Wilkens.
O, der arme Mathis, der schleicht nicht mehr umher, seufzte das Kind.
Luise unterbrach sie sogleich.
Gewiß, sagte sie, mein Vater hat Recht, wir werden Mühe haben, auch nur auf wenige Tage die Langeweile von Ihnen entfernt zu halten. Sie werden sich bald genug wieder fortsehnen.
Wer weiß, Cousine Luise, erwiderte er. Zunächst gefällt es mir sehr schön bei Ihnen, und es kann ja sein, daß es mir immer so gefällt.
Ich will es wünschen, sagte sie mit leisem Erröthen.
Der gute Wein des Majors wirkte auf Wilkens heitere Stimmung und entschuldigte seine vermehrte Zwanglosigkeit bei dem Hausherrn besser als bei dessen Töchtern. Inzwischen ging Alles doch gut ab, vornehmlich weil Herr von Rachau seinen vermittelnden Einfluß geltend machte und die übermüthige Laune seines Freundes zügelte. Die Spöttereien desselben wiederholten sich gegen den Doctor mehr als einmal, ohne daß dessen Gelassenheit darunter gelitten hätte. Nur wenn Wilkens Späße mit seiner Cousine gar zu plump ausfielen und es den Anschein hatte, als sei er hier in seinem Eigenthum und Fräulein Luise gehöre dazu, sah ihn der Doctor nachdenklich, beobachtend an oder er entfernte sich.
Der Kaffee wurde in einer schönen Gartenlaube getrunken, und als die Tageshitze vorüber war, ein Spaziergang in den Wald vorgeschlagen, wo es einige artige Stellen und Fernsichten auf das Flußthal geben sollte, die man den Gästen zu zeigen dachte. Eduard Wilkens bot Fräulein Luisen seinen Arm und überließ Rachau den Doctor und die kleine Toni, welche sich an dessen Arm hing, während der Major den Weg voran durch das Gehölz zeigte.
Bald waren beide Theile der Gesellschaft im Raume weiter getrennt, denn Toni lief nach Blumen und Gräsern und brachte diese dem Doctor. Manche wußte sie zu nennen, selbst bei ihren gelehrten Namen, denn Gottberg hatte sie auch darin mit Erfolg belehrt, andere jedoch zeigten sich mehr oder minder unbekannt ober vergessen und der Lehrer besaß eine angenehme Gabe, hübsche Erzählungen von ihrer Lebensweise und ihrer Anwendung zu liefern. Herr von Rachau wußte scherzhafte Bemerkungen daran zu knüpfen, nebenher auch ernstere Betrachtungen zu machen, indem er Pflanzen und Gewächse damit verglich, welche er in fremden Ländern gesehen, wodurch er den Doctor anregte, sich auch darüber hören zu lassen.
Zuweilen ging er dann auch selbst von dem Pfade ab und half Toni suchen und lachen, und bei solchen Gelegenheiten blieb Gottberg gewöhnlich stehen, blickte durch die Bäume hin, wo kaum noch ein Schimmer von Luisens hellem Kleide zu sehen war, und überließ sich seinen Gedanken.
Als der Doctor eben in dieser Weise seine Begleiter erwartete, kam Toni allein gelaufen.
Wo ist Herr von Rachau? fragte er ihr entgegen.
Das ist ein Wagehals, antwortete sie lustig.
Was hat er gewagt?
Wenn ich solche Beine hätte, wie er, lachte Toni, so wagte ich nicht darauf spazieren zu gehen, damit ist er jedoch über den Graben gesprungen.
Es lief ein sumpfiger Abzugsgraben durch das Gehölz, der ziemlich breit und tief war. Gottberg war erstaunt. Hast du es gesehen? fragt er.
Sie bestätigte es. Er sprang hinüber, als hätte er sich meinen Gummiball unter die kleinen Füße gebunden.
Das erfordert mehr Kraft und Gelenkigkeit, als ich ihm zugetraut hätte, sagte Gottberg. Aber warum sprang er denn?
Weil drüben der Mathis unter einem Baume sitzt.
Der sitzt dort!
Er hat sich Weidenruthen geschnitten.
Das soll er nicht. Wenn dein Vater ihn findet, duldet er es nicht.
Ach laß ihn doch die paar armseligen Weidenruthen nehmen und Körbe flechten, sagte Toni, Herr von Rachau meint es auch gut mit ihm. Als wir ihn sahen, rief er gleich: das ist ein Künstler, dem bin ich Geld schuldig, und damit machte er seinen Hopps. Woher kennt er ihn?
Er hat ihn gestern wohl schon gesehen.
Das mag ich gerne leiden, daß er dem armen Mathis Gutes thut, sagte Toni. Ueberhaupt gefällt er mir weit besser, wie der Herr Vetter, der wie ein Canarienvogel pfeift und wie unser Truthahn sich aufbläst.
Das darfst du nicht sagen und darfst nicht über ihn lachen, warnte der Doctor.
Ich muß lachen, betheuerte Toni, und wenn er Schwester Luisen was Schönes sagen will, möchte ich laut aufschreien. Weißt du, was ich glaube?
Der Doctor antwortete nicht, er ging weiter, doch Toni umklammerte seinen Arm und flüsterte zu ihm auf:
Heirathen will er sie, du kannst es mir glauben. Aber ich möchte ihn nicht, und Luise thut es auch nicht.
Der Doctor machte längere Schritte über die Brücke fort, welche den Graben kreuzte, dabei that er, als hörte er gar nicht auf das Geplauder.
Wir müssen uns nach dem Herrn umsehen, sagte er.
Da kommt er schon! rief Toni, und siehst du wohl hier dieses Geblätter – der Mathis hinkt mit seinen Weidenruthen fort, er wäre auch närrisch, wenn er warten wollte, bis du kommst und mit ihm zankst. Sicher hat er ein Stück Geld in der Tasche. Höre einmal, wie lustig er pfeift und alle Vogelstimmen nachahmt.
Gottberg erwartete den Herrn von Rachau, dem das kleine Mädchen entgegenlief und ihn ausschalt, weil er hätte in den Graben fallen können; während er sich aber vertheidigte und um die Wette sprang und lief und sich zum großen Jubel des Kindes von ihm besiegen ließ, hatte der Major mit seinen Begleitern längst den Platz erreicht, wo sie gemeinsam ausruhen wollten.
Es war im Grunde nicht allzuviel dort zu sehen. Eine Waldmatte bildete einen grünen Raum, an dessen Rande ein Hügel aufstieg, von dem aus man über Thal und Stadt blicken konnte. Auf dem Hügel stand eine Bank und ein Holztisch, das heißt, es lagen ein paar Bretter auf vier Pfählen; das war die gesammte Cultur, welche diesen einsamen Hügel beleckt hatte.
Eduard Wilkens setzte sich gleich nieder und wischte seine Stirn ab. Er schien ermüdet und erhitzt vom Gehen und vom Sprechen, denn er hatte viel das Wort geführt, indem er seinen Verwandten allerlei über seine Verhältnisse mitgetheilt; und was er sagte, trug zwar ebenfalls den Stempel anmaßlicher Selbstgefälligkeit, aber es klang angenehm genug und blieb nicht ohne Eindruck, wenigstens auf die geheime Ueberlegung des Herrn von Brand. Der Major war bei aller soldatischen Einfachheit, doch nicht unempfindlich gegen die Macht des Geldes. Der reiche Schwiegersohn hielt die Wage im Gleichgewicht gegen die Abneigung, welche ihm andere Eigenschaften desselben einflößten. So hörte er nicht ohne Wohlgefallen, was Eduard Wilkens über das prächtige Landhaus berichtete, das er von seinem Vater geerbt hatte, und verfolgte behaglich die Schilderungen, welche seiner Eitelkeit schmeichelten.
Es giebt ein Paar Aussichten in meinem Park, mein liebes Luischen, sagte Wilkens, die besser sind als diese hier. Sie sind noch niemals bei uns gewesen?
Meine größte Reise hat nicht mehr als vier Meilen betragen, antwortete sie.
Er spottete darüber.
Sie müssen künftig mehr reisen, rief er zuversichtlich. Ich hoffe es, Sie sollen bald und viel reisen; es wird Ihnen gefallen.
Wird man besser und glücklicher dadurch? fragte sie lächelnd.
Was heißt besser! lachte er laut auf. Klüger wird man, und das ist die Hauptsache.
Herr von Rachau scheint auch viel gereist zu sein, fiel der Major ein.
Der, sagte Wilkens, ja, der hat das Leben kennen gelernt. Wo steckt er denn mit dem Herrn Doctor?
Sie sind zurück geblieben, sagte Luise, aber sie können nicht weit sein.
Hat Herr von Rachau ein Amt? fragte der Major.
Weder Amt noch Charakter, lachte Wilkens. Keines von beiden, mein lieber Cousin, er lebt seinem Vergnügen und seinen Neigungen. Er hat nichts zu verlieren, also hat er mich begleitet.
Er gefällt mir sehr gut, sagte der Major.
Wie gefällt er Ihnen, liebe Cousine?
Ich finde ihn recht unterhaltend, erwiderte Luise.
Oho! finden Sie? Er versteht's, aber es fehlt ihm doch Eines, was alle Mädchen gern mögen; Geld! Geld! Ohne Geld hilft alle Tugend nichts.
Er lachte auf und faßte ihre Hand. Die seine war kalt und feucht, und sein dickes Gesicht näherte sich ihr so zudringlich, der Ausdruck darin war so frech, daß Luise sich rasch zurückzog und aufstand, denn ein unaussprechlich widerwilliges Gefühl durchschauerte sie.
Der Major war schon vorher aufgestanden, um nach dem fehlenden Theil der Gesellschaft auszuschauen, Luise folgte ihm nach, als wollte sie sich unter seinen Schutz in Sicherheit bringen, auf Wilkens aber schien ihre Flucht nur belustigend zu wirken. Mit boshaftem Ausdruck hefteten sich seine Blicke an ihre schlanken und üppigen Formen und er rieb seine Finger ganz vergnügt ineinander, während Herr von Brand sein lautes Halloh! durch den Wald erschallen ließ.
Die Antwort kam aus der Nähe. Nach wenigen Minuten waren die Verlorenen zur Stelle, aber sie kamen nicht allein, sondern brachten den Gärtner des Majors mit, der ein Unglück zu melden hatte, das Toni ihrem Vater auch schon von Weitem ankündigte.
O Papa, Papa! schrie sie. Das arme Thier! der arme Hans.
Was ist denn geschehen? fragte Herr von Brand.
Dies bedurfte es nur, um zu vernehmen, daß ein Pferd, das vor einen Wagen gespannt war, um Holz herbeizuschaffen, beim Einbiegen in den Hof gefallen sei und wahrscheinlich den Fuß gebrochen habe.
Der Major antwortete mit einem kräftigen Fluch, aber es blieb nichts übrig, als zurückzukehren, um selbst nach dem Schaden zu sehen. Der Spaziergang war somit unerwartet unterbrochen worden; aber Eduard Wilkens war der Einzige, welcher sich darüber freute und dies auch nicht verbarg.
Wir hatten eigentlich nichts weiter hier zu schaffen, sagte er, denn die Aussicht hatten wir genossen, und ich gehöre nicht zu denen, die sich lange an solchen Herrlichkeiten erfreuen können.
Aber wir werden Ihnen nichts Anderes zu bieten haben, sagte Luise, an welche er sich wandte.
Ich bin bei Ihnen, schönste Cousine, das ist mir immer neu und angenehm, antwortete er galant, wiederum ihren Arm nehmend und mit einem Seitenblick auf den schweigsamen Hauslehrer, der ihnen nachfolgte.
Gerne auch wäre ich länger geblieben, fuhr er dann fort, wenn es ihr Lieblingsplätzchen etwa ist.
Das ist es allerdings, erwiderte sie, ich habe hier viele frohe Stunden verlebt.
Wenn das der Fall ist, schrie er im hohen Kehltone, so wollen wir nächstens wiederkommen und eine der allerschönsten Stunden feiern. Wollen Sie?
Luise von Brand antwortete nicht sogleich, dann sagte sie: Ich hoffe, wir werden noch öfter diesen Platz besuchen.
Und nicht wieder gestört werden, fiel er ein. Wahrhaftig, wir wollen uns nicht stören lassen, von wem es auch sein möge. Sie sehen ganz betrübt aus, beste Cousine. Ein Pferd ist allerdings ein Gegenstand von Werth.
Es ist ein armes altes Thier, das keinen großen Werth hat, erwiderte sie, aber sein Unglück geht mir nahe.
Wilkens lachte.
Was Sie zartfühlend sind! rief er. Sie besitzen eine zarte Seele, was müssen Sie erst empfinden, wenn ein Mensch leidet. Ich könnte beinahe wünschen, daß ich selbst ein Bein bräche, blos um von Ihnen beklagt zu werden.
Meinetwegen könnte er sich beide Beine brechen und den Hals dazu, flüsterte Toni dem Doctor ins Ohr, ich machte mir gar nichts daraus. Aber den armen alten Hans habe ich noch heute Morgen gestreichelt und ihm ein tüchtiges Stück Semmel zugesteckt. Den hier ließe ich verhungern, und wenn ich wie Luise wäre, liefe ich davon; aber wirklich, sie thut es schon, sie thut es schon!
Das Fräulein verdoppelte wirklich ihre Schritte und ließ den galanten Vetter, der ihr nacheilte, ansehnlich zurück, was Toni mit fröhlichem Gelächter bejubelte. So erreichten sie den Garten und fanden sich bald bei dem verunglückten Thiere vereint, um welches sich die Hausbewohner versammelt hatten, die durcheinander schreiend das Ereigniß vortrugen.
Das Pferd saß auf seinen Hinterbeinen, stemmte die Vorderfüße auf und richtete seine großen traurigen Augen auf das Kind, das klagend und weinend es bei Namen rief und streichelte.
Der Major hieß die Frauen sich entfernen und stellte dann eine Untersuchung an, bei welcher Herr von Rachau ihm half, der sich so geschickt benahm, daß der Major sich beifällig über seine unerwarteten Kenntnisse äußerte.
Das ist nicht zu verwundern, erwiderte er. Obwohl ich gar nichts davon verstehe, habe ich doch auf meinen Reisen viel mit Pferden zu thun gehabt. In diesem Falle aber scheint es mir gewiß genug, daß der alte Bursche den Röhrknochen morsch zerbrochen hat.
Es ist ihm nicht zu helfen, erwiderte der Major den Kopf schüttelnd.
So muß man zum Schinder schicken! rief Wilkens.
Das würde seine Leiden um viele Stunden verlängern, sagte Herr von Brand.
Was kann man aber thun?
Ich werde es Ihnen gleich zeigen, sagte Herr von Brand, warten Sie einen Augenblick. Er ging in das Haus und kam nach wenigen Minuten zurück. In seiner Hand schimmerte etwas Blitzendes, das Wilkens für den Lauf eines Pistols hielt. –
Todtschießen wollen Sie ihn? sagte er. Da mache ich mich fort, das Knallen ist mir fatal. Blut überhaupt; ich habe einen Abscheu vor Blut.
Beruhigen Sie sich, erwiderte der Major. Was zum Henker! ein Mann und kann kein Blut sehen, kann's nicht knallen hören! Aber Ihre Nerven sollen nicht beleidigt werden; sehen Sie hier, das Ding knallt nicht.
Er zeigte dabei, was er trug. Es war ein kleiner Hammer von polirtem Stahl mit kurzem Griff. Der Kopf an der einen Seite breit, an der andern in eine lange Spitze auslaufend. Das Ganze hatte ein so unschuldiges Ansehen, als ob es Kinderspielzeug sei; Eduard Wilkens nahm daher auch von dem Spotte des Majors keine Notiz, er lachte dazu.
Das lasse ich mir gefallen, sagte er, damit kann man sich keinen Schaden thun.
Nicht? erwiderte der Major, indem er ihn anblickte und den kleinen Hammer in seiner Hand wiegte. Sie freilich würden nichts damit ausrichten können, aber wer die Sache versteht – geben Sie Acht! – Er trat zu dem leidenden Thiere, richtete die Spitze auf dessen Stirn, schwenkte den Hammer und ließ ihn anscheinend ohne besondere Gewalt fallen. Das Pferd zuckte zusammen, stürzte zur Seite und streckte sich aus. Es war todt.
Das Verfahren war so überraschend, der Erfolg so blitzartig wunderbar, daß die Zuschauer bestürzt darauf hinblickten. – Das ist merkwürdig, sagte Herr von Rachau.
Schrecklich! schauderhaft! schrie Wilkens, indem er nach seinem Kopf faßte. Man sieht es nicht einmal.
Der Punkt, auf welchen der tödtliche Schlag erfolgt war, wurde in der That nur durch einen Blutstropfen angedeutet.
Ich bin erstaunt darüber, wie es möglich ist, sagte Rachau. Wie kann man den festen Schädel mit diesem unbedeutenden Instrument und obenein ohne alle Anstrengung zerschmettern?
Wer es nicht versteht, soll es auch wohl bleiben lassen, sagte der Major mit einem gewissen Triumph. Es kann Einer zehnmal schlagen, ohne großen Schaden zu thun.
Ist diese Art der Tödtung hier gebräuchlich? fragte Rachau.
Niemals. Kein Mensch weiß etwas davon, aber in Spanien macht man es so, und unsere Regimenter nahmen es sich an. Ich habe manch armes Thier mit diesem kleinen Dinge von großen Leiden befreit. Man muß nur mit dem rechten Schwung die rechte Stelle treffen, so dringt die Spitze bis ins Gehirn. – Jetzt schafft das Thier fort, ich habe ihm eine Wohlthat erwiesen.
Er steckte den kleinen Hammer in die Tasche und ging mit seinen Gästen ins Haus, wo die Fräulein schon wußten was vorgefallen war. Das Ereigniß gab jedoch noch Stoff zu langen Gesprächen und bei aller Lust, es endlich zu vergessen, war die Stimmung doch nicht ganz herzustellen.
Besonders zeigte sich Wilkens nicht mehr in seiner früheren Laune, denn er beschäftigte sich weniger mit seiner Cousine, als mit sich selbst, indem er es seinem munteren Begleiter überließ, die Unterhaltung zu beleben. Bald nach dem Abendessen schien er müde zu werden und zog sich, begleitet von seinem Freunde, in das auserwählte Schlafzimmer zurück.
Es vergingen nun einige Tage, die im Ganzen dem ersten glichen, wie Wassertropfen. Wilkens hatte möglichst viel Zeit sich liebenswürdig zu zeigen, es legte ihm Niemand dabei etwas in den Weg. Der Major, der nicht wußte, was er mit ihm anfangen sollte, schien ihn möglichst zu vermeiden. Wilkens rauchte nicht, kümmerte sich weder um Gewehre, noch um Gewächse, hatte keinen Gefallen an Promenaden zu Pferde oder zu Fuße; alle Anstrengungen waren ihm zuwider, nur bei Tische erwachten seine Begierden, aber die geheime Verachtung des alten Soldaten wurde durch die Eßlust des Herrn Vetters vermehrt. Wenn er rechtschaffen eingehauen hätte, wie der Major es nannte, so hätte man doch sehen können, daß ein Kerl in ihm steckte; aber auch dabei zeigte sich sein weibisch erschlafftes Wesen. Allerlei schwammiges, süßes Zeug, Suppe, Klöschen, Mehlspeise, Compots, das liebte er; ein saftiges Stück Fleisch, einen kräftigen Braten rührte er kaum an.
Mit dem Trinken ging es noch schlimmer. Nöthigen ließ er sich nicht, im Gegentheil, er schien die spirituöse Aufregung gern zu haben, aber kaum hatte er ein paar Gläser nach des Majors Ausdrucksweise hinter der Binde, so wurde er gänzlich unausstehlich, und es gehörte viel Geduld dazu, das als Scherz aufzunehmen, was er dafür zum Besten gab. Schon gewöhnlich anmaßend und großsprecherisch verlor er dann vollends Rücksicht und Haltung, und wenn nicht Rachau zuweilen eingeschritten wäre und dem Doctor Gottberg sowohl, wie auch Luisen und der ganzen Gesellschaft beigestanden hätte, so würde es nicht zu ertragen gewesen sein.
Der heftige alte Herr befand sich nach den ersten drei Tagen im vollen Zwiespalt mit sich selbst; er hatte sich freilich von Anfang an feierlich gelobt und sich sein Ehrenwort darauf gegeben, in Ruhe den Ausgang dieser fatalen Sache abzuwarten und sich in keinerlei Weise einzumischen, aber er that sich den größten Zwang an. Indeß sprachen alle Vernunftgründe dafür und je mehr er überlegte, um so mehr überzeugte er sich, daß dies das Beste sei, was er thun könne. Auf jeden Fall mußte ihm daran gelegen sein, mit diesem Vetter sich nicht zu erzürnen. Auch wenn Luise keine Lust empfand, eine reiche Frau zu werden, auch dann sollte Wilkens wenigstens nicht böse das Haus verlassen. Was der Major wünschte oder hoffte, bezweifelte oder befürchtete, verschloß er in sich, allein zuweilen stiegen ihm Gedanken auf, bei denen sich sein Gesicht dunkler färbte, und er streckte ungeduldig seinen Arm aus, als wollte er etwas gewaltsam von sich abhalten.
Der alte hitzige Herr dachte, wenn er dies that, an den Doctor Gottberg, mit welchem er sich viel beschäftigte und sich den Kopf rieb. Der Doctor bereitete ihm aber gewiß kein Aergerniß, denn er sah ihn wenig anders mehr in diesen Tagen, als beim Mittagsessen, aber er mochte ihn weder aufsuchen, noch ihm begegnen. Sonst hatte er den jungen Gelehrten, den der Zufall in seine Familie gebracht, jederzeit gern gesehen und niemals gewünscht, daß er ihn verlassen möchte. Gottbergs ruhiges und ernstes Wesen, das doch keineswegs mürrisch und abgeschlossen war, hatte ihm immer gefallen, er hatte ihn selbst gebeten zu bleiben, und nie war ihm dabei eingefallen, was ihm zuerst in jener Nacht einfiel, wo er Wilkens am Abend vorher gesehen und was er jetzt mit aller Gewalt von sich abschütteln wollte und nicht konnte. So blind war er allerdings nicht gewesen, um nicht zu bemerken, wie hoch Gottberg in der Gunst seiner Kinder stehe, aber er war ja auch in seiner eigenen Gunst, war der Freund seines Sohnes, der ihm innig anhing und fortgesetzt Briefe mit ihm wechselte. Es kam dem Major vor, als sei das Alles ganz natürlich, und wenn er seinen Mädchen nachblickte, wie sie vertraulich mit dem Doctor umgingen, als sei dieser mit ihnen aufgewachsen, so fühlte er es wohlthuend in seinem Herzen. Gottberg gehörte zur Familie, den Kopf hatte er auf dem rechten Flecke, und wer ihn kennen lernte, zollte ihm Achtung. Solch ein Mann mußte auch einmal in der Welt seinen Platz einnehmen, und dies war wieder ein Gedanke, mit welchem der Major sich zuweilen heimlich beschäftigte, wenn er ihn mit Luisen im Gespräch traf und Beide beobachtete. Aber alle diese Ergebnisse eines Jahres gingen verloren, als er Wilkens im rothen Bären gefunden.
Von der Abreise des Doctors war nicht wieder die Rede gewesen, allein daß Wilkens Muthmaßungen hegte, die begründet oder nicht, doch mit des Majors Besorgnissen übereinstimmten, ließ sich nicht bezweifeln. Mit bewundernswerther Geduld that Gottberg aber, als sähe und höre er nichts von Eduard Wilkens; auch ließ sich nicht die geringste Bemerkung gegen sein Benehmen im Umgange mit Fräulein Luise machen. Immer gleich höflich, bescheiden und freundlich konnte die genaueste Beobachtung ihn auf keinem verfänglichen Blicke ertappen. Mit vollkommenem Selbstgefühl behauptete er eine würdige Haltung und diese machte es möglich, daß er ohne ein äußeres Zeichen von Schmerz oder Kränkung eben so wohl sich Luisen nähern konnte, wie allen Anderen.
Da das Fräulein jedoch meist immer von Eduard Wilkens belagert wurde, machte er diesem ohne einen Versuch Platz, ihm dem Vorrang zu bestreiten. Sein richtiges Gefühl sagte ihm, was er zu thun habe. Denn verborgen konnte es ihm gewiß nicht bleiben, was im Werke sei. Der Major war mit diesem Benehmen zufrieden. Er begünstigte Eduard Wilkens ersichtlich, obwohl dieser, wie er es gelobt, mit ihm wenig Umstände machte und sich Freiheiten herausnahm, die schwer zu ertragen waren. Ueber die Langweiligkeit dieses Landlebens, und über die Einrichtungen des Hauses hatte Wilkens eben so viel zu bemerken, als über die Ansichten und Meinungen seines Verwandten und über dessen wirthschaftliche und Familien-Angelegenheiten. Er that manche Fragen, die dem heftigen, alten Herrn großen Aerger verursachten und deren Beantwortung ihm sauer wurde, dennoch blieb er standhaft in seiner Höflichkeit und nahm selbst anmaßliche Vorwürfe hin. Die Verpachtungen und der Gewinn, den der Major aus dem Gute zog, gaben Wilkens besonders Veranlassung zu lebhaftem Tadel und heilsamen Vorstellungen, welche so eindringlich gemacht wurden, als sei sein Eigenthum dadurch verletzt worden.
Das ist ja gräßlich! sagte er, das sind ja Preise, wie vor fünfzig Jahren, als lebten wir noch in der schönen Zeit, wo die Pächter reich wurden und die Eigenthümer arm. Aber das muß sich ändern, lassen Sie doch die Pachtcontracte sehen, die Hälfte mehr ist noch zu billig. Wie ist das möglich, daß Sie so – so wenig zeitgemäß sein können!
Die Milderung seines Ausdrucks kam daher, weil der Major ihn anblickte, als spränge Feuer aus seinen Augen, und Wilkens einen Schreck bekam.
Alle Donner! schrie der Major, was – hm! meinen Sie? setzte er sich besinnend hinzu. Es wäre möglich, daß man etwas höher gehen könnte, aber ich will keinen Menschen drücken.
Was das für eine Redensart ist! lachte Wilkens. Hier muß der alte Zopf ausgetrieben werden.
Lieber wollte ich, daß – schrie der Major, allein er besänftigte sich nochmals und versuchte selbst zu lachen. Vetter, sagte er, Jeder muß seinen eignen Zopf abschneiden.
Was das anbelangt, so hat es bei mir keine Noth, versetzte Wilkens, ich kenne die Welt. Praktisch muß man sein, und das bin ich. Vielleicht ist das Beste, das Gut wird verkauft. Die Preise sind noch hoch, obwohl sie schon fallen. Schulden sind nicht da, oder doch nicht viel. Was haben Sie an Hypotheken? Wie viel ist es?
Der Major wand sich wie ein Wurm. Ein Feuer brannte in seinem Gehirn, die Flamme tanzte vor ihm her, er überwand sich aber auch diesmal und winkte abwehrend mit der Hand, wobei er that, als ob er lachte.
Wir wollen jetzt nicht weiter davon sprechen, sagte er. Schulden sind da, es ging nicht anders.
Man muß niemals mehr ausgeben, als man einnimmt, krähte Wilkens. Ihre Gastfreiheit und Großmuth sind freilich berühmt, mein bester Vetter, aber lieber ein bischen einschränken. Warum haben Sie diesen Doctor hier?
Es war ein Glück für den Unverschämten, daß er diese Wendung einschlug, denn der alte Soldat konnte es nicht mehr ertragen. Zum letzten Male besann er sich und sagte mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte:
Brechen wir ab davon. Meine Angelegenheiten werden immer nur meine Sache sein und bleiben.
Aber mein lieber Vetter, betheuerte Wilkens, ich meine es wahrhaftig aufs Allerbeste.
Gut, ich danke Ihnen; aber ich denke, es kommt im Leben nicht immer auf's Geld an.
Nicht? rief Wilkens auf seine Tasche schlagend. Auf's Geld kommt doch zuletzt Alles an. Wer's Geld nicht achtet, kann zu nichts kommen. Also, mein lieber Vetter, wollen wir diesen Punkt wenigstens niemals vergessen.
Die Miene, mit der er dies sagte, sah so boshaft lauernd aus, daß der Major sich beunruhigt fühlte.
Bah! fuhr Wilkens fort, wir werden gute Freunde bleiben, ich sehe es Ihnen an. Ich gehe jetzt und suche mein Cousinchen, denn ich sehne mich nach ihr. Der Doctor sitzt mit Toni am Büchertisch, Rachau ist spazieren gelaufen, so kann ich ungestört mein Glück befördern. Helfen Sie nur hübsch dazu, damit wir bald zu Rande kommen. Je eher je besser, wo möglich heut noch.
Diese Aufforderung glich einer Mahnung, in welcher die Drohung eingewickelt lag. Es ging dem Major beinahe wie seiner Tochter, als er die kalte, feuchte Hand fühlte und in das dicke, schlaffe Gesicht sah. Es lief ihm ein Schauder über die Haut, und alle geheimen Pläne und Hoffnungen sanken bis auf den Gefrierpunkt. Sein Widerwille war so groß, daß er sich umdrehte und gar keine Antwort gab; als aber Wilkens ihn verlassen hatte, warf er seine Pfeife wüthend in einen Winkel, stampfte mit dem Fuß auf, als sollten die Dielen zerbrechen, und schlug beide Arme über seiner Brust zusammen.
Wilkens suchte inzwischen nach Luisen umher, ohne sie zu finden. Man hatte sie in den Garten gehen sehen, doch auch dort war sie nicht zu entdecken. Ein Verdacht stieg in ihm auf, dem er sogleich folgte, indem er die Treppe hinauf stieg, den Gang hinabschlich und an der Thür des Zimmer horchte, das, wie er wußte, Gottberg bewohnte. Da er nichts hörte, beugte er sich zu dem Schlüsselloch nieder, und jetzt sah er den Doctor am Tische sitzen. Vor ihm lag ein Bogen Papier, eine Feder hielt er in der Hand, allein er schrieb nicht, sondern sah', den Kopf in seine Hand gestützt, vor sich hin.
Eduard Wilkens ergötzte sich einige Minuten lang an dieser Situation. Der Doctor kam ihm so schmerzensvoll vor, so grau und eingefallen, daß er sich das Vergnügen nicht versagen konnte, ihn noch näher zu betrachten. Er öffnete daher die Thür und steckte seinen Kopf hinein, bei dessen Anblick der überraschte Gelehrte den Arm sinken ließ und aufstand.
Bitte! sagte Wilkens im hohen Discant, lassen Sie sich durchaus nicht stören, Herr Doctor, ich blickte nur herein, um zu fragen, ob Sie meine Cousine Luise nicht gesehen haben?
Ich habe das Fräulein heut noch nicht gesehen, erwiderte Gottberg.
Wilkens musterte inzwischen das Zimmer und den Tisch. Auf diesem lagen ein paar gefaltete Briefe, auf einem Stuhl eine Reisetasche und neben dieser verschiedene Kleidungsstücke. Sie wollen doch nicht verreisen? fragte er.
Das blasse Gesicht des Doctors erhielt einen röthlichen Schimmer. Ich habe keine solche Absicht, war seine Antwort.
Es wäre mir auch nicht lieb, versicherte Wilkens. Sie müssen hier bleiben, es wird lustig hergehen.
Gottberg schwieg. Eduard Wilkens sah ihn übermüthig lachend an.
Sie sind ja lange schon hier im Hause, fuhr er fort, und kennen alle Verhältnisse. Meine Cousine Luise ist ein allerliebstes Mädchen. Was meinen Sie? Sie gefällt mir ausnehmend. Eine besondere Schönheit ist sie nicht, aber was hat man davon? Eitelkeit, weiter nichts. Sie ist nicht verwöhnt, Häuslichkeit ist eine schöne Tugend. Was meinen Sie?
Ich meine nichts, sagte Gottberg.
Oho, lachte Wilkens, Sie müssen doch eine Meinung haben? Sie nehmen doch Antheil an der Familie?
Den nehme ich allerdings.
Und Sie wissen doch auch wohl, warum ich hier bin?
Ich habe nicht danach geforscht.
Nicht? so will ich es Ihnen sagen. Ich bin hier –
Verschonen Sie mich, Herr Wilkens, fiel Gottberg ein.
Womit?
Mit Ihrem Vertrauen.
Dadurch könnten Sie sich nur geehrt fühlen, wie ich annehme, sagte Wilkens.
Ich habe keinen Anspruch darauf zu machen, erwiderte der Doctor mit einer kalten Verbeugung.
Aber ich habe einige Gründe dafür, mit Ihnen ein offenes Wort zu sprechen. Wenn Sie aufrichtig gegen mich sein wollen, kann's zu Ihrem eigenen Besten ausfallen. Sie sind hier Hahn im Korbe, gut; ein Jeder nach seinem Geschmack. Wollen Sie also aufrichtig sein?
Was wünschen Sie?
Nur eine Frage wegen meiner Cousine. Er richtete die unverschämten Augen auf ihn. Wie stehen Sie mit ihr?
Der Doctor antwortete nicht, er sah aber leichenblaß aus.
Bah! lachte Wilkens, Sie brauchen nicht vor mir zu erschrecken. Wir können uns darüber in aller Ruhe erklären.
Verlassen Sie mich! sagte Gottberg mit tiefer voller Stimme.
Seien Sie verständig, antwortete Wilkens. Ich bin so schlimm nicht. Ich lasse einem Jeden das Seine!
Verlassen Sie mich, wiederholte der Doctor noch heftiger, indem er den Arm nach der Thür ausstreckte.
Eduard Wilkens zog sich zurück, er bekam Furcht vor den Blicken und der Haltung Gottbergs.
Sie werden es bereuen, mein Lieber, rief er frech und drohend ihm zu. Im Uebrigen sage ich Ihnen jetzt, daß ich der Sache heut noch ein Ende machen werde. Meine Cousine soll meine Frau werden, wir werden kurzen Proceß machen!
Gottberg sah ihn verächtlich an.
Schrift und Gepräge stimmen zum Inhalt, antwortete er.
Wilkens stand an der Thür. Sie können es noch überlegen, wenn es Ihnen nicht an Einsicht fehlt, nickte er ihm zu.
Entsetzlich! fuhr Gottberg fort zu sprechen, als sei er allein, wenn ein so reines Wesen, ein so stolzer, ehrenhafter Mann, in solchen Schlamm versinken könnten.
Narren und Bettler muß man behandeln, wie sie es verdienen! rief Wilkens, indem er hinaus ging, und das soll geschehen, darauf verlassen Sie sich.
Er suchte nach Rachau umher, aber Herr von Rachau war noch nicht heimgekehrt. Vor einigen Stunden schon hatte er das Haus verlassen und auf Waldwegen einen weiten Spaziergang gemacht, der ihn endlich an den Fluß hinabführte, wo die große Mühle stand, welche dem Major gehörte. Er ließ sich mit mehreren Leuten, die ihm begegneten, in Gespräche ein und besaß viel Geschick, von ihnen auszuforschen, was er wissen wollte. Endlich trat er auch bei dem Müller ein, forderte und trank ein Glas Milch, besah den Bau, fragte kreuz und quer, nach Ertrag und Gerechtsamen, Wiesen und Feldern unter allerlei Scherz und Munterkeit, und einem so angenehmen jungen Herrn, der so unschuldig und offenherzig aussah und ohne alle Hoffahrt war, wurde gern Bescheid gegeben. Er hatte auch kein Hehl, wer er sei, und daß er mit einem Verwandten des Herrn von Brand in dessen Haus zum Besuch gekommen, was sein Ansehen nur vermehren konnte; aber ganz natürlich richteten sich die Antworten, welche er erhielt, als er das Gespräch auf die Familie zu wenden wußte, auch darnach. Die pfiffige Natürlichkeit des Müllers reichte nicht bis zur Verstellung, und im Ganzen genommen hörte er auch hier bestätigen, was der vertrauliche Postillon ausgesagt. Der Major wurde sehr gelobt, doch über seine Heftigkeit kam es zu manchem Kopfschütteln, und als Herr von Rachau auf die Geschichte mit dem Wilddiebe anspielte, sagte der Müller:
Das war der Erste nicht, lieber Herr, er hat es früher schon öfter so gemacht. Jetzt ist er ruhiger geworden, sonst war's gleich Feuer und Flamme bei ihm, das weiß auch ein Jeder, und die Herren in der Stadt wissen's auch. Es ist ein herzensguter Herr, man kann's wohl so rühmen, aber in Streit muß sich Keiner mit ihm einlassen. In seiner Jugend, so wird's erzählt, hat er auch schon auf der Festung gesessen, weil er einen anderen Offizier todt geschossen oder gestochen hat, und bei dem Mathis haben ihm die Richter noch durchgeholfen, aber verwarnt ist er doch worden, und wenn noch einmal was vorkommt, geht's nicht so ab.
Herr von Rachau wandte die Rede vom Vater auf die Tochter, und auch der Müller war Fräulein Luisens lebhafter Verehrer.
Die ist gut, sagte er, und so auch der Doctor, der im Hause ist, der ist brav und gut. Zuweilen kommen sie beide hierher, wenn sie spazieren gehen, auch –
Er fing an sein Gesicht zu verziehen und seine Mütze zu drehen.
Weiter ließ sich nichts aus ihm herausbringen. Er war schlau genug, dem fremden Herrn, der auf dem Gute zu Besuch war, nicht zu verrathen, was sein Grinsen bedeuten sollte.
Na, lenkte der Müller ein, man kann's nicht sagen, daß er ein Taugenichts war, im Gegentheil, es war ein redlicher, fleißiger Bursche.
Er suchte ihn weiter noch zu entschuldigen, denn wahrscheinlich wußte er sich von dem Vergehen, das dem Mathis zur Last gelegt wurde, selbst nicht ganz rein.
Wenn man so von den Thieren geplagt wird, daß sie bis in die Gärten kommen, oder man sieht sein Feld zerfressen, sagte er, so kann man zuweilen gar nicht anders als sich wehren. Der Mathis hat freilich weder Kohl noch Kartoffeln zu hüten gehabt, er that's aus Uebermuth, dachte auch wohl, Hasen giebt's genug in der Welt, und Gott hat 's wilde Gethier, das dahin läuft und dorthin, für Alle geschaffen. Ich habe mein Lebtag aber keinen so flinken Kerl gesehen, wie der war. Alles verstand er und versteht's noch, sonst käm' er nicht durch. Und 's Stehlen läßt er doch auch nicht, fuhr er lachend fort; sind's keine Hasen und Rehe mehr, sind's Vögel oder Weidenruthen, und sie sehen ihm dabei auf dem Gute durch die Finger, denn leid hat's auch dem Herrn gethan, er schämt sich nur, daß er's soll merken lassen, und mag den Mathis nicht vor Augen sehen. Der giebt's ihm freilich zurück, so viel in seiner Macht ist, und wenn der könnte –
Der Müller hob seine Faust auf und schüttelte sie, seine Frau aber gab ihm einen Stoß und winkte ihm zu.
Na, sagte er, der Herr wird kein Gerede machen.
Darum sorgt nicht, beruhigte Rachau. Kann man über den Steig nach der Stadt?
Der Müller bejahte es. Drüben geht's an der Lehmgrube hin, fügte er hinzu, und gleich beian im Häuschen, da wohnt der Mathis.
Mit diesem Bescheid nahm Herr von Rachau Abschied, ging über den Mühlsteig und befand sich in zehn Minuten vor der ärmlichen Hütte, die am Wege lag. Mit einem Blicke ließ sich bemerken, daß sie nicht vernachlässigt wurde, denn die Lehmwände waren gut erhalten und weiß bestrichen, das durchlaufende Holzwerk schwarz angefärbt. Die kleinen Fenster sahen gewaschen aus, und vor ihnen hingen an Nägeln mehre kleine Käfige, deren Bewohner ihre Gefangenschaft sich mit Singen versüßten.
Als Rachau in die Vorflur blickte, deren Thür offen stand, sah er den lahmen Mann, der darin saß und mit Korbflechten beschäftigt war. Er bückte sich auf seine Arbeit, und das lange schwarzbraune Haar hing zottig daran herunter; gleich aber rückte er den Kopf in die Höhe, und über sein hageres Gesicht zuckte ein freundliches Grinsen, denn er erkannte den Herrn, der bis an die Schwelle gelangt war.
Hier wohnt Ihr? fragte Rachau. Ist das Euer Haus?
So lange ich es gemiethet habe, antwortete der Lahme, indem er aufstehen wollte.
Bleib sitzen, sagte Rachau, du darfst deine Arbeit nicht versäumen. Du hast Frau und Kind?
Ja, die sind wirklich mein, und es ist ein fressendes Eigenthum, aber ich habe kein anderes, antwortete Mathis lachend.
Eigenthum mag sein wie es will, man hat es lieb. Jeder will etwas besitzen in der Welt, versetzte Rachau, der einen alten Schemel nahm und sich dem Korbflechter gegenüber setzte.
Sein Sprechen bewirkte, daß die Nebenthür sich aufthat und eine Frau darin erschien, die ein noch junges Kind auf ihrem Arm trug. Hinter ihr blickte Rachau in die Stube hinein, wo es ärmlich, aber reinlich aussah. Er nickte der Frau zu, die ihn demüthig grüßte und deren groben Zügen Gutmüthigkeit und ein hartes Leben aufgeprägt waren.
Das ist deine Frau? fragte Rachau.
Das ist sie, antwortete Mathis.
Ist sie krank?
Sie darf nicht krank sein, antwortete Mathis, indem er zu ihr auflachte. Vergangenes Jahr sah sie schlimmer aus, jetzt hat sie sich erholt.
Das war zu der Zeit, wo es dir überhaupt schlecht ging.
Jetzt geht es besser, brummte Mathis, indem er weiter arbeitete. So gut es gehen kann, setzte er lauter hinzu, wenn die gesunden Glieder fehlen. Sie haben es ja selbst gesehen, Herr, wie mit mir umgesprungen wird, und gehört haben Sie gewiß auch von meiner Geschichte.
Als ich dich vor einigen Tagen im Walde bei den Weiden traf, sagte Rachau, versprach ich dich aufzusuchen, nun führt mein Weg mich zufällig vorüber. Ich habe mit dem Doctor Gottberg gesprochen, er hat mir Allerlei mitgetheilt, da er Antheil an dir nimmt.
Er kann seinen Antheil für sich behalten, brummte Mathis weiter arbeitend.
Die Frau an der Thür seufzte dazu.
Von ihm habe ich auch gehört, daß das Fräulein von Brand in jeder Zeit Manches gethan hat, fuhr Rachau fort, um ihr Mitgefühl zu beweisen.
Lieber Herr, sagte Mathis, mit seiner rauhen Hand auf den Korb schlagend, ich bin ein armer Kerl, aber ich danke für alles Mitgefühl von da drüben her!
Mathis! Mathis! flüsterte die Frau.
Du scher dich fort, antwortete er hastig, geh an deinen Topf und koch, was dr'in ist. Noch schaff ich's Brot und werd's schaffen. – Weiber sind schwach, fuhr er fort, als die Frau sich zurückgezogen hatte, in ihrer Noth fallen sie selbst dem Teufel zu Füßen. Ich sage nicht, daß sie es nicht hätte thun sollen, ein Weib bleibt ein Weib, aber jetzt bin ich wieder bei ihr und so muß es ein Ende haben.
Du hast Unterstützung zurückgewiesen?
Das habe ich, denn von wem kommt sie?
Mathis warf sein langes Haar zurück, seine Augen blitzten.
Von dem, der mich wie einen Hund niedergeschossen hat. Verflucht mag er dafür sein!
Du möchtest von deinem Feinde keine Wohlthaten annehmen, sagte Rachau, möchtest ihm lieber beweisen, daß es in der Bibel heißt: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Das ist nobel gedacht, mein lieber Mathis, aber du siehst aus wie ein kluger Bursche, wie kannst du also so mürrisch sein. Verfluche ihn, so viel du Lust hast, Niemand wird Segen von dir verlangen, doch nimm, was du bekommen kannst.
Ich wollte ihm meinen Segen wohl geben, murmelte Mathis ingrimmig.
Das heißt, du sähest ihn mit Vergnügen hängen.
Lieber wollt' ich das Messer verschlucken, als ihn abschneiden.
Du bist ein schlechter Christ, aber von liebenswürdiger Offenherzigkeit, versetzte Rachau. Ich begreife deine Gefühle, dennoch, mein guter Freund, muß die Maus niemals der Katze drohen, so lange diese Krallen und Zähne hat.
Der Korbflechter schien diesen Vergleich sehr gut zu finden. Er grinste zu dem jungen Herrn auf, der sein Stöckchen zwischen den Händen drehte und ihn unschuldig freundlich anblickte.
Ich ertheile dir diesen guten Rath, weil ich dein Freund bin und etwas für dich thun möchte, sagte Herr von Rachau.
Meiner Seel! ich habe so viele gute Freunde, es kann mir gar nicht fehlen, lachte Mathis. Die schönen, gnädigen Fräulein nehmen sich meiner an und der Herr Doctor hält mir's Gewissen vor, es möcht' sich ein Stein erbarmen. Aber alles Gerede wäscht meine Schand' nicht ab, Herr, und all' ihre Almosen machen meine Beine nicht wieder gerade. Ich kann's nimmermehr vergessen und zu Kreuz kriechen.
Du bist sehr thöricht, sagte Herr von Rachau. Wenn du in Demuth den Herrn Major um Gnade bätest, würde er dir verzeihen.
Mir! schrie Mathis seine Fäuste ballend. Lieber wollt' ich – er lachte wild auf. – Die ganze Brut möcht' ich zermalmen, murmelte er in sich hinein.
Bedenke wenigstens, was das gnädige Fräulein für dich thut, fuhr Rachau fort. Die vornehme Dame erzeigt dir Wohlthaten, kommt in deine Hütte, um dich zu trösten. Ihr edles mitleidiges Herz will Ihres Vaters Härte vergüten.
Mag sein, antwortete Mathis. Wer weiß, warum sie es thut. Er sah höhnisch auf sein Geflecht.
Kommt das Fräulein oft hierher? fragte Rachau nach einiger Zeit.
Früher kam sie oft.
Mit dem Herrn Doctor Gottberg?
Mathis nickte hämisch lachend.
Jetzt kommen sie nicht mehr?
Es ist ja Besuch im Hause, da geht es nicht an, daß sie mitsammen spazieren.
Rachau bedachte sich. Es kommt mir vor, mein lieber Mathis, lächelte er, als ob du Allerlei von dem gnädigen Fräulein und dem Herrn Doctor zu erzählen wüßtest, ich sehe es dir an und will dir sagen, was du denkst. Du denkst, wie vielleicht manche andere Leute auch, daß das Fräulein den Herrn Doctor besonders lieb hat, oder vielmehr der Herr Doctor das gnädige Fräulein, und du in deinem bösen Herzen freust dich darüber, weil du meinst, wenn's der gnädige Herr erfährt, wird ein Donnerwetter losbrechen, er in Kummer und Wuth außer sich gerathen.
Mathis starrte ihn groß an. Er sah seine innersten Gedanken offenbar und konnte sie nicht ableugnen. Eine Furcht kam ihn an vor dem lächelnden, jungen Herrn, der ihn ansah, als könne er ihn durch und durch sehen. Er blickte nach der Stube hin, wo er seine Frau hörte, und sagte dann mit gedämpfter Stimme:
Es ist doch wahr. Ich hab's oft genug mit angeschaut, wie sie ein Herz und eine Seele sind.
Das wäre eine Rache, mit der du als bescheidener Mensch schon zufrieden sein könntest, lachte der junge Herr. Aber mein guter Freund, damit ist es nichts, das Fräulein ist verständiger; es wird allerdings bald heirathen.
Den Doctor? fragte Mathis.
Einen Herrn, wie er zu ihr paßt, nach ihres Vaters Wünschen und wenn du klug bist und dich brauchbar bezeigst, wirst du nicht von ihm vergessen werden. –
Es näherte sich Jemand dem Hause, der Schatten eines Menschen fiel auf die Schwelle und plötzlich stand die, von der so eben die Rede gewesen, das Fräulein von Brand, vor ihnen.
Ein großer Sommerhut bedeckte ihren Kopf, in der Hand trug sie einen Deckelkorb, der nicht ganz leicht sein mußte, denn sie war erhitzt von der Anstrengung, der sie sich unterzogen. Ihr erster Blick fiel auf Rachau, der aufsprang, sie begrüßte und ihr verlegenes Erstaunen nicht zu bemerken schien.
Im nächsten Augenblick hatte sie es überwunden. Sie gab ihm seinen Gruß zurück und sagte:
Sie hier zu finden, konnte ich nicht denken, Herr von Rachau.
Man findet oft, was man nicht denkt, erwiderte er. Es geht mir ebenfalls so.
Ich besuche nicht selten diese arme Familie, erklärte sie, deren Mißgeschick meinen Antheil erregt. So ist es auch heut geschehen.
Sie kommen um zu beweisen, daß es noch immer barmherzige Samariterinnen giebt, fiel er ein.
Wo ist Eure Frau, Mathis? fragte das Fräulein.
Drinnen, brummte der Korbflechter ohne aufzublicken.
Und wie geht es dem Kinde?
Es fehlt ihm nichts, stieß er grob hervor.
Sie ging an ihm vorüber und öffnete die Stubenthür. Die Frau stand mit dem Kinde schon dort.
Da seid ihr ja, guten Tag! rief ihr die freundliche Dame zu, indem sie ihr die Hand reichte. Wie geht es Euch?
Es macht sich schon, antwortete die Frau mit unverkennbarer Freude und doch auch furchtsam nach ihrem Manne blickend.
Luise streichelte den müden Kopf des blassen Kindes. Du armer kleiner Schelm, sagte sie, du hast schon viel gelitten. Lache doch einmal, damit du deiner Mutter Freude machst.
Die arme Frau drückte den Knaben fest an sich, ein kummervolles Liebeslächeln mischte sich mit ihrer Dankbarkeit. Wenn's nur noch mit ihm wird, seufzte sie.
Ihr müßt nicht muthlos sein, tröstete das Fräulein. Gott hat Euch manche Prüfungen aufgelegt, aber sie werden vorüber gehen.
Mathis warf Korb und Ruthen draußen von seinem Schoß und ballte tückisch seine Faust zusammen.
Könnt' ich Euch auch nur was auflegen, daß die Prüfungen an Euch kämen, murmelte er, ich wollt's Euch gönnen.
Gott lohn's Ihnen, sagte die Frau drinnen. Sie haben uns immer gnädig in unserer Noth beigestanden.
Verdammtes Weib! drohte Mathis, ich möcht' dir den Lohn geben!
Ich hoffe, daß ich bald einmal mehr thun kann, redete das Fräulein. Habt nur Geduld und haltet Euch brav.
Oho! höhnte Mathis, seinen Kopf in beide Hände stützend, wenn's wahr ist, was der Herr sagt, wenn sie einen Vornehmen heirathet und den dummen Doctor auslacht, das ist auch brav. Ich wollte, sie müßte Einen nehmen, der sie Alle unglücklich machte, Alle ins Elend brächte.
Inzwischen war in der Stube weiter gesprochen worden und eben sagte Luise:
Nehmt den Korb hier und leert ihn aus; inzwischen gebt mir das Kind, ich will's verwahren.
Ah, bestes gnädiges Fräulein, dankte die Frau, Sie sind doch gar zu gut; wir verdienen es nicht.
Sprecht nicht weiter, geht nur, antwortete Luise das Kind nehmend, und mit Liebkosungen trug sie es hin und her, schaukelte es auf ihrem Arm, ließ es tanzen und sprach dabei mit dem Herrn von Rachau, der über ihr neues Amt scherzte.
Mathis saß auf der Flur und hörte sie. Er sah durch den Spalt, wie die vornehmen Leute in seiner Hütte lustig und guter Dinge waren, wie sie prächtig und glücklich aussahen, wie das schöne Fräulein gelobt und geschmeichelt wurde von dem feinen Herrn, der ihr die artigsten Dinge sagte, und bei alledem schwoll ihm das Herz noch böser auf. Der Herr sagte ihr so viel Schönes über ihre himmlische Herzensgüte und ihren edlen Charakter, rühmte es so übermäßig, wie glücklich der sei, der dies in ihrer Nähe empfinden könne, und hatte so viele herrliche Glückwünsche für ihre Zukunft bereit, daß es dem Mathis ordentlich wohlthat, als sein krankes Kind dazwischen schrie.
Das Fräulein lächelte freundlich dankend den Herrn an, aber ihre großen braunen Augen sahen so sanft und ruhig aus, als ob das Schmeicheln ihr nicht viel thäte.
Meine Zukunft, sagte sie, wird, wie ich hoffe, dem stillen und einfachen Leben angemessen bleiben, das mir bestimmt ist und das mit meinen Neigungen übereinstimmt.
Ganz wie ich denke, erwiderte er, aber leider kann man nicht immer seinen Neigungen folgen.
Man muß nur den rechten Willen haben, sagte sie.
So kann man Glanz und Reichthum entbehren und die Hütte dem Palast vorziehen, fiel er lachend ein. Das ist die Sprache eines edlen Herzens, die ich mit Entzücken höre, allein das Leben spricht oft ganz anders.
Unser Leben hängt immer davon ab, was wir daraus machen wollen, antwortete Luise.
Und meine edle Freundin – verzeihen Sie, wenn ich es wage, dies hohe Wort zu gebrauchen – trägt wirklich kein Verlangen, Ihr Leben so glänzend und angenehm zu machen, wie es in Ihrer Macht steht?
Ich bin zufrieden mit dem, was ich besitze, sagte sie, und begehre nichts.
Wenn aber dennoch ein Verwegener es wagte, nach solchem Glück zu trachten, seine Schätze dafür zu bieten?
Dann würde ich ihm antworten müssen, daß ich nicht gewähren kann, was er fordert, aber ich würde dem Freunde sehr verbunden sein, der mir beistände, daß es nie dahin käme.
O, gewiß! der Freund wird nicht zögern, Ihren Befehl zu erfüllen, wenn er weiß, daß Sie dazu entschlossen sind.
Daran zweifeln Sie nicht, wenn dieser Zweifel allein Sie abhält, flüsterte Luise.
Dann Alles für Ihr Glück! rief er, möge es nie getrübt werden und Ihnen die reichsten Lebensfreuden gewähren.
Das Kind schrie wieder aus allen Kräften, und Rachau sagte lächelnd:
Da sehen Sie, wie es oft mit unserem Willen beschaffen ist. So viele Liebe und Güte kann den kleinen Schreihals nicht still machen. Doch hier kommt Einer, dem es schon besser gelingen wird.
Mathis hinkte herein, er konnte es nicht länger draußen anhören, und das Kind streckte dem häßlichen zottigen Vater beide Aermchen entgegen.
Es paßt immer am besten das Gleiche zum Gleichen, sagte Rachau; der Junge weiß, wohin er gehört.
Das sollte ein Jeder wissen, fiel Mathis mürrisch ein. Wenn's Keiner vergessen thät, blieb Mancher ungeschoren.
Warum bist du denn so wild und aufgebracht? fragte Luise freundlich.
Eh! gab er zur Antwort, glaubt's gnädige Fräulein denn, wir könnten Alle so glücklich sein, wie sie?
Du hast viele hübsche Vögel, tröstete Luise sanftmüthig, die dir vom Morgen bis zum Abend ihre Lieder singen, das müßte auch dein Gemüth erheitern.
Oho! rief Mathis, und wenn man den Finken und Hänflingen die Augen ausbrennt, singen sie auch bei Nacht, bis ihnen vor Dankbarkeit und Unvernunft die Kehle zerplatzt.
Du solltest lieber ein vernünftiger Mensch sein, der durch sein Unglück einsichtiger und besser wird, redete sie.
Bin ich noch nicht genug gebessert! schrie Mathis boshaft lachend. Der gnädige Herr Major hat rechtschaffen dafür gesorgt.
Leider bist du geblieben wie du warst, sagte das Fräulein. Schäme dich über dein Unrecht.
Schämen! schrie Mathis. Ihr seid eine vornehme Dame, eine schöne Dame, und ich bin ein Lump, ein schlechter Kerl; bleibt bei Euresgleichen!
Luisens Gesicht wurde glühend roth, Rachau befahl dem groben Menschen zu schweigen.
Lassen Sie uns gehen, sagte das Fräulein. Doctor Gottberg wird sehr betrübt sein, wenn ich ihm sage, wie ich dich gefunden habe.
Ich frage nichts nach ihm, oho! grinste Mathis. Sorgt Ihr dafür, daß er munter bleibt, und laßt Euch die weißen Hände von ihm küssen.
Diese Worte und sein Hohnlachen schallten dem Fräulein nach, das sich eilig entfernte. –
Dummkopf! sagte Rachau, da nimm! und indem er ein großes Geldstück in des Kindes Kleid warf, folgte er der Dame.
Mathis sah das Geld mit einem häßlichen Lachen an, drückte es in seine Faust und hob diese triumphirend auf.
Ich hab's ihr gegeben! rief er. Gott verdamm' mich, wenn's mir leid thut! Wie's Blut ihr ins Gesicht schoß, wie's Gewissen über sie kam, wie sie von dem Doctor hörte. Ich wollt, ich könnt' sie Alle verrathen und verkaufen, ich wollt', ich könnt' sie Alle glücklich machen! – Und der da, fuhr er fort, indem er den Thaler anstarrte, der hat seine heimliche Freud' daran gehabt. Verdammt will ich sein, wenn er nicht – Er hielt inne, denn seine Frau kam weinend herein und trocknete ihre Augen mit der Schürze.
Der Tisch stand gedeckt, aber das Speisezimmer war leer, im Hause herrschten Ruhe und Stille. Der Major kam so eben aus der Stadt zurück, wohin er sich geflüchtet hatte, um Wilkens aus dem Wege zu gehen; er kam jedoch mit demselben verdrießlichen Gesicht, mit welchem er gegangen war.
Kaum hatte er seinen Garten betreten, so sprang Toni ihm entgegen, indem sie einen Reifen und ihren großen Ball in die Luft schleuderte.
Fang ihn, Papa! rief sie, aber der Papa hatte keine Lust zum Spielen.
Wo ist Luise? fragte er.
Eben ist sie nach Hause gekommen, sagte Toni. Der Doctor sitzt und schreibt wie besessen und der Cousin pipt dort hinten in der Laube dem lustigen Herrn von Rachau etwas vor. Der ist immer lustig, Papa; er hätte gern Ball mit mir gespielt, aber der Cousin verbot es ihm, und griff ihn beim Arm und schleppte ihn fort. Jetzt erzählt er ihm sicherlich die schreckliche Geschichte – sie fing an aufs Lustigste zu lachen und schlug in ihre Hände.
Welche schreckliche Geschichte? fragte Brand.
Höre, Papa, sagte Toni, es ist ein Hafenfuß, weiter nichts, der Doctor hat ihn zur Thür hinausgewiesen. Ich habe Alles mit angesehen, denn ich saß in dem Cabinet nebenan vor dem Bücherspind. Es war zum Todtlachen.
Das hat er gethan? fragte Herr von Brand, seine Stirne furchend.
Du wirst doch den Doctor nicht schelten wollen, fiel das kleine Mädchen ein. Denke dir, Papa, dieser Großsprecher vermaß sich, er werde Luisen heirathen, dazu wäre er gekommen, als ob das eine besondere Ehre wäre! Und es ist auch gewiß nicht wahr; denn Luise mag ihn nicht, und du giebst es nicht zu. Mach', daß er fort kommt, Papa; seit er hier ist, ist's vorbei mit Freude und Lustigkeit.
Der Major hörte diese Ausrufungen schweigend an, aber sein Gesicht wurde dabei noch düsterer, und mit seiner Verlegenheit mischte sich eine gewisse Zustimmung zu dem, was Toni für Recht hielt.
Du bist ein Kind und mußt schweigen, sagte er.
Du willst es wohl nicht glauben? versetzte sie. Frage, wen du willst und am besten frage Luisen selbst. Da kommt sie schon. Sie kann dir auf der Stelle antworten.
Wirklich erschien Fräulein Luise in der Nähe und Toni lief ihr entgegen, während Herr von Brand langsam nachfolgte.
Sage gleich die Wahrheit, rief sie ihr zu. Möchtest du den Cousin Wilkens heirathen oder nicht?
Die Schwester hielt ihr mit der Hand den Mund zu. Der Vater stand mit ernster Miene vor beiden.
Das sind Dinge, sagte Luise, um welche du dich nicht zu kümmern hast. Geh hinein und erwarte uns.
Toni war folgsam.
Wir wollen unsere Gäste rufen, fuhr sie fort.
Er streckte seine Hand nach ihr aus und sagte im väterlichen Tone:
Wenn ich Toni's Frage wiederhole, Luise, was dann?
Dann, Vater, antwortete sie, die klaren Augen auf ihn heftend, muß ich Nein sagen.
Das ist dein Wille?
Mein fester Wille.
Es entstand ein augenblickliches Schweigen.
Er ist reich, murmelte der Major, und wir haben zu bedenken – es ist eine ernsthafte Sache – du mußt bedenken –
Ich habe nichts zu bedenken, theurer Vater, fiel sie ein. Du wirst mich nicht zwingen wollen, einen Mann zu nehmen –
Den du nicht magst, sagte er so lebhaft, als erleichtere sich sein Herz dabei. Nun mein Kind, ich zwinge dich nicht. Mir gefällt er eben so wenig, Gott weiß es! aber – der Teufel hat ihn hergeführt! setzte er mit Heftigkeit hinzu, und ich weiß nicht, wie wir ihn los werden.
Ich hoffe, der Herr Cousin wird von selbst gehen, erwiderte Luise. Heut Vormittag hatte ich mit dem Herrn von Rachau ein Gespräch, als ich mit ihm auf einem Spaziergange zusammentraf. Er suchte durch seine Aeußerungen über seinen Freund mich auszuforschen, diese Gelegenheit nahm ich wahr, ihm unverholen zu zeigen, daß ich keine Bewerbung annehmen könne.
Das war gut! sagte Herr von Brand, und indem er sie beifällig ansah, wiederholte er noch einmal: Das war sehr gut! Er wird es ihm wiedersagen.
Ich habe ihn sogar darum ersucht.
Hat er es übernommen?
Er wird wahrscheinlich soeben dabei sein.
Dieser Rachau ist aus besserem Holz gemacht, sagte der Major erfreut.
Er hat versichert, mein ergebener Freund zu sein, erwiderte das Fräulein lächelnd. Bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit ist doch nicht zu vergessen, daß er in intimen Beziehungen zu Wilkens, man möchte sagen, in dessen Diensten steht.
Dankbar wollen wir ihm sein, Kind! rief der Major, wenn er uns beisteht; im Uebrigen mag er uns gewogen bleiben. Ich bin froh in meinem Herzen, wenn wir sie beide los sind, und ich sage dir, Luise, ich fühl's jetzt soeben recht, bei allen Umständen, die vorhanden sind – er brach ab und blickte sie an. Unser guter Doctor, fuhr er fort, wird auch froh sein. Es wird Alles gut werden, Kind, wenn wir diesen Vetter nur erst überstanden haben.
Ruhig, theurer Vater, sie kommen, sagte Luise. Sei freundlich und geduldig.
Sie hörten hinter dem Weinspalier Eduard Wilkens scharfe Stimme und schwiegen still. –
Ich habe wahrhaftig nichts dagegen, wenn sie nicht anders wollen, ließ er sich vernehmen. Was zum Henker! was ich thun muß, weiß ich selbst, dazu brauche ich deinen guten Rath nicht. Gehöriges kaltes Blut ist die Hauptsache, das hab' ich.
Indem die beiden Freunde um die Ecke bogen, sahen sie den Major, der seine Tochter am Arm ihnen entgegen kam, und obgleich Wilkens gewiß sein konnte, daß seine Worte gehört waren, nahm er keine Notiz davon. Er breitete seine Arme ihnen entgegen und rief so unverschämt, wie es seine Art war:
Da ist ja mein vortrefflicher Vetter und die liebenswürdige Cousine. Endlich finden wir uns, und ich kann meine Sehnsucht stillen. Das Landleben ist herrlich, diese Luft nicht mit Geld zu bezahlen. Man kann hier hundert Jahr alt werden, und merkt nichts davon.
Hoffentlich machen Sie diese Prophezeiung wahr, sagte der Major.
Ich will es wahr machen, lachte Wilkens, verlassen Sie sich darauf. Mein Appetit ist für mehrere Jahrhunderte eingerichtet.
Und der Tisch ist gedeckt, antwortete Fräulein Luise.
Und der ist ein Narr, der nicht frisch tafelt, was ihm geboten wird, rief Wilkens. Ich bin kein Kostverächter, schönste Cousine. Ich nehme mit Allem vorlieb und frage nicht lange.
Mit übermüthiger Gebehrde reichte er ihr seinen Arm und führte sie dem Hause zu, der Major folgte mit Rachau nach und wenige Minuten nachher waren sie im Speisezimmer, wo auch der Doctor Gottberg gleich darauf mit seiner Freundin Toni sich einstellte.
Eduard Wilkens sah ihn so vergnügt an, wie es noch niemals der Fall gewesen.
Nun, mein gelehrtester Herr Doctor, sagte er, haben Sie Ihre Arbeiten vollendet?
Der Doctor verneigte sich mit seiner gewöhnlichen Würde ohne weitere Antwort.
Sie müssen ein Glas Wein mit mir trinken, fuhr Wilkens fort. Ich trinke auf Ihr Wohl, auf Ihre Zukunft, die reich an Freuden aller Art sein möge!
Gottberg konnte nichts weiter thun, als die Höflichkeit annehmen. Wilkens weidete sich an seinem Anblick.
Weisheit ist das Ziel alles menschlichen Strebens, fuhr er fort. Als mein Vater mich in die Welt entließ, gab er mir eine ausgezeichnete Lehre mit. Mein Junge, sagte er, jetzt merk' auf, was ich dir anbefehle: Sei immer klug und weise, und habe Geld! – Also Weisheit, schönste Cousine Luise, und Geld. Darauf wollen wir anstoßen!
Sie haben diese Lehre gewiß niemals vergessen, lächelte das Fräulein.
Niemals vergessen! betheuerte Wilkens. Sie sollen bald sehen, daß ich sie niemals vergessen habe. Aber mein vortrefflicher Vetter, Sie müssen ebenfalls mit mir anstoßen. Ich fühle mich in Ihrem Hause so wohl, wie ich es gar nicht sagen kann. Ich bin so glücklich, ich kann den Gedanken gar nicht fassen, mich davon zu trennen. Es gefällt mir Alles so ausnehmend, daß ich meine Tage hier beschließen möchte. Auf Ehre! das möchte ich. Ich möchte dies Gut besitzen, wenn Sie es mir abtreten wollten.
Ich sehe keinen Grund dazu ein, antwortete Herr von Brand.
Nicht? Gut, ich bin auch so zufrieden, ich bin ein immer zufriedener Mensch. Nur in fremde Hände soll meiner Tante Eigenthum nicht kommen, das meine ich, weiter nichts. So wünsche ich Ihnen viele frohe Tage, glückliche Zeiten, Freude an Kindern und Kindeskindern, Alles was man einem liebenswürdigen Papa nur wünschen kann. Weise Schwiegersöhne und Schwiegertöchter!
Er lachte unverschämt dazu, und seine grellen Augen musterten vergnüglich die Donnerwolken im Gesicht des alten Soldaten, aus denen jeden Augenblick die Blitze hervorbrechen wollten. Es mochte seine Absicht sein, diese hervorzurufen, aber Luise machte ihrem Vater lächelnde Zeichen, die ihn ermahnten, nicht die Geduld zu verlieren, und der Major bezwang sich und dankte es heimlich dem guten Herrn von Rachau, der sich bemühte, ihm beizustehen.
Ich habe gehört, sagte dieser mit seiner schmeichelnden Höflichkeit, daß Ihr Herr Sohn in das Justizministerium berufen worden ist, und welche glänzende Zukunft ihm bevorsteht. So schließe auch ich mich den vielen guten Wünschen aufs Innigste an.
Der Major war stolz auf seinen Sohn.
Haben Sie Dank, mein lieber Herr von Rachau, sagte er ihm zunickend. Ich habe meinem Sohn keine andere Lehre mit auf den Weg gegeben, als die: wo du Unrecht siehst, leid's nicht! und das hat er festgehalten. Der Minister hat ihn in sein Haus genommen, obwohl er gegen manche Mängel in der Justiz geschrieben und gesprochen hat.
Das ehrt den Herrn Minister eben so sehr, erwiderte Rachau, wie wir uns der Hoffnung hingeben mögen, daß der nächste Justizminister Herr von Brand heißen möge.
Brand! schrie Wilkens, dann ist das goldene Zeitalter gekommen. Recht und Gerechtigkeit sind keine leeren Phrasen mehr. Stoßen wir alle an auf den Justizminister der Zukunft, der die Unschuld beschützt.
Wie widerlich übertrieben auch die Scherze waren, welche Wilkens weiter daran knüpfte, so mußte ihm doch gewillfahrt werden. Er war sehr aufgeregt, trank viel Wein, schwatzte und lachte, und sein dickes, blasses Gesicht färbte sich nach und nach röther. Der Major war mehr als einmal nahe daran aufzufahren, aber überlegte heimlich, daß dies die Folgen der Mittheilungen seien, welche Rachau ihm gemacht hatte. Wilkens war ohne Zweifel darüber in seiner Eitelkeit beleidigt und nicht edeldenkend und feinfühlend genug, um sich als Mann von Ehre zu benehmen. Herr von Brand wurde dadurch noch mehr bewogen, nachsichtig allerlei Spott und Grobheit aufzunehmen, im Stillen aber nahm er sich vor, daß dies der letzte Auftritt dieser Art sein solle. Er faßte seinen Entschluß, eine kurze und bestimmte Abrechnung mit dem unbequemen Gaste gleich nach Tische zu halten, aber es kam doch noch, ehe das Mahl ganz beendet war, zu einer unangenehmen Scene.
Eduard Wilkens hatte sich jetzt zum Gegenstande seiner Bosheit die kleine Toni und den Doctor ausgesucht. Toni hatte ihren Arm auf des Doctors Schulter gelegt und flüsterte und lachte ihm ins Ohr. Wilkens Spöttereien über die Gefahren eines Hauslehrers, der von so reizenden Schülerinnen schwärmerisch verehrt werde, die ihn wie Epheu den Ulmbaum umschlängen, wurden von so frechen Blicken und Gebehrden begleitet, daß der Major die Geduld verlor. Er warf das Tellertuch, auf den Tisch und stand mit solcher Heftigkeit auf, daß Wilkens erschrak. Die furchtsame Seite seines Charakters erhielt die Oberhand über seine Unverschämtheit, doch stellte der genossene Wein das Gleichgewicht wieder her.
Was ist denn geschehen? rief er. Sie wollen mir doch nichts übel nehmen?
Nimm nichts übel, Papa, lachte Toni, es lohnt sich nicht der Mühe.
Es ist mir nichts geschehen, antwortete der Major mit so vieler Ruhe, als er aufzubringen vermochte. Auch soll mir nichts weiter geschehen.
So trinken wir noch ein Glas und lachen zusammen.
Ich danke für Alles, sagte der Major. Laß den Kaffee in den Garten bringen, Luise. Wir müssen diesen Dingen ein Ende machen.
Er entfernte sich, aber Wilkens rief ihm nach. Dann noch ein Glas auf das gute Ende, verehrter Vetter. Und jetzt bin ich bereit, schönste Cousine, der schwachen Stunde entgegen zu gehen und allen Thorheiten abzuschwören.
In dieser Betheuerung lag etwas Wahres, denn in der nächsten Zeit suchte sich Wilkens einen höflicheren Anstrich zu geben, und als der Kaffee erschien und der Major mit dem Cigarrenkästchen kam, schien Alles ausgeglichen zu sein und sich versöhnlicher zu ordnen. Wilkens pries die Cigarren, lobte den Kaffee, wandte sich mit gefälligen Worten bald an den Major, bald an Fräulein Luise, bald an seinen Freund Rachau und bedauerte, daß der Doctor sich schon wieder entfernt habe. Dann beklagte er, daß irdisches Wohlbehagen nicht ewig dauern könne, und nach manchen ähnlichen Bemerkungen, die nicht erwidert wurden, schlug er selbst einen Spaziergang vor zu den schönen Waldhügeln, wo es ihm so herrlich gefallen habe.
Ich glaube wirklich, daß ich Ihrem vortrefflichen Weine zu viel Verehrung bezeigt habe, mein theuerster Vetter, sagte er. Mein Kopf ist schwer wie Blei, und da Weintrinken sonst nicht meine Sache ist, bin ich um so unvorsichtiger gewesen.
Ein Glas zu viel schadet nicht, sagte der Major, wenn nur sonst der Kopf auf dem rechten Fleck sitzt.
Mäßigung ist zu allen Dingen gut, lachte Wilkens. Wenn man einen kurzen Hals hat, muß man um so vorsichtiger sein.
Ich habe zunächst einen Gang nach meiner Mühle zu machen, antwortete Herr von Brand. Wollen Sie mich begleiten, so treffen wir später mit der Gesellschaft wieder zusammen.
Ich gehe mit Ihnen, sagte Wilkens. Wir haben Stoff uns lehrreich zu unterhalten. Ist es nicht wahr?
Er griff dem Major lachend unter den Arm und schwenkte seinen Hut vor dem Fräulein.
Auf Wiedersehn also, schönste Cousine, zürnen Sie mir nicht, wenn ich Sie treulos verlasse.
So entfernte er sich mit seinem Begleiter, aber seine scharfe Stimme war noch lange zu hören. Es schien Herrn Eduard Wilkens behaglich zu Muthe zu sein. Er lachte und scherzte weiter, pries den kühlen Waldschatten und dankte dem schweigsamen alten Soldaten für die große Liebe und Geduld, welche er ihm bezeige.
Geduld, rief er dann ihn lustig anblinzelnd, ist aber auch die allerchristlichste Tugend. Sanftmuth ziert jeden Menschen. Man muß niemals zornig werden, ich hasse nichts mehr als Zorn. Zornige Menschen verkümmern sich das Leben und werden niemals alt. Also Alles ohne Leidenschaft, mein bester Cousin.
Sie haben Recht, antwortete der Major, wir müssen ohne Leidenschaft uns aussprechen.
Also wir wollen uns aussprechen. Gut, das ist meine Absicht.
Die meinige ebenfalls.
Sie wollen also eigentlich gar nicht nach der Mühle gehen?
Allerdings, aber ich wollte zunächst in passender Weise mich Ihnen erklären.
Herrlich! theuerster Vetter, auch meine Zeit drängt, und unsere Angelegenheit ist von so eigenthümlicher Art, daß ich danach verlangen muß, je eher je lieber zum Abschluß zu kommen.
Ich verarge es Ihnen nicht, sagte Herr von Brand. Meine Meinung ist – er ging schweigend weiter auf dem Pfad in den Wald hinein. – Es wird mir schwer, für das, was ich Ihnen mittheilen muß, den richtigen Anfang zu finden.
Lassen Sie sich Zeit, versetzte Wilkens verbindlich. Sind wir hier auf dem richtigen Wege?
Der richtige Weg, antwortete Herr von Brand, ist doch immer der gerade und offene. So sage ich Ihnen denn gerade heraus, daß ich – daß es mir leid thut, aber – er hielt wieder inne und besann sich.
Sie sind vom richtigen Wege abgekommen, lachte Wilkens.
Sie haben Recht, erwiderte der Major. Besser ist es, wenn ich Sie selbst frage, ob schon Absichten – zum Henker! mit einem Worte denn, unterbrach er sich ungeduldig, ob Sie Luisen lieben?
Lieben? lächelte Eduard Wilkens. Dies ist eine eigenthümliche Frage, bester Vetter. Ich bin entzückt von ihrer Liebenswürdigkeit; beim Lieben aber ist wohl zu bedenken, was man überhaupt unter Lieben versteht.
Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen, sagte Herr von Brand, aber – wollen Sie meine Tochter heirathen??
Gewiß. Wenn ich so glücklich sein kann.
Noch jetzt? fragte der Major.
Warum nicht, mein bester Vetter?
Ich denke, – hat Ihnen Herr von Rachau nichts mitgetheilt?
Das hat er.
Und Sie können noch diese Absicht hegen?
Meine liebenswürdige Cousine zu meiner Frau zu machen? rief Wilkens. Immer bin ich dazu bereit.
Wenn eine Dame sich derartig ausspricht, wie Luise es gethan hat, sagte der Major streng und laut, so glaube ich, daß ein Mann von Ehre seine Hoffnungen aufgeben muß.
Das ist ganz natürlich, mein theuerster Vetter, und ich bin weitab davon, mich meiner grausamen Cousine aufzudrängen, versetzte Eduard Wilkens. Ich bedaure es innigst, keine Gnade gefunden zu haben, meine Absichten waren die besten.
Der Major fühlte sich versöhnt. Ich hoffe, sagte er, ihm seine Hand bietend, Sie tragen uns keinen Groll darum nach.
Besorgen Sie das nicht, erwiderte Wilkens, ihm die Hand schüttelnd. Mir ist alle Rachsucht fremd. Den Neigungen des Herzens kann Niemand befehlen. Möge meine liebe Cousine unbehindert Ihren Neigungen folgen. Sie treffen ohne Zweifel einen würdigeren Gegenstand, als ich es bin.
Sie sind gereizt, sagte der Major. Es sollte mir leid thun, wenn Sie uns beleidigt verließen.
Gewiß nicht, betheuerte Wilkens. Morgen werde ich reisen.
Bleiben Sie noch einige Tage.
Das geht nicht an. Ich habe nichts mehr hier zu thun. Aber ich werde immer mit freundschaftlichen Gefühlen zurückdenken und sehr erfreut sein, wenn ich höre, daß es Ihnen wohl geht.
Ich danke Ihnen, mein lieber Vetter, antwortete der Major mit mehr Herzlichkeit, als er jemals seinem Gaste zuwandte. Wenn es so sein muß, so reisen Sie morgen, aber kehren Sie bald einmal zu uns zurück.
Wer weiß, sagte Wilkens. Im nächsten Jahre möchte ich nach Italien gehen; inzwischen haben Sie Zeit, unsere Angelegenheit ganz, wie Sie es wünschen, zu regeln.
Was meinen Sie? fragte der Major.
Nehmen Sie sich Zeit ganz nach Ihrem Belieben. Es hat, wenn Sie wollen, bis Neujahr Zeit.
Der Major blickte ihn starr an.
Oder wenn es Ihnen lieber ist, fuhr Wilkens unbefangen fort, und wenn Sie können und wollen es, so machen wir es kurz ab. Ich bleibe bis übermorgen.
Ich verstehe Sie noch immer nicht. Wollen Sie auf die Testamentsbestimmung dringen?
Gewiß, mein bester Vetter, das ist doch wohl meine Pflicht, lächelte Wilkens.
Ist das Ihr Ernst? rief der alte Soldat, dunkelroth im Gesicht.
Ich sollte meinen, mit zwanzig tausend Thalern spaßt man nicht, antwortete Wilkens.
Der Major schien völlig überrascht. Er stand still und suchte sich zu besänftigen.
Ich läugne nicht, begann er darauf, daß Sie diese Forderung machen können – in wenigen Wochen wäre es nicht mehr der Fall gewesen. Ihr Vater hat nie daran gedacht. Niemand hat denken können, daß die verrückte Bestimmung jemals Folgen haben würde.
Es ist mit Testamenten eine sonderbare Sache, fiel Wilkens ein.
Können Sie als Mann von Ehre, als Verwandter, unter den Verhältnissen, welche Sie kennen, das Geld fordern?
Es thut mir leid, sagte Wilkens, aber ich sehe nicht ein, warum Sie Großmuth von mir verlangen.
Großmuth? brauste der heftige Mann auf. Bei Gott! nein – aber Schaam und Schande über Sie! Das war von Anfang an Ihre Absicht.
Mäßigung, mein verehrter Vetter, ohne Leidenschaft, das ist die Hauptsache, sagte Wilkens mit arglistiger Sanftmuth, die ihn noch häßlicher machte. Ich bin noch immer ganz zu Ihren Diensten, noch immer bereit, meine liebenswürdige Cousine zu heirathen, wie es das Testament vorschreibt. Er streckte seine Hand aus.
Heirathen! rief der Major mit flammenden Augen. Luise will Sie nicht.
So befehlen Sie es ihr.
Sie sind ein Elender! schrie der alte Soldat.
Weil ich von einer Erbschaft, die von Rechtswegen mir allein gehörte, einen Theil mir wenigstens nicht entreißen lassen will, nicht wahr? versetzte Eduard Wilkens mit kaltem Hohn. Da kommt's hinaus?
Verlassen Sie mich! sagte der Major, ich könnte sonst –
Wilkens sprang hastig zurück. Lahm will ich mich nicht machen lassen, erwiderte er, todschlagen auch nicht, aber mein Geld will ich haben, mein Geld!
Seine Worte machten auf den jähzornigen Mann einen erstarrenden Eindruck. Einige Augenblicke blieb er sprachlos, dann sagte er, so kalt und verächtlich es ihm möglich war:
Sie sollen haben, was Ihnen gebühret, gehen Sie jetzt. Ich werde Mittel und Wege finden, Sie zu befriedigen.
Mit diesen Worten verließ er ihn. Wilkens blieb stehen und blickte ihm nach, dann lachte er leise und sah sich nach allen Seiten um.
Nun, so haben wir ja, was wir wollen, rief er lustig. Lauf zum Teufel! Sehe Jeder, wo er bleibe!
Erst nach einigen Stunden, als die Gesellschaft längst auf dem Waldhügel gewartet hatte, sah Luise ihren Vater kommen, aber von einer ganz anderen Seite, als wo es zur Mühle hinabging. Er kam mitten durch das Gehölz, hinter den Hügeln und mit Freudengeschrei flog ihm Toni entgegen, mit Blumenkränzen geschmückt und eine lange Blumenkette in ihren Händen, mit welcher sie ihn zu umwinden suchte.
Du bist mein Gefangener, Papa! rief sie. Zur Strafe für dein Verbrechen mußt du gefesselt werden.
Was habe ich denn verbrochen? fragte er.
Du hast uns so lange warten lassen, daß Luisen ganz angst und bange geworden ist.
Fräulein Luise hatte sich inzwischen ebenfalls genähert.
Wo ist Herr Wilkens? fragte sie.
Ist er nicht hier? antwortete der Major. Er sah nur den Doctor und auf dem Hügel am Tisch den Herrn von Rachau, der sich mit einem Berg Feldblumen beschäftigte.
Dann ist er nach Haus gegangen, fügte er hinzu, er hat mich nicht weit begleitet.
Aber wir haben ihn nicht gesehen, sagte Luise, obwohl wir weit später gingen, als ich dachte. Es kamen Leute aus der Stadt, die mich aufhielten.
So wird er seine eigenen Wege gegangen sein. Laß ihn, Kind, es ist gut so und – er lächelte mit einem Ausdruck von Zufriedenheit – er hat vielleicht einige Gründe, nicht hier zu sein, flüsterte er ihr ins Ohr. Wie habt ihr euch unterhalten?
Wir haben uns ganz herrlich unterhalten, Papa! rief Toni. Herr von Rachau versteht die prächtigsten Spiele, auch Kränze kann er flechten, die wie Riemen aussehen; Kunststücke kann er machen, und du wirst dich verwundern, wie allerliebst er zeichnet und was er für schöne Bilder und Menschen mit Luisens Stickschere aus Papier geschnitten hat.
Es ist ein Tausendkünstler, der Alles versteht, lachte der Major vergnügt. Wir wollen alle bei ihm in die Schule gehen.
Während die Kleine plauderte, waren sie alle den Hügel hinaufgegangen, wo Herr von Rachau noch immer Blumen flocht und nun in seiner gewinnenden Weise den alten Herrn begrüßte.
Wir haben den ganzen Wald geplündert, sagte er, um unser Abschiedsfest zu einem Blumenfeste zu machen.
Blumen welken und wachsen wieder, antwortete der Major, indem er ihm die Hand schüttelte. Potz Tausend! Was haben Sie mit den feinen Fingern für ein zierliches Kränzchen geflochten!
Es ist der letzte, sagte Rachau, indem er ihn Luisen überreichte.
Der allerschönste! rief Toni. Er sieht aus wie ein Brautkranz. Du sollst ihn aufsetzen.
Sie wollte ihre Schwester damit schmücken, aber Luise hinderte es, und da Beide ihn festhielten, zerriß er. Toni fing laut an zu klagen und zu schelten.
Du bist Schuld daran, rief das kleine Mädchen, jetzt hast du den Schaden, und wirst gar keine Braut werden.
Sie lachten alle über ihren Zorn, Rachau aber nahm die Stücke und sagte:
Ich werde den Kranz wieder ganz machen und dann soll er nicht wieder zerreißen.
Recht so, fügte der Major hinzu. Luise soll ihn tragen und alle Prophezeihungen sollen ihr nichts anhaben.
Seine Blicke waren warm und natürlich und flogen von ihr auf den Doctor Gottberg, der wie gewöhnlich bescheiden und schweigsam sich erhielt.
Nun, mein lieber Freund, redete ihn der Major an, haben Sie keine Kränze zu flechten?
Nein, antwortete Toni, der Doctor hat die Hände in den Schooß gelegt, wir haben fast Alles allein gethan.
Munter also! rief Herr von Brand, indem er ihn an der Schulter schüttelte und ihm zunickte. Wer wollte sich mit Grillen plagen! Giebt es nicht etwas zu trinken hier? Ich habe Durst mitgebracht.
Er setzte sich auf die Bank, nahm seinen Hut ab und griff nach dem gefüllten Glase, das ihm gereicht wurde. Dabei erzählte er, daß er in der Mühle gewesen sei, daß der Müller ihm seine Noth geklagt habe über die Beeinträchtigung, welche ihm durch das Wehr der neuen städtischen Mühle zugefügt werde, und daß er selbst bis dorthin gegangen sei, um sich von der Wahrheit zu überzeugen.
Und hast du es so gefunden? fragte Luise.
Allerdings, erwiderte er, es ist widerrechtlich und ich werde es nicht dulden. Unrecht muß man nicht dulden, wo es auch sei.
Besser Unrecht dulden, als Unrecht thun, Papa, rief Toni.
Bei den Worten des Kindes hefteten sich die Blicke seines Vaters auf sein fröhliches blühendes Gesicht und nachsinnend schaute er hinein, indem er seine Hand auf das blonde Haar legte.
Recht, mein Mädchen, sagte er, indem der zufriedene Ausdruck bei ihm verstärkt zurückkehrte, das Ungerechte soll uns nicht weiter kümmern, auch wenn wir eben nicht zu denen gehören, die sich geduldig ausplündern lassen. Noch ein Glas Wein, Kind, es thut mir gut!
Toni lief mit der Flasche herbei, in der anderen Hand brachte sie einen Papierbogen voll allerhand Schnitzeleien, die Herr von Rachau mit der Scheere gefertigt hatte.
Sieh nur, Papa, rief sie, was das für schöne Sachen sind! Bäume und Thiere und hier auch Gesichter! Wer ist das? Das bin ich! Und dies da? Das ist der Herr Vetter. Das sind seine dicken Lippen, das ist seine prächtige Stulpnase!
Sie lachte übermüthig, hörte aber gleich wieder auf und schrie:
Halt ein!
Der Papa hatte dem Papierkopf einen Nasenstüber versetzt, und dabei hatte das Papier einen Riß bekommen und war weit fortgeflogen.
O weh! schrie Toni, du bist unbarmherzig mit ihm umgegangen; und was ist denn das? das ist ja Blut! Wo kommt das Blut her?
Es kommt von meiner Hand, sagte der Major, und indem er seine Finger betrachtete, setzte er hinzu: Da ist ein kleiner Riß, ich habe mich an einem Dorn geritzt.
Sitzt er noch darin, Papa?
Nein, Kind. Dornen muß man ausreißen, damit sie nicht noch einmal stechen. Jetzt laß uns deine Kunstwerke weiter bewundern. Das ist der Doctor, nicht wahr? Der sieht fürchterlich nachdenklich aus.
Als hätte er ein böses Gewissen, behauptete Toni, ihn anschauend; aber seht nur her, wie der gute Herr von Rachau sanft wie ein Engel lacht.
Die naiven Bemerkungen des kleinen Mädchens verfehlten ihre Wirkung nicht, und die Heiterkeit, mit der sie umhersprang, ihre Bilder zeigte, Blumen und Kränze vertheilte, Luisen endlich zwang, sich den ihren von Rachau aufsetzen zu lassen, und die lustigsten Possen trieb, waren ansteckend genug, um eine geraume Zeit fröhlich vergehen zu lassen.
Herr von Brand war besonders dazu geneigt; seit langer Zeit sah er nicht so munter aus. Seine mächtige Stimme schallte weit durch den Wald; aller Mißmuth, der so lange auf ihn gedrückt, war verschwunden. Er sprach mit vieler Lebhaftigkeit, bald mit Rachau, bald mit dem Doctor, trank noch mehr als ein Glas dabei leer, was wenig mit seinen Gewohnheiten übereinstimmte, und schien zu vergessen, daß die Baumspitzen sich roth färbten.
Endlich mahnte Fräulein Luise zum Aufbruch, weil der Abend nicht mehr fern sei, und weil, setzte sie hinzu, man doch den Vetter, der durchaus nicht kommen wolle, nicht länger einsam lassen könne.
Richtig, sagte Herr von Brand, wir müssen nach ihm ausschauen, wenn er auch in seiner Einsamkeit gut aufgehoben ist. Alles muß ein Ende haben. Willst du den ganzen Blumenberg nach Haus tragen, Toni?
Er soll auch sein Theil bekommen, Papa, erwiderte Toni, weil er so artig gewesen ist.
Gieb sie ihm mit auf den Weg, lachte der Papa, statt anderer Dinge, die er nicht bekommen kann. Packt zusammen, ihr Kinder, wir wollen nach Haus.
Luise benutzte einen Augenblick, wo ihr Vater neben ihr stand, zu einer leisen Frage.
Wie war es? flüsterte sie.
Alles gut, mein Kind.
Du hast dich ihm erklärt?
Er wird dich nicht mehr belästigen.
Wie nahm er es auf?
Du sollst Alles erfahren. Was es auch kosten mag, wir sind ihn los. Ich habe die Last abgeschüttelt, darum ist mir so wohl.
Er drücke ihr zärtlich die Hand und küßte ihre Stirne. Die Anderen kamen herbei. Herr von Rachau nahm Luisen das Körbchen fort, Toni stritt sich mit ihm darum und lief ihm nach, um ihn zu haschen. Ihr fröhliches Rufen und ihr Gelächter schallte durch den abendlichen Wald.
Der Major hatte seinen Arm in des Doctors Arm geschoben, an seiner anderen Seite ging Luise, so folgten sie den Beiden nach.
Der ist wie ein Hirsch auf seinen Beinen, sagte er. Mit dem kommen Sie auch nicht fort, Doctor.
Ich habe es noch nicht versucht, erwiderte Gottberg.
Wenn er fort sein wird, werden wir ihn vermissen! Er ist ein guter Gesellschafter.
Das bin ich nicht, und darum – er schwieg, und der Major sah ihn an.
Nun, was darum? Was meinen Sie, Doctor?
Ich habe den Satz unrichtig begonnen, fuhr Gottberg fort. Ich wollte sagen, daß, wenn ich auch kein guter Gesellschafter bin, ich dennoch hoffe, Ihrer großen Güte für mich niemals unwerth gewesen zu sein.
Unwerth, Doctor? Was soll das bedeuten?
Daß ich hoffe, auch wenn ich nicht mehr das Glück habe – wenn ich fern von Ihnen bin, Ihr Wohlwollen nicht zu verlieren.
Sie wollen uns doch nicht verlassen? rief der Major.
Ich glaube, daß es nöthig ist, antwortete Gottberg.
Alle Donner! Das sollte sich schicken.
Sie haben mich so herzlich, wenn ich es wagen darf zu sagen, so väterlich aufgenommen, fuhr Gottberg fort.
Und ist das etwa ein Grund für Sie zu gehen? unterbrach ihn der alte Soldat.
Käme es auf mich an, dann – o, dann wüßte ich nicht, wann dieser Tag anbrechen würde, allein – Gottberg stockte und fügte ruhiger hinzu: Meine Gesundheit ist jetzt so befestigt, daß ich Anstrengungen aller Art gut ertragen kann, und meine Ueberzeugung sagt mir, daß ich meinem Lebensberuf folgen muß, an welchem meine Zukunft hängt.
Sie haben also etwas Bestimmtes vor? fragte Herr von Brand, nachdem er einige Minuten lang geschwiegen.
Ich denke in die Hauptstadt zurückzukehren und mich um eine andere Lehrstelle zu bewerben.
Dazu wird noch immer Zeit sein, sagte der Major. Nach meiner Meinung sind Sie noch nicht so weit; auch glaube ich, daß Sie zu solchem Schulwesen nicht passen. Mein Sohn hat mir erst neulich darüber geschrieben. Gottberg, schreibt er, muß nicht in Schulstuben eingepfercht werden. Er muß an eine Universität, muß für die Wissenschaft wirken, zunächst aber behaltet ihn noch bei euch und laßt ihn nicht fort, bis die richtige Stellung für ihn gefunden ist.
Um diese Stellung handelt es sich eben, sagte der Doctor.
Gut, so wollen wir sie suchen. Aber bis sie gefunden ist, bleiben Sie bei uns.
Sie gingen wieder schweigend weiter, dann sagte Gottberg:
So innig mich diese edle Theilnahme bewegt, darf ich Ihre Güte doch nicht annehmen.
Sie dürfen nicht? fragte der Major. Warum, alle Wetter! dürfen Sie nicht? Sehnen Sie sich denn fort von uns? Ruft Sie etwa ein anderer Kreis von Menschen, die Ihnen näher stehen?
Sie wissen, Herr von Brand, antwortete Gottberg sanftmüthig, daß ich weder Eltern noch nahe Verwandte habe.
So sind es vielleicht Verhältnisse, die ich nicht kenne.
Ich bin von keinen Verhältnissen bedrängt, aber da ich kein Vermögen besitze, auch nichts, was mich unterstützte, Ansprüche zu erheben, oder was mich ermuthigen könnte, dem Zufall zu vertrauen, so muß ich um so besonnener meine Lage bedenken.
Oho! rief der Major, ich verstehe. Sie wollen sich nicht in Gefahren begeben.
Er sah ihn mit wohlgefälligem Lachen an.
Ein rother Schimmer überzog das blasse Gesicht des Doctors. –
Was sagst du dazu, Luise? fuhr der alte Soldat fort.
Ein Mann muß wissen, wie er Gefahren behandelt.
Bravo! Er muß ihnen tapfer entgegen gehen, muß sich nicht davor fürchten, so wird er sie besiegen. Heda, Doctor! man muß nicht davonlaufen.
Es kann Fälle geben, antwortete Gottberg, wo es ehrenhafter ist, davonzulaufen, als zu bleiben.
Nichts da! rief Brand, Sturm gelaufen, bis der Feind sich ergiebt. Donner und Schlag! ist denn keine Hülfe da? Wenn's wahr ist, was Sie sagen, wenn Sie glauben, daß ich's wie ein Vater meine, so müssen Sie auch Vertrauen haben.
Herr von Brand, sagte Gottberg bewegt, ich bin kein Undankbarer. Ihrem Gerichte unterwerfe ich mich, und wenn –
Er hielt inne.
Vorwärts, Doctor! heraus mit der Sprache! rief der Major, indem er ihm mit herzlichen Mienen seine Hand reichte; in dem Augenblicke aber, wo dies geschah, durchdrang ein fürchterlicher Schrei den Wald.
Was ist das? schrie der Major. Das war Toni! Wo ist sie? Toni!
Sein Ruf wurde beantwortet. Das gellende Geschrei wiederholte sich hinter dem buschigen Hügellande zur Rechten, und indem sie alle eilig sich näherten, wurde Toni sichtbar, die ihre Arme weit ausgestreckt ihnen entgegen lief.
Vater! lieber Vater! schrie sie athemlos und bleich. Schnell! schnell! herbei! herbei!
Wohin? Warum? antwortete Herr von Brand.
Er ist todt! Er liegt todt! schrie das kleine Mädchen ihren Vater umklammernd.
Wer? fragte er entsetzt. Rachau!
Toni hatte sich schon aufgerafft und flog vor ihnen her. In wenigen Minuten erreichten sie den Schauplatz.
Es war eine kleine Einsenkung zwischen den Hügeln, umringt von hohen Waldbäumen. Ein schmaler Pfad lief quer darüber hin; der Rasen grünte üppig von Wiesenblumen durchstickt, zwischen denen da und dort Buschwerk von wilden Rosen aufwucherte. An einem Strauche dicht bei dem Pfade lag eine menschliche Gestalt, lang ausgestreckt und unbeweglich, eine andere kniete an deren Seite und schien mit ihr beschäftigt. Sie hob den niedergebeugten Kopf auf, als sie die Stimmen hörte, und Herr von Brand erkannte sogleich, daß es Rachau war.
Nun, Gott sei Dank! rief er aus – aber, was ist das?
Sehen Sie selbst, antwortete Rachau, indem er aufstand und sich schmerzvoll abwandte.
Heiliger Gott! schrie der Major. Wilkens!
Er ist todt! sagte Rachau.
Todt?! schafft Hülfe herbei. Ruft Menschen. Gottberg! Ruft den Doctor in der Stadt. Luise – schafft Leute!
Luise sah aus, als habe sie nicht verstanden. Todtenbleich wankte sie auf ihren Füßen. Plötzlich fiel sie ihrem Vater um den Hals und rief erstickt:
Es kann nicht sein! Es kann nicht so sein!
Eine Ohnmacht – vielleicht eine tiefe Ohnmacht! stöhnte der Major.
Gottberg hatte sich an dem Leichnam nochmals nieder geworfen, langsam zog er seine Hand zurück.
Er ist kalt, sagte er. Das Leben muß ihn seit mehreren Stunden verlassen haben. Wo trennten Sie sich von ihm?
Keinen Büchsenschuß von hier, dort oben, wo die drei Schwarztannen stehen.
Dann ist er kurze Zeit darauf hier entseelt niedergefallen. Sein Tod muß augenblicklich erfolgt sein.
Sein Tod? Ist er denn todt? rief der Major. Das ist schrecklich!
Daran dürfen wir leider kaum noch zweifeln.
Und plötzlich – plötzlich glauben Sie? fragte Luise.
Ohne Zweifel, sagte Herr von Rachau. Sehen Sie doch, er ist mit dem Kopf in die Dornen des Strauchs gefallen.
Das graubleiche Gesicht des Todten zeigte an mehreren Stellen blutige Spuren. Seine Augen standen weit auf, es war ein schrecklicher Anblick. Luise deckte krampfhaft schluchzend die Hände über ihr Gesicht.
Ich habe es längst gefürchtet, sagte Rachau. Er hatte alle Anlagen dazu, eines jähen Todes zu sterben. Wer ihn kannte, mußte zu solchen Gedanken kommen.
Ein Schlagfluß, meinen Sie? fragte das Fräulein.
Was kann es anders sein? Bedenken Sie, wie aufgeregt er war, heut besonders, wo er viel Wein getrunken. Längst hatten die Aerzte ihm aufregende Getränke verboten, auch war er ängstlich besorgt um seine Gesundheit. Sonst mochte er Abends niemals mehr als eine Suppe essen, aus Furcht, es könne ihm schaden; hier hat er alle Vorsicht vergessen, und sein Schicksal hat ihn ereilt, wo er es am wenigsten erwartete.
Sie haben Recht, sagte der Major, so ist es geschehen, so muß es geschehen sein, und indem er den Blick zum Himmel richtete, fügte er ergriffen von den Erinnerungen, die ihn überkamen, hinzu: Gott, du großer und gerechter Richter, wie wunderbar sind deine Wege, wie allmächtig ist deine Hand!
Dieser Unglücksfall, sagte Rachau, halb zu dem Doctor gewandt, wird allerdings Vieles verändern.
Vor allen Dingen, erwiderte Gottberg, müssen wir ärztliche Hülfe herbeischaffen, wie wenig auch davon zu erwarten ist.
Recht! fiel der Major ein, es muß festgestellt werden, wodurch sein Tod erfolgte. Auf meinem Grund und Boden liegt er.
Und Sie sind sein nächster Verwandter, schaltete Herr von Rachau ein.
Wir müssen ihn nach Haus bringen, müssen Alles thun, was die Umstände erfordern. Es hilft nichts, Luise, er ist hin. Ich habe Manchen sterben sehen, der es nicht dachte, jung und lebensfrisch, und dieser hier, unser armer Vetter, – es thut mir leid, daß es ihm so gehen muß, aber – aber –
Was der alte Soldat in seiner Aufrichtigkeit weiter sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, und es war gut, daß in diesem Augenblick Toni wieder herbeirannte, der mehrere Leute folgten.
Das Kind hatte entschlossener gehandelt, als alle Anderen. Es war bis in den Garten des Guts gelaufen und fand dort den Gärtner mit einigen Arbeitern, welche es mitbrachte. So war die erste Hülfe denn rascher bei der Hand, als man es dachte. Die Männer ergriffen den schweren Körper, hoben ihn auf, und trugen ihn fort, wobei die Gewißheit sich befestigte, daß das Leben in ihm längst erloschen sei. Als der Trauerzug sich dem Hause näherte, kamen die Mägde händeringend und erschrocken, sammt allerlei Volk, das sich gesammelt. Der Major schrie nach dem Wagen, um den Doctor zu holen, alle Hände regten sich jetzt, die etwas thun zu können meinten, und ehe der Arzt erschien, wurden verschiedene Versuche gemacht, um mit Reiben und Bürsten oder mit kräftigen Essenzen den erloschenen Funken anzufachen. Es blieb jedoch Alles vergebens.
Der Arzt sah sofort, wie es stand. Er war am Tage zuvor erst im Hause gewesen, ließ sich den Fall erzählen, betastete den Todten an Hals, Leib und Kopf und sagte dann achselzuckend:
Da ist nichts mehr zu machen. Als ich ihn gestern sah, den kurzen Hals, den dicken Kopf, die vorgedrängten Schultern, das bleiche dicke Gesicht, erkannte ich auf der Stelle die Gefahr, in welcher dieser gute Herr Wilkens sich befand, und wußte im Voraus, welch' Ende es mit ihm nehmen würde. Es saß jeden Tag seit lange schon der Tod an seiner Seite bei Tische. Ein gutes Diner, eine feurige Flasche Wein und dazu diese Binde um den Hals – sehen Sie doch diese Binde an, so wie diese sich preßte, war er verloren.
Er hat allerdings heut Mittag ziemlich viel getrunken, sagte der Major.
Und die Binde trug er immer straff angezogen, fügte Rachau hinzu.
Nun, meine besten Herren, so dürfen Sie sich auch auf keinen Fall über dieses Unglück wundern. Ich bin überzeugt, Herr Wilkens könnte sich selbst nicht darüber wundern, wenn es ihm möglich wäre.
Was ist es also gewesen? fragte Herr von Brand.
Nichts weiter, als ein Gehirnschlag, ein ganz entschiedener Gehirnschlag. Sehen Sie hier die Blutspuren an der Nase. Die Zeichen sind unverkennbar. Es ist sehr betrübend, aber dagegen haben wir noch kein Mittel. Leider kommen viele solche Fälle vor. Ich warne jeden Herrn mit dickem Hals, keine feste Binde umzubinden. Merken Sie sich das, meine lieben Herren. Jetzt bleibt nichts übrig, als ihn zu begraben, das ist ein Geschäft, das den Lebendigen immer zufällt. Es ist schlimm, aber es bleibt doch nichts weiter übrig, denn die Todten haben ein unfehlbares Mittel, die Lebendigen dazu zu nöthigen, und dieser gute dicke Herr Wilkens wird nicht ermangeln, es recht bald anzuwenden.
Niemand antwortete darauf. Der Arzt stieg wieder die Treppe hinab in die Wohngemächer. Die Leiche des unglücklichen Vetters blieb auf dem Bett des düstern gewölbten Zimmers liegen, das er so eifrig für sich ausgesucht hatte.
Unten warteten die beiden Fräulein auf Nachricht, und der Arzt setzte ihnen auseinander, warum Wilkens nothwendig sterben mußte, und da er sich mit Wein erfrischte und auf sein Befragen erfuhr, daß dieser von derselben Art sei, welcher dem Verewigten so gut gemundet, rief er mit dem Stolz seiner wissenschaftlichen Unfehlbarkeit:
Da haben wir's ja, dieser Rheinwein, dies Gift, dieser sechsundvierziger mit seiner Glut kann ganz andere Adern sprengen. Das ist so gut, als hätte er den Vesuv im Leibe, wenn er eine Flasche davon ausleerte. Und dazu die enge Binde! Es ist lächerlich, wenn man denkt, es hätte anders kommen sollen. Wenn ich dabei gewesen wäre, lebte er noch; denn ich hätte es nicht gelitten, und wenn ich selbst hätte die Flasche austrinken sollen.
Dabei schenkte sich der Arzt ein neues Glas ein, erzählte weiter von verschiedenen Fällen in seiner Praxis und hörte nicht eher auf, bis die Flasche leer war. Dann ging er mit allerlei Trostgründen, sich in Unvermeidliches zu fügen, auch Anstalten zum Begräbniß zu treffen, und versprach den Todtenschein gleich morgen auszustellen und alle guten Dienste zu leisten.
Das Ereigniß, das so plötzlich grauenvoll hereingebrochen war, mußte natürlich jede Brust beklemmen. Manche Umstände trugen ja noch mehr dazu bei, die bedrückten Gemüther nachdenklicher und verschlossener zu machen. Der Major konnte nicht aufrichtig sagen, was zwischen ihm und Wilkens bei ihrer letzten Unterredung vorgegangen, er überlegte heimlich brütend, ob er es Luisen mittheilen solle, denn ein unheimlicher Gedanke lief durch seinen Kopf, wenn Fragen an ihn gerichtet wurden, die sich auf diesen Spaziergang bezogen. Er fühlte sein Blut plötzlich glühend heiß werden, mit scheuen Augen sah er umher und las in allen Gesichtern. Er wiederholte dann, daß Wilkens sich von ihm getrennt habe, weil er gefunden, daß der Weg doch für ihn zu anstrengend werde, und dies sei an drei Schwarztannen geschehen. Dort habe er Abschied genommen, umgesehen habe er sich nicht, auch nicht den geringsten Laut oder Ruf gehört.
Es ist also kein Zweifel, erwiderte Herr von Rachau, daß mein unglücklicher Freund keine Zeit behielt, einen Schrei auszustoßen. Bei allen seinen Eigenheiten wird er mir doch unvergeßlich bleiben und ich werde sein Andenken treu bewahren. Wir werden und können ihn wohl alle nicht vergessen, so auch Sie, mein theurer Herr von Brand. Ihnen stand er nahe, und seine Hoffnungen führten ihn hierher. Er achtete und schätzte Sie, ich hörte nie, daß er irgend einen Menschen höher achtete.
Unruhig rückte der alte Soldat auf seinem Stuhle, und seine Wahrheitsliebe konnte sich nicht enthalten, eine bedenkliche Antwort zu geben.
Ich weiß nicht, ob Sie Recht haben, sagte er; ich habe wenigstens nicht viel davon gemerkt.
Brechen wir ab davon, antwortete Rachau sanft und höflich; er hatte manche treffliche Eigenschaften, und Ihre Erinnerung an ihn wird um so nachhaltiger sein, da Sie jedenfalls der nächste Verwandte sind.
Bei diesen bedeutungsvollen Worten stand Herr von Brand erregt auf und ging mit raschen Schritten durch das Zimmer.
Wollte Gott! rief er aus, ich hätte ihn nie gesehen, nie von ihm gehört! Ich würde niemals das Geringste begehrt haben. Und auch jetzt nicht! auch jetzt nicht!
Es entstand ein kurzes Schweigen, während der Major weiter ging, dann sagte Rachau:
Sein Vermögen muß bedeutend sein.
Lassen wir das! antwortete er ungestüm. Geld! das verfluchte Metall! Wohin bringt es die Menschen? Alle Schlechtigkeit steckt darin.
Der Rest des Abends verging in stummer ernster Weise. Niemand wagte mehr den Gegenstand zu erörtern, und doch gab es keinen anderen, welcher angeschlagen werden konnte. Der Major hätte zunächst beginnen müssen, sein düsteres Schweigen verschloß alle Lippen. Luise ordnete in der Stille an, was anzuordnen war, und endlich entfernten sich Alle, um sich ihrem Nachdenken und dem Vergessen bringenden Schlafe zu überlassen.
Zuletzt machte Toni noch einen Versuch, ihren bekümmerten Vater zu trösten. Sie setzte sich auf sein Knie, schlang beide Arme um ihn und sprach unter ihren Küssen und Schmeicheleien:
Mein armer Papa, du mußt es dir nicht so sehr zu Herzen nehmen. Es ist zwar schrecklich, daß er nun da oben todt in der Spuk'stube liegt, und ich habe es ihm wohl gesagt, daß er nicht dort wohnen sollte, weil es Unglück bringt, aber er hat mich ausgelacht. Von nun an werde ich mich noch weit mehr davor fürchten, an der Thür vorüber zu gehen, und mein Bett bis über den Kopf ziehen, wenn es draußen poltert! Aber, Papa, es war doch ein häßlicher, fataler Mensch. Er sah oft so höhnisch aus, als hätte er recht etwas Böses im Sinn, und im Grunde kann ich mich nicht so sehr betrüben. Denn nun braucht ihn Luise ganz gewiß nicht zu heirathen, und er kann uns allen nichts mehr zu Leide thun.
Der Major ließ sie nicht enden. Er schob sie hastig von sich und sagte rauh:
Geh zu Bett und hüte deine kindliche Zunge vor solchen albernen Worten. Fort mit dir!
Lange Zeit nachdem Toni, Thränen in den Augen, sich fortgeschlichen hatte, ging Herr von Brand noch mit harten, schweren Schritten umher. Zuweilen hielt er ein, setzte sich in den Sessel am Tische nieder, kreuzte seine Arme und blickte starr in das Licht, das langsam niederbrannte. Jetzt erst, wo er allein war, hatte er Zeit, die ganzen Folgen dieses jähen Todesfalls nach allen Seiten hin zu überlegen. Von welchen Gefahren war er plötzlich befreit, aus welchen ängstlichen Sorgen sah er sich wie durch ein Wunder errettet! Er dachte noch einmal darüber nach, wie es ihm möglich geworden sein möchte, den habgierigen Wilkens zu befriedigen, was erfolgt sein würde, wenn er es nicht gekonnt, und in seinem Gesicht lagerten sich die Empfindungen, welche ihn dabei überkamen. Die Falten auf seiner Stirn zogen sich fort, der ingrimmige Ausdruck seiner zusammengepreßten Lippen verschwand, seine drohenden Blicke wurden milder. – Und je länger er nachsann, um so zufriedener nickte er vor sich hin.
Der Major dachte an etwas, was bisher ihm noch nicht so nahe getreten war, er dachte an seinen Sohn, an den Justizrath im Bureau des Ministers. Der hohe Beamte hatte den jungen geist- und kenntnißvollen Rath mit seiner besonderen Gunst geehrt, er hatte ihn auch in seinen Familienkreis aufgenommen, und daran knüpften sich manche andere Hoffnungen, welche der Sohn dem Vater andeutete, indem er lebhaft beklagte, kein genügendes Vermögen zu besitzen, weil alsdann seine höchsten Lebenswünsche sich bald erfüllen ließen. – Und nun war plötzlich die Erfüllung da. Statt der Armuth entgegen zu gehen, fiel Reichthum ins Haus.
Das Vermögen muß sehr bedeutend sein, murmelte Herr von Brand, indem er Rachau's Worte wiederholte, und es mußte ein angenehmer Klang darin liegen, dem er sich willig überließ, denn ein leises Lächeln verzog seinen Mund. Er dachte nicht daran, was er noch kurz zuvor über die Erbschaft geäußert; jetzt fiel ihm ein, daß er seinem Sohne eine reiche Ausstattung zuwenden, daß er ihm geben könne, was erforderlich sei, um ihn dem Minister so wohlgefällig zu machen, daß dieser ihm nichts verweigern werde. –
Und wie die Gedankenwelt ihre Fäden mit Zauberschnelle spinnt, diese in einander greifen und ein Tritt tausend Verbindungen regt, so bildete das Gespinnst des alten Soldaten auch schnell ein weit verkettetes Gegitter, das Alles umstrickte, was ihm lieb und theuer war. Seine gute Luise, der treue bescheidene Gottberg, das kleine schelmische Mädchen, sein Nesthäkchen, der verzogene Liebling, wie konnte er sie jetzt alle beglücken und wie freudig in die Zukunft schauen, die so schwarz zu werden drohte.
Eine Fülle von schwindelnden Vorstellungen brach über ihn herein, und eine Zeit lang gab er sich ihnen hin, bis sie plötzlich von anderen Vorstellungen unterbrochen wurden. Von dem Stolze, mit dem er Wilkens von sich gestoßen, mit dem er ihm sein Geld versprochen, der ihn froh gemacht hatte, die Last los zu sein, war nichts mehr vorhanden. Er dachte mit Schrecken daran, wie schwer, wie unmöglich er zwanzigtausend Thaler schaffen konnte, nun war es nicht nöthig. Eine Begier füllte seinen Kopf an, die er nie gekannt. Aber wo hatte dieser Todte sein Geld? Wo war es zu finden? Wo angelegt? Wo waren die Documente und Beweise? Wer konnte Auskunft geben?
Von Wilkens' bisherigem Leben und Treiben war dem Major eigentlich wenig bekannt. Als ein reicher Nichtsthuer hatte er gelebt, das war alles was er wußte; der einzige Mensch, der zunächst Auskunft geben konnte, war Rachau. Würde der dies thun, würde er sich uneigennützig hülfreich erweisen, oder lag es nicht vielleicht in seiner Hand, die Umstände zu benutzen, und bei dieser Gelegenheit für sich selbst zu sorgen? – Sagte nicht Wilkens, daß Rachau nichts habe, daß er ihn aus Freundschaft bei sich halte und ihm durchhelfe? Behandelte er ihn nicht zuweilen mit der übermüthigen Rücksichtslosigkeit eines Herrn, der keine Umstände mit einem abhängigen Gesellschafter macht?
Plötzlich zuckte es blitzartig durch den Kopf des alten Soldaten. Die Casette, flüsterte er, der große Kasten, wo ist er? Was hat er darin verschlossen? Darin ist sein Geld. Papiere, Banknoten, vielleicht Alles.
Er stand von dem Sessel auf und sah scheu umher nach dem Seitentisch. Das Zimmer, in welchem der Todte lag, war verschlossen worden. Der Schlüssel lag auf jenem Tisch. Er ging darauf los und suchte, es war ihm als wäre er fort, und eine Angst überkam ihn, siedend heiß, aber er lag noch auf derselben Stelle. Mit einem raschen Griffe hielt er ihn in der Hand und blieb stehen. Die Thür war eine feste, starke Thür, das Schloß eines, das nicht leicht geöffnet werden konnte, allein wenn Einer sich darauf verstand, wenn er Werkzeuge besaß, Gewandtheit und Geschicklichkeit. –
Es fiel ihm ein, daß Rachau besonders gewandt sei, daß er Alles verstand, daß er Zauberkünste trieb, wie der beste Taschenspieler, und mit Messer und Scheere wunderbar umzugehen wußte. Sein Mißtrauen nährte sich, je mehr er nachsann; eine fieberhafte Unruhe setzte sein Blut in Flammen.
Es ist mein Recht, murmelte er, danach zu sehen. Morgen thut es das Gericht. Es muß, was da ist, unter Gerichtssiegel gelegt werden, aber bis morgen kann Manches geschehen. Der Kasten kann leer sein: was dann? Wo ist ein Beweis? Wer weiß, was darin war?
Er stand zögernd und besann sich, dann horchte er an der Thür – es rührte sich nichts im Hause. Er nahm das Licht vom Tische, kehrte um und setzte es wieder nieder.
Während er leise Worte vor sich hin sprach und den Kopf schüttelte, sah er nach der Uhr – Mitternacht war vorüber. –
Es wird nicht sein, fuhr er mit sich selbst redend fort, wir werden morgen erfahren, wie es damit steht.
Morgen! wiederholte er langsam und kopfschüttelnd. Wie viele schon haben vergebens auf morgen gewartet. Hat er gestern gedacht, was ihm heut geschehen würde?
Nach einer Minute faßte er wiederum nach dem Schlüssel und überlegte, die Hand darüber gedeckt, bis er hastig zufaßte. Dann ging er in sein Schlafgemach, entledigte sich seiner Stiefeln und kehrte zurück in dem grauen Hausrock und den weichen Hausschuhen. Behutsam barg er das Licht in einer kleinen Taschenlaterne, deren er sich bediente, wenn er aus der Stadt Abends spät nach Haus zurückkehrte, und als alle diese Vorbereitungen beendet waren, trat er mit leisen Schritten in die Flur hinaus. Horchend und spähend, geräuschlos, schleichend und inne haltend, wenn unter dem Gewicht seines starken Körpers die Treppenstufen zu knarren begannen.
Ein Dieb, der mit der Blendlaterne eine gefährliche nächtliche Haussuchung beginnt, konnte nicht vorsichtiger sein. Er hatte Saragossa stürmen helfen, aber sein Herz hatte schwerlich dabei so heftig geschlagen, als es jetzt der Fall war in seinem eigenen sicheren Hause. Scham und geheime Furcht überkamen ihn bei dem ersten Gedanken, daß Jemand erwachen, ihn hören, ihm begegnen könne. Aber wer sollte das sein? Die Dienstleute schliefen weit ab im Untergeschoß, doch wenn selbst Einer in der Nähe gewesen wäre, er würde voller Entsetzen sich verkrochen haben, denn sicherlich hätte er um keinen Preis sich mit Geistern und Gespenstern eingelassen. Die Töchter des Majors hatten ihr Schlafzimmer ebenfalls nicht hier oben, es blieben somit nur Gottberg und Rachau übrig, doch auch diese Beiden waren nicht so nahe gebettet, und jetzt nach mehreren Stunden, mitten in der Nacht, ließ sich von ihnen annehmen, daß sie im festen Schlaf lägen. Was sollten sie auch wachen, und welcher Zufall sollte sie herbeiführen? Endlich aber blieb immer noch manche Ausrede übrig, denn unnatürlich schien es eben nicht, daß der Hausherr nach solchem traurigen Ereigniß einen Umgang in seinem Hause hielt.
Mit allen diesen Gründen stärkte der alte Soldat seinen Muth, der durch sein Verlangen nach Gewißheit oder durch seine aufgeregte Begier nach Geld und Gut noch mehr befestigt wurde. Er empfand kein Grauen vor dem Anblick, der ihn erwartete. Den Tod hatte er in so vielen und schrecklichen Gestalten gesehen, daß der Gedanke an die Nähe dieses Leichnams ihn wenig anfechten konnte.
Mit verhaltenem Athem nach allen Seiten blickend hatte er jetzt die obere Vorflur erreicht, und zu seiner Genugthuung ließ die Treppe keinen Laut mehr hören. Das tiefste Schweigen der Nacht wurde nur von dem leisen Klappern eines Fensters unterbrochen, mit dessen losen Scheiben der Wind spielte. Durch einen schmalen Spalt der verschlossenen Laterne drang das Licht und zuckte über die nackten Wände hin, der Richtung folgend, welche ihm der schattenhafte Wanderer gab, bis es an der Thür im Hintergrunde haften blieb, über welcher sich das Bogengewölbe kreuzte.
Auf diese Thür ging der alte Soldat jetzt ohne Zögern los. Vorsichtig brachte er den Schlüssel in das Schloß, und da dasselbe, seit Wilkens dies Zimmer bewohnte, frisch geölt worden war, schloß es mit Leichtigkeit ohne das geringste Geräusch zu machen. Eben so leicht und leise öffnete sich die Thür, und das Licht fuhr in den düstern hohen Raum, ohne ihn erhellen zu können.
Der Major blieb auf der Schwelle stehen, doch seine Hand zitterte nicht, als er die Klappe der Laterne öffnete und sie gegen das Bett richtete. Ein weites weißes Laken bedeckte dies, unter dieser Hülle lag der entseelte Körper, dessen Formen da und dort deutlicher wurden. Nachdem der Major einige Augenblicke lang darauf hingeblickt hatte, zog er die Thür leise hinter sich zu und näherte sich der öden Lagerstätte.
Mitleidige Hände hatten den Unglücklichen entkleidet. Seine Kleider lagen auf verschiedenen Stühlen; auf dem Tische lag seine Uhr, der Ring, den er getragen, ein Geldtäschchen und was man an kleinen Gegenständen sonst bei ihm gefunden. Seine Koffer standen an der Wand, vergebens aber blickte der Erbe nach der Casette umher, sie war nicht zu entdecken. Allein sie fand sich bald, denn sie stand unter dem Bette, und als er sie hervorgezogen, hingen seine Blicke mit solchem Verlangen sich an dem geheimnißvollen Kasten fest, als wollten sie den metallbeschlagenen Deckel zersprengen.
Der Kasten war verschlossen, wo war der Schlüssel? Er prüfte ihn nach allen Seiten, er hob ihn auf, er wog ihn in der Hand. Er fühlte sich leicht genug an. Hatte der Dieb schon sein Werk vollbracht? Er zitterte vor Furcht. Der Schlüssel! Der Schlüssel! Hastig in gieriger Angst suchte er danach, auf dem Tische, in den Kleidern, unter den Geräthen, nirgend war er zu finden. Seine Augen blieben an dem Lager des Todten hängen. Es fiel ihm ein, daß auch die anderen Schlüssel fehlten, und daß Wilkens alle zusammen an einem Stahlringe aufgereiht in seiner Weste getragen hatte. Diese Weste trug er noch.
Der Major folgte der Eingebung, die ihn leitete, er faßte das Laken und schlug es zurück. In dem Augenblick hörte er ein leise Klirren. Er hielt die Schlüssel in seiner Hand und schaudernd zog er diese zurück, sie war mit den eisigen Fingern des Todten in Berührung gerathen.
Das Streiflicht der Laterne flog über das starre blaßgraue Gesicht, das mit offenen Augen zu ihm aufsah.
Du, der mir nehmen wollte Alles, was mein war, sagte er halblaut zu ihm hin, du wirst mich nicht mehr peinigen. Welche Qual für dich, daß du mir Alles geben und lassen mußt.
Das Gewölbe murmelte die Worte hohl zurück. Er sah sich um, denn er glaubte ein Rauschen hinter sich zu hören, eine kalte Luft zu fühlen, die ihn anwehte; ihm fiel die Gespenstersage von der dämonischen Tante ein. Aber in der nächsten Minute hatte er die Anwandlung überwunden.
Und wenn sie hier erschiene, sagte er umherschauend, sie würde mir Recht geben müssen. Ich würde ihr vorwerfen können, daß ihr schändliches Testament dies gethan hat.
Indem er sich niederbückte, steckte er den kleinen Schlüssel in das Schloß der Casette, die mit einem Federdruck aufsprang. Voll der gespanntesten Erwartung schlug er den Deckel vollends zurück, hielt die Laterne darüber hin, schaute hinein, griff mit der Hand dem Lichtschein nach und fuhr überrascht in die Höhe. Erstaunen, Aerger und Enttäuschung malten sich in seinem Gesicht.
Ist das möglich! rief er dann überwältigt. Ist das Alles!
Alles! antwortete eine Stimme.
Entsetzt prallte er zurück. Bis ins Mark war es ihm gedrungen. Er streckte die Hand mit der Laterne vor sich aus, und sein Haar sträubte empor. Eine weiße schmale Gestalt stand an der Thür.
Wer da?! schrie der alte Soldat seiner Natur folgend.
Nichts ist darin, antwortete die Gestalt leise sich nähernd, als diese Strickleiter, dieser Strick und dieser Stock, der als Kurbel dienen kann. Endlich dies kleine doppelläufige Pistol.
Herr von Rachau! murmelte der Major mit einem tiefen Athemzuge.
Rachau in seinem weißgrauen Mantel, den Kopf von einer weißen Nachtmütze bedeckt, winkte ihm beruhigend zu.
Lassen Sie uns leise sprechen, sagte er. Ich konnte nicht schlafen und wurde durch ein Geräusch, das ich zu hören glaubte, hierher geführt. Leicht könnte es Anderen eben so gehen, wie mir, fuhr er fort. Ich kann Ihnen über den Inhalt dieses Kastens einigen Aufschluß geben. Wahrscheinlich sind Sie in der Absicht hierher gekommen, diesen Behälter, in welchem Sie Sachen von großem Werth vermutheten, in besondere Obhut zu nehmen?
Die Frage hatte einen so spöttischen Anklang, daß Herr von Brand, dessen Bestürzung und Scham ohnehin groß genug waren, nur mit einem unverständlichen Gemurmel antwortete.
Ihr Irrthum war ein sehr verzeihlicher, sagte Rachau, denn es giebt wohl Wenige, die nicht von diesem Kasten getäuscht worden sind. Die Sorgfalt, mit welcher unser verewigter Freund ihn behandelte, ihn nie von sich ließ, keine Reise ohne ihn antrat, mußte Jedermann glauben machen, daß kostbare Dinge darin verborgen seien, dennoch hat er nie etwas anderes enthalten, als was Sie soeben gefunden haben.
Herr von Brand hatte sich erholt und begriffen, daß er nichts Besseres thun könnte, als einzugestehen, was Rachau voraussetzte.
Ich will nicht leugnen, daß Sie Recht haben, sagte er. Ich vermuthete, daß Wilkens große Summen und Documente mit sich führte, und der Gedanke beunruhigte mich – nicht, wie ich gesollt, Vorsorge zu treffen –
Damit kein Unbefugter sich ihrer heimlich bemächtigte, fiel Rachau mit seinem ironischen Lächeln ein. Sie hatten nichts zu besorgen. Unser verewigter Freund war viel zu vorsichtig, um sich mit vielem Geld zu belasten. Dort auf dem Tische liegt sein Taschenbuch, worin Sie finden werden, was er an Baarmitteln vorräthig hatte, und welches allerdings besser bewahrt sein sollte. In jenem größeren Koffer aber befindet sich ein Schreib- und Reisekasten, welcher, so viel ich weiß, einen vollständigen Nachweis über das gesammte Vermögen des theuren Dahingeschiedenen enthält, nebst manchen anderen Papieren, die wichtig für Sie sein werden.
Der Major beruhigte sich immer mehr; was er vernahm, mußte ihn dankbar stimmen, zugleich auch die Besorgnisse über dies nächtliche Begegnen aufheben.
Ich bin Ihnen sehr verbunden, sagte er, und werde gewiß Ihre freundschaftliche Theilnahme nie vergessen.
Niemals wird sich diese verleugnen, erwiderte Rachau. Jeder Dienst, den ich Ihnen leisten kann, wird mit Freuden von mir geleistet werden.
Dann nehmen Sie im Voraus auch von mir dies Versprechen, sagte Brand mit seiner gewohnten Herzlichkeit.
Diese gütige Versicherung macht mich überaus glücklich, versetzte Rachau, ich werde sie zu verdienen suchen.
Gut, gut! antwortete Herr von Brand ganz zufrieden gestellt, so können wir diesen traurigen Raum verlassen; aber was zum Henker! hatte denn dieser Kasten mit Stricken und dem kleinen Handpuffer eigentlich zu bedeuten?
Rachau sah lächelnd auf den Kasten nieder und sagte dabei:
Unser verewigter Freund war der furchtsamste und mißtrauischste Sterbliche, den es geben kann. Beständig quälte er sich damit ab, welches Unheil und welche Gefahren ihn bedrohten. Er beschäftigte sich mit allem möglichen Unglück, das ihm begegnen konnte, ganz besondere Angst aber hatte er davor zu verbrennen. Somit reiste er niemals ohne eine Strickleiter, um sich zum Fenster hinaus retten zu können. Niemals wohnte er mehrere Treppen hoch, und jede Treppe von Holz erregte ihm schwere Bedenken. So auch mochte er kein Zimmer leiden, war es auch das schönste und beste, das mehr als eine Thür hatte, weil um so leichter Diebe einbrechen könnten. Die Eingangsthür verschloß und verriegelte er stets sorgfältig, und wenn eine zweite Thür nicht zu vermeiden war, wie dies in Gasthöfen häufig oder fast immer der Fall ist, so dienten der Strick und der starke Knittel dazu, einen Knebel an Klinke und Einfassung festzubinden und zu drehen, welcher jedes Eindringen verhinderte. Niemals schlief er mit einem Anderen in demselben Zimmer, auch mit mir nicht, denn seine Furcht, im Schlaf überfallen zu werden, ließ dies nicht zu; neben seinem Bett aber lag stets dies doppelläufige Terzerol, geladen und mit Zündhütchen versehen, um sogleich davon Gebrauch zu machen.
Er nahm das Terzerol heraus, auf dessen Pistons wirklich die rothen Kupferkapseln steckten, und sagte dabei:
Ich werde es behalten, es soll mir ein Andenken sein; überdies würde es auffallen, wenn es vorgefunden würde. Auch die Stricke lassen Sie uns beseitigen, wir können andere gleichgültige Dinge dafür hinein thun. Niemand braucht von dieser angstvollen Vorsicht etwas zu erfahren. Man könnte sich allerlei Fabeln damit zusammenreimen.
Er ist wirklich ein noch größerer Narr gewesen, als ich dachte, sagte der Major.
Nicht allein ein Narr, antwortete Rachau; er war ein herzloser eigennütziger Mensch. Sie haben dies kennen gelernt.
Leider ja, murmelte Brand.
Abgefeimt für Alles, was ihm Vortheil versprach. Ohne Gefühl und ohne Gewissen.
Das hat er bewiesen.
Ich kann mir Ihre Entrüstung vorstellen. Sein Betragen in Ihrem Hause war darauf berechnet, Ihnen Widerwillen einzuflößen.
Beleidigt hatte ich ihn nie.
Aber sein Plan mußte Ihnen bald einleuchten. Anscheinend warb er um ein zärtliches Familienband, in Wahrheit hat er nie daran gedacht. Er wollte Ihr Geld, und wenn Sie den Muth gehabt hätten, ihm die Hand, welche er begehrte, zuzusagen, würde er wahrscheinlich schmählich davon gelaufen sein.
Der Niederträchtige! rief der Major, indem er zornig auf den Leichnam blickte.
Die Unterredung war bisher von Beiden im dumpfen Geflüster geführt worden, bei diesem lauten Ausrufe legte Rachau ihm die Hand auf den Arm und winkte ihm Schweigen zu.
Die allergrößte Vorsicht ist nöthig. Leicht ist ein Verdacht aufgeweckt. Die Umstände sind allerdings derartig, daß man nicht wissen kann, was schon jetzt in den Köpfen spukt.
Welcher Verdacht? fragte der Major mit unsicherer Stimme.
Fallen Ihnen nicht alle Vortheile dieses plötzlichen Endes zu?
Das ist nicht meine Schuld.
Können Sie gewiß sein, daß nicht noch andere Leute wissen, wie es mit jenem Testament steht, dessen Abschrift dort im Koffer liegt, und was dieser kalte Mann hier beabsichtigte?
Meinen Sie das wirklich? fragte Herr von Brand noch bestürzter.
Ueberlegen Sie es. Weiß nicht ein Jeder, daß Wilkens mit Ihnen ging und nicht wieder lebendig gesehen wurde? Lag er nicht an einem Dornenstrauch und war es nicht ein Dorn, der Ihren Finger blutig gestochen hatte?
Herr von Rachau! sagte der Major bebend.
Still! flüsterte Rachau. Wissen Sie nicht, daß man Sie für jähzornig und erbarmungslos hält, daß die leichtgläubige Menge Ihnen böse Dinge nachsagt?
Ich – ich! stammelte Brand – wer wagt das? Ich verachte die infame Lüge!
Wenn es aber keine Lüge ist?
Was – soll das heißen?
Rachau blickte ihn starr an. Er griff nach der Laterne und faßte den Arm des Majors. Schweigend wandte er ihn dem Todten zu, schweigend faßte er in dessen Haar, theilte es nach beiden Seiten hin und deutete auf eine blutige kleine Vertiefung.
Blicken Sie hierher, flüsterte er fast unhörbar. Das ist kein Dornenriß, das ist ein kleines, tiefes, viereckiges Loch. Es ist durch den Schädel bis ins Hirn gedrungen, es hat den augenblicklichen Tod herbeigeführt. Kein Schlagfluß wie der gescheidte Doctor sagt, dies kleine Loch ist die Ursach.
Gerechter Gott! stöhnte der Major.
Und es ist entstanden durch ein feines und spitzes Instrument, fuhr Rachau in derselben Weise fort. Es sieht auf ein Haar so aus, wie jenes Loch im Schädel des Pferdes.
Wahnsinn! Bei meiner Ehre! Nein! nein! rief Brand auf seine Brust schlagend.
Beruhigen Sie sich. Um des Himmels willen! keinen Laut, flüsterte Rachau. Alles wäre verloren, wenn Jemand Sie hörte, Alles kommt darauf an, ewiges Schweigen darüber zu werfen. Ich spreche keine Gewißheit aus, ich beschuldige nicht, ich klage nicht an, aber fragen Sie sich selbst, was daraus entstehen würde. Daß dieser Schädel zerschmettert ist, würde jede Untersuchung leicht darthun; daß, wie Sie selbst behaupten, Niemand hier umher den feinen Hammer zu gebrauchen weiß, als Sie allein, ist kein Geheimnis.
Himmel und Hölle! Ich ein Mörder! stammelte Brand mit erstickter Stimme.
Das soll Niemand sagen – Niemand! fiel Rachau ein. Fort mit jedem so entehrenden Verdacht. Fort mit diesem Todten in seine Gruft! Er hat sein Schicksal zehnfach verdient, keine Thräne wird um ihn fließen.
Aber ich, sagte der Major schauernd – meine Ehre! Herr Gott, meine Ehre!
Wer rührt daran? flüsterte Rachau. Ein Gehirnschlag ist auf jeden Fall sein Ende gewesen. Wenn er in der Erbe ruht, ist Alles vergessen.
Ich darf es nicht zugeben. Nein ich darf es nicht zugeben!
Nicht? fragte Rachau ihn kalt anblickend. Wollen Sie es auf eine Untersuchung ankommen lassen? Ich rathe Ihnen, wohl zu bedenken, was Sie thun. Sie haben Zeit bis morgen, um darüber nachzudenken, fuhr er fort. Bis jetzt bin ich der Einzige, der das entdeckte, was Sie jetzt bemerken. Als ich den Leichnam mit Toni auffand, untersuchte ich seinen Kopf, weil Blut daran hervorquoll, und mein Entsetzen war groß. Ich entfernte, was sich entfernen ließ, ich drückte die Hautwunde zusammen und strich das Haar darüber. Wenn es zu einer Untersuchung kommt, murmelte er an dem Ohr des alten Soldaten, was wird die Folge sein? Welch' Aufsehen muß dieser Proceß machen, Ihre Familie, mein verehrter Freund – die Vorurtheile der Menschen die unglücklichen Umstände –
Der Major stand mit weit offenen Augen, zitternd drückte er seine Hände zusammen.
Mein Sohn, stöhnte er.
Alle die Schuldlosen, alle! Kein Wort mehr, handeln Sie rasch und entschlossen, es kann allein vor Schmach und Verderben retten. Fort mit diesen Stricken, ich werde sie beseitigen. Die Papiere aus dem Koffer legen wir in den Kasten, die Testamentsabschrift nehmen Sie an sich.
Er legte das Haar des Todten über die Wunde, warf die Hülle über den Körper, nahm den Schlüssel und öffnete den Koffer. Aus der Schreibmappe zog er Papiere und Briefe hervor und legte sie in den Kasten; nach wenigen Minuten war Alles geschehen, was er beabsichtigte.
Hier ist die Testamentsabschrift, sagte er, von dieser vergessenen Sache bracht Niemand Notiz zu nehmen. Niemand darf sie aufrühren. Wir müssen was irgend Verdacht erregen kann sorgfältig unterdrücken. Stecken Sie es ein und verbrennen Sie es.
Herr von Brand griff mechanisch nach dem Papier; er hielt es in seinen Fingern ausgestreckt, als schwanke er, ob er es nehmen sollte. Wenn ich es thue, sagte er, hat es nicht den Anschein, als ob ich ich wirklich fürchten müßte – und Sie selbst – Sie könnten glauben aber ich bin unschuldig!
Was mich betrifft, fiel Rachau ein, so denke ich nur, daß nichts zu ändern ist, und glaube nur, daß es meine Pflicht ist, Ihnen beizustehen, wenn ich dies vermag.
Ich erkenne es dankbar, antwortete Herr von Brand ihm die Hand drückend, die Klugheit mag es rechtfertigen, aber dennoch Herr Gott, was soll ich thun! – nein, ich will warten.
Worauf wollen Sie warten? fragte Rachau im entschlossenem Tone. Auf ein Gefängniß, auf Kreuzverhöre, auf die Verzweiflung Ihrer Kinder? Sie sind unschuldig, Niemand zweifelt daran und wird daran zweifeln, wer aber will Zweifel aufrühren? – Wir haben hier nichts mehr zu thun. Lassen Sie morgen früh die Justiz kommen und den Sarg bestellen. Blumenkränze genug sind vorhanden, um diese Leiche zu schmücken. Gute Nacht, Herr von Brand. Ein Mann von solcher Thatkraft und solcher Lebenserfahrung wird seine Gewissensruhe zu bewahren wissen.
Er hielt ihn bei der Hand fest und führte ihn der Thür zu. Der Major hielt sich krampfhaft an ihn fest.
So stehen Sie mir bei in dieser schweren Zeit, bat er.
Immerdar, darauf verlassen Sie sich, versetzte Rachau, Sie sollen den treusten und ergebensten Freund finden.
Leise schlüpfte er in den Gang hinaus, und Herr von Brand verbarg das Papier in seiner Tasche, schloß vorsichtig die Thür und erreichte verstört und in größter Aufregung sein Zimmer.
Die Beerdigung des Todten erfolgte vorschriftsmäßig am dritten Tage, nachdem alle Formalitäten erfüllt waren, in so glänzender Weise, wie es den Verhältnissen nach möglich war. Die Gutsherrschaft besaß ein Erbbegräbniß; dort neben der verewigten Tante, deren eigensinniges Testament ihn zu seinem Schaden hierher geführt, wurde Eduard Wilkens zur Ruhe gebracht. Der erste Prediger der Stadt hielt ihm eine glorreiche Leichenrede, die Armen segneten ihn für die Geldsumme, welche Herr von Brand vertheilen ließ, und die vornehmen Leute, welche der Major zum Leichenbegängniß seines Verwandten eingeladen hatte, zeigten sich voller Theilnahme und vermehrter Freundschaft.
Der geschwätzige Arzt hatte dafür gesorgt, daß Jedermann wußte, wie dieser kurzhalsige Vetter nothwendiger Weise umgekommen, aber es fehlte auch nicht an Gerüchten, daß er ein schönes Vermögen hinterlassen habe, welches nun dem Herrn von Brand zufallen werde. Es gab noch manche Leute in der Stadt, welche sich der vergangenen Umstände erinnerten. Einige hatten den alten Wilkens beim Tode der Tante hier gesehen, Andere wußten von den Familienzerwürfnissen, welche damals stattfanden, aber die Zeit war darüber hingegangen, und der Major wurde nur um sein Glück beneidet, das ihm nicht allein damals Reichthum verschafft, sondern jetzt ihm unverhofft noch mehr zugeworfen.
Mancher machte sich daher heimlich lustig über den kummervollen Ernst dieses glücklichen Erben und über den Gram in seinem Gesicht; denn nicht zu leugnen war es, daß der tapfere Major sehr übel aussah. Seine sonst so stolzen, festen Blicke waren gesenkt und niedergeschlagen, das kräftige vollgeformte Gesicht hatte gleichsam über Nacht Falten bekommen, und sein freimüthiges soldatisches Wesen schien durch den plötzlichen Verlust dieses geliebten Verwandten so weit heruntergestimmt, daß Alles weich an ihm geworden, sogar die Stimme. Die Billigeren nahmen diese Zeichen als Folgen des Schreckens und der Aufregung, die Anderen meinten spottend, man könne doch nicht lachen, wenn man einen reichen Vetter begrübe, es sei daher anständig, so gerührt als möglich zu erscheinen, alles Weitere würde sich schon finden.
Die neugierigen Blicke untersuchten aber nicht allein den Major, sondern auch seine Familie und beschäftigten sich ganz besonders mit Fräulein Luisen. Daß der Verstorbene mit besonderen Absichten gekommen sei, schien den Meisten sehr glaublich, und Wenige gab es, die daran zweifelten, daß Vater wie Tochter nicht Nein gesagt haben würden. Auf jeden Fall jedoch war der Tod rascher gewesen, als der Bräutigam, und was nun wahr oder nicht wahr sei, was Fräulein Luise gedacht oder gewollt habe, und ob sie jetzt traure oder sich freue, blieb eine ganze Woche lang den Untersuchungen aller Kaffeegesellschaften in der Stadt überlassen.
Uebrigens ließ sich nichts Auffälliges bemerken, der wohlanständigste Ernst war während dieser Zeit von allen behauptet worden. Die Familie war in Trauer, und Fräulein Luise hatte mit gefalteten Händen und weinenden Augen dem Sarge nachgesehen, der mit Kränzen und Blumen geschmückt war. Auch der kleine zierliche Herr von Rachau, der Freund und Begleiter des Verewigten, schritt kummervoll einher, und über ihn und was aus ihm werden würde, ob er abreisen, ob er länger bleiben werde, geschah viel Kopfzerbrechen. Offenbar hatte er sich in dieser Zeit der Schrecken der Familie sehr ergeben und nützlich erwiesen. Immer war er zu Rath und Hülfe bei der Hand. Er besorgte mit dem Doctor Gottberg die Anstalten zum Begräbniß, er ordnete an, er unterstützte den betrübten Hausherrn, er tröstete die Fräulein und unterhielt die zahlreichen theilnehmenden Besuche mit der Erzählung der traurigen Thatsachen, welche er unverdrossen immer von Neuem wiederholte.
Die liebevolle Aufmerksamkeit und Thätigkeit eines so ergebenen Freundes mußte überall Wohlgefallen erregen, auch war das ganze Benehmen des Herrn von Rachau geeignet, günstig über ihn zu urtheilen. Die sanften und freundlichen Züge seines Gesichts, dem es doch nicht an würdigem Anstand fehlte, wurden von feinen und höflichen Formen unterstützt. Er war ohne Zweifel ein angenehmer und gewandter Herr, eben so bescheiden wie klug, und mehr als ein Freund des Majors wurde von seiner Unterhaltung so eingenommen, daß er es als ein Glück pries, daß die Familie einen so treuen Beistand gefunden.
In der That bewährte sich dies auch fortgesetzt, denn Rachau betrieb mit unablässigem Eifer die Angelegenheiten, welche sich nothwendig an das betrübte Ereigniß knüpften. Das Gericht hatte, was Wilkens gehörte, in Beschlag genommen, und Rachau das Verzeichniß aller Gegenstände, die seinem Freunde gehörten, angefertigt. Da Herr von Brand zu niedergeschlagen war, um sich mit diesem Geschäft zu befassen, hatte Herr von Rachau es übernommen, den Thatbestand dem Richter dargelegt, die Effecten überliefert, die Schreiberei besorgt, von dem vorgefundenen Vermögensnachweis sich aber eine beglaubigte Abschrift verschafft.
Am Tage nach dem Begräbniß sprach er darüber mit dem Major, den er im Garten fand. Der Major hielt die Hände auf seinen Rücken, senkte seinen Kopf nieder und zog seine Augen düster zusammen, Rachau dagegen hatte seine unbesorgte und lächelnde Miene vollständig wieder angenommen, und wenn etwas an ihm verändert schien, so war es nur die vielleicht noch vermehrte Aufmerksamkeit, welche er auf den Putz seiner zierlichen Person verwandte. Er trug vortrefflich lackirte Stiefeln, sein dünnes Bärtchen war sauber gekämmt, sein Rock vom modernsten Schnitt mit Atlas gefüttert, und seine kleinen weißen Hände in blaßgelbe Handschuhe gesteckt.
Mein theuerster Freund, sagte er sanft ermahnend, als er keine Antwort auf eine Frage erhielt, Sie müssen endlich aufhören, Ihren trüben Gedanken nachzuhängen. Wir haben jetzt, wie ich denke, unseren Herzensgefühlen genug gethan und können mit gutem Gewissen uns glücklicheren Empfindungen hingeben.
Mit gutem Gewissen, murmelte der Major vor sich hin. Es ist mir so –
Was ist Ihnen?
Es ist mir so, als merkte ein Jeder, daß ich ein schlechtes Gewissen habe.
Wer wird sich mit solchen Einbildungen quälen, lächelte Rachau.
Haben Sie den Kerl gesehen, den Mathis, fuhr Brand den Kopf noch tiefer senkend fort: gestern, beim Begräbniß, wo er am Kirchhof stand, dicht bei mir, und wie er plötzlich höhnisch auflachte?
Für diese Ungezogenheit ist er hinausgeworfen worden, sagte Rachau.
Ich glaube nicht, nein, ich glaube nicht, seufzte der Major.
Was glauben Sie denn nicht, mein verehrter Freund? lächelte Rachau, indem er vertraulich dessen Arm nahm.
Daß mein Gewissen so leicht wieder ruhig wird, erwiderte der alte Soldat.
Was kann Sie denn im Ernst beunruhigen, erwiderte Rachau. Es ist nicht die geringste Veranlassung dazu.
Es kommt mir vor, fuhr Herr von Brand grollend fort, als sähen mich alle Augen verdächtig an. Selbst dieser elende Bursche mit seinen frechen schändlichen Blicken.
Wer wird sich solchen Grillen überlassen, sagte der tröstende Freund. Der nichtsnutzige Kerl ist nur zu verachten.
Aber meine eigenen Kinder, murmelte der Major, und der Doctor Gottberg. Ich bin in einer schrecklichen Lage. Vor allen Augen zittre ich.
Sie peinigen sich ohne allen Grund. Zeigen Sie nur ein ruhiges, heiteres Gesicht.
Kann ich es denn? Kann ich offen mit einem Menschen sprechen? fragte der Major, indem er sich zornig aufrichtete. Kann ich sein, wie ich sonst war?
Ich weiß nicht, warum Sie nicht so sein sollten.
Weil es etwas giebt, das ich ihnen verbergen muß; weil ich etwas weiß, das mich zu Boden zieht. Ich hätte – er brach ab und sagte mit Bitterkeit: Jetzt ist es zu spät!
Sie gingen beide einige Schritte weiter, dann begann Rachau den Staub von seinen Stiefeln zu schlagen.
Es hat lange nicht geregnet, sagte er, aber da steigen schwarze Wolken auf, wir werden ein Gewitter bekommen. Das ist zuweilen sehr gefährlich, wenn etwa der Blitz einschlägt und ein Haus verbrennt. Aber was thut's, wenn wir selbst nur nicht dabei umkommen. Man baut sich ein neues Haus und wohnt darin meist viel bequemer. Die alte Hütte muß man natürlich vergessen; es wäre Thorheit, wollte man es nicht thut.
Ihre Vergleichungen sind unpassend, sagte Herr von Brand mit einem finsteren Blicke. Eben so wohl hat Ihr Rath –
Meine Vergleichungen sind nicht unpassend und mein Rath war der beste, den ich Ihnen geben konnte, fiel Rachau mit seiner sanften gewinnenden Stimme ein.
Daß ich ihn nicht befolgt hätte! murmelte der Major.
Dann sagen Sie sich selbst, was erfolgt wäre. Doch es ist nutzlos, über etwas zu streiten, wenn man vollendete Thatsachen vor sich hat. Was geschehen ist, ist geschehen, kein Gott bringt die Vergangenheit zurück. Sie müssen tragen, mein bester Herr von Brand, was Sie sich auferlegt, und mit dieser Ueberzeugung bleibt nichts übrig, als Klugheit und Muth.
Was glauben Sie denn von mir? fragte der Major, indem sein ganzer Kopf glühte. Glauben Sie etwa noch, daß ich – ich –
Halten Sie ein, unterbrach ihn Rachau bittend und doch mit einer eigenthümlichen Entschiedenheit. Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich kein Untersuchungsrichter bin, daß ich nichts glaube, nichts glauben will. Lassen Sie uns um des Himmels willen dies unerquickliche Thema nie wieder berühren. Ich weiß nichts, ich will nichts wissen. Ich weiß nur, daß Eduard Wilkens begraben ist, und ich begreife nur, daß dies Ereigniß jetzt als überwunden behandelt werden muß. Sie werden noch heut nach Breslau schreiben. Ich werde Ihnen den besten Justiz-Anwalt nennen. Sie werden ihm eine Vollmacht schicken, in Ihrem Namen Ihre Rechte zu vertreten, und die Erbschaftsangelegenheit wird von ihm in bester Weise geordnet werden, bis es vielleicht nothwendig wird, daß Sie selbst dorthin reisen, um Ihr Eigenthum in Empfang zu nehmen.
Nein! sagte der Major heftig. Ich werde niemals reisen.
So übertragen Sie es Ihrem Herrn Sohn, der die geeignetste und rechtsverständige Person dazu ist.
Die Erinnerung an seinen Sohn verwirrte den Major noch mehr.
Nein! sagte er noch einmal mit noch größerer Heftigkeit, der soll nie damit zu thun haben.
Gut, so bevollmächtigen Sie einen Anderen, der Ihr Vertrauen besitzt, einen Freund, der Ihnen ergeben ist.
Ich will nichts von dieser verfluchten Erbschaft! rief der Major mit dem Ausdruck des Abscheues.
Rachau lächelte dazu.
Sie wollen nichts damit zu thun haben? fragte er, sich zu ihm beugend, das wäre doch sehr wunderbar, was sollte man davon denken? Unmöglich kann dies Ihr Ernst sein, verehrtester Freund, es müßte das größte Aufsehen erregen. Würden nicht alle Menschen sich darüber die Köpfe zerbrechen, nach den Ursachen forschen, sich die seltsamsten Geschichten aushecken? Je weniger Aufsehen, je weniger Gerede, das ist eine alte Wahrheit. Ruhige Ueberlegung, theuerster Herr von Brand, kaltes Blut, keine Uebereilung! Sie müssen Ihr biederes, freundliches Gesicht wieder bekommen, das Ihnen so wohl steht und so viel Vertrauen verschafft hat.
Ein dumpfes Stöhnen des alten Soldaten war dessen einzige Antwort.
Rachau aber achtete nicht darauf, sondern fuhr mit derselben schmeichelnden Freundlichkeit fort:
Dann haben Sie durchaus nichts zu besorgen, allein Sie müssen meinen ergebenen Rath annehmen. Ich sage, Sie müssen, denn es ist nothwendig, und es giebt keinen, der besser wäre. Ihrer eigenen Familie wegen müssen Sie derselbe sein, der Sie waren, und was die Erbschaft betrifft – er fing an zu lachen – Ihre Bedenken gehen wirklich zu weit. Nein, mein verehrtester Herr von Brand, fuhr er mit lauter Stimme fort, in diesem Falle muß ich mich Ihren großmüthigen Zweifeln durchaus widersetzen. Verschmähen Sie Reichthum für sich, dann bedenken Sie, daß Sie Kinder besitzen. Da kommt Fräulein Luise. In diesem Falle, glaube ich, können wir auch Ihren Rath hören.
Schweigen Sie! Schweigen Sie! jagte der Major verstört.
Aber Herr von Rachau schwieg nicht. Ich muß Ihnen ungehorsam sein, erwiderte er, wenn Sie es mir nicht ganz bestimmt verbieten. Fräulein Luise besitzt meine höchste Bewunderung ihrer verständigen Einsicht, die überall das Richtige zu wählen weiß. Erlauben Sie mir, ihr mitzutheilen, was Sie so nahe angeht.
Luise hatte sich inzwischen genähert und jedes Wort gehört. Sie sah ihren Vater an, der mit dunkelrothem erhitzten Gesicht keine Antwort gab, und sagte mit ihrer gewohnten milden Freundlichkeit: Was ist es denn, das ich erfahren oder nicht erfahren soll?
O, sagte Rachau, es handelt sich um einen Haufen Gold, den Ihr Vater nicht nehmen will, obwohl er ihm mit dem allerbesten Rechte gehört.
Was uns gehört, können wir auch nehmen, erwiderte sie.
Sehr wahr und sehr weise, sagte Rachau. Viele nehmen sogar, was ihnen nicht gehört, ohne Scrupel und Zweifel, in diesem Falle aber ist übertriebenes Zartgefühl sogar unrecht, denn auch Ihnen gehört ein Theil davon.
So werde ich meine Ansprüche geltend machen, erwiderte sie.
Vortrefflich! rief Rachau. Niemand weiß den Werth des Goldes mehr zu schätzen, als die Frauen. Ihr Vater sträubt sich gegen die glücklichen Folgen des unglücklichen Ereignisses, das den schönen Frieden seines Hauses so bitter getrübt hat. Er will nichts von der Erbschaft wissen, die dieser Todte ihm, wenn auch sehr gegen seinen Willen, vermachte.
Luise legte ihren Arm auf ihres Vaters Schulter und blickte ihn liebevoll an.
Mein lieber, geliebter Vater, sagte sie, du mußt aufhören, dich zu betrüben. Wie groß auch deine Gemüthserschütterung war, so muß doch unabänderliches dich nicht allzusehr beugen.
Ganz, was ich sagte! Ganz aus meiner Seele gesprochen! fiel Herr von Rachau ein.
Wir sind ja alle bei dir mit unsrer Liebe und Sorge, fuhr Luise fort. Du mußt uns mit deinem alten guten Muthe stärken, der in so vielen Gefahren dir geholfen hat.
Sehr wahr! sehr schön! rief Rachau. Der Frohsinn, die alte Biederkeit dürfen sich nicht angrämeln lassen; in diesem edlen gastlichen Hause müssen alle guten Genien des Lebens sich wiederum versammeln. Es ist natürlich, daß Sie die Erbschaft nicht zurückweisen.
Das würde eine unerklärliche und auffallende Sache sein, sagte Luise.
Sehen Sie, mein bester Major, lachte Rachau, daß Fräulein Luise ganz in derselben Weise, mit denselben Gründen, mit der liebenswürdigsten und einsichtsvollsten Sicherheit meine Ansichten theilt.
Aber dennoch – dennoch bedrückt es mich, sagte der alte Soldat.
Was könnten Sie verständig dagegen einwenden? fragte Rachau.
Ein irres, scheues Feuer brannte in des Majors Augen. Es war, als wollte er sprechen, und die Seelenqual verzerrte und schloß doch seine Lippen. Der kleine geschmeidige Freund lächelte dazu in überlegener, fast spottender Art.
Ich kann meines Vaters Gedanken wohl verstehen, kam Luise ihm zur Hülfe. Es ist seiner Ehre peinlich, ein Erbe anzunehmen, das unter so besonderen Umständen ihm zufällt und niemals ihm bestimmt war. Neid und Mißgunst können nicht ausbleiben, die Menschen sind immer bereit dazu. Er möchte dies vermeiden. Aber, liebster Vater, du darfst dich daran nicht kehren. Bist du der nächste Erbe, so bewahre auch dein Recht. Wenn mein Bruder hier wäre, er würde dasselbe sprechen. Dein Recht ist auch zugleich unser Recht, und nun sei gut, sei stolz, mein geliebter Vater, laß alle deine Sorgen von deinen Lippen küssen.
Bravo! rief Herr von Rachau, indem er in seinen gelben Handschuh klatschte, ich muß Ihnen die Hand dafür küssen, verehrtestes Fräulein Luise. Wir müssen uns sämmtlich verbünden, den guten Papa zu erheitern; die Vollmacht aber soll noch heut abgehen.
Willst du unsere Bitten erfüllen, Papa? bat Luise.
Ja, mein Kind, sagte der Major gerührt.
Willst du unser lieber, Lustiger Papa wieder sein? schrie eine Stimme durch das Weinspalier, und im nächsten Augenblick sprang Toni durch die Ranken und umklammerte ihn. –
Der Doctor Gottberg folgte langsam in einiger Entfernung.
Ja, du übermüthiger Schelm! rief der alte Soldat, sie in seinen Armen hochhebend.
Und hier bin ich auch! stimmte Rachau freudig ein. Ich gehöre mit dazu, verlange auch mein Theil, wenn von Glück und Freude die Rede ist.
In erheiterter Stimmung reichte ihm der Major die Hand und ließ seine Blicke durchdringend auf ihm ruhen.
Sie sollen dabei sein, Sie müssen dabei sein! sagte er. In Gottes Namen denn – führen Sie die Sache, wie es am besten ist.
Ich hoffe Sie zur allseitigen Zufriedenheit zu beenden, versetzte Rachau, indem er dem Doctor zunickte, welcher sich eben einfand.
Begleitet und geführt von seinen beiden Töchtern ging jetzt der Gutsherr durch den sonnigen Raum, und es kam etwas in seine Brust von den alten Tagen und den alten Freuden. Beim Mittagstische ging es munter her, Herr von Rachau wußte die Gespräche zu beleben; er besaß den glücklichsten Humor dazu. Nur ab und zu sanken die Mienen des Majors zusammen, und einige Male richtete er seine Augen träumerisch starr auf den Platz, wo Eduard Wilkens gesessen hatte.
Es vergingen mehrere Tage, und während dieser Zeit ebneten sich die Verhältnisse immer mehr.
Herr von Rachau hatte sich, man konnte sagen, beinahe unentbehrlich gemacht und den gewichtigsten Einfluß auf alle Mitglieder dieses Familienkreises gewonnen. Am frühen Morgen schon fand man ihn bereit, Dienste zu verrichten, sich gefällig und ergeben zu bezeigen, kleine Ueberraschungen zu bereiten und für Alles, was Vergnügen gewährte, behülflich zu sein. Eine außerordentliche Geschicklichkeit und Anstelligkeit stand ihm dabei zu Gebot, und eben so gewinnend als gewandt wußte er Jeden nach seiner Weise zu behandeln.
Mit dem Major hatte er von jenem Tage ab kein Wort mehr über den Todesfall gesprochen. Er hatte sogar den Namen des unglücklichen Vetters vermieden, sammt Allem, was an ihn erinnern konnte. Dagegen erheiterte er den verehrten Freund auf jede Weise und wußte so meisterhaft alle Schwächen und Eigenthümlichkeiten zu benutzen, daß das geheime Band zwischen Beiden immer fester wurde.
Mit Fräulein Luisen gelangte Philipp von Rachau dagegen auf den Standpunkt zarter Verehrung und Huldigung. Er war sichtlich gern in ihrer Nähe, stets zierlich und galant und dabei verständig; ein eben so praktischer Rathgeber, wie voll humoristischer Einfälle, wenn es darauf ankam, sich auch nach dieser Seite geltend zu machen. Mit der wilden kleinen Toni hatte er den allervergnüglichsten Freundschaftsbund geschlossen, mit dem ehrbaren Doctor Gottberg dagegen einen ernsthaften, denn er suchte sich dem jungen Gelehrten jetzt noch mehr zu nähern, als es gleich Anfangs der Fall gewesen; dennoch gelang ihm dies am wenigsten.
Der Doctor war seit jener Stunde, wo er eben im Begriff gewesen, Luisens Vater die volle Wahrheit zu sagen, noch nicht wieder in der Lage gewesen, den Faden aufzunehmen, welcher damals so plötzlich zerriß. Es war natürlich, daß in den nächstfolgenden Tagen, während so viel Unruhe und Trauer das Haus füllte, keine Zeit dazu kommen konnte; doch auch jetzt ließ sich bei größerer Ruhe der günstige Augenblick nicht wahrnehmen. Es kam dem jungen Gelehrten vor, als ob Herr von Brand ihn absichtlich vermeide. Er wußte nicht einmal mit Gewißheit, ob der gütig gesinnte Vater Luisens wirklich die eigentliche Ursache kenne, weshalb er die Familie verlassen wollte, ob also die ermuthigenden Worte und Winke, welche er erhalten, eine Billigung der Neigungen seines Herzens ausdrückten. Allerdings schien dies so, er mußte es glauben, und in jenem Augenblick war die Wonne eines ganzen Lebens über ihn ausgeströmt; allein es erfüllte sich nichts von allen seinen Hoffnungen, ja selbst das, was er als wahr und ewig betrachtet, fing an sich mit einem Nebel zu umhüllen.
Daß Luise ihn liebte, trug er seit Monaten als eine freuden- und schmerzensreiche Seligkeit mit sich, obwohl es ihre Lippen niemals ausgesprochen hatten. Es war ein offenes Geheimniß, denn die Decke, welche es verbarg, war durchsichtig genug für beobachtende Augen, und gewiß gab es deren auch sogar unter den einfachen Leuten in der Umgegend. Aber die Liebenden selbst hatten in ihrer keuschen Glückseligkeit dies am wenigsten beachtet. Ihr langes Beisammenleben hatte die innigste Vertraulichkeit aufkeimen und reifen lassen, aber diese war lange Zeit ein reines Seelenglück geblieben, das alle Berechnungen von sich abhielt, um nicht in Zweifel und Unruhe zu verfallen. Erst als Eduard Wilkens plötzlich erschien, erwachten die Bedenken, und der Traum verrann vor der Wirklichkeit, welche sich jetzt nicht mehr abweisen ließ.
Plötzlich ausbrechende Leidenschaft hätte eine ihrem Charakter gemäße Entwicklung herbeigeführt, dem besonnenen jungen Gelehrten stellte sich jedoch sein Verhältniß anders dar. Er sah, was der reiche Vetter wollte, er fand auch in dem Benehmen des Majors Grund genug, um zu glauben, daß Herr von Brand jenen Bewerbungen nicht entgegen sei, und indem er Alles prüfte, überfiel ihn die Muthlosigkeit der Armuth und die Mahnung seiner gewissenhaften Ehrlichkeit. Der Auftritt, den er mit Wilkens erlebte, bestärkte ihn in seinen Entschlüssen, und statt seiner Liebe zu vertrauen, wucherte ihr Mißtrauen in ihm auf.
Luise war in jenen Tagen von dem Vetter fast ganz in Anspruch genommen, der ihr unablässig seine Aufmerksamkeit zuwandte. Zurückgewiesen wurde diese nicht so entschieden, wie Gottberg es wünschen mochte. Die Prahlereien des eitlen und widerwärtigen Mannes mit seinem Reichthum, seinem Wohlleben, seinen Zukunftsplänen und die verständlichen Anspielungen, welche er machte, konnten besser beantwortet werden. Er sprach von seiner kostbaren Wohnung, von seinem Landhause, von luxuriösen Einrichtungen und Reisen in verführerischer Weise, und obwohl seine gemeine Gesinnung und sein Benehmen Widersprüche genug boten, konnte die Aussicht auf eine glänzende Zukunft doch wohl die Wünsche eines Mädchens bestimmen.
Gottberg gerieth darüber in Ungewißheit, und der Kampf in ihm vermehrte sich, je mehr er selbst es scheute, mit der Geliebten zu einem Verständniß zu gelangen. Endlich hatte das Schicksal sich eingemischt; Wilkens war vom Tode plötzlich fortgerafft; allein auch dies hatte nichts geändert. Man hätte denken sollen, daß mit der halben Gewißheit, die Luisens Vater ihm ertheilt, jetzt eine Minute voll Entschlossenheit genügte, um Luisen Alles zu sagen und Alles zu hören, was alle Zweifel vernichten mußte; allein diese Minute kam nicht. Es lag jedoch jetzt nicht an Gottberg, sie herbeizuführen, in seiner Lage drängte es ihn dazu; um so bangender empfand er es, daß Luise die Gelegenheit dazu vermied.
Es war in ihrem Benehmen gegen ihn eine Aenderung vorgegangen, die vielleicht Niemand bemerkte, als er selbst. In ihrer äußeren Begegnung hatte sich nichts verwandelt, das freundschaftliche Verhältniß schien dasselbe zu sein, die sorgliche gastliche Aufmerksamkeit schien sogar noch mehr beachtet zu werden; allein mitten darin richtete sich eine Scheidewand auf, aus irgend einer kalten Masse gebaut, die sein Herz schmerzhaft schaudern machte.
Anfangs glaubte er sich getäuscht zu haben, und er suchte einen Trost in ihrem Anschauen, in den stummen fragenden Blicken, die sich bittend an ihre Augen hingen. Er hatte in diesen Augen immer noch Hoffnungen gelesen, selbst zur Zeit, wo er muthlos war, und wie sie ihn anschauten, als ihr Mund zu ihm sprach: »ein Mann muß wissen, wie er in Gefahren handelt,« das hatte ihn beherzt gemacht. Jetzt aber sagten ihre Augen ihm nichts. Sie sahen ihn theilnahmlos an, mit so kalter Ruhe, daß er davor zurückschrecken mußte; und wenn dies der Zweck war, so wurde er erreicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen, sich ihr zu nähern, und nachdem er sich überzeugt, daß es ihr Wille sei, sein Verlangen nicht zu beachten, erwachte sein Stolz; zugleich machte er eine Bemerkung, die noch mehr dazu beitragen mußte, ihn darin zu bestärken.
Er sah, daß der Mann, welcher bisher eine Nebenrolle übernommen hatte, plötzlich zur Hauptperson geworden war, und er fühlte deutlich das Uebergewicht, das er überall erlangte. Vor dem unglücklichen Tage, der diese beiden argen Gäste hierhergeführt, war sein Leben ein wunderbar gesegnetes gewesen. Er wurde geehrt und geschätzt in diesem frohen zufriedenen Kreise. Heimlich blühte die Blume der Liebe in seinem Herzen auf, und keine rauhe Hand hatte daran gerüttelt. Eine jener schönen Idyllen war von ihm geträumt, in deren Frieden das dunkelste Leben sich verherrlicht, unerwartet endete diese Herrlichkeit mit einem Wetterschlage. Der Tod des einen Gastes hatte Gold ins Haus gebracht, die lebendige Regsamkeit des andern noch schlimmere Folgen.
Ein junger Edelmann von einschmeichelnder Gewandtheit, feinen Sitten, galant und zierlich, der Alles wußte und verstand, war der Freund und Rathgeber der Familie geworden. Wie wenig er sich mit ihm in so vielen Beziehungen messen konnte, mußte Gottberg sich eingestehen. Der anspruchlose junge Gelehrte konnte mit solcher Welterfahrenheit und Geschmeidigkeit sich nicht messen. Er erkannte alle Vortheile an, welche jener besaß, und wie er dagegen zu einer dunklen stillen Gestalt zusammenschrumpfte, gleich dem Götzen, den man einmal verehrt, den man aber nun, da ein glänzender neuer vorhanden, in den Winkel stellt und endlich ins Feuer wirft.
So kam er sich vor, indem er bemerkte, wie er immer mehr in Vergessenheit gerieth, vergessen auch von der, von der er es am wenigsten gedacht. Denn Herr von Rachau hatte auch über Luisen seine Herrschaft ausgedehnt, und mit entsagender Stille beobachtete Gottberg die Wirkungen, ohne sich zu widersetzen. Rachau nahm seine Stelle ein. Er las mit dem Fräulein französische und englische Bücher, denn er verstand beide Sprachen vortrefflich; er unterhielt sie geistreich und geschickt, er war der fröhliche immer anregende Gesellschafter, er begleitete sie auf ihren Spaziergängen und er vermehrte unablässig die Freuden und Zerstreuungen der Familie. Bald waren es gemeinsame Spazierfahrten, bald Parthien in der Nachbarschaft, bald Besuche in der Stadt, oder Gesellschaften im Hause. Herr von Rachau war unwiderstehlich in seinen Anordnungen, es fügte und schickte sich Alles, was er begann.
Gottberg verstand von allen diesen Künsten nichts, bei alledem aber würde er diesem Nebenbuhler nicht gewichen sein, wenn er eine Aufmunterung von der dazu erhalten hätte, die ihm allein diese geben konnte. Aber Fräulein Luise von Brand gab ihm kein Zeichen, daß sie empfände, was er empfand. Man hatte auch Gottberg zu den Spazierfahrten und Gesellschaften eingeladen, zumeist aber nahm er nicht daran Theil, und sein Ablehnen wurde nicht weiter beachtet, denn die Nachtheile davon fielen auf ihn zurück. Sein Verhältniß zu der Familie war in kurzer Zeit ein gespanntes geworden, der Major warf zuweilen verlegene finstere Blicke auf ihn, oder er sah fort, wenn Gottberg kam. Es drückte ihn etwas, er verschwieg es, aber dies Schweigen mußte doch endlich gebrochen werden.
Nachdem eine Woche und mehr vergangen, war Gottberg mit sich selbst einig geworden, daß es zu einer Entscheidung kommen müsse. Er war nicht zweifelhaft darüber, was er zu thun habe, dennoch fürchtete er sich weit mehr vor dem, was ihm bevorstand, als damals, wo er zuerst den Entschluß gefaßt, das Haus zu verlassen. Allein es mußte geschehen.
Als er gerüstet mit seinem Entschlusse in das Familienzimmer trat, hörte er Rachau sprechen. Dieser befand sich in dem anstoßenden Gemach, dessen Thür offen stand, und ohne Zweifel war es der Major, mit dem er sich unterhielt.
Sie sehen also, mein verehrter Freund, daß Alles in schönster Ordnung ist, sagte Rachau. Hier ist der Brief des Justizraths, der die erfreulichsten Nachrichten mittheilt.
Ich mag nichts davon hören, antwortete die tiefe Stimme des Herrn von Brand.
Aber Sie müssen es hören, lachte Rachau. Es sind ja Ihre eigenen kostbaren Angelegenheiten.
Machen Sie damit, was Sie wollen, fiel der Major ein.
Sie beehren mich mit einem Vertrauen, das ich gewiß verdienen will, erwiderte Rachau, allein auf jeden Fall müssen Sie doch erfahren –
Verschonen Sie mich damit. Wo ist Luise? Wir wollen nach der Stadt fahren.
Sie sollen nicht eher fort, bis ich Sie wieder ganz ruhig sehe, entgegnete Rachau. Sie müssen diese Sache anhören. Der Justizrath hat Ihre Vollmacht erhalten und wird Ihre Angelegenheiten führen. – Ich bitte Sie als Ihr ergebener Freund, nicht ungeduldig zu werden. Die ersten Schritte sind somit gethan. Das Gericht hat das gesammte Vermögen unter Siegel gelegt, die öffentliche Aufforderung an die Erben wird nächstens erlassen werden; es sind jedoch keine vorhanden, welche Ihre Rechte anfechten könnten. Ein Testament ist nicht gefunden; der Justizrath glaubt, daß in kurzer Zeit Alles geordnet sein werde. Hier sendet er zugleich die Uebersicht der Erbschaftsmasse, und ich freue mich, sagen zu können, daß mit Zuziehung der liegenden Gründe dieselbe noch höher veranschlagt wird, als ich glaubte. – Wir müssen dem Justizrath jetzt antworten, daß Sie mit Allem einverstanden sind und ihn bäten, die langsame Gerechtigkeit möglichst zu beschleunigen.
Gut, so antworten Sie ihm, unterbrach ihn der Major; meinetwegen braucht er sich nicht zu beeilen.
Geld und Gut bekommt man niemals genug und niemals früh genug, erwiderte Rachau. Bis zum Winter kann Vieles geschehen, und dann wäre es am besten, Sie verlebten ihn in der Hauptstadt.
Ich möchte fort von hier, ja, das möchte ich, sagte Herr von Brand.
Und warum sollten sich Ihre Wünsche nicht erfüllen? fragte Rachau.
Wahrlich! wahrlich! rief der Major aus tiefer Brust, ich habe nicht geglaubt, daß meine Gebeine in anderer Erde ruhen sollten.
Es wird für Fräulein Luise auch eben so angenehm wie zuträglich sein, fuhr Rachau fort, wenn Sie die Freuden und Genüsse des Lebens kennen lernt. Sie selbst, mein verehrter Freund, werden sich erheitern, zerstreuen. Sie werden in der Nähe Ihres Sohnes leben, werden geehrt und geachtet sein, und mit dem glänzenden Vermögen, das Ihnen zugefallen ist
Nein! rief der alte Soldat mit Heftigkeit, es hilft doch Alles nichts, es kann mir Alles nichts helfen!
Sie werden mit dieser lauten Stimme Zuhörer herbeirufen, sagte Rachau. Ich werde gehen und Fräulein Luisen aufsuchen, aber ich bitte Sie, sich zu beruhigen. Wie glücklich sind Sie, theuerster Herr von Brand, eine so schöne, kluge und liebenswürdige Tochter zu besitzen, wie viel habe ich Ihnen zu danken, daß Sie mir erlauben, noch immer in Ihrer Nähe verweilen zu dürfen.
O, ich hoffe – ich hoffe, sagte der Major, daß Sie uns nicht verlassen.
Gewiß nicht, so lange Sie wünschen, daß ich bleibe.
Muß ich es nicht wünschen – muß ich nicht! antwortete Brand.
Es lag in dieser Antwort ein eigenthümlicher Klang, der unwillkürlich offenherzig aussprach, was der alte Soldat dachte. Sie müssen bei uns bleiben, setzte er hinzu, denn Sie sind uns ja allen – allen lieb geworden.
Zu meiner wahren Freude, versetzte Rachau. Es wäre Thorheit, wollte ich verheimlichen, wie gern ich bleibe, und ich denke, Sie zürnen mir nicht, wenn ich hinzufüge, daß meine innigste Ergebenheit sich auch auf Fräulein Luise erstreckt.
Er hielt inne, der Major gab keine Antwort.
Es ist unmöglich, fuhr Rachau fort, nicht von so vieler Liebenswürdigkeit hingerissen zu werden, nicht zu hoffen und zu glauben, wenn man das Glück hat, ihr nahe zu sein.
So – so! fiel Herr von Brand ein, aber –
Kein Aber, unterbrach ihn Rachau, ich bitte Sie, bester Herr von Brand, kein Aber!
Sie wissen nicht, was ich Ihnen mittheilen möchte.
Ich will es auch nicht wissen, antwortete Rachau mit seiner einschmeichelnden Gewandtheit. Aber kein Aber, theuerster, verehrtester Freund. Gönnen Sie mir nur das Glück, Ihnen immer ergeben sein zu dürfen und zwingen Sie mich nicht, Sie verlassen zu müssen.
Gott steh mir bei! rief der Major, was fällt jetzt wieder auf mich!
Nichts, was Sie irgend beunruhigen könnte, versetzte Rachau. Fräulein Luise ist so voll himmlischer Güte für mich, daß ich ihr vertrauen darf. Was aber einen Gegenstand betrifft, von dem Sie, mein lieber Major, wünschen müssen, er wäre weit von hier, so müssen Sie sich überzeugt haben, daß Fräulein Luise zu einsichtsvoll ist, um nicht eben so darüber zu denken.
Meinen Sie – sagte Herr von Brand zögernd, aber er konnte nicht weiter fortfahren, denn im Nebenzimmer ließen sich jetzt starke Schritte hören.
Mit klopfendem Herzen hatte Gottberg das Gespräch bis dahin angehört und nicht gewagt, weder sich zurück zu ziehen, noch weiter zu gehen. Jetzt aber, wo es eine Wendung nahm, die wenige Zweifel übrig ließ, daß es ihn selbst betreffen sollte, konnte er es nicht länger ertragen. Mit festen Schritten ging er durch das Zimmer und zeigte sich an der Thür.
Da ist ja unser vortrefflicher Doctor! rief Rachau ihm entgegen.
Das Gesicht des Majors wurde dunkelroth, er betrachtete den Hauslehrer mit scheuen Blicken, der sich tief und schweigend vor ihm verbeugte.
Wo kommen Sie denn her? sagte er in seiner Verlegenheit, und warum – warum sehen Sie so erschrocken aus?
Ich bin nicht erschrocken, erwiderte Gottberg, und in aufsteigender Verdüsterung setzte er hinzu: Ich habe ein gutes Gewissen.
Den Major überkam seine Heftigkeit. Er warf den Kopf in die Höhe und ließ seine Augen rollen.
Was wollen Sie damit sagen? fragte er. Meinen Sie etwa, ich – den Satz ließ er unvollendet, denn seine Verwirrung kehrte zurück, er konnte seine zornigen Blicke nicht auf dem blassen, stillen Gesicht festhalten.
Ich erlaubte mir einzutreten, antwortete Gottberg gelassen, um einige Minuten Ihrer Zeit für mich zu erbitten.
Sie wollen mit mir reden? Was wollen Sie von mir?
Da es eine mich betreffende Angelegenheit ist, so würde ich bitten, zu bestimmen, wann ich Sie beschweren darf.
O, so – Sie wollen also ich soll – rief der Major in wachsender Unruhe.
Ich will dem Herrn Doctor Platz machen, fiel Herr von Rachau ein, indem er einen eigenthümlich lächelnden und spöttischen Blick über Beide gleiten ließ und sich verbeugte.
Nein! sagte der Major ihn festhaltend, als habe er Schutz nöthig. Sie sollen bleiben. Was der Herr Doctor mir mitzutheilen hat, können Sie ebenfalls wissen.
Vielleicht ist es ein Geheimniß, lächelte Rachau.
Ich habe keine Geheimnisse, welche sich vor den Augen der Menschen verbergen müßten, versetzte Gottberg; meine Absicht ist allein, dem Herrn Major zu wiederholen, was ich schon einmal – es war damals, wo das unglückliche Ereigniß uns plötzlich überraschte –
Damals! damals – verdammt mag es sein! rief der Major in großer Aufregung. Was wollen Sie?!
Meinen innigsten Dank Ihnen für so viele Güte aussprechen und wiederholen, daß meine Verhältnisse mich zwingen, an meine Abreise zu denken.
Herr von Brand that einen tiefen Athemzug. Sichtlich fühlte er sich erleichtert, dennoch nahm seine Verwirrung eigentlich zu. Die dunkle Röthe seines Gesichts verrann, er legte beide Hände auf seinen Rücken, als wollte er sie verstecken, und der mächtige Kopf senkte sich nieder.
Sie wollen also fort? fragte er unsicher.
Noch heut, wenn es sein kann, oder doch morgen.
Das – das ist ihr Entschluß? fragte Herr von Brand in derselben Gemüthsbewegung.
Sie sollten uns noch ein paar Wochen schenken, fiel Rachau ein. Mein bester Herr Doctor, das ist hart, wahrhaftig sehr hart. Da kommt Fräulein Luise. Denken Sie, Fräulein Luise, der gute Doctor will nicht länger bei uns bleiben.
Luise trat in Hut und Tuch herein, sie war zu der Fahrt nach der Stadt bereit. Ohne merklich von dem, was sie vernahm, überrascht zu sein, blieb sie einige Schritte vor Gottberg stehen. Ihr sanftes Gesicht hatte den Ausdruck trauernder Theilnahme, aber auch die Fassung, mit welcher man etwas Schmerzliches erträgt, das nicht geändert werden kann.
Wir werden alle sehr betrübt über diesen Verlust sein, der uns trifft, sagte sie; leider vermögen wir so vieles nicht zu ändern, was uns Kummer macht.
Diese Aeußerung drang wie ein glühendes Schwert in Gottbergs Herz. Ein unsägliches Leiden sprach aus seinem Anblick, und indem er seine Augen zu dem Weibe aufhob, das er innig verehrte, strömte mit dem Schmerz, den er empfand, auch der Zorn und die Verachtung hervor, mit denen er rang. Alles jedoch war das Werk einer Minute, dann schien es vorüber. Nur die Röthe des inneren Kampfes blieb auf seiner Stirn.
Leider ist es so, erwiderte er, wir sind mehr oder minder der zwingenden Nothwendigkeit unterworfen, welche unser Lebensschicksal bestimmt.
Sie sprechen wie ein Fatalist, Herr Doctor, warf Rachau lachend hinein. Als ob es keine freie Selbstbestimmung gäbe.
Ich bin weit davon entfernt, zu glauben, daß die Vorsehung und zum Glück oder Unglück, zu guten oder schlechten Handlungen bestimmt, entgegnete Gottberg. Die Verhältnisse bestimmen über uns, das Uebrige hängt von uns ab.
Vom Glück und Zufall!
Von unseren Begriffen über Recht und Unrecht, von unseren Eigenschaften und Fähigkeiten, von der Welt in unserem Herzen und unserem Kopfe.
Sie sind ein liebenswürdiger Philosoph, lachte Rachau. Ein Philosoph der Tugend und der Treue, ohne Arg und Falsch.
Man braucht nicht Philosoph zu sein, um nicht zu lügen und zu betrügen, antwortete Gottberg. Vielleicht ohne es zu wollen, betonte er diese Antwort stärker, und über seine Lippen zitterte ein Lächeln, während er sich stolz aufrichtete.
Der Major hatte bisher still zugehört, jetzt fuhr er aus seiner Theilnahmlosigkeit auf, als sei ihm eine Beleidigung widerfahren. Worte konnte er nicht sogleich für das finden, was in ihm tobte; schneller jedoch war sein hülfreicher Freund bei der Hand, um ihn von unbesonnenen Aeußerungen abzuhalten.
Das ist ganz vortrefflich gesagt, was wir da hören! rief Herr von Rachau, aber es giebt auch manche Tugendnarren, die ihr Schicksal sehr wohl verdienen, und wenn sie ausgelacht oder, wie sie es nennen, betrogen werden, dies nur ihren Einbildungen und Anmaßungen verdanken. Jedes in seiner Weise, mein bester Herr Doctor; Eines paßt sich nicht für Alle, aber Lebensklugheit verträgt keine Schwärmerei. Es ist sehr Schade, daß Sie so bald abreisen wollen, wir könnten über dies Thema noch höchst lehrreiche Gespräche führen.
Gottberg blickte ihn kalt und klar an, er sah herausfordernd aus.
Nein! nein! lachte Rachau mit geschmeidiger Höflichkeit, wir wollen diese letzten Stunden nicht mit gelehrten Streiten verderben.
Wollen Sie uns so schnell verlassen? fragte Luise.
Spätestens morgen.
Wir können nichts dagegen einwenden, sagte sie, wenn Sie wissen, daß es sein muß; doch heut sollen Sie uns noch angehören. Wir fahren nach der Stadt, und dann durch das Thal; wollen Sie uns nicht zum letzten Male begleiten?
Gottberg entschuldigte sich. Er hatte noch mehrere Abschiedsbesuche bei Bekannten zu machen und Vorbereitungen zu treffen. Luise drang nicht weiter in ihn. Niemand that es. Die Angelegenheit wurde jetzt mit Ruhe und geschäftsmäßig erörtert, aber das Drückende des Augenblicks blieb doch so überwiegend, daß nach einigen Fragen und Antworten Gottberg sich empfahl.
Als er hinaus war, zuckte Rachau mit einem leisen Lächeln die Achseln und sah das Fräulein muthwillig an.
That Ihnen dieser arme Doctor denn gar nicht leid? fragte er.
Warum sollte dies der Fall sein?
Weil er das Unglück hat, von Ihnen scheiden zu müssen.
Gottberg, erwiderte sie, hat vollkommen Recht, uns zu verlassen. Er geht dahin, wohin er gehört, wo er seine Kenntnisse und sich selbst am besten geltend machen kann. Aber der Wagen wird warten, wir müssen eilen. Ich will meine letzten Befehle zurücklassen und Toni holen.
Der Major stand am Fenster und schien nicht zu bemerken, was zuletzt um ihn her vorging. Mit gekreuzten Armen richtete der lebenskluge Freund seine Blicke auf die Thür, und sein scharfes Ohr verfolgte die leichten Schritte des Fräuleins, dann betrachtete er den alten bedrückten Mann, und eine spöttische Miene flog wie ein Schatten über sein Gesicht. Leise trat er näher und klopfte ihm auf die Schulter. Erschreckend wandte Brand sich um. Rachau nickte ihm behaglich zu.
Wir sind ihn also glücklich los, sagte er.
Scham! Scham! antwortete der Major düster, seine Hände zusammendrückend.
Thorheit! flüsterte Rachau. Was wollen Sie denn, es geht vortrefflich! Dieser Mensch mußte auf jeden Fall aus dem Hause, und er meldet sich jetzt selbst dazu.
Betrogen und belogen! murmelte der alte Soldat.
Das sind hohle Worte. Von seiner Unbehülflichkeit ist nichts zu besorgen; ein Mensch wie dieser sieht nicht über seine Nasenspitze hinaus.
Unrecht bleibt Unrecht.
Ihm geschieht kein Unrecht. Fräulein Luise selbst hat ihm seinen Platz angewiesen. Aber zu Ihrer Beruhigung und vielleicht ist es gut für alle Fälle – wollen wir ihn versöhnen. Ueberlassen Sie mir diese Angelegenheit, hochverehrter Freund. Er soll als ihr dankbarer, unterthäniger Knecht von Ihnen scheiden, entzückt über Ihre Großmuth, mit Allem zufrieden. – So seien Sie munter. Ich höre den Wagen, und hier springt die liebliche Toni schon herein. Wo giebt es wohl einen glücklicheren Papa!
Gottberg hörte den Wagen fortfahren, und er verfolgte dessen Rollen, bis er nichts mehr hörte. Mit schweren Schritten ging er auf und ab, über das nachdenkend, was jetzt Gewißheit geworden. Er hatte es sich doch anders gedacht. Eine geheime Hoffnung im tiefsten Grunde seines Herzens hatte ihm vorgespiegelt, es könnte doch Manches sich noch wenden; jetzt sah er ein, daß nichts mehr zu hoffen übrig blieb. Niemand wollte ihn festhalten, die am wenigsten, von der er es mit peinvoller Sehnsucht noch immer heimlich geglaubt. Es war, als hätte eine finstere Macht ausgerissen, was er als Gottes Werk verehrt, und nichts sah er vor sich, als eine leergebrannte Stätte, über der ein Hohngelächter schallte, das sein Elend verspottete.
Es bedurfte lange Zeit, ehe er das Erlebte ruhiger bedenken konnte und an Stelle der Scham die Entschlossenheit trat, den Staub stolz von seinen Füßen zu schütteln und den Spott muthig zu ertragen. Er versuchte es, seine Papiere und Bücher zu ordnen, sein weniges Habe zusammenzupacken; aber bei Allem, was er that, verfolgten ihn die traurigen Gedanken des Abschieds und seiner Verlassenheit. Es gab keine Stelle, die ihm nicht Erinnerungen brachte, und endlich, um diesen zu entgehen, machte er sich auf und lief in den Wald hinaus, der menschlich schönen Neigung folgend, die von der Natur Trost hofft, wenn das Herz mit seinem Kummer ihn bei Menschen nicht zu finden vermag.
Und so geschah es auch, als Gottberg im frischen Wehen des Windes unter den hohen Bäumen fortschritt. Die Sonnenstrahlen, welche durch das kühle Geblätter auf sein Gesicht fielen, die hellen Himmelswolken, die Stimmen der Vögel, die Ameisen in ihrer emsigen Geschäftigkeit, die wilden Bienen in den Blumen und diese selbst mit ihren Glocken und farbigen Kelchen, wie sie tausendfältig ihm zunickten, Alles machte seine Stimmung weicher und freier und füllte seine Brust mit versöhnlichem Frieden. Er streifte stundenweit umher zu allen Plätzen, die ihm werth geworden, und dachte nach und nach nicht mehr mit Bitterkeit an die Menschen, welche er so lieb gehabt. Der Strahl der Liebe kehrte zu ihm zurück und wandelte seinen Zorn zur Selbstanklage um.
Hatten sie ihm nicht immer getreulich angehangen? War er nicht wie ein theurer Freund von ihnen aufgenommen worden? Dieser alte Mann, so brav und ehrlich, wenn auch von heftiger Sinnesart, hatte er nicht mit väterlicher Güte ihn behandelt, und Luise – o! was hatte er gethan, um an ihre Liebe zu glauben? Vielleicht war sie schuldlos, seine eigene Eitelkeit hatte ihn umstrickt, ihr edles Vertrauen war von ihm gemißbraucht worden, und nun strafte sich sein thörichtes Beginnen.
Wer war denn er, der arme zum Heloten Im antiken Sparta jene Bevölkerungsschicht, die schollengebunden und ohne Bürgerrechte war; im Gegensatz zum mittelalterlichen Leibeigenen ist der Helot jedoch kein persönliches Eigentum eines Herrn, sondern eine Art »öffentlicher Sklave« oder »Staatssklave«. geborene Mensch, um seine Hand nach ihr auszustrecken? Fort zu denen, die deines Gleichen sind. Fort, um zu arbeiten und im Schweiße deines Angesichts dein Brot zu essen. Fort! um die Strafe deiner Sünden zu tragen, und nicht zur Anklage erhebe deine Faust. Büße und dulde, daß Gott dir vergebe.
Mitten durch diese demüthige Unterwerfung drang dann wie ein Blitzstrahl die gegnerische Macht, welche sich nicht unterwerfen lassen wollte.
Sie hat dich geliebt, rief die Stimme in seinem Kopfe, zweifle nicht daran, wie kannst du feigherzig dich selbst verdammen! Braucht die Liebe Worte? Braucht sie eine wohlgesetzte Erklärung? An jenem Tage, wo diese nahe war, in jener wunderbaren, unvergeßlichen Minute, wo ihre Augen an deinen Augen lagen, wo ihr Vater dich selbst ermuthigte – er blickte mit flammender Begeisterung auf und schwieg. Dicht vor ihm stand ein wilder Rosenbusch, ein blumiges Gesenke rund umher, drei hohe schwarze Tannen auf dem Hügel drüben.
Da stand er an der verhängnißvollen Stelle. Absichtslos war er hierher gekommen; plötzlich dünkte es ihn, als sei es eine Schickung.
Was ist es, rief er aus seinem tiefen Herzen, was diesem ränkevollen Manne Macht gegeben hat über sie?! An dieser Stelle hat sein Werk begonnen. Von jener Stunde an – mein Gott! mein Gott, wohin verirren sich meine Gedanken!
Seine Hände gefaltet, finster sinnend, senkte er den Kopf. Die tiefste Stille lag auf dem Walde, nirgend ein Rauschen, nirgend ein Ton; jetzt aber war es Gottberg, als höre er lachen hinter sich, und wie er umschaute, erblickte er Mathis, den Vogelfänger, der mitten auf der grünen Matte im Schatten eines anderen Buschwerks an einem großen Steine saß, die Beine an sich gezogen, den Ellenbogen auf sein Knie gestemmt, neben sich ein Bündel Weidenruthen und seine Krücke.
Das lange magere Gesicht grinste ihm entgegen, die verschmitzten Augen musterten ihn mit frecher Vertraulichkeit; mit den knochigen Fingern faßte er an seine Kappe und grüßte ihn.
Gottberg fühlte sich verlegen, als er diesen unerwarteten Gesellschafter sah, der so überraschend sich bemerkbar machte.
Warst du hier, als ich kam? fragte er, indem er seinen Gruß erwiderte und näher trat.
Gewiß war ich hier, versetzte Mathis, aber ich lag im Grase ausgestreckt hinter dem Steine und schlief. Als ich so laut sprechen hörte, richtete ich mich auf, und da standen Sie.
Hatte er gehört, was Gottberg gesprochen hatte, oder nicht? Der Doctor mochte nicht danach fragen.
Wenn man allein ist, sagte er, denkt man oft laut.
Ganz recht, erwiderte Mathis, ich hab's auch wohl so gemacht; aber wenn man ein Wild jagen oder einen Vogel fangen will, muß man es sein lassen.
Gottberg setzte sich auf den Stein. Mathis sah ihn von der Seite lauernd an, faßte mit der Hand in sein blau bedrucktes, lose um den Hals geschlungenes Tuch, und schien Gedanken zu hegen, die ihn erfreuten.
Ich habe dich lange nicht gesehen, sagte der Doctor, wie geht es dir?
Mir geht es gut, war seine Antwort, aber Sie sehen nicht gut aus. Warum sind Sie nicht mit der Herrschaft spazieren gefahren?
Hast du sie gesehen? fragte Gottberg.
Freilich habe ich sie gesehen. Oben bei der Stadt mit dem jungen, fremden Herrn. Der versteht's!
Er nickte dem Doctor zu, welcher nicht darauf erwiderte.
Nun, fuhr er fort, es ist ein lustiger Herr, der wird sie alle schon wieder munter machen. Und wenn's wahr ist, was die Leute meinen, so wird's bald eine Hochzeit geben.
Sagt man das?
Mathis nickte noch einmal. So muß es kommen, sprach er dabei. Ich hab's mir gedacht, daß er's darauf abgesehen hatte.
Woher dachtest du das?
Oho! man denkt sich so Allerlei, sagte Mathis; arme Leute haben auch ihre Gedanken. Einen Vogel mit goldenen Federn fängt Jeder gerne, mag's kosten, was es will, und der – haha! der greift zu.
Was meinst du damit, Mathis? fragte der Doctor.
Gar nichts, gar nichts! lachte der Lahme. Es ist ein feiner Herr; arme Leute haben's gut bei ihm. Das Fräulein wird's auch gut haben. Alle Donner! so fein ist keiner im ganzen Land, – geputzt wie ein Bräutigam, und so sanft und lustig dabei wie ein Kind, das keinem Wurme einen Tritt geben kann.
Gottberg saß still auf dem Steine und ließ den Vogelfänger weiter sprechen. Nun, sagte dieser, ich bin's gewiß, er wird's schon machen. Geld und Gut haben sie jetzt vollauf, aber es macht auch nicht immer glücklich. Na, so sieht der gnädige Herr Major jetzt nicht aus. Abgefallen ist er, als ob's Unglück über ihn gekommen wäre, und wie ich vorher dastand an der Brücke und meine Mütze abzog, wie der Wagen kam, dach ich, siehst du wohl, lahm hast du mich gemacht und Lumpen hab' ich auf meinem Leib, aber ich tausch' nicht mit dir.
Er schlug ein helles Gelächter auf.
Schäme dich! sagte der Doctor unwillig, wie kannst du so unwürdige Reden führen und dazu spotten und lachen.
Was geht's mich an! rief Mathis, indem er seine Krücke nahm, ich habe keinen Grund, ihm Glück zu wünschen. Wenn ich aber lache, Herr, so lache ich, weil mir unser alter Oberprediger einfällt; das war ein schnurriger Mann. So rund und fett wie ein gemästetes Kalb, und immer glatt und fein, mit dem doppelten Kinn auf dem weißen Halstuch. Was lecker war, stand zuerst auf seinem Tisch, dabei aber hab' ich's selbst gehört, wie er über's lasterhafte Wohlleben herzog und alle Sünden daraus herleitete. Der Magen, sagte er, der Magen ist der Fehler in Gottes Schöpfung. Wenn wir keinen Magen hätten, wär's Paradies noch immer auf Erden, so aber frißt der Eine den Anderen auf und wird aufgefressen; und die Menschen sind die Allerschlimmsten von Allen: die verrathen und lügen und schlagen Freund und Verwandten tobt, wenn's auf ihren Magen und ihren eiteln Hochmuth ankommt.
Ich muß dich verlassen, erwiderte Gottberg, indem er aufstand, und weil's das letzte Mal ist, daß wir uns sehen werden
Wollen Sie denn fort? unterbrach ihn Mathis.
Morgen werde ich reisen.
Und Sie kommen nicht wieder?
Ich komme nicht wieder.
Aha, sagte Mathis, schlau nickend, ich kann's verstehen, Sie wollen nicht bei der Hochzeit sein.
Was auch hier geschehen möge, erwiderte Gottberg, so hüte du dich, deinen sündigen Leidenschaften Gewalt über dich zu geben.
Mein Magen ist ein stiller Kerl, der wenig verlangt, lachte Mathis; wäre er es nicht, heida! ich wollt ihm wohl besseres Futter verschaffen.
Höre Freund, sagte der Doctor, dein Oberpriester hat seine eigenen häßlichen Begierden beschönigen wollen, und so thun es Alle, die ihm ähnlich sind. Sie wälzen ihre Sünden auf den Schöpfer, statt an ihre eigene Besserung zu denken. Gott ist die Güte und die Liebe, er hat uns aufgegeben, gut und gerecht zu sein. Thue du danach. Vergieb denen, die dir Böses thaten, thue das Rechte nach allen deinen Kräften gegen alle deine Mitmenschen, so wirst du auch in deinem harten Leben Frieden und Freuden finden.
Mathis schüttelte heftig den Kopf.
So geht's nicht! rief er mit höhnischer Gebehrde. Vornehme Leute denken, ein Armer muß sich Alles gefallen lassen und obenein sich bedanken.
Ich bin arm wie du, Mathis, und geplagt wie du, antwortete Gottberg, indem er sich dem Gefühl überließ, das seine Seele füllte.
In dem Vagabonden, der an der Erde kauerte, erwachte bei diesem Ausrufe vermehrte Theilnahme. Die geheime Verbrüderung der Gesellschaft nach den Schichten und Klassen, welche sie sich geschaffen, machte sich bei ihm geltend und stimmte ihn zur Vertraulichkeit.
Es ist wahr, sagte er, zu denen da oben gehören Sie eigentlich nicht; solche Herrschaften bleiben immer stolz, wenn sie auch thun, als wär's vergessen. Ich kann mir wohl denken, warum Sie fort wollen. Hoho! Der junge Herr ist ja auch von Adel. Aber Kreuz Element! wenn ich wäre wie Sie, der sollte – Ich thät mich nicht vor ihm fürchten!
Mit einem wilden Lachen hob er seinen Arm auf und schwenkte ihn durch die Luft.
Ich fürchte ihn auch nicht, erwiderte Gottberg, seine Verlegenheit verbergend. Habe mich auch nicht über ihn zu beklagen.
Nicht? Hoho! Es ist also wahr, das Vögelchen singt jetzt ein anderes Lied. Laßt es gut sein, Herr, sie werden alle noch ihren Lohn kriegen.
Ich verstehe dich nicht, sagte Gottberg.
Es ist auch nicht nöthig, lachte Mathis. Glückliche Reise, Herr, der liebe Gott sorgt schon. Die Finken fangen an zu schlagen, die Sonne will untergehen.
Mit einem eigenthümlichen Grinsen drehte er den Kopf nach dem Waldhügel, und zu seinem Erstaunen erblickte Gottberg den Herrn von Rachau, welcher unter den Tannen stand und ihn beobachtete, jetzt aber den Pfad herunterkam und sich dem Platze näherte. Einige Augenblicke erschien Gottberg die Aussicht, mit diesem Manne hier zusammenzutreffen, so widerwärtig, daß er entschlossen war, sich in entgegengesetzter Richtung zu entfernen; in der nächsten Minute jedoch empörte sich sein Stolz gegen diese Absicht. Warum sollte er vor ihm fliehen? War es nicht ein Zugeständniß von Schuld und Schwäche, wenn er sich gedrückt und gedemüthigt zeigte?
Mit einem Abschiedsgruße verließ er Mathis und ging Rachau entgegen, der ihm freundliche Worte sagte, als er ihn erreicht hatte, und sehr erfreut that.
Das ist ein glücklicher Zufall, begann er, daß ich Sie finde. Wir sind seit einigen Stunden schon zurück, und ich war an Ihrer Thür, die ich leider verschlossen fand.
Sie haben mich sprechen wollen?
Ja, mein bester Doctor. Inzwischen haben Sie alle Ihre Lieblingsplätzchen noch einmal besucht, um Abschied zu nehmen, und haben gewiß keinen alten Bekannten vergessen, fügte er lächelnd hinzu, indem er nach dem Vagabonden blickte. Haben Sie jetzt Zeit für mich?
Gottberg verneigte sich.
Dann wollen wir sogleich zur Sache kommen, fuhr Rachau fort. Sie bestehen darauf uns morgen zu verlassen. Darf ich fragen, wohin Sie Ihre Reise richten werden?
Ich bin Ihnen für diese Theilnahme verbunden, erwiderte Gottberg, inzwischen weiß ich keine bestimmte Antwort zu geben.
Sie wollen mir keine geben, lächelte Rachau. Es würde mir sehr leid thun, wenn ich mißverstanden würde.
Ich kenne keinen Grund dafür, sagte Gottberg.
Dann um so besser. Zweifeln Sie nicht an meiner Theilnahme für Sie, die meinen freundschaftlichen Gefühlen entspricht.
Ich sage Ihnen nochmals Dank, versetzte Gottberg mit ruhiger Kälte, obwohl ich nicht weiß, womit ich solche Gefühle verdient habe.
Darüber läßt sich nicht rechten, fiel Rachau ein. Sie sind denen werth und lieb, die ich mit Hingebung verehre und die Sie nicht allein mit Betrübniß scheiden sehen, sondern auch für Ihre Zukunft hülfreich sein möchten.
Gottberg's Gesicht röthete sich. Er fing an rascher zu gehen, dann hielt er ein und sagte gelassen:
Ich habe sehr viele Güte hier gefunden, in Zukunft liegt es mir ob, für mich selbst zu sorgen.
Sagen Sie das nicht! erwiderte Rachau. Freundeshülfe soll man niemals abweisen, so stolz darf der Stolzeste nicht sein. Das menschliche Leben ist einmal so beschaffen, daß man Freunde nöthig hat. Was wollen Sie thun? Wollen Sie Beschäftigungen wieder ergreifen, die Ihnen zuwider sind? Wollen Sie in irgend einem Winkel ein Schulamt suchen, bei dem Sie geistig verkümmern?
Ich muß Sie bitten, antwortete Gottberg unwillig, meine Angelegenheiten nicht weiter zu erörtern.
Entschuldigen Sie mich, versetzte Rachau, ich spreche nicht für mich, sondern im Auftrage Ihrer Freunde. Das Glück ist Ihren Freunden günstig gewesen, sie wünschen, daß Sie daran Theil nehmen. Ein Mann von solchem Talente, wie Sie es sind, muß aus den unteren Lebenskreisen heraus. Reisen Sie einige Jahre, Sie werden die nöthigen Mittel dazu erhalten. Herr von Brand hat mich beauftragt, Ihnen diesen Vorschlag zu machen. Sprechen Sie mit ihm und bleiben Sie noch einige Zeit hier, bis Alles sich so geendet hat, wie Sie es wünschen. Ich verspreche Ihnen dabei meine eindringlichste Beihülfe und hoffe zu beweisen, daß meine Theilnahme nicht in leeren Worten besteht.
Während er sprach, hatte Gottberg sich gesammelt.
Ich bin Ihnen abermals verbunden, Herr von Rachau, sagte er, und bitte Sie dem Herrn von Brand meinen Dank zu bezeigen. Leider bin ich nicht in der Lage, seine Güte annehmen zu können.
Sie wollen nicht? fragte Rachau. Warum wollen Sie nicht?
Weil ich nicht will und nicht kann.
Warum wollen Sie denn nicht klug sein, theuerster Doctor? lächelte Rachau.
Das mag zu Ihren Grundsätzen passen, zu den meinigen paßt es nicht, erwiderte Gottberg, und indem er mit kaum zurückgehaltenem Zorn ihn anblickte, fügte er hinzu: Ich kann nicht glauben, daß der kluge Rath, mir ein Almosen zu reichen, von Herrn von Brand ausgegangen ist. Es müßte denn sein –
Was müßte sein, mein lieber Doctor?
Daß die Schlingen, in denen er liegt, ihn schon so weit zusammengeschnürt haben.
Ereifern Sie sich nicht, sagte Rachau begütigend. Sie empfinden zu zart, oder zu poetisch. Inzwischen muß ich Ihnen gestehen, daß es Fräulein Luisens Wunsch war, Ihnen diesen ehrenvollen Antrag zu einer wissenschaftlichen Reise zu machen.
Sie hat es gewünscht? Ihnen hat sie es aufgetragen? rief Gottberg mit glühenden Wangen. Das ist gelogen! erbärmlich gelogen!
Mit stolzaufgerichtetem Kopf stand er einige Augenblicke, da aber Rachau nur lächelnd die Achseln zuckte, entfernte er sich mit raschen Schritten, Rachau hielt ihn nicht auf.
Dieser Narr war wirklich im Stande, Unheil anzurichten, sagte er ihm nachsehend, wenn ihm die Narrheit nicht weit über den Hals ginge. Er wird sich tugendhaft in siebenfach Steifleinen wickeln, und morgen wollen wir einen wundervollen Abschied feiern. Aber wo ist der lahme Schuft?
Mit diesen Worten ging er zu dem Hügel zurück und fand Mathis noch an derselben Stelle mit seinen Weidenruthen beschäftigt. Er ließ sich auch nicht stören, als sein Gönner sich näherte, zog aber ein langes Einschlagemesser aus der Tasche, klappte es auf und fing an die Ruthen zu beschneiden.
Nun, sagte Rachau, du stiehlst, wie ich sehe, ganz gemächlich weiter und bleibst somit deiner besonderen Zuneigung für fremdes Eigenthum getreu.
Das mag wahr sein, lieber Herr, versetzte Mathis ihn angrinsend, aber ich denke, ich bin nicht der Einzige in der Welt.
Gott bewahre, lachte Rachau, du theilst den Geschmack vieler der größten Helden, aber du weißt doch auch, daß die kleinen Diebe gehangen werden.
Die Dummen werden gehangen, sagte Mathis, indem er seine großen Zähne zeigte.
Auch darin hast du Recht. Aber ist es sehr klug, würdiger Freund, dich hier finden zu lassen? Wenn der Major dich träfe!
Der kommt nicht hierher, das ist ein sicheres Plätzchen, antwortete der Lahme pfiffig aufblinzelnd. Neulich sah ich ihn, wie er den Weg einschlug, kaum aber war er dort oben bei den Tannen, so machte er einen weiten Umweg.
Aber andere Leute könnten dich treffen.
Es geht keiner hier gerne vorbei, besonders wenn's Abend werden will, lachte Mathis.
Du fürchtest dich nicht?
Wovor? Ich habe nichts als das spitze Messer. Um mein Geld und Gut hat's keine Noth.
Seine verschmitzten Augen fuhren wieder in die Höhe und dann auf seine Arbeit zurück. Rachau blickte umher, dann auf ihn nieder.
Du bist also wohl öfter hier, mein lieber Mathis? fragte er schmeichelnd.
Mathis schüttelte seinen langen Kopf. Rachau beugte sich zu ihm nieder, legte die feine, kleine Hand auf die Schulter und sah ihn freundlich an.
Was meinst du denn damit, fragte er, daß du um Geld und Gut nichts zu besorgen hast?
Was kann ich meinen? versetzte der Vagabond. Ich habe blos so meine Gedanken darüber, was andere Leute denken und was ich vorher mit angehört habe. Dabei fiel's mir ein.
Rachau's Augen ruhten auf ihm mit eigenthümlicher Gewalt. Es war als vergrößerten sie sich und füllten sich mit spiegelartigem Glanz, doch Mathis schaute gemüthlich hinein, ohne mit einer Wimper zu zucken.
Was hast du denn mit angehört? fragte Rachau.
Es war curios zu hören, grinste Mathis vor sich hin.
Den Doctor meinst du. Er traf dich hier?
Mathis nickte lachend. Da drüben stand er, als sei er taub und blind; so lang ich war, hatte er mich nicht gesehen, stierte den Hagebuttenstock an, als wär's eine Seltenheit, und schlug sich die Hände vor den Kopf.
Was sagte er?
Was er sagte? Ich hab's nicht verstanden.
Die Miene des Burschen widersprach seinen Worten. Rachau setzte sich auf dem Rain nieder und faßte ihn lachend an's Ohr.
Du bist ein Schlaukopf, sagte er, aber ich sollte denken, du müßtest Vertrauen zu mir haben.
Das habe ich auch, Herr, antwortete der Lahme, es giebt viele Gründe dafür.
Gut, was sagte er also?
Mathis wandte den Kopf nach allen Seiten und antwortete dann leise:
Schaffen Sie ihn fort, er hat nichts Gutes im Sinn.
Gegen mich? Sprach er davon? Sage mir die volle Wahrheit.
Wenn Sie es wollen, antwortete Mathis, so will ich's thun. Gut, da stand er und schrie: Gott im Himmel! was ist geschehen, woher stammt seine Macht! Wohin gehen meine Gedanken!
Und was weiter? fragte Rachau.
Weiter nichts. Dann sah er mich.
Er kam und setzte sich zu dir. Was sagte er da?
Er sagte nichts, aber ich, lachte der Vagabond. Ich erzählte ihm, wie ich vorher den gnädigen Herrn gesehen hätte, der so finster und abgefallen aussah, wie ein ausgebranntes Haus, und daß ich glaubte, wir würden bald Hochzeit haben.
Sagtest du ihm das? lachte Rachau. Was meinte er dazu?
Als wollte er die Krämpfe kriegen, so verkehrte er seine Augen. Jagt ihn fort, gnädiger Herr, es ist kein Salz für Euer Essen.
Du bist ein Spaßvogel, Mathis.
Zwei Vogelsteller sind zu viel für einen Herd, sagte Mathis seine Ruthen zusammenschnürend. Ich wünsche mit Unterthänigkeit Euer Gnaden viel Glück dazu, und wenn der alte Herr auch noch mehr darüber zusammenklappert.
Ich danke dir, mein lieber Mathis, aber sprich nicht wieder so von dem vortrefflichen Herrn Major. Er ist sehr froh und frisch.
Ich wünsch' es ihm, sagte Mathis hohnvoll sein Gesicht verziehend. Wie das Begräbniß war von dem jungen Herrn, der ihm das viele Geld gelassen, hat mich zwar der Büttel fortgebracht, aber es thut nichts. Er sah so jammervoll aus, als ständ' er auf dem Richtplatz, darüber mußt' ich lachen.
Was sprichst du für Unsinn, sagte Rachau. Hab' ich dir nicht gerathen, daß du deine Zunge in Acht nehmen sollst?
Ich nehme sie in Acht, gnädiger Herr. Macht ihn glücklich, Euer Gnaden, macht sie alle glücklich! Jetzt wird's Abend, wo ich nach Haus muß.
Geh, du Schelm, lachte Rachau, indem er ihm Geld gab, und mache dich selbst glücklich und selig.
Dank, Euer Gnaden, Dank! versetzte der Vagabond erfreut sich bückend. Durch's Feuer lauf' ich, wenn Sie's mir befehlen. Es ist eine schöne Sache ums liebe Geld, aber lustig muß man sein. Machen Sie ihn lustig den Herrn Major und das schöne Fräulein, aber jagen Sie den Doctor fort, der thut nicht gut dabei. Wünsche gute Nacht, mein gnädiger Herr.
Gute Nacht und sei gescheidt, sagte Rachau. Wenn du irgend etwas hörst und merkst, was mir angenehm zu wissen wäre, so theile es mir mit.
Ja, Herr, das will ich.
Ich will nächstens nach dir sehen. Jetzt fort mit dir.
Der Lahme setzte seine Krücke in Bewegung und noch lange hörte Rachau, wie er, alle möglichen Vogelstimmen nachahmend, die Hügel hinabstieg.
Wenn ich den Kerl recht verstanden habe, sagte er, indem er seinen eigenen Weg fortsetzte, so hat seine nichtswürdige Rachgier ihn auf Gedanken geführt, die sonderbarer Weise – gut! rief er sich unterbrechend, ich werde diese Sache näher untersuchen. Den Doctor haßt er, mir hängt er an – zu seinem Glück habe ich mich getäuscht.
Während dessen war Gottberg nach Haus zurückgekehrt, in dessen Nähe ihm Toni entgegensprang, die herzlich ihre Arme nach ihm ausbreitete.
Ach! was habe ich gehört, rief sie ihm zu, du willst uns verlassen, böser Doctor! Ich habe gar nichts davon gewußt. Niemand hat es mir gesagt, bis Luise es jetzt gethan hat. Kannst du nicht bei uns bleiben?
Der Ausdruck der Liebe in dem wehmüthig ängstlichen Gesicht des Kindes hatte so viel Rührendes, daß Gottberg schmerzlich davon ergriffen wurde. Alle hatten ihn verlassen, nur sie nicht, sie wollte, daß er bleiben solle. Er beugte sich zu ihr nieder und sagte traurig:
Nein, liebe Toni, ich kann nicht bleiben.
Das sagt Luise auch, seufzte das kleine Mädchen, aber was wird nun aus mir werden? Du bist so gut zu mir gewesen, ich habe dich so lieb und wir Alle.
Er wollte antworten: Du allein! aber er wandte sich von ihr ab und schwieg.
Es werden traurige Tage kommen, fuhr Toni fort, doch vielleicht sehe ich dich bald wieder.
Ich werde nicht zurückkommen, Toni.
Nein, fiel sie ihm ins Wort, aber ich werde zu dir kommen und zu meinem Bruder, wir alle. Wir sollen im Winter in Berlin wohnen und da soll es wunderschön sein.
Wer hat dir das gesagt, liebe Toni?
Herr von Rachau hat es mir heimlich gesagt, ich soll es Niemanden wieder sagen.
Er wird auch für dich sorgen, erwiderte Gottberg vor sich hin.
Ich mache mir gar nichts mehr aus ihm, erwiderte sie. Er mischt sich in Alles, und soll ich dir etwas sagen, ich glaube dem Papa geht es auch so. Er thut oft so, als ob er hier allein zu befehlen hätte.
Wo ist der Papa? fragte Gottberg sie unterbrechend.
Er ist unwohl und will allein sein. Sonst war er niemals unwohl, immer gesund, jetzt lacht er nicht mehr und bat mich fortgewiesen.
Und wo ist – Fräulein Luise?
Hier! erwiderte eine sanfte Stimme in seiner Nähe, und mit zitterndem Erschrecken sah er sie aus dem Gehege treten und ihm die Hand zum Gruß bieten.
Sie sind lange ausgeblieben, sagte sie, und morgen werden wir vergebens nach Ihnen fragen. Ich habe Sie erwartet, lieber Gottberg, um Sie noch einmal allein zu sehen und zu sprechen.
Es ist lange her, seit mir dies nicht geschah, erwiderte Gottberg.
Sie haben Recht, und ich beklage mich nicht, wenn Sie darüber zürnen.
Ich habe kein Recht zu zürnen, sagte Gottberg Leise seufzend.
Er erhielt keine Antwort darauf. Sie gingen einige Minuten lang schweigend neben einander her. Toni war verschwunden. –
Sie erleichtern es mir, Ihnen meine herzlichen Abschiedswünsche sagen zu können, begann Luise dann von Neuem. Sie kehren in das regsame Leben zurück, dem wir sie entrissen hatten. Ihr Geist, Ihre Kenntnisse werden einen ganz anderen Wirkungskreis finden, und nichts wird mich inniger erfreuen, als wenn sich erfüllt, was ich erwarte: wenn ich Ehrenvolles und Ruhmvolles von Ihnen vernehme, wenn ich höre, daß Ihr Name sich unter den vielen Namen hervorhebt, die bestimmt sind, der Vergessenheit anheimzufallen.
Sind das die Glücklichen, fragte er seine Augen schwermüthig zu ihr aufhebend, deren Name eine Secunde der Weltenuhr länger erhalten bleibt, ehe er verwest?
Welches Glück währt denn länger? erwiderte sie gewaltsam lächelnd.
Und ist das der Grund, aus welchem Sie Freude über meinen Entschluß empfinden, von Ihnen zu scheiden?
Freude! das ist ein Wort, das Thränen in meine Augen bringen könnte. Aber wie viel Schmerzen es auch macht, ich wiederhole es dennoch, Gottberg, es muß so sein. Sie müssen gehen, müssen uns verlassen! Sie sind zu einem ehrenvollen, reichen Leben bestimmt, das sollen Sie erfüllen. Ich hoffe es, ich glaube es. O! sehen Sie mich nicht so ungläubig, so traurig an. Steht eine Lüge auf meiner Stirn? Es ist keine Lüge!
Während sie sprach, verlor sich die Ruhe, mit welcher sie begonnen hatte, und ihre Wangen rötheten sich, ihre Worte wurden schneller.
Sagten Sie nicht heute, rief sie mit steigender Bewegung aus, daß man kein Philosoph zu sein brauche, um zu lügen oder zu betrügen?
Theure Freundin, erwiderte Gottberg erschüttert, glauben Sie, daß ich aufhören könnte, Ihr ergebener Freund zu sein?
Aber die Lüge, der Betrug!
Man kann sich selbst belügen und betrügen.
Ueben Sie kein Erbarmen, fiel sie ein, indem ihr Gesicht sich zu verhärten schien. Richten Sie Ihre hohnvollen Augen noch einmal auf mich, rufen Sie mir noch einmal zu: belogen und betrogen! Ich will nicht davor zittern.
Sie standen in einem Halbkreis von Cypressen auf einer erhöhten Stelle des Gartens, wo die düsteren stillen Bäume eine Urne umringten, die dem Andenken der Mutter Luisens gewidmet war. Vorwärts öffnete sich dieser heilige Kreis gegen das weite Thal und über ihm hing der Abendhimmel in feurige Glut getaucht, deren Widerschein die schwarzen Trauertannen und die Gestalt des jungen Mädchens überstrahlte.
Die leidenschaftliche Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, mußte auf Gottberg zurückwirken.
Wenn es nicht Lüge ist, rief er, ihre Hände ergreifend, was ist es dann, theure, theure Luise, daß ich verlassen und verloren bin! Ist es Wahrheit? Ist es Lüge? Hast du mich je geliebt?
In ihren Augen, die ihn mit so unaussprechlichem Ausdruck anblickten, lag die Antwort.
Und jetzt – auch jetzt noch liebst du mich?
Ewig! ohne Ende! erwiderte sie ihre Hände vor sich faltend.
Und ich soll dich verlassen! Wer zwingt mich dazu? Wer zwingt dich dazu? Dein Vater?
Ich – ich! sagte Luise tiefathmend. Wir müssen scheiden, Gottberg – wir müssen.
Warum? – Um Gottes willen! warum?!
Fragen Sie nicht, geliebter Freund, fragen Sie nicht, erwiderte sie nach Fassung ringend. Es muß so sein – es muß!
Ein Mißtrauen lief fressend durch sein Herz. Es zitterte in den Blicken, mit denen er sie betrachtete.
Wie? rief sie ihn schmerzvoll anstarrend, können Sie zweifeln?
Dann ist es ein Traum! Eine Einbildung! Ein leerer Wahn!
Mehr, mehr!
Rachau!
Fragen Sie nicht weiter.
Ich weiß Alles, sagte er. Aber wenn Sie ihn nicht lieben, Luise, wenn er gelogen hat, als er sich Ihrer Gunst rühmte –
That er das?
Gegen Ihren Vater.
Gegen meinen Vater! wiederholte sie leise.
Er hat ihn umschmeichelt und umheuchelt, fuhr Gottberg fort, er hat sich ihm unentbehrlich gemacht, ich weiß nicht durch welche Mittel. Warum zittern Sie? Warum dies Entsetzen in Ihrem Gesicht?
Er wird mein Gatte werden.
Niemals! sagte Gottberg. Sie könnten – ihn wählen!
Ich habe keine Wahl, antwortete Luise tonlos.
Und ich – ich!
Und mein Vater! – sie sah mit scheuen wilden Blicken umher, als laure ein Verräther. Ein wirres verzweifelndes Lächeln zuckte um ihren Mund. Um Ihrer Ehre willen, Gottberg, flüsterte sie fieberhaft glühend, rühren Sie mich nicht an. Ich zittere nicht, es muß so sein. Lebe wohl! lebe wohl! ich betrog dich nicht!
Ihre Arme um ihn schlingend, hatten ihre Lippen ihn geküßt, doch als er sie halten wollte, war sie entflohen, und er wagte es, vermochte es nicht ihr zu folgen. Der Weheruf ihrer Klage durchschnitt sein Herz und lähmte seinen Kopf. Ein Sturm verworrener Gedanken und Empfindungen verdunkelte Alles in ihm und um ihn, aber durch dies Chaos fuhr der Blitz einer entsetzlichen Wahrheit mit dämonischem Glanz. Mehr als einmal schon war diese an seiner Seele vorübergeglitten, aber er hatte das Ungeheuerliche von sich abgewehrt, wie ein Gespenst, mit dem frommen Glauben des Kreuzschlagens. Es war an seine Seite getreten und hatte ihm seine schrecklichen Augen gezeigt, als er an dem Hagebuttenstrauche stand; aus den frivolen Lästerungen des Vagabonden hatte es ihn durchschaudert, und jetzt schlug die furchtbare Gewißheit über ihm zusammen.
Heiliger Gott! rief er aus der Versunkenheit sich aufraffend, und seine Arme zu dem dunkelglühenden Abendhimmel aufhebend, dennoch ist es Lüge, denn es kann nicht Wahrheit sein!
Am folgenden Tage hatte Gottberg das Haus verlassen. Die Post ging in einer frühen Morgenstunde ab. Beim ersten Tagesgrauen hatte der Doctor seine Habe nach der Stadt bringen lassen, geräuschlos war er ihr nachgefolgt, einen Brief zurücklassend, durch welchen er sich unter wiederholter Bezeugung seines innigsten Dankes empfahl. Unter den obwaltenden Umständen konnte dieser Abschied nur befriedigen, und man mußte es dankend anerkennen, daß Gottberg zartfühlend gehandelt habe, um den peinlichsten Augenblicken zu entgehen und keine solchen zu verursachen. Es wurde wenig darüber gesprochen, Alle behaupteten in möglichster Ruhe ihr Einverständniß, nur Toni jammerte laut um ihren Freund und fand es abscheulich, daß er sich so heimlich fortgeschlichen, denn sie hatte ihn begleiten wollen und ihm noch so vieles zu sagen gehabt.
Rachau spottete sie dafür aus und verwickelte sich in ein lustiges Gezänk, bei welchem das kleine Mädchen sich ziemlich ungebehrdig benahm. Als er begütigend ihr seine eigene Freundschaft dafür anbot, welche ihr Ersatz verschaffen sollte, und viele schmeichelnde Versprechungen anwandte, schüttelte sie trotzig den Kopf.
Du kannst uns den guten Doctor doch nicht ersetzen, sagte sie. Alle Menschen hatten ihn lieb und Keiner wird ihn vergessen. Papa auch nicht. Er wird bald genug wünschen, daß er wieder bei uns wäre.
Der Papa rauchte seine Pfeife, blickte verdrießlich auf und antwortete nichts darauf, um so lustiger lachte Rachau darüber.
Wir werden ihn sämmtlich nicht vergessen, liebe Toni, erwiderte er, laß ihn nur inzwischen auf dem Postwagen die frische Morgenluft genießen, die ihm gewiß wohlthun wird. Eine Reise machen ist sehr angenehm. Es giebt nichts Schöneres als in die Welt zu fahren.
Warum reist du denn nicht, wenn es so schön ist? sagte das Kind.
Weil ich dich nicht verlassen kann, erwiderte Rachau. Wer sollte dich und alle die Trauernden trösten, da der liebe Doctor durchaus nicht bei uns bleiben wollte?
Er sagte, er müßte fort, und Luise sagte es auch, antwortete Toni nachdenklich; weiter wollte er mir nichts sagen. Weißt du es?
Er hat es mir auch nicht gesagt.
Eigentlich ist es doch sonderbar. Es ist noch gar nicht lange her, wo er einmal mich auf seinen Arm hob, wie eine Feder, denn er ist sehr stark, wie man gar nicht glauben kann. Und damals sah er so froh aus, und ich hatte den Robinson gelesen und sagte: Weißt du was, Doctor, wir wollen zusammen nach einer glücklichen Insel fahren und nehmen Papa und Luisen mit. – Nein, nein! rief er, wir sind schon da und wollen diese glückliche Insel nie verlassen. Und jetzt hat er es doch gethan.
So geht es mit allen Robinsons und allen glücklichen Inseln, lachte Rachau. Das hat man davon.
Wir werden's schon noch erfahren, sagte Toni, meinem Bruder sagt er es gewiß. Das ist sein Freund.
Geh fort, du Schwätzerin! rief der Major heftig aus. Hinaus, und thue was Nützliches.
Erschrocken verstummend lief das Kind fort, seine Augen voll Thränen. Herr von Brand kehrte sich nicht daran; er ballte seine Hand auf dem Tische zusammen und blies dicke Dampfwolken aus seiner Pfeife.
Rachau war jetzt mit ihm allein.
Alle Wetter! begann er, mein verehrter Freund, wenn Sie so fort rauchen, ersticken wir beide.
Ich habe nichts dagegen, murmelte Brand.
Aber ich, lachte Rachau; im Uebrigen wüßte ich nicht, was Sie bewegen sollte mit Vergnügen zu ersticken. Der tugendhafte Doctor hat das Feld geräumt, wir sind ihn los. Ihre Manier, sein Andenken zu beseitigen ist, aber durchaus falsch.
Ich handle nach meiner Manier, fiel der Gutsherr grollend ein.
Das dürfen Sie nicht, denn Sie würden sehr unklug verfahren.
Herr von Brand fuhr auf, aber er begegnete den freundlichen Augen seines Vertrauten, die ihn mit der eigenthümlichen Schärfe anblickten, vor der er geheimen Schauder empfand.
Sie haben, wie gesagt, sehr Unrecht mit Ihrem Ungestüm, lächelte Rachau sanft. Das liebenswürdige Kind hat den Nagel auf den Kopf getroffen, und die Stimme der Unschuld hätte Ihnen nicht verloren gehen müssen. Nachdem dieser Narr sich noch närrischer benommen hat, als ich es ihm zutraute, läßt sich allerdings voraussehen, was sich ereignen wird, nämlich, daß Toni ganz Recht hat. Er wird Ihrem Sohne, seinem Freunde, sein Herz ausschütten, somit müssen Sie ihm zuvorkommen. Haben Sie dem Herrn Ministerialrath noch keine ausführliche Mittheilung gemacht?
Nein, sagte Herr von Brand mürrisch.
So muß es heut noch geschehen. Ich habe gleich nach dem betrübenden Ereigniß oder vielmehr nach dem Begräbniß auf Ihren Wunsch die traurige Pflicht übernommen, dem Herrn von Brand die nothwendigste Mittheilung in Ihrem Namen zu machen, da Sie selbst zu angegriffen von Schmerz und Trauer waren; jetzt jedoch ist es die höchste Zeit, daß Sie selbst die Feder ergreifen. Sie haben bis jetzt keine Antwort?
Nein, stieß der alte Herr heftig hervor.
Er wird auf Ihren Brief warten.
Ich will nicht schreiben! Ich kann nicht!
Rachau zog ein Papier hervor. Hier ist ein Entwurf, sagte er, ich habe ihn niedergeschrieben; fügen Sie hinzu, was nöthig scheint. Ich hoffe jedoch, Sie werden damit zufrieden sein.
Er schob den Bogen unter die Augen des Majors, der starr darauf hinblickte. Nach und nach wurden seine Augen größer, sein Gesicht von Röthe verdunkelt. Er stieß das Papier von sich und sagte ingrimmig:
Das sind Lügen! schändliche Lügen.
Keineswegs, erwiderte Rachau, es sind Vermuthungen, Ansichten, Meinungen, welche sich durchaus rechtfertigen lassen und welche Sie nothwendig haben müssen. Es kommt vor allen Dingen darauf an, die Verhältnisse und das Betragen dieses Gottberg in das rechte Licht zu setzen. Ein reicher und angesehener Mann, wie Sie es jetzt sind, kann nicht anders urtheilen. Der Herr Ministerialrath muß vor Einflüsterungen gewarnt werden. Er muß den zärtlichen Vater erkennen, der an die Aussichten seiner Familie denkt. Hat dieser Mensch, der Ihnen so viel Dankbarkeit schuldet, sich nicht in Ihr Vertrauen eingeschlichen, um es zu mißbrauchen? Hat Fräulein Luise ihm nicht selbst endlich ihre Verachtung zu Theil werden lassen? Und ist er nicht aus diesem Hause gegangen, um nicht fortgewiesen zu werden?
Nein! – Es verhält sich anders! Nein! murmelte der Major in großer Qual den Kopf schüttelnd.
Es ist nothwendig, ihm alle und jede Glaubwürdigkeit zu nehmen, sagte Rachau, sich zu ihm neigend. Er hat sich Aeußerungen erlaubt –
Aeußerungen, wiederholte Brand scheu aufblickend.
Seien Sie ganz ruhig darüber. Was auch in seiner Seele vorgehen mag, über seine Lippen wird es nicht kommen. Er besitzt so viel Pietät für Sie und für Ihre Familie, daß ich glaube, er würde eher sich selbst anklagen; allein dennoch ist es nothwendig, jeder Möglichkeit vorzubeugen; denn bedenken Sie, wenn er – bei seiner Freundschaft mit Ihrem Sohne, bei dessen hoher Meinung von ihm, ein unbedachtes Wort über diesen Todten –
Halten Sie ein! rief Brand und indem er seinen Kopf in seine Hände sinken ließ, sagte er: Meine Kinder, meine armen Kinder!
Was Rachau antwortete, war das Echo der Gedanken des alten Mannes, denen er Sprache zu geben schien.
Diese theuren Kinder müssen nimmer erfahren, was Ihr Herz so tief betrübt, sagte er. Welche Zukunft erwartet Ihren Sohn, welches Elend würde ihn treffen, er würde es nicht ertragen können, wenn sein Stolz so ins Leben getroffen würde. Wir müssen daher thun, was die Wahrung unserer Ehre uns befiehlt, wir müssen ihn vor Gottberg warnen.
Er wird es nicht glauben! Nein, er wird es nicht glauben! fiel Brand mit hohler Stimme ein.
Er wird es glauben, denn Sie werden ihm die Wahrheit beweisen.
Beweisen? Wie soll ich es ihm beweisen?
Rachau wieg einen Augenblick, dann sagte er leise und einschmeichelnd: In außerordentlichen Fällen muß man den gewöhnlichen Weg aufgeben und mit einem raschen Schritte das thun, was man sonst nur zögernd und bescheiden zu erreichen sucht. Verzeihen Sie mir, mein verehrtester Freund, wenn ich solchen Rath ertheile, aber was kann besseren Beweis geben, als wenn Fräulein Luise sich schnell verlobt, schnell vermählt?
Mit wem? rief Herr von Brand, im nächsten Augenblick aber war diese jähe Frage nutzlos, denn in seinem Gesicht stand deutlich genug, daß er sehr gut die ganze Tragweite dieses Rathes begriff.
Sie können nicht vergessen haben, was ich Ihnen anzudeuten wagte, lächelte Rachau mit einer Demuth, welche durch seine scharfen Blicke, die wie das Netz einer Spinne den Major umwickelten, vernichtet wurde.
Nein, nein! erwiderte dieser verwirrt und ohne sein innerstes Widerstreben überwinden zu können, ich habe es nicht vergessen.
Es würde mir sehr schmerzlich sein, wenn ich fürchten müßte, Ihnen zu mißfallen.
Mir! rief der Major mit den verschiedensten Empfindungen ringend. Es handelt sich nicht darum, ob Sie mir gefallen.
Ich unterwerfe mich durchaus Ihrem Urtheile, fuhr Rachau mit einer Bescheidenheit fort, deren Hintergrund der düstere Schatten bildete, welcher sich auf sein Gesicht zu senken schien.
Nichts habe ich dagegen – nichts einzuwenden, sagte Herr von Brand mit scheuer Hast, aber meine Tochter – Luise – es ist ihre Sache.
Taufend Dank Ihnen, hochverehrter Freund! rief Rachau seine Hände fassend und drückend. Sie wissen, wie innig ich Ihnen ergeben bin; wie viel ich leiden würde, wenn wir uns trennen müßten, kann ich nicht aussprechen; allein Sie haben vollkommen Recht, es ist Fräulein Luisens Sache, doch dürften Sie, als mein gnädiger Beschützer in dieser Herzensangelegenheit, auch eine wichtige Stimme haben. Ein Vater hat immer eine wichtige Stimme, wenn es sich um das Glück seines Kindes handelt, und ein zärtlicher. Vater findet bei einer guten verständigen Tochter immer den nöthigen Gehorsam. Ich zweifle nicht daran, denn ich weiß, welche innige kindliche Liebe Luise besitzt; was aber die Nothwendigkeit betrifft, so ist der Grund zu einleuchtend. Können Sie in Ihrem Briefe dem Herrn Ministerialrath melden: Deine Schwester hat sich zu meiner Freude mit dem Manne ihrer Liebe und ihrer Wahl verlobt, und ich segne von ganzem Herzen diesen Bund, so sind alle Verläumdungen, die Gottberg erfinden könnte, jedenfalls vergebens.
Der Major hörte mit starren Mienen diese Auseinandersetzung an. Widersprechen konnte er nicht, dabei zermalmte ihn der Gedanke, seiner Tochter solche Anträge zu machen; zu gleicher Zeit aber sah er ein, daß dies Mittel gegen seines Sohnes mögliche Bedenken und Einsprüche, wie gegen Gottbergs Aussagen allerdings ein wirksames sei. Der stolze, heroische Mann, der niemals einen anderen Willen ertragen konnte, war bis zur Willenlosigkeit heruntergekommen. Der Schrecken vor dem Abgrunde hinter ihm war noch größer, als wohin er blickte, und kein menschlich Wesen, dem er trauen durfte, als dieser eine Vertraute, vor dem ihm graute und den er doch nicht missen konnte, stand ihm bei.
Ich will nächstens mit Luisen reden, sagte er, nächstens.
Heut noch, flüsterte Rachau lächelnd, heut noch, mein verehrter Freund. Wir lassen den Brief bis morgen liegen, es kommt auf diese kurze Verzögerung nicht an.
Aber wenn nun – wenn Luise –
Das wäre freilich trostlos, es würde mich unglücklich machen. Bedenken Sie Alles, verehrter Freund, und handeln Sie, wie es Ihr Wohl und Ihre Freundschaft für mich erfordern. Ich habe auf diese, fuhr er fort, einige Ansprüche, Sie selbst waren so gütig, mir Ihre Dankbarkeit zu versichern; im Uebrigen ist Fräulein Luise ja so einsichtig und, wie ich hoffe, mir auch nicht abgeneigt. Ich will gehen und ihr meine Unterthänigkeit bezeigen. Seien Sie freundlich, theuerster Herr von Brand, eine schöne Zukunft liegt vor Ihnen und vor uns allen. Geben Sie sich heiteren Vorstellungen hin und sprechen Sie ruhig, herzlich, väterlich mit der liebenswürdigen Luise, die ich auf's Innigste verehre.
Der Major saß regungslos auf seinem Stuhle. Er war erschöpft von dem Sturme in seinem Kopfe, matt gemacht von der Hülflosigkeit, aus der er sich nicht aufraffen konnte.
Herr, mein Gott! murmelte er endlich, indem er seine Hände zusammendrückte, muß es denn so sein? Gieb dem Teufel ein Haar, und du bist verloren.
Rachau war an diesem Tage ein noch viel unterhaltenderer und angenehmerer Gesellschafter, als gewöhnlich. Auf seine Veranstaltung wurden einige Gäste auf den Nachmittag eingeladen und diese kleine Gesellschaft, so Damen wie Herren, hatte Gelegenheit genug zu bemerken, mit welcher Aufmerksamkeit und Ergebenheit der galante und interessante Mann Fräulein Luisen auszeichnete. Immer war er in ihrer Nähe, immer mit ihr beschäftigt, und zu seinen Huldigungen paßten manche Worte und Blicke, die der ahnungsvollen Gesellschaft nicht verloren gingen.
Herr von Rachau stellte sich als der vertraute Freund des Hauses dar, und als man am Abend sich trennte, war es den Heimkehrenden so ziemlich gewiß geworden, was man nächstens zu gewärtigen habe. Auf jeden Fall war es eine geschickte Vorbereitung, und was konnte man dagegen einwenden? Man mußte anerkennen, daß dieser liebenswürdige feine Herr eine achtungswerthe Speculation mache. Den Doctor hatte er aus dem Hause fortgeblasen, es gab spöttische Bemerkungen genug darüber, im Grunde jedoch, ließ sich nicht viel Vernünftiges dagegen sagen. Früher schon zweifelte man genugsam, ob Fräulein Luise sich wirklich so weit vergessen könne und ob Herr von Brand nicht dazwischen fahren werde, wenn die Muthmaßungen etwa Wahrheit werden sollten. Zwar war der Major anscheinend ein Mann von derber Einfachheit, auch er hob er bei jeder Gelegenheit den Doctor bis in den Himmel; allein Alles hat seine Grenzen.
Nun hatten sich vollends die Verhältnisse verändert. Herr von Brand war reich geworden, somit blieb ganz natürlich für Gottberg nichts mehr zu hoffen. Man hatte schon in der letzten Zeit bemerkt, wie der Doctor überall von dem vornehmeren Gaste verdrängt ward, wie dieser fast immer allein die Familie begleitete, und nur die Mißgunst konnte Ausstellungen dagegen machen und es für Unrecht erklären, daß das Fräulein von Brand einen besseren Geschmack zeige.
Es gab aber keine Stimme, welche die Vorzüge des Herrn von Rachau nicht anerkannte, und man fand es heuchlerisch genug, daß das Fräulein an diesem Nachmittage so gethan habe, als sei sie gleichgültig gegen die Huldigungen, welche ihr von ihm dargebracht wurden. Es sollte Niemand etwas davon merken, und doch schmeichelte es ihr ohne Zweifel, allein der vornehme Anstrich sollte nicht darunter leiden. Man hatte aber doch bemerkt, wie zuweilen ihre Augen lange und fest auf ihm hafteten, wenn er mit Anderen sprach, wie sie ihn beobachtete, und wie ihr Gesicht dann einen eigenthümlich trüben Ausdruck erhielt.
Während die theilnehmenden Freunde dies und Anderes feststellten, hatte Herr von Brand eine Unterredung mit Luisen, welche den Neugierigen noch weit interessanter gewesen sein würde, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, sie zu belauschen. Es war jedoch Nacht, Niemand war zugegen.
Rachau war im Bett, er hatte sich seinem verehrten Freunde mit einem bedeutungsvollen Händedruck empfohlen. Als Luise ihre wirthschaftlichen Geschäfte beendet hatte, trat sie mit dem Licht in der Hand herein, um den Vater noch einmal zu sehen und zu küssen.
Sie schien verwundert, ihn noch im vollen Anzuge zu finden.
Bist du noch nicht müde, Papa? fragte sie. Er stand vor ihr still und sah sie an.
Müde ohne Schlaf, antwortete er. Das war ein schwerer Tag.
Manches war schwer.
Und die Zukunft – was bringt uns die?
Wer kann in die Zukunft sehen?
Zukunft ist Alles, Zukunft ist Hoffnung. Man muß in die Zukunft sehen.
Man muß sorgen, sagte Luise.
Er nickte ihr zu und antwortete nicht.
Sorgen, daß die Gegenwart friedlich und heiter ausfällt und die Vergangenheit –
Sie stockte.
Was soll die Vergangenheit?
Uns – nicht bedrückt.
Sein schlaffes Gesicht wurde roth, er sah scheu und doch scharf auf sie bin, in seinen Augen leuchtete ein Entschluß.
Fort mit der Vergangenheit! rief er rauh seine Hand ausstreckend, als wollte er etwas von sich stoßen. Ich wollte dich etwas fragen.
Was, lieber Vater?
Er legte die rechte Hand auf ihre Schulter, sie fühlte sein Zittern. Er sagte nichts, es fehlte ihm der Muth. Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf, er suchte ein Lächeln auf seine Lippen zu bringen.
Könntest du dich entschließen, begann er und schwieg dann wieder.
Wozu?
Du mußt heirathen! fiel er hastig ein, und ohne inne zu halten sprach er weiter: Sage mir aufrichtig, ob es wahr ist, ob unser Gast, unser Freund – Rachau, ob er dir gefällt?
Er mißfällt mir nicht, erwiderte sie.
Mißfällt er dir nicht
Was ist dein Wunsch, lieber Vater?
Er blickte vor sich nieder, dann, als habe er sich mit erneuter Entschlossenheit bewaffnet, wieder auf. Es kam ihm vor, als sei sein Kind ein Marmorbild, als starrten dessen Augen ihn todt an. Er hob seinen Arm auf, als wollte er einen Schwur thun. Bitte, Schmerz, Angst und Liebe rangen in dem Worte, das über seine Lippen drang.
Luise! sagte er dumpf aus der Brust.
Vater!
Willst du es thun? –
Ja, Vater.
Ich werde dich nicht zwingen.
Du sollst mich nicht zwingen.
Oh, das ist mir lieb! Wirklich, Luise, mein liebes Kind, – er suchte in tiefen Athemzügen ruhiger zu werden, und indem er sie festhielt, fuhr er dabei fort: Rachau besitzt viele Vorzüge und Kenntnisse. Ich bin ihm Dank schuldig, sehr großen Dank. Ohne seinen Beistand – ja, ohne seinen Beistand – ich weiß nicht, was daraus geworden wäre – Die Hauptsache ist jedoch die, daß er dich liebt und verehrt, und ich hoffe, Luise, ich hoffe, mein Kind, daß du glücklich sein wirst.
Ich werde es versuchen, erwiderte sie.
Soll ich ihm mittheilen, fragte er, seine Augen senkend – morgen mittheilen, daß du – wenn er dir seine Neigungen gesteht – seine Absichten ausspricht
Ich werde ihn erwarten, theurer Vater, fiel Luise ein. Sage ihm, was dir am besten scheint.
Er hielt noch immer ihre Hände in seinen Händen; sein graues Haupt neigte sich zu ihr. Wie ein Stummer sah er sie an, der ein schreckliches Geheimniß ausschreien möchte, aber es fehlt ihm die Zunge.
Ich habe das nicht gedacht, murmelte er kaum verständlich.
Handle, wie es nothwendig ist, unterbrach sie ihn.
Du, mein Kind, du willst es so?
Ich will, ja, ich will. – Das Kind gehört dem Vater. Dein Wille ist mir heilig, deine Hoffnungen sind meine Hoffnungen, sagte Luise mit einem begeisterten Lächeln, indem sie ihn umarmte.
Ich danke dir! ich danke dir! erwiderte er sie zärtlich an sich drückend.
Oh, bester Vater, sei glücklich, sei froh, fuhr sie fort. Alle Freuden des Lebens über dein Haupt, Ehre hat dein Leben begleitet, Ehre wird es nicht verlassen.
Ehre! Ehre! stöhnte der alte Mann.
Theurer, theurer Vater! rief Luise ihn mit ihren Küssen bedeckend, gieb mir deinen Segen. Sorge nicht, schlaf süß, deine Tochter wird für dich wachen!
Sie ruhte einen Augenblick an seinem Herzen, die mitternächtliche Stille spann graue Schleier über sie; dann entfernte sie sich und wandte sich nicht zurück, sie wollte ihm ihr zitterndes Gesicht nicht zeigen, nicht ihre Augen, die von Thränen verdunkelt waren, denen sie nicht länger widerstehen konnte. Keines Wortes mächtig, streckte er seine Arme nach ihr aus. Furcht und Hoffnungen, ein Strahl von Frieden und Zuversicht und ein Strom düsterer Zweifel und banger Ahnungen rangen in ihm, bis er mit einem tiefen Seufzer zusammenschaudernd sagte:
Meine Ehre ist ihre Ehre! Gerechter Gott! auch sie – was weiß sie, was ahnet sie? Wohin ist es mit mir gekommen!
Am nächsten Tage erfolgte die Erklärung, Rachau befand sich am Ziel seiner Wünsche. Ohne eine sichtbare Ueberwindung gab Luise ihr Wort und unterzog sich allen üblichen Zärtlichkeiten des neuen Verhältnisses mit tadelloser Bereitwilligkeit. Nur gegen die sofortige Veröffentlichung der Verlobung erklärte sie sich mit mancherlei Gründen. –
Wir müssen damit wenigstens noch einige Zeit warten, wandte sie ein, um den Verhältnissen nach, die hier gewaltet haben, der Schicklichkeit genug zu thun. Ich wünsche überdies, daß mein Bruder zunächst davon benachrichtigt wird, und unsere Freunde umher nicht allzusehr überrascht werden.
Rachau stimmte ihr bei, der wahre Grund schien ihm gewiß genug. Sie schämte sich vor dem Geschwätz und wollte dem flüchtigen Gottberg nicht die Verlobungskarte so schnell nachschicken. Im Stillen jedoch gelobte er sich, daß es nicht lange dauern sollte, und bis dahin ließ sich die Meinung so weit vorbereiten, daß Niemand mehr überrascht sein konnte.
Lieben Sie mich nur ein wenig, so wie ich Sie liebe, theure Luise, sagte er, so bin ich mit Allem zufrieden und darf getrost erwarten, daß Sie bald meinen Bitten nachgeben. Wie glücklich bin ich nicht schon jetzt, da ich bei Ihnen sein kann, wie viel größeres Glück, wenn die ganze Welt es weiß, um mich zu beneiden.
Im weiteren Verlaufe dieses Gespräches gab Herr von Rachau auch nähere Nachrichten über seine eigenen Verhältnisse. Er legte dem Major ein Taufzeugniß vor, in dessen Besitz er sich befand, und nach welchem er sich als der Sohn eines Oberbeamten in Preußen auswies. Seine Eltern waren beide früh gestorben, die mäßige Hinterlassenschaft zum Theil für seine Erziehung verwendet worden, zum Theil später bei Studien und Versuchen daraufgegangen, ihm den Weg in die Welt zu bahnen. Er deutete an, daß er sich vielfach literarisch beschäftigt habe, auch mit mehreren Regierungen und politischen Personen in Verbindung gewesen sei. Die französische Regierung habe ihm zu einem längeren Aufenthalt in Nordafrika besondere Veranlassung gegeben, bis er nach seiner Rückkehr in Paris Eduard Wilkens kennen lernte, der, mit eigenthümlicher Zuneigung ihn beglückend, sich ihm anschloß, und den er begleitete, als die Nachricht vom Tode seines Vaters eintraf.
Im Allgemeinen waren diese Nachrichten weder besonders befriedigend noch besonders vortheilhaft. Ersichtlich hatte sich Herr von Rachau noch kein gesichertes Dasein begründet, sondern dem Anschein nach ein ziemlich ungewisses und wechselndes Leben geführt. Seine Heirath sollte ihm erst geben, was ihm fehlte, die feste Grundlage zur Gesellschaft, es hatten somit diejenigen nicht eben so ganz Unrecht, die mit einigen mißtrauischen, kleinstädtischen Bedenklichkeiten nach Besitz, Amt, Würde oder Stellung des liebenswürdigen jungen Herrn spionirten. Indeß leben heut zu Tage Tausende wie die Lilien auf dem Felde, und man kann eben so wohl große Vermögen in einer kleinen Brieftasche bei sich tragen, wie man weder Amt noch Geschäft, noch stolze Titel zu haben braucht, um viel Geld zu gewinnen und das bequemste und prächtigste Leben zu führen.
Herr von Rachau sprach über Geldgeschäfte, Börsenpapiere, Actienunternehmungen und Speculationen aller Art mit derselben Kenntniß und Lebendigkeit, wie über Literatur und Zeitungen, Politik und Handel. Ein so gewandter, vielseitig gebildeter Mann, in feinen und hohen Kreisen so eingelebt, so vornehm und sicher, hatte nichts zu besorgen. Noth hatte er gewiß nie gekannt, gearbeitet auch nicht, wer aber das nicht nöthig hat, dem wendet sich immer die Hochachtung der Meisten ganz von selbst zu.
Auch in den Eröffnungen, welche Rachau dem Herrn von Brand machte, behauptete er seine würdige und freie Form und eine Offenheit, die sich mit der liebenswürdigsten Dankbarkeit paarte. Er verleugnete durchaus nicht, daß er keine Reichthümer besitze, aber er that dies mit lächelnder Geringschätzung des elenden Metalls, das so oft den Unwürdigsten gehört, und sagte dann, Luisens Hände küssend und dem Major die seinen drückend:
Es ist eine höhere Fügung gewesen, daß ich in die Nähe so edler theurer Menschen geführt wurde. Liebend haben Sie mich aufgenommen, meine Aufgabe wird es sein, diese Liebe zu vergelten. Ich will keine Mühen, keine Anstrengungen sparen, ja mein theurer Vater – gestatten Sie mir, daß ich Sie so nennen darf – wir wollen vereinigt ein reiches und schönes Leben zu führen suchen.
Ein zufriedenes einfaches Leben ist das beste, murmelte der alte Mann.
Ein zufriedenes ja, aber ein einfaches, was man gewöhnlich so nennt – ein zurückgezogenes Naturleben, nein! lächelte Rachau. Warum sollte man die Welt verachten? Warum sich nicht mit allen edlen und schönen Genüssen umringen, die das Product des menschlichen Geistes und steigender Civilisation sind?
Die wirklich edlen Genüsse des Lebens sind allerdings dessen höchste Würze, sagte Luise.
Geist giebt es nicht ohne Körper, versetzte Rachau, Schönheit gedeiht nur in schöner Form. Die köstlichste Musik in einer Bretterhütte erregt Unbehagen, das edelste Dichterwerk auf schmutzig grauem Lumpenpapier widert uns an, und wenn der feinste Champagnerwein aus einem Küchentopf getrunken werden soll, verliert er allen Geschmack. Nein, meine theure Luise, wir können uns nicht mit hoher geistiger Regsamkeit in einer Diogenestonne wohl gefallen. Geistig regsame Menschen wollen auch das Leben fein und auserwählt, und sie sammeln sich da, wo ihnen alle Reize des Daseins geboten werden, an den großen Sammelplätzen der Künste, der Wissenschaften, der Industrie und deren verlockendsten Schöpfungen.
Ich kenne allerdings die glänzenden und luxuriösen Genüsse des Lebens sehr wenig, erwiderte Luise.
Und ich mag sie nicht kennen lernen, fiel der Major unmuthig ein.
Wir werden sie kennen lernen, tröstete Rachau. Wenn wir künftig in der Hauptstadt wohnen, wird uns diese gewähren, was sie bieten kann, und wenn uns das nicht genügen sollte, werden wir reisen und uns höhere Genüsse verschaffen. Wir werden nach Paris gehen, in den Mittelpunkt der feinsten und elegantesten Cultur.
Es schien ihm Vergnügen zu machen, diese Genüsse mit lebendigen Farben auszumalen und die glänzendste Zukunft vor dem unerfahrenen Mädchen auszubreiten, das ihm neugierig lächelnd und zweifelnd zuhörte. Dann und wann warf auch der alte Herr eine neue abweisende Bemerkung hinein, sie diente jedoch nur dazu, ihn um so eindringlicher zu überzeugen, daß eine neue Welt voll Glück und Freuden nothwendig sei und sie sämmtlich erwarte.
Nichts ist obenein leichter, sagte Rachau, als daß ein reicher Mann, wie Sie es jetzt sind, sein Geld in kurzer Zeit verdoppelt und vervielfacht. Ungeheure Vermögen werden von denen gewonnen, welche ihr Geld gehörig arbeiten lassen. Die großen industriellen Erfindungen und Unternehmungen beruhen darauf, und dafür, daß man mit dem Köstlichsten sich umringt, hat man obenein das Vergnügen, immer reicher zu werden.
Ich verstehe nichts von allen solchen schwindelhaften Speculationen, kopfschüttelte der alte Soldat noch verdrießlicher.
So nennt sie der Spießbürger in seiner ehrlichen Einfalt, versicherte Rachau. Nur Geduld, mein bester Papa, Sie werden anders denken lernen, wenn Sie ein mit Sammettapeten ausgeschlagenes Haus bewohnen und erfahren haben, wie angenehm alle diese lieblichen Dinge sind, die man Luxus nennt und tugendhaft verdammt, so lange man vergebens danach seufzt. Der Herr Minister, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, wird eben so wohl wie sein Schwiegersohn, der Herr Ministerialrath, damit gewiß einverstanden sein, und was meine liebenswürdige Luise betrifft, die bisher ihre schöne Stirn bescheiden mit Feldblumen schmückte, so wird sie nicht böse darüber sein, wenn diese künftig ab und zu von allerlei blitzenden farbigen Steinen ersetzt werden.
In dieser fröhlich scherzenden Weise erging sich die Verständigung, welche zuletzt durch einen gemeinsamen Brief an den Ministerialrath besiegelt wurde. Herr von Brand schrieb, was Rachau ihm entworfen hatte, und fügte die Nachricht von der bevorstehenden Verlobung Luisens mit dem Herrn von Rachau bei, eines sehr würdigen und herrlichen jungen Mannes, welcher in dieser schweren Zeit der wahre Trost der Familie gewesen und überall sich Hochachtung und Verehrung erworben habe. Rachau selbst bat um brüderliche Freundschaft, welche er sich verdienen werde, und Luise schrieb einige herzliche Worte an den Bruder, welche Alles bestätigten, was sich ereignet hatte. Alle baten vereint um baldige Antwort und gute Nachrichten mit den Hoffnungen, sich bald zu sehen und für immer nahe zu sein, denn Herr von Brand hatte, obwohl widerstrebend, in seinem Briefe bemerkt, daß er den Winter in Berlin zu leben gedenke. Mit noch größerem Widerwillen hatte er aber auch eine Art dringender Einladung an den Sohn erlassen, daß dieser zur Verlobung seiner Schwester kommen und an den freudigen Familienereignissen Theil nehmen möge.
Die Feder zitterte ihm dabei, aber Rachau stand neben ihm und suchte ihn zu beruhigen. Er wird leider nicht kommen können, sagte er, denn ein Mann in solchem Amte ist schwer zu missen, auch wird er zunächst wohl seine Sehnsucht einschränken, da Herr Gottberg nicht ermangeln wird, sich ihm im Lichte der gekränkten Unschuld zu zeigen. Wir machen mit unseren Briefen ihm allerdings einen Strich durch die Rechnung, allein er bleibt doch immer der Freund Ihres Sohnes, und wer weiß, was dieser selbst gewünscht und gehofft hat. Jedenfalls wird der Ministerialrath nicht kommen, um so eher konnten Sie ihn einladen, und jetzt seien Sie munter, theurer Papa, und geben Sie mir den Brief; ich will ihn selbst zur Post bringen. Luise hat versprochen mich zu begleiten.
So geschah es denn auch und von diesem Tage an wurde es den Freunden in der Stadt und Nachbarschaft immer weniger zweifelhaft, wie die Sachen standen und was das Ende sein werde. An Rachau's Arm machte das Fräulein ihre Besuche, solche Vertraulichkeit wäre aber unstatthaft gewesen, wenn kein Verständniß stattgefunden hätte, dessen Durchsichtigkeit überhaupt so wenig mehr versteckt wurde. Ein anderer Umstand kam dazu, um diese Meinung zu bestärken. Ein reicher Gutsbesitzer in der Nähe hatte ein Paar ausgezeichnete Pferde sammt elegantem Wagen von Pariser Arbeit zu verkaufen. Rachau besuchte den als geizig verschrieenen Baron, überhäufte ihn mit Artigkeiten, kaufte ohne zu handeln und überreichte ihm seinen Wechsel in drei Monaten zahlbar mit solcher Unwiderstehlichkeit, daß nicht der geringste Einwand dagegen gemacht wurde. Er hatte dabei von seiner bevorstehenden Vermählung und bleibenden Niederlassung in dieser Gegend so unzweideutige Winke gegeben, daß alle Zweifel verschwinden mußten.
Nachrichten darüber verbreiteten sich schnell in der Stadt, und ohne alle Mühe hätte Rachau auch dort sich bedeutende Summen verschaffen können, wenn er es gewollt hätte. Er hätte dem Stolzesten die größte Ehre erwiesen, hätte den halben Platz ausleeren können, denn die kostbare Equipage und die unfehlbare Verbindung mit der reichen Erbin steigerten die allgemeine Hochachtung. Wenn Rachau an Luisens Seite die prächtigen Schimmel durch die Gassen lenkte, neigten sich überall die lächelnden Gesichter und das Loben über das paßliche Paar nahm kein Ende; aber Herr von Rachau lenkte jetzt mehr als je auch das ganze Haus des alten störrigen Soldaten und diesen selbst. Wie fügte sich Alles seinem Willen und wie allerliebst waren die Gesellschaften, welche er veranstaltete!
Alles machte sich jetzt gut in der gastlichen Familie, der Major von Brand selbst verlor die trübe Stimmung in dem belebten Umgange, und Luise suchte diese Aenderung durch ihre Sorgfalt und Heiterkeit zu befestigen. Wenn der Major sie nicht sah und Rachau nicht bei ihm war, verfiel er allerdings in Grübeleien und in Unruhe, sobald jedoch ihre klaren Augen auf ihm ruhten, verschwanden die Gespenster. Zuweilen hingen seine Blicke mit der ängstlichen Genauigkeit eines Naturforschers an ihren Mienen, der seine zweifelhaften Entdeckungen unter dem Mikroskop prüft, aber er konnte nichts Unwahres darin finden. Luise war angeregter und lebendiger, als er sie je gesehen. Sie konnte übermüthig sein, konnte lachen und scherzen. Das Unglück sieht nicht so aus.
Alle hatte Rachau gewonnen und bezaubert, nur die kleine Toni hatte er nicht versöhnen können. Das Kind war mehr und mehr von ihm abgefallen, es blieb bei seinem eigensinnigen Trotze, er mochte thun was er wollte; seine Schmeicheleien nützten ihm nichts. Dies war um so auffallender, da das kleine Mädchen ihm anfänglich so viele Zuneigung bewiesen hatte; aber es schmollte mit ihm nicht allein, sondern auch mit dem eigenen Vater und der so zärtlich geliebten Schwester. Es ging ihnen Allen aus dem Wege, so viel es konnte. Je mehr Luise sich an Rachau anschloß, je mehr der Major ein willenloses Werkzeug wurde, um so mehr zog sich das Kind zurück. Wie weit das Verhältniß vorgerückt war, hatte man Toni verborgen, allein sie sah und hörte genug davon. Der Vater, welcher sonst ihr Geplauder kaum vermissen konnte, empfand eine geheime Scheu auch vor ihr. Wenn sie ihn anblickte, kam es ihm vor, als wollte sie ihm Vorwürfe machen, und er hielt sich zurück, ihr liebevoll zu begegnen, weil er ihre Vertraulichkeit fürchtete.
Bei der Unruhe, in welche dies stille Familienleben gerathen war, wurde Toni aber überhaupt nicht allzuviel beachtet. Täglich gab es Spazierfahrten, Besuche und Gegenbesuche, denen sich das Kind häufig ohne große Mühe entzog; auch Luise schien sich vor eindringlichen Fragen und Bemerkungen schützen zu wollen. Toni hatte daher Freiheit genug, zu thun was sie wollte, und sie benutzte dies, um für ihre Rechnung und Gefahr umherzustreifen und ebenfalls Besuche zu machen. So oft es anging, lief sie in den Wald hinaus bis in die Mühle am Flusse, bis in die Hütten an der Berglehne. Stundenlang blieb sie bei dem Müller, oft kam sie spät zurück und wurde gescholten.
Eines Tages währte dieser Ausflug so lange, daß es dunkelte und der Mond am Himmel stand, ehe Toni an der Gartenthür anlangte. Wahrscheinlich glaubte sie Zeit genug zu haben und das Haus noch leer zu finden, denn ihr Vater und die Verlobten hatten einen Besuch bei einem weitab wohnenden, befreundeten Gutsbesitzer gemacht, der sie gewiß sobald nicht fortließe, allein sie kehrten diesmal doch früher zurück, und kaum hatte das Kind die schattigen Gänge erreicht, als Luise ihm entgegenkam.
Wie hast du mich geängstigt, Toni, sagte sie, wir haben dich vergebens gesucht.
Du hast nicht nöthig dich um mich zu ängstigen, antwortete das kleine Mädchen. Ich komme von selbst wieder.
Aber wo warst du so lange?
Im Walde bei Mathis und dann in der Mühle und dann wieder bei Mathis oder bei seiner Frau, deren Kind ganz elend krank ist. Das Geschäft geht schlecht, sagt Mathis, er kann nichts verkaufen, ich habe ihm Mehl und ein großes Brod und Milch aus der Mühle gebracht.
Du darfst nicht mehr allein umherlaufen, fiel die Schwester ein. Versprich es mir.
Ich werde doch umherlaufen, erwiderte Toni.
Es ist unpassend, fuhr Luise strafend fort. Wenn der Vater es erfährt, wird er böse. Das ist keine Gesellschaft für dich.
Hast du denn bessere Gesellschaft? fragte das störrige Sind.
Du bist unbesonnen und vorlaut, versetzte Luise. Aber du bist alt genug, um zu wissen, was sich für dich schickt.
Das sollte Keiner vergessen! rief Toni. Wenn ich nur reden dürfte, ich wollte es dir schon sagen.
Was darfst du nicht reden und was wolltest du mir sagen?
O du – du! erwiderte das kleine Mädchen hastig, hast du ihn denn nicht vergessen, habt ihr ihn nicht Alle vergessen, und er hat dich so lieb gehabt und gewiß noch lieb. Ja, über alle Maßen lieb hat er dich, du aber denkst nicht an ihn, lachst und singst – schickt sich das etwa?
Nach einer augenblicklichen Erstarrung blickte Luise scheu umher, als fürchte sie, daß ein Zeuge verborgen sei, dann legte sie ihre Hand auf Toni's Schulter und mit einer Stimme, die vergebens sich bemühte, ihre Sicherheit zu bewahren, sagte sie leise:
Warum willst du mir so wehe thun, Toni?
Das Kind war gerührt von dem Tone, der ihm ins Herz drang. Ich will dir gar nicht wehe thun, war seine Antwort, die es mit einer Liebkosung begleitete, aber warum schiltst du mich? Hier darf Niemand mehr von ihm sprechen. Der Vater runzelte seine Stirn, als ich neulich nur den Namen nannte. Rachau, dein guter Freund, verspottet und verlacht mich, wenn ich ihn lobe und du – du gehst fort und hörst mich nicht an. Mit Mathis aber kann ich von ihm reden, er hat es nicht vergessen, wie lieb und gut er war, seine Frau weint, wenn sie von ihm erzählt und der Müller – oh, der Müller und die Müllerin, die erst recht – die würd' ihn nicht verrathen, um keinen Preis.
Was in Luisens Seele vorging und in ihrem Gesicht sich widerspiegelte, verbarg der dunkle Weingang.
Schweigend ging sie neben der kleinen Schwester, die ihre Hand ergriffen hatte und plötzlich ausrief:
Du zitterst ja! Warum zitterst du?
Ich zittere nicht, aber es ist kühl, antwortete das Fräulein.
Heiß ist es! Sehr heiß.
Geh, fuhr Luise fort. Der Vater ist mit dem Herrn von Rachau im Garten. Laß dich nicht sehen, ich komme dir nach.
Toni entfernte sich, und als Luise allein war, rangen sich ihre Hände zusammen, die sie über ihr Gesicht deckte. Nicht weit von ihr in einem anderen Gange hörte sie die Stimme der beiden Männer und die Frage ihres Vaters nach ihr, welche sich rufend wiederholte. Unvermögend zu einer Antwort und voller Furcht vor einem Begegnen, bog sie in einen Nebengang ein, der zu dem Hügel führte, wo sie sich von Gottberg getrennt hatte.
Ich kann nicht länger, flüsterte sie mit fliegendem Athem, ich kann es nicht länger ertragen. Gieb mir Kraft, gieb mir Muth, daß ich nicht erliege!
Ein banges Schweigen folgte ihrem Ausruf nach. Der Mond stand hell und groß über den Cypressen und goß sein sanftes Licht auf die gebeugte stille Gestalt. Kein Ton störte diese Stille, kein Windesrauschen, Frieden war in allen Wipfeln. Die heißen Hände des leidenden Mädchens umklammerten die Urne, ihre Stirn senkte sich auf den kalten Stein nieder, plötzlich aber hob sie ihren Kopf auf und zum Himmel emporblickend füllte sich ihr Gesicht mit allem Weh, das sie empfand.
Alle schweigen, rief sie mit ausbrechender Verzweiflung, auch ich – auch ich. Und dennoch – Nein, o nein! ich habe dich nicht vergessen! kann dich nicht vergessen, nicht verrathen!
Ein Schatten schwebte an ihren Augen, es war, als rauschte es in den Cypressen. Ihr scheuer Blick streifte daran hin und plötzlich klopfte ihr Herz mit zersprengenden Schlägen; es dunkelte um sie. Da stand er, bleich, bewegungslos und sah sie an.
Gottberg! schrie sie auf, oder sie wollte aufschreien, aber es wurde ein wimmernder dumpfer Ton daraus und unten am Wege antwortete Rachau.
Was giebt's? Wo sind Sie, Luise?!
Er war im nächsten Augenblick bei ihr.
Was war es denn? fragte er die starre Gestalt anfassend.
Nichts, wirklich nichts, erwiderte sie mit äußerster Selbstbeherrschung. Ich stand hier und betrachtete den Mond. Plötzlich kam es mir vor, als sei Jemand hinter mir.
Er lachte lustig auf.
Also Ahnungen aus der Geisterwelt, rief er, sie umarmend. Das kommt davon, wenn man mit dem Mond Gespräche führt. Geschwind fort von diesem gefährlichen Platz, unter solchen Trauerbäumen nisten die Gespenster am liebsten. Ins warme Leben hinein, theuerste Freundin. Eben haben wir Nachrichten erhalten, die Sie hören müssen. – Schon in den nächsten Tagen werde ich Sie verlassen.
Verlassen! rief Luise.
Für kurze Zeit nur, sagte er, um mich dann nie wieder zu trennen. Kommen Sie geschwind, der Vater erwartet uns. So allerliebst es wäre, bei diesem blassen Lichte mit Elfen zu schwärmen, müssen wir uns doch in die prosaische Wirklichkeit begeben und den guten Papa trösten, der noch immer mit dem Zwang der Nothwendigkeiten seines Glückes sich nicht recht verständigen kann.
Die Nachrichten, welche Herr von Brand erhalten hatte, bestanden in der Aufforderung seines Rechtsanwalts, gewisse Papiere und Documente so schnell als möglich herbeizuschaffen, welche zur Behauptung seiner Rechtsansprüche nöthig waren. Es hatte sich doch noch ein anderer Verwandter gemeldet, welcher von einer Linie der Familie Wilkens abstammen wollte, die nach Erbschaftsrecht die nächste sei. Der Rechtsanwalt hatte keine Sorge über den Verlauf, sobald nur die Documente in gehöriger Zahl und Sicherheit beschafft wurden, dabei schien es ihm aber am besten, wenn Herr von Brand selbst käme, oder aber durch einen General-Bevollmächtigten, der genau von allen Umständen unterrichtet sei, sich vertreten ließe; was für den gesammten Gang dieser Angelegenheit bedeutende Vortheile erwarten lasse.
Diese Nachrichten hatten den Major zunächst in eine gewisse freudige Aufregung versetzt, welche durchaus nicht zu den Empfindungen eines Erben paßte, dem ein Prätendent entgegentritt. Meinetwegen kann er Alles nehmen, was da ist! rief er aus, als sei er herzlich froh darüber. Ich will nichts haben, gar nichts will ich haben.
Als Rachau mit Luisen zu ihm kam, war er noch in dieser Stimmung, allein er bemerkte doch sogleich, daß seine Tochter bleich und leidend aussah. Du siehst ganz sonderbar verändert aus, redete er sie an. Du bist doch nicht krank?
Luise verneinte es. –
Es kommt vom Erstaunen über Ihre guten Vorsätze, mein lieber Papa, sagte Rachau. Ich habe es Luisen mitgetheilt, wie großmüthig Sie wieder einmal sein wollen.
Es hat sich ein näherer Erbe gemeldet, Kind, fiel der Major ein, daher müssen wir zurückstehen.
Doch nicht ohne Beweis, antwortete Rachau.
Beweis! Beweis! rief der alte Herr ungeduldig. Der Teufel hole die Processe und die Rechtsverdreher. Ich habe, so lang ich lebe, einen Abscheu davor gehabt. Und diesen hier, um diese Sache, um dies Geld –
Dem müssen Sie aus allen Kräften betreiben und dürfen ihn nicht verlieren, sagte Rachau, indem er seine scharfen kecken Augen auf ihm ruhen ließ.
Der Major gerieth in einige Verwirrung, aber er erwiderte doch:
Ich verlange nicht danach, das wissen Sie, was soll mir dies Geld – dies Geld, an dem kein Segen ist. Ich habe, was ich gebrauche, und aus meiner Seele heraus wünsche ich – verflucht mag es sein!
Das wäre doch eine Merkwürdigkeit ohne Beispiel in der Weltgeschichte, lachte Rachau, wenn man Reichthum so verächtlich von sich schleudern wollte. Er ist Ihnen zugefallen nach dem Willen Gottes.
Des Teufels! des Höllenteufels! rief der alte Soldat, indem er seine Hände ballte.
Und wenn es wirklich daher stammte; fuhr Rachau fort, so bliebe es um so bedenklicher, es abzuweisen. Was änderten Sie denn damit? Was gewönnen Sie durch diese auffällige Sonderbarkeit?
Er schwieg einen Augenblick und Alle schwiegen.
Im Uebrigen, fuhr Rachau fort, müssen Sie doch beachten, und ich muß Ihnen dies wiederholen, daß es sich ja um das Glück und Wohl Ihrer Kinder handelt. Ich selbst, mein lieber Papa, rechne mich jetzt zu diesen.
Herr von Brand warf einen Blick auf ihn, in welchem Mancherlei, aber keine natürliche Liebe geschrieben stand. Es war ein Gemisch von Furcht und Unwillen, Verzagtheit und Trotz, doch Rachau kehrte sich nicht im Geringsten daran. Er drückte Luisens Hand und sagte mit seiner schmeichelnden Bestimmtheit:
Sagen Sie dem guten Papa, daß er von diesen wunderlichen Auffälligkeiten abstehen muß, die geforderten Documente sind in wenigen Tagen zu beschaffen. Die Ansprüche des Erben zerfallen in Nichts. Wie der Justizrath schreibt, ist es ein armer Teufel, der obenein mit einer kleinen Summe leicht zu bewegen sein wird, seine Behauptungen fallen zu lassen, da er voraussehen muß, endlich nichts zu erhalten. Alle Weitläufigkeiten lassen sich damit abschneiden, es ist von keinem zweifelhaften Processe die Rede, im Gegentheil versichert der Rechtsgelehrte, daß nach Erledigung dieses Punktes die Erbschaftsmasse rasch ausgeschüttet werden wird. Was soll man nun wohl denken, wenn der, dem sie gehört, sich anstellt, als seien es glühende Kohlen? Der Papa soll nicht gehen, ich werde sein General-Bevollmächtigter sein; in kürzester Zeit werde ich die gesammte Angelegenheit in Ordnung gebracht haben.
Rachau hat in Allem, was er sagt, Recht, Vater, entschied Luise. Du vermagst nichts zu ändern, nichts zu bessern; Du mußt dein und unser aller Wohl und Glück bedenken.
Herzlichen Dank für diesen Ausspruch! rief Rachau. Morgen können wir besorgen, was zu meiner Reise nöthig ist, und ich kann mich dann sogleich auf den Weg machen. Ich bin sicher, meine Aufgabe glücklich und leicht auszuführen; doch ehe ich gehe, meine theure Luise, mein väterlicher Freund, geben Sie mir einen offenen Geleitsbrief mit, der mein Recht zum Handeln vor den Augen aller Welt bestätigt. Lassen Sie das Abschiedsmahl auch das Verlobungsmahl sein; legen Sie Luisens Hand in meine Hand, lassen Sie den Segen des Vaters und der Braut mich begleiten.
Der Major blickte nach seiner Tochter hin, diese saß regungslos neben Rachau, dem sie ihre Hand überließ, ohne ihre Mienen zu verändern. Ihr graues blutloses Gesicht schien leichenartig starr. Ein Grauen überfiel den alten Mann; er ahnte, wie ihr Herz zerbrach; wie Alles doch nur eitel Blendwerk sei, was er sich vorgespiegelt. Seine Kehle schnürte sich zu, und doch wußte er, daß er antworten sollte; er wußte auch, daß er keine andere Antwort geben könne, als eine wohlgefällige. Aus welchen Gründen sollte er Rachau's Verlangen ablehnen? Er fürchtete sich vor den lächelnden, krystalhellen Augen, aber noch größer als diese Furcht war der Kummer über sein Kind. –
Wenn es durchaus so sein muß, sagte er – ich meine, daß Sie reisen, und wenn – es ist allerdings, ich glaube, bekannt genug, so daß Niemand zweifelt; dennoch – Luise muß es am besten wissen! rief er, als ihn der Faden ausging, erschöpft und muthlos.
Sehr wahr, bester Papa! antwortete Rachau, meine geliebte, theure Freundin muß am besten wissen, ob Sie meine heiße Bitte erfüllen will. Ich hoffe darauf, fuhr er fort, indem er sie zärtlich anblickte, ich weiß, daß ihr verständiger Sinn meine Gründe erwägt, bedenkt und billigt.
Es muß so sein, antwortete Luise.
Der Klang glich einem Seufzer, aber Rachau versetzte sich in ein erhöhtes Entzücken. Er umarmte den Papa, umarmte die Braut mit den innigsten Betheurungen seines unaussprechlichen Glückes, und setzte ihnen dann siegesgewiß auseinander, was sich begeben sollte. Die Generalvollmacht sollte am nächsten Morgen ausgestellt werden, was an den Papieren und Documenten noch fehlte, ließ sich aus den Kirchenbüchern und dem Gerichtsarchiv beschaffen. Zum Abend aber wäre ein kleiner auserwählter Kreis von Freunden einzuladen, denen sich das Brautpaar vorstellen könne, dann würden alle Glückwünsche in Empfang genommen, war das letzte Glas Champagner geleert, dann sollte der Abschied folgen, der Wagen bereit stehen, der Bräutigam mit Courierpferden forteilen, um, nachdem er die Braut erobert, jetzt auch den Brautschatz zu heben.
Nachdem sie zu allem Ja gesagt, entfernte sich Luise. Frost und Hitze jagten durch ihr Blut, der Major schwieg verdüstert, Rachau nahm es leicht.
Morgen wird es schon besser gehen, tröstete er. Schlafen Sie, mein theurer Papa, Sie werden sehen, es hat nichts zu sagen.
Und am nächsten Morgen hatte sich in der That diese Vorhersagung erfüllt. Luise kam mit ergebenem sanften Lächeln zum Vorschein, die Nacht hatte beruhigend auf sie gewirkt. Sie sprach in ihrer verständigen Weise von den Einladungen der Gäste für diesen Abend, man überlegte gemeinsam, die Vorgänge wurden sämmtlich nochmals durchgesprochen, die Geschäfte vertheilt, und kaum war das Frühstück beendet, so entwickelte sich die allseitige Thätigkeit.
Der Major wurde von seinem Vertrauten gleich mit in die Stadt geschleppt zu einem Notar, dann zum Gerichtsdirector und zum Oberprediger. Die Angelegenheit wurde verhandelt, wie sie mußte, und in wenigen Stunden war das Meiste abgethan. Was übrig blieb, geschah am Nachmittage, und endlich befand sich Alles in bester Ordnung. Rachau hatte Vollmacht und Documente in der Tasche und kehrte fröhlich am Arm des alten Herrn zurück, der immer noch nicht recht behaglich aussehen wollte und den er darüber mit allerlei spaßenden Sentenzen ermahnte.
Es wird nicht lange dauern, sagte er, so werde ich wieder hier sein, und mit größter Zuversicht kann ich hinzufügen, daß alsdann Alles zu Ihrer Zufriedenheit geordnet sein wird. Wir werden dann nichts weiter nöthig haben, als Ihre hiesigen Angelegenheiten zu beendigen, das Gut zu verkaufen.
Ich will es nicht verkaufen, fiel der Major ein.
Nun so schließen wir die Thüren zu und überlassen das alte Gebäude der haushaltenden gespenstischen Tante. Inzwischen denke ich doch, wir feiern noch vorher ein fröhliches Fest darin, nämlich – meine Hochzeit!
Der alte Mann blickte verwundert auf. Das war eine neue Ueberraschung.
Hochzeit, sagte er, ich denke, damit hat es noch Zeit.
Sie müssen es mir versprechen, bester Papa, fuhr Rachau fort. Während ich fort bin, können alle üblichen Formalitäten erfüllt werden, und wie ich jetzt Sie als Luisens Verlobter verlasse, will ich wiederkommen, um ihr den Ring an den Finger zu stecken. Es wird jedes Falls auch meine Bitte durch die Verhältnisse unterstützt, fuhr er fort. Unsere Hochzeit muß hier gefeiert werden, denn in der Hauptstadt würde es nicht so leicht und paßlich geschehen können. Wir müssen Sie als jung vermähltes Paar begleiten.
Aber mein Sohn! sagte der Major in seinem Unbehagen, wir haben noch immer keine Antwort.
Haben wir denn eine Antwort so nöthig? fragte Rachau spöttisch lächelnd. Wenn der Herr Ministerialrath nicht antworten will, so ist dies zwar sehr zu bedauern, allein ich denke doch, daß er kein Recht besitzt, Ihrem Willen Einspruch zu thun; auch hoffe ich nicht Gegenstand seines Mißfallens zu sein. Im Uebrigen sorgen Sie nicht, ich denke mit meinem Schwager gute Freundschaft zu schließen und bald seine Bekanntschaft zu machen, denn ich werde ihn aufsuchen.
Er sah sich um, ein Wagen kam rasch gefahren.
Am Ende sitzt er darin!
Der Major schrak zusammen, aber Rachau lachte noch mehr.
Sehen Sie wohl, scherzte er, wie willkommen Ihnen der Besuch sein würde! Doch sorgen Sie nicht. Das ist so ein kleiner Landkarren mit einem Verdeckstuhl, in welchem irgend ein ehrsamer Pachter oder Landdoctor nach Hause fährt. Er schlägt den Weg nach der Mühle ein, da ist er schon unten. Also wahrscheinlich ein Gevatter und Amtsbruder des Spitzbuben, der dort das Mehl beutelt. Der Kerl hat ein fatales, falsches Gesicht.
Es ist ein ehrlicher Mann, erwiderte Brand.
Ein ehrlicher Mann bei niedriger Pacht, indeß – das soll sich ändern, sagte er leise, und dann laut: Lassen wir ihn. Nur noch ein Wort, mein verehrter Freund, an Sie. Versprechen Sie mir, während meiner Abwesenheit so heiter und froh Ihre Tage zu verleben, wie es Ihnen möglich ist.
Ich hoffe es, sagte der Major und dachte mit geheimer Befriedigung daran, daß Rachau ihn verlassen werde. Der Druck, den dessen Nähe auf ihn übte, war so stark, daß seine Mienen die Erleichterung ausdrückten, welche er empfand.
Der liebenswürdige Freund schien zu verstehen, was in der Brust seines Freundes vorging. Er lächelte und seine Augen nahmen den wunderbaren Ausdruck an, womit der Sage nach die Schlange ihre Beute bezaubert.
Sie werden gewiß recht oft an mich denken, fuhr er fort, eben so wie ich dies thun werde; doch werden wir beide nie vergessen, mit welchen zarten und unauflöslichen Banden wir verbunden sind. Meine innigste Ergebenheit wird immer dieselbe bleiben; nur bitte ich, zeigen Sie den Leuten, vor Allem auch meiner theuren Luise immer ein heiteres Gesicht. Es kommt mir vor, als ob sie zuweilen –
Was? fragte der Major, da er inne hielt.
Als ob sie zuweilen von düsteren Ahnungen beschlichen würde. – Zum Beispiel gestern Abend.
Ahnungen! sagte der alte Mann mit einem schmerzlichen Beben, um derentwillen sie – Leib und Seele opfert.
In seiner Aufregung sah er Rachau so wild und zornig an, als sei er noch derselbe, der er einst gewesen, allein mit größter Sanftmuth erwiderte dieser:
Regen Sie sich nicht auf, bester Papa, es würde sehr unnütz und überflüssig sein. Nur keine Reflectionen über Dinge, an denen nichts geändert werden kann. Ich will kein Wort über Ihre Aeußerung verlieren, doch seien Sie vorsichtig. Luise liebt mich, Sie haben diese Liebe gebilligt, wenn traurige Ahnungen sie beschleichen, so tragen Sie allein die Schuld.
Ich trage die Schuld, ja, ich trage die Schuld! murmelte der alte Mann seufzend, und als wollte er nichts mehr hören, schritt er rascher voran.
Sie befanden sich beide auf dem Fußsteig, der am Flußthale aufwärts führte. Die Mühle lag nicht weit unter ihnen, man hörte das Rauschen der Wehre und Räder, und vor ihrer Thür hielt jetzt der Wagen, welcher den Weg hinab gefahren war. Des Müllers umzäuntes Land zog sich bis zur Höhe hinauf, und wo der Fußsteig hart ansteigend um die Ecke bog, stand ein Schuppen, vor welchem Holzblöcke für den Mühlenbedarf lagen. – Indem Rachau seinem voranschreitenden Begleiter folgte, zuckten seine Lippen spöttisch.
Wenn Luise nicht klüger wäre, als dieser alte Schwachkopf, sagte er lautlos zu sich selbst, so würde es Thorheit sein, ihn aus den Augen zu lassen. Das liebe Kind wird ihn in Zucht und Ordnung halten und ihren süßen Opfertod vervollständigen.
Hier hielt er inne, denn er sah den Major plötzlich stille stehen; zugleich hörte er Jemand sprechen und rauh lachen. Nach wenigen Schritten erkannte er die Ursache. Auf einem der Holzklöße vor dem Schuppen saß Mathis, sein Kasten mit den Vögeln stand zu seinen Füßen, vor ihm aber auf einem anderen Holzstück hatte sich Toni niedergelassen, mit der er sich unterhielt.
Du hast also nichts verkauft, armer Mathis? fragte das kleine Mädchen.
Was thut's, schrie der Lahme in aufgeregter Stimmung. Es thut gar nichts.
Aber deine Frau und dein Kind, das so krank ist!
Es thut auch nichts, lachte der Vagabond.
Morgen will ich dir allerlei recht Gutes bringen, sagte Toni.
Aha, Brosamen vom Tische gekehrt. Also ist ein Fest heute. Ich hab' schon in der Stadt davon gehört. Ehe! was hat's denn zu bedeuten? Es wird Hochzeit gemacht!
Du bist närrisch, Mathis. Man muß sich ja erst verloben.
Hurrah! es wird Hochzeit gemacht! schrie Mathis. Da muß ich dabei sein.
Du willst dabei sein?
Ich will dabei sein! schrie Mathis. Ich will eingeladen werden, ich will mit am Tische sitzen, ja das will ich!
In dem Augenblick trat der Major um die Ecke der Umzäunung, er mochte nicht länger dies Gespräch mit anhören, zugleich regte sich sein Zorn über die Anwesenheit und Vertraulichkeit seiner Tochter.
Toni erschrak nicht wenig, als sie Ihren Vater unerwartet vor sich sah, der ohne den Mathis anzusehen ihr befahl, sogleich zu folgen, und ohne stillzustehen seinen Weg fortsetzte.
Es wäre auch Alles gut abgelaufen, hätte Mathis sich ruhig und bescheiden verhalten, allein kaum hatte der Major einige Schritte gethan, so schlug der Vagabond sein gemeines Gelächter auf.
Geht nur, ich komm' schon, schrie er, es bleibt dabei. Hochzeit ist eine schöne Sache, also will ich dabei sein!
Herr von Brand sah sich um und sah ihn zornig an, aber Mathis hatte alles Gefühl dafür verloren.
Es ist richtig, grinste er ihn an, es ist der Mathis mit dem lahmen Beine, der eingeladen werden muß. Zu mir sollt Ihr kommen und sollt mich bitten; fußfällig um die Gnade bitten, so will ich es thun.
Halten Sie sich nicht auf, sagte Rachau zu dem Major, dieser Trunkenbold weiß von seinen Sinnen nichts.
Er weiß genug, hoho! Wer todt ist, ist todt! schrie Mathis mit seiner rechten Hand durch die Luft fahrend, aber ich lebe noch. Eingeladen will ich sein, nicht auf den Kirchhof geschmissen, von mir erbt keiner nichts!
Er schlug ein häßliches Gelächter auf.
Der alte grimme Mann stand wie erstarrt auf dem Pfade. Seine Brust keuchte, seine Kniee bebten. –
Fürchten Sie nichts, flüsterte Rachau. Ueberlassen Sie mir diesen Taugenichts, setzte er lauter hinzu, er ist nicht werth, daß Sie ihn einer Antwort würdigen.
Damit begleitete er den Major einige Schritte und kehrte dann langsam um und zu Mathis zurück. Je näher er kam, um so freundlicher lächelte er. Er schien sich daran zu freuen, daß der Vagabond, der sich bemühte seine übermüthige Miene beizubehalten, in Unruhe gerieth und Blicke umherwarf, als suche er Beistand. Er wäre vielleicht davon gelaufen, wenn dies in seiner Macht gestanden hätte. Da er jedoch einsehen mußte, daß dies nicht anging, rückte er seinen Hut in die Stirn und zog seine Krücke in die Höhe, als wollte er für jeden Fall bereit sein.
Bleib sitzen, sagte Herr von Rachau, es wird das Beste für dich sein. Du machst die dummsten Streiche, die ein Mensch in deiner Lage machen kann. Statt meinen guten Rath zu befolgen, ein anstelliger, anständiger Mensch zu sein, bist du ein Trunkenbold geworden, der nicht einmal Mitleid mehr verdient.
Es hat sich Keiner um mich bekümmert, und das Elend macht schlecht, antwortete Mathis.
Ich habe dich eingeladen, dich an mich zu wenden, wenn ich dir behülflich sein kann, habe dich aber vergebens erwartet, fuhr Rachau fort. Wolltest du mich ansprechen, hättest du mich leicht finden können. Hast du mir jetzt etwas zu sagen, so bin ich hier.
Ich habe gar nichts zu sagen, antwortete Mathis mürrisch.
Aber du möchtest eingeladen sein, mein lieber Mathis, lächelte der vornehme Herr. Heut Abend feiere ich meine Verlobung, und wenn ich von meiner Reise zurückkehre, wird meine Hochzeit sein. Ich lade dich ein, wenn du kommen willst.
Der übermüthige Spott in seinem Gesicht war so herausfordernd, daß Mathis, halb berauscht wie er war, es doch empfinden mußte, daneben aber ging es ihm vor den Blicken des gnädigen Herrn, wie dem Major; er duckte sich, wie ein knurrender Hund und sagte ungewiß:
Warum nicht, ich bin's schon zufrieden.
Du sollst empfangen werden, wie du es verdienst, fuhr Rachau fort. Wie es im Zuchthause hergeht, weißt du, sei aber sicher, mein lieber Mathis, ich werde für dich noch ein besseres Plätzchen ausfindig machen.
Mathis fuhr mit dem Kopf zurück, als Rachau sich ihm noch mehr näherte.
Wenn du es wieder wagst, unverschämt zu sein, mein guter Freund, fuhr er liebenswürdig lächelnd fort, so verlasse dich darauf, daß dies das letzte Mal gewesen ist, wo ich dich vor den Folgen warne. Es geht dir jetzt schlecht, nicht wahr?
Schlecht genug, sagte Mathis.
Dein Weib hungert und dein Kind ist krank.
Alle Donner! brummte Mathis wild aufblickend.
Und du, statt ihnen beizustehen, versäufst deine letzten Pfennige.
So helfen Sie mir, Herr! schrie der Vagabond trotzig auf.
Ich dir helfen? antwortete Rachau verächtlich. Warum sollte ich dir helfen? Nicht einen Pfennig habe ich für solchen Taugenichts. Aber einen guten Rath will ich dir geben, höre mich an. In zwei Wochen, vielleicht noch früher, werde ich wieder hier sein. Bist du während dieser Zeit ein ordentlicher Mensch geworden, kann man sich auf dich verlassen, dich nützlich brauchen, so will ich halten, was ich dir schon früher versprach. Ich will für dich sorgen. Der Herr von Brand, mein Schwiegervater, wird dir auf deine und meine Bitten irgend ein Amt geben, das dich ernährt. Sei also weise, mein guter Freund, damit ich dein Freund bleiben kann, wenn aber nicht, so nimm mein Wort darauf, daß ich dich verfolgen und strafen will, bis du in deinem Elend umkommst. – Willst du nun noch heut zu meiner Verlobung kommen, mein lieber Mathis, so komm nur.
Er nickte ihm freundlich zu und ging fort. Mathis saß still auf dem Holzkloß und sah ihm nach. Er wagte nicht zu lachen, nicht zu sprechen. Den großen zornigen Gutsherrn hatte er ins Gesicht gehöhnt, vor diesem zierlichen Herrn scheute er sich. Und erst als Rachau verschwunden war, schien sich dieser Bann zu lösen und an seine Stelle ein tückischer Aerger zu treten, der sich in Verwünschungen und Zähnefletschen Luft machte. Er focht mit seinen geballten Fäusten umher, bis er zuletzt auf den Klotz schlug und ingrimmig aufschrie:
Wenn's das nicht wäre, ich wollt' dich fassen. Aber wenn er mir auch die Kehle zuschnüren thut, will ich doch das Maul halten. Und wenn ich gleich sterben müßt', wollt' ich noch darüber lachen, wie der Bluthund aussah, wie er zitterte und bebte. Und wenn's der Teufel selbst wär', so soll's mich doch freuen thun, daß er sie all in seinen Sack schmeißt, und sie müssen all' mit ihm in die Höll' hinein!
Nicht Alle! sagte eine tiefe Stimme hinter ihm, und Mathis fuhr zusammen und sah über die Achsel fort; dann rückte er den Hut und verzerrte sein Gesicht zur Freundlichkeit. Ohne besondere Ueberraschung sah er den Mann an, der leise die schmale Thür im Schoppen geöffnet hatte, vor welcher Mathis saß, und mit einer gewissen lustigen Vertraulichkeit rief er ihm zu:
Sie sind es also, Herr Doctor; na, Sie haben doch Alles hübsch mit angehört.
Ich habe es angehört, antwortete Gottberg. – Er sah ihm ins Gesicht und fragte darauf: Was weißt du davon?
Wovon?
Von dem Tode des Mannes, der dort hinter dem Holz ermordet wurde.
Mathis rührte sich nicht. Er schien etwas zu berechnen, dann sagte er schlau aufhorchend: Was, der Teufel! sollt's also wirklich geschehen sein? Wer hat's gethan?
Der hier bei dir stand, antwortete Gottberg. Rede die Wahrheit. Du weißt davon.
Das möcht' ein gutes Essen geben, grinste der Vagabond, wenn er's erfahren that, was Sie da sagen. Wenn's wahr wäre, giebt's nicht andere Leute, die's eher gethan haben könnten?
Wohin du auch deuten magst, sagte Gottberg, so verstockt bist du nicht, daß sich nicht dennoch dein Gewissen regte. Willst du Unschuldige, die dir wohl thaten, in die Hände eines Mörders fallen lassen?
Nehmt Euch in Acht, Herr, rief Mathis, indem er sein Bündel aufnahm, daß Eure Worte Euch nicht beißen.
Geh hin zu ihm, da du sein Helfershelfer bist, und sag's ihm.
Wenn ich das wäre, antwortete Mathis, hätt' ich ihm Manches sagen können, was ihm Freude gemacht hätt'. Ich hätt' ihm sagen können, da unten in der Mühle, in der Giebelstube wohnt länger als eine Woche schon der Herr Doctor während der ganzen Zeit, wo die Herrschaft denkt, er sei weit davon. Ich hätt auch sagen können, Herr, das kleine Fräulein kommt zu ihm gelaufen, es bringt ihm Nachrichten alle Tage. Und der Müller ist der Spitzbub, der mich zehn Mal schon ausspionirt und allerlei Winke gegeben hat, was ich verdienen könnt, wenn ich gescheidt wäre. Seht, Herr, das könnt' ich ihm sagen, aber ich sag's nicht. Warum nicht? Weil ich Euch kein Leid zufügen möcht', denn Ihr – ja Ihr habt's nicht um mich verdient. Kein Groschen sitzt in meiner Tasche, nichts zu beißen, nichts zu brechen ist da. Er hätt' sie mir vollgemacht, ich mag sein Geld nicht!
Ich will dir helfen, fiel Gottberg ein. Fordere was du willst. Du sollst es haben, aber rede. Im Namen Gottes sprich die Wahrheit.
Für den da? rief Mathis, indem er seinen Arm nach dem Pfad ausstreckte, der zu dem Gute führte, und dann an sein lahmes Bein schlug. Für den, der mich bis ans Betteln gebracht hat?
Du hast auch ein Kind, sagte Gottberg. Um deines Kindes willen thu, was ein ehrlicher Mann thun muß.
Die Mahnung schien nicht ganz ohne Wirkung zu bleiben, wenigstens versetzte die Erwähnung des Kindes den Vagabonden in Bewegung. Der Rausch, in welchem er sich befunden hatte, war verflogen, und sicher überfielen ihn traurige Gedanken, aber seine Rührung erstreckte sich nicht weiter.
Ich muß nach Haus, murmelte er, wenn's auch, ein saurer Gang ist.
Und du willst trotz deiner eigenen Noth nicht antworten?
Nein, nein! rief Mathis trotzig, was muthet Ihr mir zu? Ich weiß nichts, was soll ich wissen? Laßt von mir ab, Ihr kriegt doch nichts heraus. Was, zum Donner! hab' ich damit zu schaffen! Adjes, Herr! Adjes! Sorgt für Euch selbst, es ist Verlobung heut. Hoho! habt Ihr keine Galle im Leibe! –
Er fing an seine Krücke zu setzen und hinkte fort.
Halt ein, sagte Gottberg, nimm das mit.
Nichts! schrie Mathis den Kopf schüttelnd, ich nehm' nichts! und so schnell er konnte, ging er weiter. – Eben kam die Müllerin den Weg herauf und sprach ihn an, aber auch ihr gab er keine Antwort.
Als Mathis seine arme Hütte erreichte, war es finster geworden, finster und still war es auch hinter den kleinen blinden Scheiben. Er stand und horchte lange, er konnte nichts hören. Sonst schrie das Kind wohl, in den letzten Tagen hatte es fast immer geschrieen, nun war es todtenstill und dunkel. Es wurde ihm bang ums Herz, denn es fiel ihm Vieles ein, was schwer wog. Er hatte hier glücklich gelebt in seiner Art. Die Frau nahm er, weil sie ihm gefiel, er hätte eine mit Geld haben können, die mochte er nicht; er nahm die Arme, die nichts hatte als ihre Hände, und die ihm sagte, sie wollte fleißig und brav sein, sie hofft's auch von ihm, so würde Alles gut gehen.
Fleißig und brav war sie auch gewesen, und es ging gut, bis der unglückliche Tag kam, wo sie ihn blutend nach Haus brachten, dann ins Krankenhaus, dann ins Gefängniß, dann ins Zuchthaus. Das hatte sie nicht überwinden können. Kummer und Gram, Schande und Noth hatten sie abgezehrt; nun das kranke Kind und dazu der wüste Mann. Es kam kein guter Tag mehr. Das herumtreibende Leben und die Leidenschaft in ihm hatten ihn anders gemacht, wie er gewesen. Sonst ein kecker Bursch, dem's Arbeiten Spiel war, den Alle bewunderten, war er jetzt ein Vagabond, dem man aus Mitleid ein Almosen zuwarf, der allerlei Possen treiben mußte, um zu betteln.
Sein Unglück nagte an ihm, weil er seinen Stolz nicht vergessen konnte; statt Reue zu fühlen, fühlte er nur den Schimpf, und statt sich anzuklagen, klagte er mit ingrimmiger Rachlust den an, der ihn verstümmelt hatte. Um die Sorgen und Qualen los zu werden, trank er, was er sonst nie gethan. Andere bezahlten die Zeche, er unterhielt sie dafür mit seinen Künsten und Späßen, aber wohl that es ihm nicht. Er kam nach Haus, zankend und fluchend, und wenn's die Frau auch geduldig litt, er sah's ihr doch an, wie's in ihr aussah. Früher hatte sie ihn getröstet; wenn Keiner ihn unschuldig nennen wollte, sie nannte ihn so, und daran hatte er sich lange aufgerichtet; jetzt las er in ihren Mienen, daß er schuldig sei, ein schlechter Kerl; damit brach die Stütze zusammen. Es blieb ihm nichts, als sein Haß und seine Aussicht auf Rache; und was ihm auch gesagt werden mochte und was er sich selbst sagte, es schlug's mit Gewalt von sich.
So hatte er es auch heut noch gethan, und bis er nun hier an der dunklen Hütte stand, hatte er seine Schwüre und Flüche zehnfach wiederholt. Als aber Alles so still war, kam die Angst über ihn. Wenn es da drinnen leer wäre, das Kind todt, die Mutter in ihrer Verzweiflung vom Mühlsteig gesprungen, wie sie es gestern in ihrem Jammer gedroht, was dann mit ihm! Und wiederum wandte sich die Wuth in seiner Brust nicht gegen seine eigene Schuld, sondern die Stimme schrie gegen den Bluthund, der ihn so schlecht gemacht. Er ballte seine knochige Faust, hob sie gegen den dunklen Himmel auf und sagte zwischen den Zähnen:
Mag's mich zerreißen und zerfressen, ihm soll's nichts helfen. Holla! die Thür auf, sterben müssen wir Alle!
Wie er mit Gepolter hereinkam, stieß er heftig gegen die morsche Pforte, als wollte er durch Gewalt sich Muth machen, aber die Thür war nicht versperrt, sie sprang auf, und bestürzt stand er still, als er in der Kammer dahinter einen Lichtschein flimmern sah. Indem er darauf hinsah, sah er auch seine Frau, die an dem Bett des Kindes saß, nach ihm umblickte, aufstand und ihm bittend zuwinkte. Die Angst fiel von ihm ab, sie war noch da, und wie sie die Lampe aufnahm und ihm entgegenkam, konnte er in ihr Gesicht blicken; das sah friedlicher und bewegter aus, als er es lange gesehen.
Bist du es, Mathis? fragte sie.
Wer soll es sein? antwortete er.
Schweig, lieber Mathis, poltere nicht, setz dich nieder.
Warum? fragte er.
Ein Engel ist bei uns gewesen, sagte sie, ihre Hände faltend.
Hat den da abgeholt! rief er stier nach dem Bett des Kindes gewandt.
Er schläft, Mathis, nach drei Tagen schläft er, flüsterte die Frau. Sieh nur hin, ganz ruhig schläft er.
Mathis beugte sich über sein Kind. Es athmete, es lebte. Es lag in weichen reinen Betten, als hätte es keinen Schmerz und sein bleiches Gesicht einen neuen Lebensschimmer.
Er setzte sich auf den Holzschemel und drückte seine Hände zusammen, immer heftiger zusammen, je mehr er hörte.
Ich wußte nicht wohin mehr, sagte die Frau, den ganzen Tag hattest du mich allein gelassen, und nichts war im Hause. Das Kind wimmerte und wand sich, ich fiel auf meine Kniee und bat Gott im Himmel um Erbarmen. Und wie ich lag, hörte ich eine Stimme, und wie ich aufblickte, stand sie da.
Wer? murmelte Mathis.
Wer konnt's sein, Mathis, als die liebe Dame, das liebe Fräulein. Du hattest sie zum Haus hinausgetrieben, jetzt kam sie dennoch wieder, die Schwester hatte ihr von unserer Noth gesagt. Und kaum hatte sie gesehen, wie es stand, so mußt' ich fort nach der Stadt hinein, einen Zettel an den Doctor bringen, darauf stand geschrieben, er müßte auf der Stelle kommen. Und wie er kam, Mathis, war sie noch hier, und vom Gut war noch ein Mann gekommen und hatte die Betten da gebracht und Vielerlei – Vielerlei!
Der Doctor – was sagt er? fragte Mathis, als wollt's ihn ersticken.
Wenn's gut gepflegt würde, Mathis, sorgfältig gepflegt, so würd's durchkommen.
Gut gepflegt! versetzte er auf das Kind niederschauend.
Es hat keine Noth, nein, nein, es hat's nicht, fuhr sie ängstlich fort. O, Mathis! liebster Mathis, falt' deine Hände zum Himmel auf, der uns den Retter geschickt hat.
Mathis erwiderte nichts. Er hielt seinen Kopf niedergesenkt und rührte sich nicht, selbst nicht, als er Schritte in der Stube hörte und gleich darauf nahe bei ihm eine Stimme sprach, die er gut genug kannte. – Es war Gottberg, das wußte er, und was er wollte, wußte er auch; aber hinter Gottberg stand noch ein Herr, der im Schatten an der Thür stehen blieb.
Du hast mich vorhin nicht hören wollen, Mathis, sagte Gottberg, willst du mich jetzt hören? –
Seid Ihr schon da? murmelte Mathis.
Und er kommt nicht allein, antwortete der Fremde.
Mathis fuhr in die Höh', wie der Fremde sprach, und musterte ihn bei dem schwachen Lichte. Es war ein großer kräftiger Herr, noch jung an Jahren, aber mit einem klugen, scharfen Gesicht und einer Brille auf seiner Nase, unter welcher seine Augen stechend blitzten.
Kennst du mich wohl noch? fragte er.
Ja, Herr, antwortete Mathis.
Manch hübsches Mal haben wir zusammen Dohnen gestellt und Sprenkel für die Schnepfen, fuhr der Herr fort; wollen wir nicht wieder zusammen einen Raubvogel fangen?
Nein Herr, sagte Mathis.
Nicht? erwiderte der junge Herr. Mein Vater hat dir Böses gethan.
Mathis Gesicht zog sich zusammen.
Dafür willst du ihm nichts Gutes thun. Aber Eines kannst du mir sagen, mir dem Sohn – du hast ja auch einen Sohn – hat mein Vater –
Halt! fiel Mathis ein, so geht es nicht.
Wie geht es also?
Kommt mit.
Wohin?
Aufs Gut hinauf. Ich will ihn fangen.
Der Ministerialrath von Brand ließ seine Augen forschend auf ihm ruhen und sagte darauf: du willst zu dem Herrn von Rachau.
Er hat mich zu seiner Verlobung eingeladen.
Nun willst du kommen.
Ja, Herr, ich will kommen.
Wir werden dich begleiten.
So muß es geschehen, Herr.
Höre, Mathis, begann der junge Herr von Brand, ich weiß, du thust nichts um Lohn und nichts aus Furcht, aber wissen sollst du doch, daß, wenn du uns treulich helfen und dienen willst, der reiche Lohn nicht ausbleiben wird; willst du uns aber täuschen, so könntest du leicht als ein Gehülfe bei dem Verbrechen, das hier begangen scheint, betrachtet und darnach behandelt werden.
Ich helfe Euch nicht und diene Euch nicht, antwortete Mathis unerschütterlich.
Wem dienst du denn? fragte der Justizbeamte nicht ohne Mißtrauen.
Ich will's Euch sagen, Herr! rief der Bettler, indem feine Augen einen lichten Glanz erhielten. Nicht Euch, nicht dem Herrn dort oben. Er schlug sich mit der Hand auf die Brust. Mit all Eurem Geld solltet Ihr meinen Mund nicht aufthun, aber um des Kindes willen da und um den Engel, der's in seinen Arm genommen hat, darum muß es so sein, und jetzt kommt und laßt uns gehen.
Ich bürge für Mathis, sagte Gottberg zu seinem Freunde, der nicht recht zu wissen schien, was er aus diesen Aeußerungen machen sollte. Laß ihn gewähren, er wird uns nicht täuschen.
Nach einigen Minuten war Mathis auf den Beinen und rüstig führte er die beiden Herren an den Fluß hinab und an den Steg zur Mühle hinüber, von dort ging der bei weitem nähere Pfad zum Gute gerade hinauf an dem Schoppen vorüber, durch die Waldhügel jedoch lief der einsame Weg, an dessen Rande Eduard Wilkens sein unglückliches Ende gefunden, diesen Weg schlug Mathis ein.
Seine Begleiter hinderten ihn nicht daran; als sie jedoch an der Mühle vorübergingen, stand der Müller an seiner Thür und nach einem kurzen Geflüster sprang er zurück und kam bald darauf wieder mit einem alten Gewehr auf der Schulter und begleitet von drei tüchtigen Knechten und Mühlknappen, jeder mit seinem eisenbeschlagenen Stock, Einer mit einem rostigen Säbel.
So zogen sie hinter den beiden Herren her, aber nicht ganz leichten Muthes. Seit der Todte hier gefunden wurde, scheute sich Jeder vor dem Gang. Mancher hatte schon über den Vorfall den Kopf geschüttelt, und unheimlich Geflüster ging umher, wenn auch seiner laut und öffentlich ein verfänglich Wort zu sagen wagte. Dergleichen höhnisch Lachen und spitzig Wesen erlaubte sich Mathis allein. Wie der aber über den Major lachte und ihn verwünschte, das war bekannt genug, also gaben die Leute auch nichts auf seine giftigen Bemerkungen über den Reichthum, der dem Herrn ins Haus gefallen, und den Vetter, den er dafür sicher eingesargt ins Leichenhaus gesetzt habe; aber sitzen geblieben war dennoch Manches, weil's jedesmal so geht. So unglaublich und unerhört ein Verdacht war, den Jeder von sich wies, so war die Thatsache doch nicht zu leugnen, und das geheime Grauen warf sich auf den blutigen Fleck Erde an dem wilden Rosenstrauch, der allein hätte erzählen können, was hier geschah.
Der Mond schien in voller Klarheit und beleuchtete den Weg und die Hügel und die schwarzen Tannen und den kleinen Wiesengrund, auf dem der Rosenbusch stand, silberhell. Die Haut zog sich dem Müller und seinen Myrmidonen im Nacken zusammen, als sie deutlich sahen, wie der lahme Mathis plötzlich an dem Strauch stillstand, und wie er mit den beiden Herren sprach, welche dicht bei ihm zuhörten. Bei aller Angst war die Neugier der vier Männer doch noch größer, sie schlichen sich heran, so weit es geschehen konnte, bis unter die finsteren hohen Schwarztannen, deren Aeste dicht über den Boden streiften; aber nur dann und wann hörten sie ein Gemurmel.
Endlich wandte Mathis sich um und hinkte auf den großen Stein los, der nicht weit davon lag. Seine Begleiter folgten ihm, und nach einigen Augenblicken bückten sie sich und wälzten nicht ohne Mühe den Stein aus seinem Lager. Dann suchten sie umher und sie mußten wohl etwas gefunden haben, denn sie standen beisammen und schienen den Fund zu betrachten, und nun setzten sich die Herren auf den Stein, und plötzlich brannte ein Licht in einer Laterne, welche Einer aus seiner Tasche gezogen haben mußte, und was sie lasen stand sicherlich in dem kleinen Buche, das sie sich vorhielten.
Während dies im Walde herging, hatte sich die Gesellschaft im Saale des Majors versammelt und mehrere fröhliche Stunden verlebt. Die Gastlichkeit der Familie war hinlänglich bekannt, heut jedoch zeigte sie sich ihren Gästen im schönsten Lichte. Es war nichts gespart worden, um den Abschiedsschmaus so reich und lecker zu machen, als es in der Geschwindigkeit geschehen konnte. Küche und Keller des liebenswürdigen Freundes erhielten daher auch vielfache Lobsprüche. Die Damen flüsterten dem Fräulein anmuthige Schmeicheleien über ihre Kuchen, Gelee's und Speisen zu. Die Herren schlürften den goldigen Wein verschiedener Art, und der Doctor schwor auf Seele und Seligkeit, es sei gefährlich, hier oft eingeladen zu werden.
Jeder wußte übrigens, was diese Festlichkeit zu bedeuten habe, warum Herr von Rachau reise; es war ein öffentliches Geheimniß, was bei Tische erfolgen werde. Der Major, der allezeit ein liebenswürdiger Wirth gewesen, ließ es auch heute nicht an gelegentlichen Ermunterungen fehlen, allein sein altes Wesen war doch nicht dabei. Er war zerstreut, blickte zuweilen scheu umher, ging aufgeregt von einem Zimmer in's andere, und dann wieder schien er ganz in seine Gedanken zu versinken. Einige Spötter flüsterten sich heimlich zu, er denke über die Verlobungsrebe nach.
Sie hatten es auch so ziemlich getroffen, wenigstens waren die Gedanken des alten Mannes fortgesetzt bei dieser Verlobung und bei der, welche sich verloben wollte. Was er gegen Rachau geäußert, kam aus seinem tiefsten Herzen, und was der trunkene Bettler ihm nachgeschrieen, vermehrte seinen Trübsinn und seine Herzensangst. Wie ein Verurtheilter hinter den Eisenstangen seines Kerkers, sah er kein Entkommen mehr. Schimpf und Schande wollte er entgehen, aber sie verfolgten ihn, größer und größer wachsend; ein schwarzer Strom, der an seinen Fersen nachrollte, um ihn endlich doch zu verschlingen. Der Vertraute, dem er sich hingegeben, war sein Herr und Meister geworden. Düstere Ahnungen schwebten ihm vor, daß der böse Feind an seiner Seite sei, dem sein Kind sich überliefere, damit er den Vater verschone. Mit solchen Gedanken war er nach Haus gekommen, mit diesen Gedanken empfing er die Gäste, sah er Luisen nach, verfolgte er sie durch den Saal und suchte sie, zugleich voll Scheu, sich nicht zu verrathen, und mit der Absicht, munter und, wie es sich schickte, hoffnungsvoll und glücklich zu sein.
Rachau hatte ihm in einem Gemisch von Drohungen, Bitten und Betheurungen eindringlich nochmals dargestellt, was seine Pflicht sei, und Recht hatte er doch, die Zeit zu überlegen war vorüber. Aber welche Macht hatte dieser schreckliche Rathgeber erlangt! Das Mark in ihm fror, wenn er ihn anblickte, er war unfähig zum Widerstand. Rachau gebot auch schon unumschränkt. Auf ihn blickte ein Jeder, er ordnete und lenkte und an diesem Abende übertraf er sich in seinen Leistungen. Da war Keiner, der ihn nicht bewunderte, der nicht über den geistvollen, von Witz und Laune übersprudelnden Mann erstaunte, und als er endlich neben Luisen am Tische saß, der Vater an ihrer andern Seite, gab es prüfende und lächelnde Blicke genug, die sich behaglich zuwinkten.
Denn auch an der Tafel war Rachau das belebende Element dieser lüsternen Gäste. Er war unerschöpflich an gastronomischen Anekdoten berühmter Männer aller Art, welche die Fröhlichkeit vermehrten, dabei verstand er aufs Allerkunstvollste die verschiedenen Braten zu zerschneiden. Den Salat machte er in köstlichster Weise, wie er es in Paris gelernt, und die große Ananasbowle auf der Mitte des Tisches war sein Werk. Als der Arzt davon ein Glas geleert, gerieth er in einen Zustand der Verzückung. Er schnalzte mit den Lippen, leckte mit der Zunge nach beiden Seiten, riß seine Nasenflügel auf, um den Duft einzuziehen, und verdrehte seine Augen wie ein indischer Fakir.
Heil und Segen! schrie er, Heil und Segen über diesen Wohlthäter der Menschheit, der diesen wunderbaren Trank bereitet hat! Heil und Segen ihm und Dank allen Göttern, die ihn zu uns führten, damit er unter uns sich seinen Tempel gründe, in welchem wir ihn anbeten können.
Bei dem Gelächter, das diese Apotheose des kunstliebenden Arztes erregte, und dem Klingen der Gläser, blickte Luise ihren Vater an. Es war ein Blick, der beredt zu ihm sprach. Er drückte leise ihre Hand und neigte sich zu ihrem Ohr. Bist du bereit, mein Kind? flüsterte er.
Ja, Vater, antwortete sie.
Noch – noch ist es Zeit, sagte er mit einem tiefen Athemzuge, indem er ängstlich durch ihr Gesicht forschte:
Sie schüttelte mit einem matten Lächeln den Kopf.
Steh auf, Vater, erwiderte sie.
Der Major erhob sich mechanisch von seinem Stuhle, den er zurückstieß. Er sah auf seine Tochter herunter, sie lächelte ihm zu. Rachau nahm ihre Hand und küßte diese, alle Stimmen schwiegen, alle Blicke richteten sich auf das junge Paar, alle Mienen füllten sich mit theilnehmender Erwartung, und die Vorsichtigen füllten ihre Gläser. Der Doctor pumpte sich bei diesem Geschäfte gleichzeitig Luft zusammen, um das dreifache Hoch auszubringen.
Im Augenblick der tiefsten Stille hörte man ein sonderbares Stampfen im Nebenzimmer. Meine werthen Freunde und Nachbarn! begann der Major, indem er nach der offenen Thür blickte – meine Herrn, ich denke –
Er hielt inne und sein Gesicht verdunkelte sich. Seine Augen thaten sich weit auf und er gerieth in Verwirrung über das, was er sah. An der Thür stand Mathis auf seiner Krücke, in seiner befleckten Jacke mit dem blauen groben Linnentuch um den Hals, aus welchem der lange, hagere, harte Kopf gespenstisch hervorragte. Die plötzliche Unterbrechung bewirkte, daß alle Blicke sich auf den Vagabond richteten, der sich hier eingeschlichen, und da Mathis bekannt genug war, auch Viele wußten, was er gesündigt und wie er gestraft wurde, so vermehrte sein Erscheinen die Verwunderung.
Herr von Rachau hatte sich soeben zu Luisen geneigt und ihr zärtliche Worte zugeflüstert, als der Major zu seiner Verwunderung nicht fortfuhr. Wie alle Andern forschte er nach der Ursache und fand sie auf der Stelle. Gewiß war er nicht weniger überrascht als Herr von Brand, doch ohne seine Haltung zu verlieren, rief er laut und fröhlich aus:
Das ist ein seltener Gast! eine Art steinerner Gast! Oder bist du lebendig und kannst uns Antwort geben?
Ja, Herr, antwortete Mathis.
Dann sage uns, was hat dich hierher getrieben?
Ist's nicht so? fragte Mathis näher hinkend, indem er die Gesellschaft ansah und eine Art Verbeugung machte, wobei er den Bräutigam angrinste, Verlobung ist heute, gnädiger Herr?
Was plauderst du aus! lachte Rachau.
Haben Sie mich nicht dazu eingeladen? fuhr Mathis fort.
Du hast Recht, fiel Rachau ein. Geh in die Küche und laß dich speisen!
Danke Herr, versetzte Mathis, indem er statt dem Befehl zu folgen noch näher trat. Nehmt's nicht ungnädig, ich bringe hier mein Verlobungsgeschenk. – Dabei faßte er in seine geflickte Jacke und zog etwas hervor, das er auf den Tisch warf. – Jeder sah darauf hin; es klang, als sei es Metall, aber er sah schwarz und rostig aus, und seiner Gestalt nach war es ein kleiner Hammer mit scharfer Spitze.
Rachau zuckte mit der Hand danach hin, sogleich aber zog er sie zurück und sah unbefangen das sonderbare Geschenk und den Geber an.
Was soll das bedeuten? fragte er. Was ist das?
Blickt nur hin, fuhr Mathis laut und höhnend fort, ich denke, Ihr werdet es wohl kennen.
Der Major stierte den Hammer mit scheuen Blicken an. Er griff auch danach und ließ ihn wieder fallen.
Mir gehört er nicht! schrie er auf, und sank in den Stuhl zurück.
Nein, sagte Mathis, es steht ein R am Stiel eingegraben. Ihr müßt's am besten wissen, Herr. Ist's nicht dasselbe Ding, das Ihr unter dem Stein verbargt?
Wir haben es ohne Zweifel mit einem Narren oder Wahnsinnigen zu thun! antwortete Rachau umherblickend.
Nicht mit einem Wahnsinnigen, aber mit einem Schurken! antwortete ihm eine eben so ruhige als volltönende Stimme.
Mein Sohn! mein Sohn! murmelte der Major seine Arme ausbreitend. Aufzustehen vermochte er nicht. Mit weit offenen Augen saß er da, von Luisens Armen umschlungen. Was weiter vorging, glitt wie Traumbilder an ihm vorüber. Er sah den Doctor Gottberg neben seinem Sohne, sah, wie er vor Rachau trat, als wüchse er auf und würde der Engel des Gerichts. Er sah auch, wie Rachau sich erhob in seiner Ueberraschung, sich niedersetzte und wieder aufstand und wie er verächtlich zu lächeln versuchte, als Gottberg zu ihm sprach:
Zweifeln Sie nicht daran, daß die Stunde da ist, wo Sie Rechenschaft geben sollen.
O, erwiderte Rachau, ich zweifelte vom Anfang an nicht, daß dies Ihr Werk sei; aber es ist ein Gewebe von Lügen, das ich zerreißen werde. Sie sind dazu eingeladen worden, wandte er sich an den Ministerialrath –
Um einen Elenden zu entlarven, der sich hier eingeschlichen hat, unterbrach ihn dieser.
Sie sind getäuscht und betrogen worden.
Keine Frechheit kann Sie retten, sagte Gottberg. Die Rache Gottes und der Menschheit ist an Ihren Fersen. Dort liegt der Beweis Ihrer Verbrechen, und hier – kennen Sie dies Notizbuch?
Rachau zuckte zusammen, einen Augenblick verfärbte er sich. –
Das ist in der That ein seltsamer Auftritt, sagte er dann gelassen umherblickend. Ich habe dieser edlen Familie einige Dienste erzeigen können, dafür sucht man mich zu beschimpfen. Wehe aber dem, der meine Ehre anzutasten wagt! Der Irrthum, welcher hier stattfindet, soll sogleich aufgeklärt werden. Diesem Herrn Doctor, der sich herausnimmt, Rechenschaft von mir zu fordern, bin ich keine schuldig, ich verachte seine Verläumdungen! Ihnen jedoch, Herr Justizrath von Brand, gebe ich diese gern und auf der Stelle. Begleiten Sie mich!
Er sprach mit solchem Anstande, solcher Ruhe und Würde, daß die bange erschrockene Gesellschaft nicht wußte, was sie denken sollte. Sie konnte das Böse, was sie hörte, nicht von einem Manne glauben, den sie so hoch schätzte und der mit solcher Kraft der guten Sache sich vertheidigte. Bestürzt und prüfend blickten alle auf die Streitenden. Niemand wußte, welcher Verbrechen Herr von Rachau eigentlich beschuldigt wurde; was man gesehen und gehört, gab kein rechtes Licht, und der Major sah aus, als verstände er auch nichts davon.
Keiner rührte sich daher, als Rachau bei seinen letzten Worten einen der Armleuchter vom Tische nahm und sich dem Seitenzimmer näherte. Niemand hinderte ihn daran. Der Justizrath von Brand that einige Schritte, bei denen er zu überlegen schien; in dem Augenblick aber, wo Rachau sich umwandte und, den Leuchter in der Hand, die Gesellschaft lächelnd noch einmal anblickte, schlug er die geöffnete Thür hinter sich zu und war verschwunden.
Alles war in einer Minute geschehen, jetzt sprang der Justizrath herbei und rüttelte am Schloß. Der Nachriegel war vorgeschoben. Haltet ihn! schrie Gottberg, aus dem Saal eilend, und hinter ihm her liefen die Gäste. Stühle wurden umgeworfen, der Tisch wankte, eine unbeschreibliche Verwirrung entstand und das Gekreisch der Frauen wurde durch den Lärm rauher Stimmen im Garten beantwortet.
Plötzlich fiel ein Schuß, gleich darauf ein zweiter, ein wildes Geschrei schallte nach. Bleich und entsetzt stand Luise auf, ihr Vater mit ihr. Der Justizrath umfaßte sie beide.
Hoffentlich hat er sich erschossen, sagte er leise. Besseres könnte uns nicht geschehen.
Gottberg! sagte Luise angstvoll.
Mathis stampfte auf seiner Krücke herein. Fortlaufen wird der junge Herr nicht mehr, schrie er. Wie er zum Fenster hinaussprang, war auch der Müller mit seinen Knechten da; ich will's aber doch nicht behaupten, daß sie ihn gefangen hätten, wenn der Doctor nicht gekommen wäre. So wie er den sah, kehrte er sich um und drauf los, und wie er die Pistole heraus holte, weiß ich nicht, aber er schoß ab.
Wo? wo?! rief Luise, indem sie ihren Vater verließ und der Thür zueilte, und ihre Arme ausbreitend sank sie in Gottbergs Arme, den Toni hereinzog.
Da ist er! schrie das Kind. Er lebt! Kein Finger thut ihm weh. Der böse Rachau hat ihn nicht todtmachen können.
Ne, sagte Mathis, draußen liegt er aber selber mit einem Loch im Kopfe, das nicht wieder heil wird. Wie er sah, daß er gefehlt hatte, setzte er sich das Ding an seine eigene Stirne, und diesmal ging's.
Ist er todt? fragte der Major, als wache er auf.
Mausetodt! sagte Mathis.
Und der Hammer dort! sprach der alte Mann, indem er seinen gewaltigen Körper aufrichtete. Bei Gott! bei meiner Ehre, ich kenne ihn nicht! Kein Flecken haftet an meiner Ehre, mein Sohn!
Ich weiß es, theurer Vater. Niemals war sie befleckt.
Nicht? fragte er, die Hand an seine Stirn legend aber dennoch – ein Schauder flog über ihn hin – dennoch war es mir, als ob ich es sein müßte – als ob kein Mensch daran zweifeln könnte, als ob sie alle schreien müßten: seht da den Mörder! den Mörder! Und mein Kind, mein eigen Kind – Herr mein Gott! auch mein Kind glaubte es!
Vergieb, o vergieb! flehte Luise, aber wisse, bester Vater, daß ich in jener Nacht, als Wilkens todt in seiner Kammer lag, an der Thür stand, als Rachau dir – die Wunde zeigte.
Und wie war ich dahin gekommen? stöhnte der alte Soldat. Satans Blendwerk war es, Gier nach Geld und Gut war über mich gekommen und ich – ich – ich wollte mein Kind verkaufen, mein Kind! Der Teufel hatte mich, er zog mich Schritt für Schritt in seine Hölle.
Gottbergs treue Liebe und Freundschaft hat dich erlöst, Vater, er hat uns Alle erlöst, unterbrach ihn der Sohn.
Ewig sei es ihm gedankt! rief der Major. An mein Herz, mein Sohn, du sollst dich nicht mehr von uns trennen.
Dank verdient Mathis allein, sagte Gottberg, auf den Bettler zeigend, der vergessen im Winkel stand. Ohne seine Hülfe wäre Alles vergebens geblieben. Er sah den Mord, den Rachau beging, mit an, als er versteckt unter den Tannenzweigen lag; sah, wie er Wilkens blitzschnell niederschlug, als dieser seinen Hut in der Hand sich arglos bückte, sah, wie er das Mordinstrument und das Notizbuch des Ermordeten unter dem großen Steine verbarg, und was auch dazwischen liegt bis zu dieser Stunde, er ist eines Engels Stimme gefolgt und hat der Wahrheit die Ehre gegeben.
Der Major ging auf Mathis zu und nahm dessen Hand in seine Hände, so bittend und reuig sah er ihn dabei an, daß es dem Bettler ganz weich und weh ums Herz wurde.
Mathis, sagte er dann, den Kopf senkend, vergieb mir, was ich an dir gethan. Ich bin hart gewesen, ich bin ungerecht gewesen; ich bitt' dich, Mathis, nimm meinen Dank an, und wenn du es haben willst, was du heut gesagt, will ich's auf meinen Knieen thun.
Herr! Herr! antwortete der Bettler in seinem Stolz und aus voller Brust, es ist uns beiden geholfen. Dankt's dem Gottesengel da und macht ihn glücklich!
Rachau hatte sich mit der Waffe getödtet, die einst dem unglücklichen, furchtsamen Wilkens gehört hatte. Der Ministerialrath schaffte die geputzten Menschen aus dem Hause, welche zum Theil selbst schon eiligst entflohen waren, zum Theil bei dem Opfer seiner eigenen raschen That sich versammelt hatten, das nun entseelt ins Haus und auf dasselbe Bett getragen wurde, wo Eduard Wilkens seinen langen Schlaf begann. –
Wir müssen zudecken, was sich zudecken läßt, sagte der besonnene Justizrath. Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Zu seinem und unserem Heile ist er auf ewig stumm, der den Bluträcher in dies Haus geführt hätte.
In dieser Weise wurde die Angelegenheit geschickt und vorsichtig von ihm behandelt. Rachau ward zur gehörigen Zeit in der Stille begraben. Zu einer strengen Untersuchung kam es trotz des Aufsehens nicht, es gab Gründe genug, die Familie zu schonen, und der Ministerialrath besaß Ansehen genug, sein Vater Freunde genug, um jede amtliche Einmischung in diese betrübende Familienangelegenheit zu verhindern. Der Gerichtsdirector und andere hohe Standespersonen erfuhren in vertraulicher Mittheilung, daß Rachau ein arger Schwindler und Betrüger gewesen sei, der die Verhältnisse benutzt habe, um mit Hülfe seines einschmeichelnden Benehmens den alten biederen Major zu bethören. Wegen schlechter Streiche sei er in früherer Zeit schon flüchtig geworden, nach Frankreich gegangen und dort in die Fremdenlegion als Soldat eingetreten. Nachdem er mehrere Jahre in Algier gedient, habe er seinen Abschied erhalten und sein Leben nun als Spieler und Abenteurer fortgesetzt, bis er zuletzt den Herrn Eduard Wilkens kennen lernte, der ihn als Gesellschafter mit sich nahm, ihn eine Zeit lang unterstützte und erhielt und zuletzt hierher brachte.
Ob dies Alles in dem kleinen Buch gestanden, bei dessen Anblick Rachau so auffallend erschrak, wurde niemals aufgeklärt, obwohl behauptet wurde, es sei ein Notizbuch des verstorbenen Wilkens gewesen, der dies und allerlei Anderes über seines Freundes Leben darin bemerkt hatte; noch dunkler blieb es, was der kleine verrostete Hammer zu bedeuten hatte, den der lahme Mathis auf den Tisch geworfen. Großes Gewicht legte man nicht darauf, denn es war ohne dies erklärbar genug, daß bei seiner schamvollen Entlarvung der schlechte Mensch sich eine Kugel durch den Kopf jagte. Wäre er am Leben geblieben, hätte man ihn ohne Zweifel wegen Mordversuch belangen können, denn daß er aus Haß und Rachsucht zuerst den Doctor Gottberg tödten wollte, ehe er sich das Gehirn zerschmetterte, stand fest genug; nun aber war er in ein Land entkommen, wohin keine gerichtliche Vorladung reicht, es blieb somit kein Grund zu einem Einschreiten übrig.
Um so neugieriger war man jedoch, was nun mit Fräulein Luisen und dem Doctor werden würde und wie überhaupt das Gerede und die Blame der Familie sich würde ertragen lassen; allein alle Neugier und alle Theilnahme wurden schrecklich getäuscht; denn wenige Tage darauf waren Thüren und Fenster auf dem Gute verschlossen, die ganze Familie nach Berlin abgereist. Alles Gezeter, alle lästerlichen Reden halfen nichts, es war ein Radicalmittel, durchaus wirksam, um in möglichst kürzester Zeit die Zungen zum Schweigen zu bringen.
Der Erfolg blieb nicht aus. Wochen und Monate vergingen, nach und nach sprach man selten mehr von den Vorfällen, an welchen so Manches unaufgeklärt blieb, endlich drängten sich andere Geschichten in den Vordergrund, was neu gewesen, wurde alt und gleichgültig. Im nächstfolgenden Jahre kam zuerst wieder eine Nachricht von Belang, nämlich daß Fräulein Luise sich mit dem Doctor Gottberg verehelicht, der junge Herr von Brand aber die Nichte eines sehr hochgestellten Staatsbeamten geheirathet habe, und hierdurch wurde das Interesse von Neuem angeregt, man bemühte sich wiederum, noch mehr zu erfahren.
Der einzige Mensch, von dem man Allerlei hätte erfahren können, war jedoch so boshaft, nicht das Geringste zu verrathen. Es war dies Mathis, der lahme Bettler, der jetzt weder mehr bettelte noch mit Körben und Vögeln handelte, sondern den der Major bei seiner Abreise zum Hauswart oder Castellan auf dem Gute eingesetzt, der also auf verwunderliche auffallende Weise zu Gnaden, Ehren und behaglichem Leben gekommen war; seit dieser Zeit aber auch so verständig, nüchtern und besonnen sich verhielt, daß Niemand ihm Uebles nachreden konnte.
Manche Leute von Rang und Ansehen hatten es versucht, dem Mathis seine Geheimnisse abzulocken, allein er war pfiffiger denn Alle, sie hatten nur Aerger von seinen Antworten. Auch jetzt wurde Mathis geschmeichelt und verhört und alle alten Stückchen hervorgesucht, um ihn zu locken, aber er wußte nicht das Geringste; nur daß die beiden jungen Paare eine weite Reise ins Wälschland gemacht und den Major mitgenommen, bekamen sie heraus. – Der Müller allein erzählte, daß er einmal, als er mit dem Mathis tüchtig getrunken, ihm den Mund aufgethaut habe.
Du kannst doch nicht leugnen, hatte er zu ihm gesagt, daß das Ding, das wie ein Hammer aussah, unter dem großen Stein gelegen hat; denn ich vergaß es nicht, wie ihr's hervorholtet.
Ich leugne's auch gar nicht, Müller, antwortete der Mathis. –
Wer hat's denn aber dahin gelegt? fragte der Müller. –
Ich vermuthe, es ist der Rachau selbst gewesen, sagte der Mathis. So klein er war, so hatt' er Kraft für Drei. Den Stein hob er auf, als sei's ein Spahn. –
So? meinte der Müller pfiffig, du hast's also mit angesehen? –
Da grinste ihn der Mathis eigenthümlich an und sprach zwischen den Zähnen: Ich hab' wohl mehr noch angesehen als das. –
Was? fragte der Müller. –
Wie es zu gebrauchen ist, antwortete der Mathis. –
Wozu wird's denn gebraucht? forschte der Müller neugierig. –
Um Ochsen die Köpf' einzuschlagen, schrie der Mathis. –
Alle Wetter! das hat er verstanden? rief der Müller erstaunt. –
Aus dem Grunde, versetzte der Mathis. Bei den Spaniolen und drüben in Afrika, wo die Franzosen jetzt zu Haus sind, brauchen sie das Ding noch alle Tage, von daher hat er es mitgebracht. –
Hat er denn jemals hier einen Ochsen niedergeschlagen? fragte der Müller. –
Einen gehörig fetten, grinst ihn der Mathis an, aber er hat nichts vom Fett abgekriegt! Du könnt'st dich in Acht nehmen, Müller, wenn er noch lebte!
Mit diesem schlechten Spaß stand Mathis auf, der Müller konnte nichts weiter herausbekommen. Es ist überhaupt nie mehr davon bekannt geworden.