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An einem prächtigen Sommer- und Sonntagmorgen wirbelte eine Staubwolke von der Chaussee auf, die am Südufer des Züricher Sees nach Rappenswyl führt. Die Landleute, welche zur Stadt gingen, sprangen aus dem Wege, zogen auch wohl höflich ihre Mützen und Hüte und starrten dann dem Wagen nach, der so mitleidslos ihren Sonntagsstaat mit Kalkstaub überpuderte.
Es mußte wohl eine reiche, vornehme Herrschaft sein, denn die elegante Berline war mit vier Pferden bespannt, und der Postillon fuhr vom Sattel. Auf dem Bock saßen zwei Diener, und im Hintercoupé eine Kammerfrau, im Fond des Wagens selbst aber lehnte in einer Ecke, in einen Sommermantel gehüllt, eine schöne junge, ein wenig bleich aussehende Dame, in der andern Ecke ein vollwangiger Herr,der ein reiferes Lebensalter erreicht hatte, obwohl er kaum auf die Mitte der den Menschen gesetzten Zeit gelangt war.
Dieser Herr war der Legationsrath Baron Springfeld, die Dame eine junge Wittwe, die Gattin seines Freundes, der sein Glück, eine schöne, reiche Frau zu besitzen, nur ein Jahr genossen hatte, als er in Folge eines zufälligen Ereignisses starb. Die Gräfin Lydia Schauenstein war dreiundzwanzig Jahre alt, als dies Unglück sie traf, und da sie elternlos war, wußte sie kein besseres Mittel zur Linderung ihrer Schmerzen, als eine Reise nach Italien.
Der Legationsrath nahm den innigsten Antheil an ihrem Geschick. Er war war ihres Mannes vertrautester Freund gewesen, und wurde jetzt Rathgeber und Beschützer der vereinsamten jungen Frau. Da er lange in Rom und Neapel gelebt hatte, ein Kunstfreund und Kunstkenner war, erfahren und klug in allen Lebensverhältnissen, begleitete er die Dame und kehrte auch jetzt mit ihr zurück.
Als sie in Zürich anlangten, fiel es der Gräfin ein, daß in der Nähe einer ihrer Verwandten wohnte, in dessen Landhaus sie schon einmal als junges Mädchen einige Wochen lang mit ihrer Mutter verweilte. Sie erkundigte sie nach ihm, hörte, daß er noch lebe, schrieb an ihn, empfing eine Antwort und Einladung, in Mariahall auszuruhen, und befand sich nun soeben auf dem Wege dahin.
Der Legationsrath sagte nichts gegen ihren Entschluß, denn er wußte zu gut, daß Widerspruch ihm wenig geholfen hätte. Gräfin Lydia besaß einen entschiedenen Willen, und er war nach Ueberzeugung und System ein Verehrer, der nie zudringlich wurde, sondern stets in der Rolle des Freundes und aufmerksamen Schützers verharrte. Er fand eine kleine Villeggiatur am Züricher See somit ungemein interessant und traf wie gewöhnlich alle Reiseanstalten aufs Pünktlichste, indem er zugleich sich selbst sehr erfreut zeigte, bei dieser Gelegenheit den Grafen Gersau kennen zu lernen, von dem er so viel schon gehört habe.
Als der Wagen von der Straße abbog und den Höhenzug zur Linken hinauf fuhr, öffnete sich vor den Blicken der Reisenden ein prächtiges Panorama. Die hohen Thürme und Gebäude Zürichs füllten den Hintergrund, jenseits des tiefblau heraufleuchtenden Sees lag die waldige Alpenkette, und rund umher an den beiden Ufern gab es die heitersten Bilder von Feldern und Matten, Rebhügeln und den schönen Baumleisten in verschiedenster Beleuchtung und Färbung. Die großen reichen Seedörfer paßten zu dieser milden Natur, deren südlichen Schmelz und Duft der Baron bewunderte.
»Es ist aber doch eigenthümlich,« sagte er endlich lächelnd, »daß ein alter Diplomat sich in diesen republicanischen Winkel zurückgezogen hat, um die Welt zu vergessen.«
»Haben nicht Kaiser und Könige schon öfter ihre Paläste verlassen,« erwiderte die Gräfin, »nur ihren Kohl in einem entlegenen Winkel zu bauen?«
»Aber sie bauten keinen republikanischen Kohl.«
»Glauben Sie, daß der anders schmeckt und schlechter bekommt?« fragte Lydia, und ihre blassen Lippen zuckten. »Es ist alles eitel in dieser Welt. Der Graf hat, wie wir däucht, das Klügste gethan, was er thun konnte, als er all' den quälenden Schein und Schimmer von sich warf und dies liebliche Stück Natur dafür wählte.«
Der Legationsrath lächelte in seiner Weise.
»Es ist mit den idyllischen Passionen, für weidende Kühe, Hirtenschalmeien und Blumenmatten eine sonderbare Sache,« sagte er. »Die Natur hat das Unangenehme, daß sie immer dieselbe bleibt, und nichts ist wahrer als Goethes vortreffliche Bemerkung, daß man sich allzu leicht satt daran sieht – das heißt, daß sie langweilig wird. Wahrscheinlich hat Graf Gersau dies auch zuweilen empfunden.«
»Langweilige Leute langweilen sich überall,« antwortete die Gräfin. »Der Graf wohnt hier seit fünfundzwanzig Jahren, wie er in seinem Billet bemerkt, und ich erinnere mich, daß meine Mutter mir erzählte, er sei hierher gezogen, als er im Jahre 1815 seine Hoffnungen auf ein freies mächtiges Deutschland getäuscht sah.«
»Es gab damals einige Staatsmänner von höchst subjektiver Anschauungsweise,« nickte der Baron.
»Die an Volk und Vaterland verzweifelten,« fiel die Gräfin ein.
»Man muß niemals verzweifeln, theuerste Gräfin,« sagte er.
»Nein, aber man muß sich zu retten suchen, wenn der Himmel über uns zu schwarz wird, und das that dieser schlechte Diplomat damals auch Er verkaufte seine Habe, warf Stern, Band und Ministerrock von sich und zog dort hin. Sehen Sie dort, Springfeld, das muß das Haus sein. Ich glaube, meine Erinnerungen wachen auf. Es sind mehr als zehn Jahre her, ich war damals kaum zwölf Jahre alt, aber ich besinne mich ganz genau, daß ich dort die Hügel hinauf in den Buchwald gelaufen bin, Hand in Hand mit dem Knaben, dem Sohn des Grafen, mit Rudolf. Es überkommt mich so lebhaft, als sei es gestern geschehen.«
»Was ist aus Ihrem Spielgefährten geworden?« fragte der Baron.
»Weiß ich es?« erwiderte sie. »Ich habe nicht einmal in meinem Briefe angefragt. Vielleicht ist er todt oder weit von hier, in der Welt umherirrend, um das Glück zu fangen, statt es, wie sein Vater, zu finden. Es war ein schöner Knabe mit großen hellen Augen, so ehrlich, daß man davor erschrecken konnte.«
»Die Ehrlichkeit ist gewöhnlich eine Eigenschaft der Kindheit,« lächelte der Legationsrath, »die sich mit ihr verliert.«
»Wir waren beide Kinder, sonst war Alles alt in dem guten Hause. Die Herrschaft wie die Diener, nur die Gesellschafterin machte halbwegs noch eine Ausnahme. Ein seltsames Geschöpf, Fräulein Babette wurde es genannt. Ein Ungeheuer, vor dem ich mich schrecklich fürchtete.«
Vielleicht regiert sie noch dort.«
»Möglich, denn sehen Sie, da tritt ein Weib aus dem Hause auf die Vortreppe, und – irre ich mich nicht, so ist sie es.«
Der Wagen befand sich nahe dem Landhause, das seine Giebelseite dem Weges zukehrte, während seine Front sich in dem Garten verbarg, der durch eine Umzäunung geschlossen war. Die Rückseite scharrte in ein Gehöft mit Nebengebäuden und Stallungen, auf der Vortreppe aber stand eine Frau oder Mädchen im blauen Kleide, einen großen, graubunten Strohhut auf dem Kopfe, der ihr Gesicht beinahe bedeckte.
Als sie den Wagen erblickte, lief sie die Stufen herunter, und sowie er hielt, trat sie an den Schlag und öffnete ihn, ehe es ein Diener thun konnte.
»Grüß Sie Gott, Frau Gräfin!« sagte sie dabei. »Das ist eine Freude für uns alle, Sie bei uns zu sehen.«
»Sie kennen mich also noch?« fragte Lydia, indem sie ihr die Hand reichte.
»Es ist mir so, als könnte ich getrost ja sagen,« antwortete Fräulein Babette, »obwohl sich viel geändert hat seit jener Zeit.«
»Dafür ist die Zeit,« sagte die Gräfin. »Aber wo ist der Graf?«
»Im Garten. Verzeihen Sie, wenn er Ihnen nicht entgegenkommt. Er weiß noch nichts von Ihrer Ankunft und – die Zeit hat auch mit ihm gewirthschaftet. Gefällt es Ihnen, daß ich Sie zu ihm begleiten darf?«
»Wir wollen ihn überraschen. Es geht ihm doch gut?«
»So gut, wie es einem Herrn von mehr als siebenzig Jahren gehen kann, der's ab und zu mit der Gicht zu thun hat.«
»Aber –« Gräfin Lydia wollte noch eine Frage thun, die sie unterdrückte. »Geschwind, Fräulein Babette,« sagte sie »lassen Sie uns gehen.«
Sie stiegen Beide die Stufen hinauf, der Legationsrath blieb zurück, den Postillon zu befriedigen und Befehle zu ertheilen. Der Wagen wurde in den Hof gefahren, wo ein grauköpfiger Diener sich einstellte, der mit hofmeisterlicher Würde berichtete, daß die Zimmer im oberen Geschoß für die Herrschaften bereit seien.
Als der Baron Alles im besten Zuge sah, folgte er der Gräfin nach und lächelte vor sich hin, als er ihre Aeußerungen über die Gesellschafterin mit dieser verglich, wie er sie gesehen hatte. Es war allerdings etwas Ungeheuerliches in ihrer Erscheinung, allein der Baron fand diese mehr lächerlich als fürchterlich.
Sie war groß und muskelkräftig, von starken Brust- und Kopfformen und ihre Stimme klang so tief wie die Stimme eines Mannes. Dazu paßte eben so wohl das nicht zu leugnende Bärtchen auf ihrer Oberlippe wie die großen dunklen Augen, welche einen männlich festen Ausdruck hatten. Ihren Zügen fehlte alle weibliche Weichheit, allein es fehlte ihnen nicht die Harmonie und eine gewisse selbstbewußte Thatkräftigkeit. Der Legationsrath fühlte sich dadurch am allerwenigsten angezogen, im Gegentheil empfand er Widerwillen davor, und sein Gesicht drückte unverhohlenen Spott aus; allein er war mit dem Resultat doch sehr zufrieden.
»Sie hat diese Person gefürchtet und sie ein Ungeheuer genannt,« sagte er lächelnd. »Ich müßte mich sehr irren, so wird sie in kurzer Zeit denselben Abscheu vor dieser Hausgenossenschaft empfinden und das ist sehr wünschenswerth. Es wird am besten sein, wenn ich mich weiter in nichts mische.«
Mit diesem Entschlusse betrat er das Haus und sah sich in dem Corridor um, den er der Länge nach durchschnitt. Man findet in der Schweiz, wo es keine fürstlichen Paläste oder Rittersitze mächtiger Barone giebt, eine verhältnißmäßig große Zahl stattlicher Landhäuser, die den Namen Schlösser verdienen, ihn zuweilen auch führen.
In früherer Zeit, besonders im vorigen Jahrhundert, gehörte es zur Mode, in der Schweiz ein Asyl zu suchen. sich dort anzukaufen oder anzubauen und die Flüchtlinge jener Zeit waren nicht arme ausgestoßene Verbannte oder auch armgewordene Krämer, sondern zum guten Theil Männer von Rang und Namen, welche ihren naturphilosophischen, ideologischen Träumereien nachhängen wollten, dabei aber in bequemer vornehmer Weise rousseauschen Ideen huldigten.
Auch dies Haus wurde wahrscheinlich von einem solchen Philosophen erbaut, und sein jetziger Besitzer, Graf Christian Gersau, war ein ebenbürtiger Nachfolger. Er hatte ebenfalls sich vor der Welt und ihrer Knechtschaft hierher geflüchtet und philosophisch einsam genug schien dieser alte Bau zu sein.
Der Legationsrath gewahrte keinen Menschen, der ihn zurechtgewiesen hätte. Dagegen sah er ein Dutzend Thüren und eine breite Treppe, welche nach oben führte. Der Corridor schien frisch geweißt, die großen Flügelthüren aber mit ihren erblindeten Goldleisten und abgestoßenen geschnitzten Köpfen sahen alt, doch vornehm aus; ebenso das große gothische Fenster im Hintergrunde, dessen bunte Glasscheiben da und dort mit gewöhnlichen Glasstücken ausgebessert waren.
»Die Prosa des nützlichen Lebens, gehandhabt von Fräulein Babette, welche sich den romantischen Plunder vom Halse schafft«, sagte der Legationsrath lächelnd, indem er eine der Thüren öffnete und ein wenig überrascht auf der Schwelle stehen blieb. Er fand den Ausspruch, den er soeben gethan, hier noch mehr bestätigt.
Das hohe Gemach von alterthümlichem Aussehen mußte einmal viel Geld gekostet haben. Dunkles Getäfel reichte bis zu den gewirkten, verräucherten Tapeten hinauf. Das gemalte Deckenstück wurde von reicher Stuckarbeit eingefaßt, doch diese wie jene waren vergilbt und zerbröckelt. An der einen Wandseite befand sich ein großer darin eingelegter Spiegel, an der andern Seite ein Marmorkamin; in der Mitte aber stand ein langer, brauner Tisch der gewöhnlichsten Art, auf welchem allerlei Wirthschaftsgegenstände und Küchengeräthe, Fleisch, gerupfte Vögel und Braten, sammt einer Gallerie von ähnlichen Dingen Platz fanden.
Was den Legationsrath jedoch weit mehr anzog, war eine junge Bäuerin, welche an diesem lehnte und, ihm den Rücken halb zugekehrt, ein Bild betrachtete, das über dem Kamin hing. Die Hände vor ihrem Leib gefaltet, schaute sie unbeweglich zu dem Bilde hinauf, das eine reich gekleidete Dame darstellte, und da der Baron die Thür leise geöffnet hatte, schien sie anfangs nichts von ihm zu hören. Er konnte sie einige Minuten lang ungestört beobachten, wobei er sein Glas, das an einer Schnur hing, zu Hülfe nahm, und was er sah schien artig genug, um ihm zu gefallen.
Die schlanke und dabei kräftige Gestalt nahm sich in dem schattigen Zimmer sehr gut aus, und selbst die Sonntagstracht der Bäuerin hatte etwas Malerisches. Ihre weiten kurzen Röcke, das Mieder mit der dicken Silberkette; das fein gefältelte Vorhemdchen, die weißen Strümpfe und die weiße Faltenschütze bildeten eine kleidsame Tracht.
Als er Geräusch machte und sie nach ihm umblickte, sah er in ein frisches derbes Gesicht, dessen helle treue Auge ihn befremdet, aber furchtlos anschauten.
»Gehörst Du hier ins Haus, mein liebes Mädchen,« sagte der Baron, freundlich grüßend.
»Nein, Herr, ich komme nur zu Zeiten her,« antwortete sie mit einem Knix.
»Ei, was thust Du denn hier?«
»Ich wart' auf das Bäbli. Es ist davongelaufen, weil die alte Susanne hineinsprang und rief, es komme ein Wagen mit Gästen.«
»So ist dies also des Fräuleins Wirthschaftszimmer?«
»Ja, Herr, Ihr seht's wohl.«
»Wenn Du aber auch nicht ins Haus gehörst, mein liebes Kind,« sagte der Baron, »wirst Du mir doch sagen können, wo es nach dem Garten hinaus geht?«
»Auf der andern Seit', Herr, führt die Thür hinaus.«
»So danke ich Dir.«
Er blieb noch einen Augenblick stehen und deutete auf den Korb, der zu ihren Füßen stand und mit einem Leinentuche bedeckt war.
»Was hast Du denn da drinnen?« fragte er.
»Frisches Anken, Herr.
»Anken? – Das ist ja das schweizerisch-deutsche Wort für Butter.«
»Es mag so sein. Wir nennen's Anken.«
»Hast Du weiter nichts zu verkaufen, mein liebes Kind?«
»Nichts, Herr.«
»Und hast doch viel Begehrenswerthes!« lächelte er mephistophelisch, ihr zunickend. Denke darüber nach, mein artig Mädchen, und lebe wohl.«
»Lebet wohl, Herr!« sagte sie.
Sie hatte ihm den richtigen Weg gewiesen, denn als er die Thür gegenüber öffnete, trat er in einen sonnenhellen Gartensaal, dessen weit geöffnete Eingänge auf einen Säulenbau mündeten, bis zu dessen Stufen der Garten reichte.
Ein herrlicher Platz war für das Landhaus gewählt. Auf einem Hügelvorsprunge lag es dicht am Abhange, der in terrassenförmigen Geländen zum Seeufer niederlief. Malerische Fernsichten öffneten sich über den See fort auf die waldigen Felsgipfel, hinter denen das Schweizerland liegt, und weiter südwärts, wo die schneereichen Berge von Uri an den Wollen zu hängen schienen. In nächster Nähe nahmen Garten und Park den Rücken des Hügels ein. Die Sonne leuchtete hier auf Blumenbeete und Fruchtbäume bis zu einer Doppelreihe alter Linden, welche ihren Strahlen ein Ziel setzten, und in deren tiefhängenden Zweigen der Seewind flüsterte und die Vögel sangen.
Als der Legationsrath dies Alles mit raschen Blicken betrachtete, hörte er die froh klingende Stimme der Gräfin unter den Bäumen.
»Ein sehr freudiges Wiedersehen wird dort gefeiert« sagte er, »ich komme aber hoffentlich immer noch zur rechten Zeit.«
Lydia hatte mit ihrer Begleiterin die schöne Rotunde uralter Linden weit früher erreicht, und als sie dort einen greisen Herrn erblickte, der an einem Tische saß und in einer Zeitung las, eilte sie voran ihm entgegen; Fräulein Babette aber blieb stehen, und nach einigen Augenblicken kehrte sie um, wo ihre Gegenwart um so nöthiger war. Als der alte Herr am Tische ein Gewand rauschen hörte, blickte er danach auf und erhob sich mit einiger Anstrengung aus seinem Sessel, eben als Lydia ihn mit beiden Armen umfaßte.
»Meine liebe Gräfin! meine liebe Cousine! Seien Sie mir willkommen!« sagte er, ihre Stirn küssend.
Lydia konnte nicht sogleich antworten, sie war gerührt von seinem Anblick und ihren Erinnerungen. Vor zwölf Jahren war der Graf noch rüstig und rasch gewesen, jetzt war er alt und hinfällig.
Er mochte ihre Gedanken errathen.
»Zwölf Jahre sind eine lange Zeit,« sagte er, »es hat sich vieles seitdem geändert.«
»Sehr Vieles, o! sehr Vieles,« erwiederte sie.
»Alles geht vorüber,« fuhr er mit einem entsagenden Lächeln fort, »aber Sie sind jung. Die Jugend hat bei ihren Schmerzen Hoffnungen, das Alter aber keine; es ist einsam. Sie kommen aus Italien zurück, liebe Gräfin Schauenstein?«
»Sie müssen mich wieder Lydia nennen und mein Kind sagen, wie damals,« bat sie ihm zulächelnd. »Ich will wieder jung werden bei Ihnen und unter diesen alten Bäumen, die mich anheimeln.«
»Sind Sie denn alt geworden?« fragte er.
»Alt zum Sterben! Aber ich will leben und will mich freuen, und – wo ist mein Spielgefährte, wo ist Rudolf?«
Sie fühlte ihr Herz bei dieser Frage heftiger klopfen, denn es war ihr so, als müsse die Antwort lauten: der ist weit fort oder noch trauriger, allein der alte Herr sah umher, als suche er Jemand und sagte dabei:
»Rudolf muß gleich kommen. Er ist in der Nähe und ebenso erfreut, wie ich es bin.«
Lydia folgte vergebens seinen Blicken. Der Jugendgespiele war nirgends zu entdecken. Ein Strom wohlthuender Erwartungslust leuchtete aus ihren Mienen und Augen.
»Ich werde ihn also wiedersehen?« sagte sie. »Hat er sich sehr verändert?«
»Er ist groß geworden,« erwiderte der alte Herr. »Zweifelten Sie daran, ihn wiederzusehen?«
»Ich weiß nicht warum, aber wenn man selbst durch die Welt irrt, glaubt man dasselbe leicht von seinen Freunden.«
»Rudolf hat mich nicht verlassen,« erwiderte der Graf. »Seit seine Mutter todt ist,« fügte er hinzu, »und das geschah wenige Jahre, nachdem Sie uns besuchten; es würde mir doppelt schwer geworden sein, mich von ihm zu trennen. Er hatte keine Neigungen dazu, so ist er denn in diesem Hause geblieben und er wird sich, wie ich denke, auch damit begnügen.«
Lydia antwortete nichts daraus, der alte Herr fuhr daher nach einigen Augenblicken fort:
»Wir haben eine sehr gute Cantonalschule in Zürich, und diese Besitzung ist zwar im Vergleich zu den großen Gütern in Deutschland sehr unbedeutend, allein für einen jungen Mann, der Lust hat, sich mit Landwirthschaft zu beschäftigen, giebt es immer Mancherlei zu thun. Sie erinnern sich wohl, Rudolf war immer von schlichtem Wesen, das keinem weitgreifenden Ehrgeiz nachjagt.«
Mit diesen Worten verließ er den Gegenstand und wandte seine Fragen auf Lydia's Schicksale, auf den Tod ihres Gatten, den Tod ihrer Mutter, der bald nach ihrer Verheirathung erfolgte, und auf ihre Reise, indem er zugleich seine Tröstungen und seine Hoffnungen damit verband, daß nach so vielen dunklen Tagen die Sonne um so glänzender und anhaltender scheinen werde.
»Ruhen Sie nun recht lange bei uns aus,« fuhr er dann fort. »Wir wollen, was wir können, thun, um Sie an dieses stille Plätzchen zu fesseln. Der Herr Legationsrath wird es uns verzeihen, wenn wir eigennützig sind, und Rudolf – aber da ist er selbst, er muß es Ihnen selbst sagen.«
Ueber das Gehege, das den Garten einschloß, sprang ein junger Mann, dem eine graufleckige Dogge nachfolgte, die mit einigen Sätzen ihm voran in den Baumweg sprang, mit ungestümer Freudigkeit den Tisch umkreiste und ihrem jungen Herrn wieder entgegenrannte.
»Nun, Rudolf,« rief der alte Herr seinem Sohne entgegen, »wer ist das hier? Wen haben wir hier?«
Lydia war aufgestanden, er nahm seinen Hut ab und schaute sie mit freundlichen blauen Augen an, während die helle Röthe in sein Gesicht trat. Sie hielt ihm beide Hände hin. –
»Es ist Lydia!« sagte er.
»Lydia – Lydia allein, Cousin Rudolf, die sehen will, was aus ihrem lieben Kameraden geworden ist, dem sie einst versprechen mußte, wieder zu kommen, da bin ich nun. Sie haben sich gar nicht verändert, Rudolf.«
»Sie um so mehr, Cousine Lydia,« war seine Antwort.
Die Gräfin lachte fröhlich auf.
»Und eben so liebenswürdig aufrichtig ist er geblieben,« sagte sie zu dem alten Herrn. »Ah! mein wahrheitsliebender Vetter, mein Gesicht ist bleich geworden, und meine Augen liegen in dunklen Ringen, allein ich bin dennoch die alte Lydia und bringe die alte Freundschaft für Sie mit, wenn Sie diese haben wollen.«
»Rudolf wird sie verdienen,« sagte der alte Herr an Stelle seines schweigsamen Sohnes, »doch sieh da! endlich haben wir auch den Herrn Legationsrath. O, mein Herr Baron, ich bin sehr erfreut, Sie bei mir zu sehen.«
Der Legationsrath, welcher während dieser Scene fast unbemerkt sich nähern konnte, erwiderte den Gruß mit seinen Versicherungen, daß er sich schon nach dem Glücke gesehnt, die Bekanntschaft eines so bekehrten und berühmten Herrn zu machen, und nun folgte ein Austausch von Höflichkeiten, bis der Graf wieder in seinem Lehnstuhle saß und mit seiner sanften Würde die Mittheilungen seines Gastes anhörte.
Er war von kleiner Gestalt, und Schmerzen allerlei Art hatten diese noch mehr gebeugt, allein der greise Diplomat in seinem unscheinbaren Hausrocke und in dieser ländlichen Einsamkeit blieb doch immer noch der vornehme Mann. Eine wohlwollende Herablassung lag in der freundlichen Ruhe seines Wesens, und sein glänzend weißes Haar erhöhte den Achtung gebietenden Eindruck. Dies Haar fiel nicht in gelehrter Art lang nieder, sondern es war regelrecht geschnitten und bedeckte zierlich geordnet einen Theil seiner hohen Stirn.
Der Legationsrath fühlte eine gewisse sympathische Neigung um so mehr, da er wußte, daß Graf Gersau leidenschaftlicher Kunstliebhaberei betrieb. Er hatte in diesem verborgenen Landhause Sammlungen angehäuft, die von manchen Reisenden sehr gerühmt wurden; da nun der Baron eben aus Italien kam, lenkte sich das Gespräch bald auf Bilder und Kunstwerke, und es dauerte nicht lange, so befand sich der alte Herr in der Stimmung, seinem werthen Gaste alle seine Schätze zu zeigen und begierig nach dessen Urtheil zu sein.
»Wie sehr mich das entzückt, Sie hier zu haben,« sagte er, »vermag ich nicht auszusprechen, Es ist ein seltener Genuß für mich. In früheren Zeiten hatte ich viel Besuch, als meine Frau noch lebte, o sie« – er brach mit einer Handbewegung ab, und fuhr dann in der Weise der bescheiden thuenden Kunstsammler fort: »Sie werden nicht allzuviel in meiner Sammlung finden, aber sobald Sie von der Reiseermüdung sich erholt haben, wird es mir ein großes Vergnügen sein, wenn Sie ihr eine Stunde schenken wollen.«
Der Legationsrath erklärte sich durchaus nicht ermüdet, dagegen voller Verlangen zu sein, die Sammlungen des Grafen, von denen er so viel Rühmliches gehört, zu sehen.
Der alte Herr hatte eine solche Antwort erwartet, er stand sogleich auf und drückte dem Baron dankbar die Hand.
»Aber wo sind denn die beide Jugendfreunde?« fragte er.
»Auf einer Kunstreife durch das Land der Träume begriffen,« lächelte Springfeld.
»Lassen wir sie,« sagte der alte Herr. »Bei ihnen ist das Leben noch der goldene Baum, welcher nur berührt zu werden braucht, um in den schönsten Melodien zu klingen.«
Er nahm den Arm seines Begleiters und während er mit ihm dem Hause zuging, eilte Lydia mit ihrem Vetter durch die Gänge des Parkes und durch den Weinberg, welcher daran stieß, wo Trauben in dichtester Fülle aus den zackigen Blättern niederhingen.
»O!« rief sie erfreut, »damals war es auch so. Eben so reich hingen die großen Trauben herunter. Wir schauten sehnsüchtig hinan und hätten sie gern gepflückt.«
»Aber sie waren noch nicht reif.«
»Richtig, und man pflückt die Trauben nur, wenn sie reif sind. Ich mußte fort! Ihr Trost half mir nichts; daß Sie für mich mit pflücken wollten.«
»So pflücken wir sie diesmal zusammen.«
»Und wann denken Sie, daß es so weit sein wird?«
»Das kann sehr bald geschehen,« sagte er. »Es sieht ganz danach aus, als hätten wir nicht lange zu warten.«
»So wollen wir hoffen und harren,was sich begiebt. Aber es muß hier irgendwo eine Thür sein, die zu den Waldhügeln sich öffnet. Dahin sind wir häufig gewandert; gehört der Buchwald nicht zu Ihrem Landsitze?«
»Er gehört uns,« bestätigte er.
»Es lag ein Hof oben auf dem Berge, wo man die weiteste schönste Aussicht hatte.«
»Das ist der Tobelhof. Der gehört uns auch.«
»Sonderbarer Name. Was ist ein Tobel?«
»Ein Tobel ist eine Schlucht, durch welche gewöhnlich ein Bach oder ein Quell seinen Weg nimmt.Das ist dort auch der Fall.«
»Richtig, wir sind einmal hinabgestiegen. Das Wasser rauschte und machte mich neugierig. Es wohnte ein alter Mann dort, der uns warnte.«
»Der ist jetzt todt.«
»Aber die gespenstische Hütte sieht noch in den Wasserfall?«
»Wir haben ein neues Haus bauen lassen.«
»Ein neues Haus in der alten Wildniß.«
»Ei, das ist keine Wildniß,« sagte er, »das ist ein Besitz, um den uns Mancher beneidet. Zu dem Hofe gehört viel gutes Land und die besten Matten weit umher. Wir haben jetzt einen tüchtigen Mieter darin, der die Milchwirthschaft aus dem Grunde versteht. Dadurch ziehen wir einen beträchtlichen Gewinn.«
»Und diese vortheilhafte Einrichtung ist sicher Ihr Werk, Cousin Rudolf,« lachte Lydia. »Sie sind ein gewaltiger Landwirth geworden.«
»Ich möchte es wenigstens sein,« antwortete er. »Mein Vater überläßt mir, was es zu schaffen giebt. So habe ich die Wirthschaft dort oben eingerichtet, alles Land, was wir besitzen zusammengethan und denke, es war richtig gehandelt.«
»Wir müssen Ihre Werke besehen und bewundern,« sagte sie. »Dort ist die Thüre und richtig, da ist auch der Pfad.«
»Aber es ist ziemlich weit,« wandte er ein, »ab und zu geht es steil hinauf.«
»So kehren wir um, wenn es zu viel!« erwiderte Lydia.
»Ziehen Sie es nicht vor, zunächst zurückzukehren, auszuruhen und sich zu erfrischen?« begann er nochmals, während er ihr folgte. »Babette wird uns suchen.«
»Sie hat uns oft gesucht und hat gescholten,« lachte sie, »mag sie ihr Amt wiederum beginnen. Die Sonne brennt stark, im Walde muß es kühl und schön sein. Wenn wir bei Ihrem Bauer anlangen, wird ein Glas Milch weit besser schmecken, als Alles, was das gute Bäbli geben kann.«
Nach wenigen Minuten waren sie beide im Walde. Sie gab ihm ihre Hand und stützte sich darauf.
»So sind wir damals hier umher, und so wollen wir es jetzt thun!« rief sie ihm zu. »Sie sollen mir dabei von Ihrem Leben schöne und wahre Geschichten erzählen, ich will es auch so machen.«
»Ich weiß sehr wenig davon zu berichten,« erwiderte er.
»Fangen Sie nur an, von der Zeit, wo ich fortging. Wie wurde es da?«
»Da begann bald darauf meine Mutter zu kränkeln, und es kamen traurige Tage.«
»Rühren wir nicht daran. Sie blieben bei ihrem Vater.«
»Ja, und Bäbli führte das gesammte Hauswesen, das freilich seit dieser Zeit viel kleiner wurde. Denn so lange meine Mutter gesund war, hatten wir oft frohe Gäste von Nah und Fern. Seit dieser Zeit aber liebte mein Vater nicht mehr laute Geselligkeit. Er hatte einen Schlag aufs Herz bekommen, der immer fort schmerzte.«
»Wenn das Herz wirklich getroffen wird, so heilt es schwer,« sagte Lydia, »aber ich fürchte, das Alles war nicht gut für Sie. Ihr Vater in seinem Weh kümmerte sich nicht viel um Ihr Leben.«
»Das that er freilich nicht. Es vergingen Jahre, wo er keinen lebhaften Antheil an dem nahm, was um ihn vorging. So wars doppeltes Glück, das wir Babette hatten, die alles wohl zu ordnen verstand.«
»Des Hauses redlicher Hüter,« sagte Lydia mit einem spöttischen Anklang.
»Das war sie,« fiel er ein, »und ist es noch. Das Hauswesen konnte keine bessere Aufsicht haben, denn Bäbli weiß Alles und versteht Alles. Mein Vater könnte nicht ohne sie auskommen. Sie liest ihm vor, leistet ihm getreulichen Beistand, ist sein Secretair und Geheimrath, und von gelehrten Dingen spricht sie mit solchem Verstand, wie ein Professor von der Hochschule.
»Ich sehe,« sagte Lydia, »Fräulein Babette hat einen sehr dankbaren Bewunderer an Ihnen, Cousin!«
»Warum sollte ich's nicht sein?« versetzte er. »Aber was könnte ich Ihnen noch weiter von meinem Leben mittheilen? Babette schickte mich in die Schule, lobte mich, wenn ich fleißig war, und schalt, wenn ich nichts lernen wollte. So ging die Zeit hin, und wir lebten beisammen weiter, bis auf diesen Tag.«
»Ohne irgendein Abenteuer, eine romantische Unterbrechung, eine Erscheinung, die in Ihr Leben griff, oder eine Versuchung des bösen Feindes?« rief Lydia, ihn anblickend.
Sie blieb auf dem schmalen Pfade stehen und betrachtete ihn. Die jungen Buchen ließen einige Sonnenblitze durch das Geblätter auf sein Gesicht fallen, das so offen und treuherzig aussah, als verstände er gar nicht, was sie meinte. So war auch Alles, was er sprach, schmucklos einfach, und seine anspruchslose Tracht kündigte eben so wenig den Sohn eines Grafen an. In diesem Augenblicke, wo ihre Augen scharf und forschend auf ihm ruhten, schien er jedoch in eine Verlegenheit zu gerathen, welche ihr als Huldigung ihrer Ueberlegenheit geheimes Vergnügen machte.
»In Zürich sind Sie wohl wenig bekannt, Cousin?« fragte sie.
»Fast gar nicht!« war seine Antwort.
Besuchen Sie keine Gesellschaften, keine Familien?« fragte sie.
»In der Schweiz ist das Familienleben sehr beschränkt und still. Ich habe in solchen Kreisen keinen Zutritt.«
»Auch kein Verlangen danach? Fanden Sie keinen Gegenstand, der Sie dorthin zog?«
»Nein!« erwiderte er mit bestimmtester Aufrichtigkeit.
Lydia zweifelte nicht an diesem Nein, sie nickte ihm zu, als gefiele er ihr. Dann hob sie ihren Finger auf und sagte dann schalkhaft warnend:
»Das ist auch sehr gefährlich!«
»Sie müssen es wissen, Cousine,« meinte er dann. »Sie lebten in der großen Welt.«
»Und ich lernte sie kennen,« fügte sie hinzu. »Lieben Sie Bälle?«
»Ich tanze gar nicht.«
»Glücklicher Vetter! Meinen verstorbenen Mann lernte ich auf einem Hofball kennen. Am Tage darauf machte er Besuch bei uns und eine Woche später meldete mir meine Mutter, daß er bei ihr um mich angehalten habe, und daß sich nichts dagegen einwenden ließe! Das ist meine Geschichte, Cousin Rudolf. Sie ist eben so kurz als die Ihrige. Nächstens wollen wir weiter darüber sprechen und zu erforschen suchen, wer die Glücklichste genannt zu werden verdient.«
Er blickte sie mit seinen sanften, freundlichen Augen voller Theilnahme an, und als sie ihm die Hand von Neuem gab, fühlte sie seinen Druck.
So gingen sie Beide ein Weilchen, bis der Boden weich wurde. Es war eine von den feuchten Stellen, die häufig in Bergen und Büschen vorkommen, wo Wasser den Boden durchsickert und sich darin ansammelt. Einzelne Steine lagen darin zerstreut und bildeten die vorhandene Brücke.
»Was thun wir nun?« fragte Lydia, als sie bedenklich still stand.
»Wenn wir nicht umkehren wollen und Sie den Steinen nicht vertrauen, so bleibt nur ein Mittel.«
»Welches Mittel?«
Statt der Antwort hob er sie so leicht auf seinen Arm, als sei es keine Last, und ebenso leicht sprang er mit ihr über die schlüpfrigen Steine fort und setzte sie auf dem trockenen Boden ab. – Lydia wehrte ihm nicht, sie ließ es geschehen, legte die Arme um seine Schultern und hielt sich fest.
»Wir kommen auf unsere alten Streiche zurück,« sagte sie, als sie drüben stand. »Wahrscheinlich fiel es Ihnen ein, daß Sie mich früher auch so auf Ihren Armen in ähnlicher Weise getragen hatten.«
»So war es wirklich,« erwiderte er. »Es fiel mir ein, und warum sollen wir jetzt es nicht eben so machen?«
»Wir wollen ganz wieder die alten guten Kameraden sein, Rudolf, und uns Alles vertrauen und glauben.«
Mit diesem neugeschlossenen Bündniß stiegen sie nun die Bergwand völlig hinauf. Als der Weg steiler wurde, mußte Lydia sich an seinem Arm halten, und sie bewunderte heimlich, mit welcher Gewandtheit und Sicherheit er unter ermunternden und scherzenden Worten sie weiter brachte. Rudolf war weder besonders groß, noch sah er besonders kräftig aus, dennoch mußte er dies sein. Sein Schritt war elastisch leicht, und obwohl sein Gesicht milde und freundliche Züge hatte, auch sein Wesen eher furchtsam als selbstvertrauend war, so erhielten seine Augen doch zuweilen einen hellen stolzen Glanz, und seine bescheidene Rede fand Worte, die kühn und selbst poetisch klangen. Anspruchslos in seiner Tracht, glich er einem wohlhabenden Landmann, der etwas höher stehen will, als der gewöhnliche Bauer.
Die Gräfin hatte bei ihrer Reise durch die Schweiz häufig bemerkt, daß ein grauer enger Rock und ein breitkrämpiger, spitzköpfiger grauer Hut die am meisten übliche Kleidung dieser Republicaner sei, welche auf sonstigen Prunk überhaupt nicht viel geben. Auch Rudolf trug sich in dieser Weise, aber unter der Schnur seines grauen Hutes steckten einige Adlerfedern, die ihm einen keckeren Anstrich gaben..
Als sie auf dem Bergkamm angelangten, bildete dieser eine sanfte aufwärts laufende Ebene, welche mit Feld und Wald bedeckt und begrenzt sich abschloß.
In einiger Entfernung, auf dem höchsten Punkte, lag ein Haus unter hohen Bäumen, das einzige,das zu sehen war.
»Ist das Tobelhof?« sagte Lydia.
»Das ist er,« war seine Antwort. »Aber wir sind an einer der steilsten Stellen hinaufgestiegen; wenn wir zurückkehren, führe ich Sie einen viel bequemeren Weg.
»Dazu wird Zeit sein,« erwiderte Lydia, »wenn wir uns ausgeruht haben. Mich dürstet sehr.«
»So kommen Sie, Schatten und Milch finden wir dort in Fülle.«
Er führte sie durch das Feld dem Hause zu, und bald hatten sie es erreicht. Als sie in der Nähe waren, wehte ein kühler Wind, und durch eine Lichtung der Bäume sahn sie auf den See hinab, welcher tief unten wogte und glänzte. Aus dem Buschwerk zur Seite des Hauses aber kam ein Wasserrauschen, dessen Ursache die Gräfin sogleich errieth.
»Jetzt weiß ich Alles« sagte sie. »Hier ist die Schlucht, in welcher der kleine Bach hinabfließt. Nun erinnere ich mich auch, daß es ein alter Bekannter ist, von dem ich freilich nichts Anderes mehr weiß.«
Sie gingen am Hause vorüber, in welchem sich nichts regte. Es sah wohnlich und neu aus, doch war es kein großes Bauerhaus, wie man sie in der Schweiz oft so stattlich findet, sondern von mäßigem Umfange und ohne Schmuck gebaut. Das untere Geschoß bestand aus Bruchstein, darauf lag der Holzbau mit kleinen Fenstern, von einer Gallerie umgeben. Eine hohe Treppe führte zur Thür hinaus, zur Seite stand ein Stallgebäude, das ähnlich aussah, nur daß der obere Raum zum Heuboden eingerichtet schien. An den beiden Gebäuden hin war ein Kuchengarten angelegt, und zwischen Hollunderbüschen öffnete sich eine Geisblattlaube mit einem Tische und einer Bank, die eine Lehne von Birkenzweigen hatte.
Wenige Schritte davon begann der Tobel oder Spalt, den sich der kleine Bach im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden zu seinem Gerinn auswählte. Lydia schaute erfreut hinunter. Es ging sehr steil wohl dreißig oder vierzig Fuß tief hinab. Große Steine sprangen aus dem Geröll, das zum Theil mit einer dichten Moos- und Pflanzendecke überwuchert war, und da und dort klammerten sich Epheu und Erlen mit zahllosen, zähen Fingern um Felsstücke, die wie mit Netzen von ihren Wurzeln umstrickt wurden. Der Bach rauschte leise und melodisch aus der Tiefe und ließ seine Grüße von einem sanften Luftzuge begleiten, der erfrischend Lydias warmes Gesicht umspielte.
»Das ist ein artiges Plätzchen,« sagte sie, »romantisch sogar zu nennen, obwohl die guten Leute, welche hier wohnen, wohl lieber wünschen möchten, es wäre anders und der Bach käme zu ihnen herauf, da sie schwer zu ihm hinunter können.«
»Sie können sehr gut hinunter,« erwidere Rudolf »Weiterhin führt ein Steg hinab, und jenseits liegen schöne Matten, auf welchen das Vieh weidet, wenn es hinaus getrieben wird.«
»Ein lustiges Leben, das Hirtenleben,« sagte Lydia, in den Bach und in die Weite blickend. »Unter einem alten Baum liegen, vor sich die weidende Heerde, über sich den sonnigen Himmel. Wohin sind wir gekommen mit unserem Witz und unserer Cultur!«
»Man denkt es sich so,« versetzte er lachend, »aber das Bauern- und Hirtenleben ist so rauh und hart, wie irgend eines. Bei uns steht das Vieh meist in den Ställen, muß versorgt und gewartet werden, auf den Alpen aber ist der Hirt der Pächter. Mit aller Mühe und Plage gewinnt er doch kaum so viel an seinem Käse, um den Winter durchzukommen.«
»Das Loos der Armuth ist überall dasselbe in der Welt, und Niemand kann es ändern. Haben Sie diesen Hof auch verpachtet?«
Er bejahte es. »Die ganze Wirtschaft mit Vieh und Acker,« sagte er, »in der Art, daß der Pächter zugleich mein Verwalter ist. Er zieht zunächst ein gewisses Einkommen, dann wird ein mäßiger Pachtzins abgetragen, was übrig bleibt, theilen wir.«
»Also ein Gesellschaftsvertrag auf Gegenseitigkeit, nach modernem Zuschnitt,« sagte Lydia.
»Auf Billigkeit begründet,« erwiderte er. »Ich gebe meinen Acker und mein Vieh, er giebt seine Arbeit, sein Blut und seine Knochen.«
»Vermuthlich Alles, was er besitzt; doch wie es scheint, schont er sein Kapital nicht und hält gute Ordnung.«
»Er ist ein sehr fleißiger und verständiger Mann.«
»Hat er Familie?«
»Eine Tochter. Wollen wir hingehen?«
»Nein!« sagte Lydia. »Diese Bauernhäuser mit ihren engen niedrigen Stuben, kleinen Fenstern und zahlreichen Fliegen sind ein entsetzlicher Aufenthalt. Lassen Sie ein wenig Milch heraustragen.«
»Holla, Mathies!« rief Rudolf zu dem Hause hin.
»Herr Mathies scheint nicht vorhanden zu sein!« sagte die Gräfin, als ihr Verwandter nach wiederholter Aufforderung keine Antwort erhielt.
In dem Augenblick stieg am Tobel herauf dieselbe junge Bäuerin, welche der Legationsrath in Fräulein Babette's Wirthschaftszimmer gefunden hatte. Der Korb hing an ihrem kräftigen Arm und schien sehr schwer zu sein, über den Kopf hatte sie ein weißes dreizipfliges Tuch gesteckt, um sich vor Sonnenhitze zu schützen.
»Das ist Vreneli,« sagte der Graf, als er sie erblickte. »Sie wird uns helfen. Komm her, Vreneli, eile Dich!«
»Gleich, Herr, gleich!« rief die junge Bäuerin geschäftig freundlich, setzte ihren Korb am Hause nieder und folgte hastig seinem Rufe: »Dein Vater ist wohl nicht daheim?« rief er ihr zu.
»Nein, Herr, er wollte den Pfarrer hören und hatte allerlei zu schaffen.«
»Wo warst Du denn?«
»Ich hatte einzukaufen, wozu in der Woche keine Zeit ist,« erwiderte Vreneli. »Was habt Ihr mir zu sagen?«
»Wir sind heraufgekommen, uns umzuschauen,« sagte Rudolf, »und die Dame hier, meine Muhme, ist müde und durstig geworden.«
Vreneli heftete ihre hellen Augen auf Lydia und sah sie mit einer gewissen Ueberlegenheit an.
»Wills glauben,« antwortete sie dabei. »Es ist keine Sach', hier hinauf zu steigen, man muß aber doch an Müh und Sonn' gewöhnt sein. Was verlangt Ihr? Soll ich Euch Milch bringen und etwas mehr dazu?«
»Nichts als Milch, Vreneli, aber so schnell Du kannst!«
»Ihr sollt es gleich haben!« rief sie davonlaufend, nahm den Korb und ging mit ihm die hohe Treppe hinauf ins Haus.
Lydia hatte schweigend zugehört, sie schien der Bäuerin wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Nachdem sie Vreneli betrachtet hatte, zog sie ihre kostbare goldene Uhr hervor und benachrichtigte ihren Verwandten, daß es später geworden, als sie gemeint hatte.
»Ich sagte es Ihnen gleich,« erwiderte Rudolf, »wir sind eine halbe Stunde gegangen, doch hinab werden wir viel schneller kommen und obenein einen besseren Weg einschlagen.«
»Ich bin nicht müde,« sagte sie, »aber ich möchte trinken.«
»Vreneli wird die Milch gleich bringen«
»Was ist dass für ein sonderbarer Name?«
»Es ist die schweizerische Benennung für Veronica!«
»Eure abscheuliche Verunstaltung.«
»Das finde ich nicht,« sagte Rudolf, »Vreneli klingt so übel nicht«!«
»Ist es die Tochter des Pächters?«
»Ja!«
Eben kam das Mädchen und brachte auf einer Platte zwei Gläser Milch. Es schien ihr Freude zu machen, ihre Gäste zu bedienen. Ihr Gesicht war von einem Lächeln erhellt, und wie sie vor der Gräfin stand, ihr die Platte hinhielt, sagte sie:
»Nehmt und trinkt, es wird Euch gut thun, denn das ist Milch, wie Ihrs nirgends anders finden könnt hier umher. Freilich in unseren Thälern ist sie besser.«
Lydia verstand nicht Alles, ihr Vetter übersetzte es ihr.
»Ist sie denn nicht von hier gebürtig?« fragte sie dann.
»Nein, aus dem Berner Oberland.«
»Ehe kleidsame Tracht. Es scheint ein gutmüthiges Geschöpf zu sein?«
»Wollt Ihr noch mehr Milch haben?« fragte Vreneli.
»Nein, ich danke Dir.« – Lydia zog ein kleines von Seidenfäden gehäkeltes Netz aus der Tasche und nahm daraus ein Goldstück. »Das behalte im Andenken,« sagte sie und hielt es ihr hin.
»Laßt das! Laßt das!« rief die Bäuerin kopfschüttelnd.
»Gold wirst Du doch nicht verschmähen?« spottete die Gräfin.
Vreneli hielt ihre Hände noch immer zurück, und mit befehlenderem Tone fuhr Gräfin Lydia dann fort:
»Nimm und mache damit, was Du willst. Kaufe Deinem Schatz etwas dafür.«
»Vreneli! schrie eine kräftige Stimme, und unter einem ungeheuren Grasballen, den er auf seinen Schultern trug, schritt ein langaufgeschossener Bursch daher, dessen Kopf und Leib wenig zu sehen war.
»Da ist er schon!« rief die Gräfin. »Geh, hilf ihm und lebe wohl!«
Sie warf das Goldstück in das leere Glas, nahm ihres Vetters Arm und ging mit ihm fort.
»Nun lassen Sie uns eilen, ehe Bäbli uns erwischt und ausschilt,« lachte sie. »Bei der Scene, welche jetzt hier folgen wird, haben wir nichts zu verlieren. Michel oder Peter wird unter dem riesigen Grasbündel hervorkriechen und wahrscheinlich gescheuter sein als dies alberne Mädchen, das sich ganz gegen Schweizerart vor dem Geldannehmen fürchtet.«
Hierauf erwiderte der junge Graf nichts, aber er deutete vor sich hin durch den waldigen Abhang auf einen Pfad und theilte seiner Cousine mit, daß, wenn sie rasch sein wollte, in einer Viertelstunde Marienhall zu erreichen wäre.
Lydia war zu dem Versuch bereit, und es währte nicht lange, so erblickten sie des Landhaus zu ihren Füßen, zugleich aber auch einen einspännigen kleinen Wagen, der eben an der Thür anlangte und aus welchem ein Herr stieg, der in den Garten ging.
»Es ist Besuch angekommen,« sagte Lydia.
»Kein Fremder,« erklärte Rudolf, »es ist Major Murhard.
»Wer ist Major Murhard?«
Ein alter Freund und Babette's Verwandter. Ein sehr verständiger Mann und einer der reichsten Holzhändler in Zürich.«
»Major und Holzhändler in einer Person?«
»Es ist Ihnen vielleicht entfallen, daß wir in der Schweiz keine Soldaten von Profession haben. Unsere Milizoffiziere sind eben nur Militairpersonen, wenn Regierung und Vaterland ihrer bedürfen; sonst treiben sie Handel und Geschäfte allerlei Art und sind die friedfertigsten Menschen von der Welt!«
»Aber die Löwenhaut ziehen sie nicht ab!« lachte Lydia.
»Nein, Jeder läßt sich bei Tag und Nacht Herr Oberst, Herr Major oder was er sonst vorstellt, nennen.«
»Ich bin um so mehr begierig, die Bekanntschaft dieses verständigen Majors zu machen,« sagte die Gräfin spottend, »da ich bis jetzt noch keinen gesehen habe.«
Niemand hatte inzwischen nach Lydia und ihrem Vetter gesucht, Fräulein Babette war in Haus und Küche beschäftigt, der alte Herr aber hielt den Legationsrath noch immer fest und war mit ihm in Kunstabhandlungen vertieft, als die beiden Jugendfreunde von ihrem Spaziergange zurückkehrten.
Der Baron fand in der Bibliothek des alten Herrn einen so bedeutenden Bücherschatz, daß er ihn in Erstaunen setzte, noch mehr aber erfreute er sich an der Gemäldesammlung, welche in diesem entlegenen Landhause verborgen steckte. Sie bestand allerdings fast nur aus alten Bildern, meist den verschiedenen italienischen Schulen angehörend, allein es waren manche so vorzügliche Werke berühmter Meister darunter, daß jeder Kenner entzückt sein mußte.
Der Legationsrath hatte Viel gesehen, auch aus Neigung Kunststudien gemacht, als Mann von Welt und Talent verstand er obenein, feine und kluge Urtheile zu fällen, die dem alten Herrn außerordentlich gefielen. Er vergaß darüber seine gichtischen Füße, lief lebendig hin und her, aus einem Zimmer ins andere und von einem Bilde zum andern, um dessen Geschichte und Schicksale zu erzählen, daß mehrere Stunden darüber vergingen, welche dem Baron zuletzt langweilig wurden.
Er dachte an Lydia und an den Jugendfreund, dachte an Fräulein Babette, welche sich ihm lebhaft in Erinnerung brachte, denn aus der Küche in dem gewölbten Souterrain entwickelten sich angenehme Düfte, und endlich trat er an ein geöffnetes Fenster, weil er verschiedene Stimmen sprechen hörte, und er sah nicht allein die drei Personen im Garten, sondern noch eine vierte, einen robusten Herrn mit breiten Schultern, rothem Bart und einem dick und hart aussehenden Gesicht.
In dem Augenblick kam auch der alte Diener des Grafen herein, um zu melden, daß Major Murhard gekommen sei, und daß die Suppe auf dem Tisch stehe, worauf her alte Herr mit Bedauern die Unterhaltung, welche ihm so viele Freude gewährte, abbrach und seinen Gast in den Saal begleitete, wo sie den übrigen Theil der Gesellschaft schon fanden.
Der Major befand sich gerade im Gespräch mit Lydia, in welchem er sich nicht sogleich stören ließ. Seine rauhe feste Stimme schallte den Eintretenden entgegen, und fein breites, schweizerisches Deutsch berührte den Baron unangenehm.
»Wir halten es mit dem Nützlichen in der Schweiz,« sagte er, »können nicht reisen, um unser Geld zu verthun. Dafür kommen die Fremden her, lassen sich rupfen von den Gastwirthen und verderben uns das Volk.«
»Wird dadurch allein das Volk verdorben?« fragte Lydia.
»Es ist so,« fuhr er fort. »Das arme Volk wird zum Müßiggang gebracht, hilft den Gastwirthen, so viel's immer kann, bei der Plünderung, aber es giebt leider gar zu Viele, die sich Besseres dünken und arbeiten auch nicht, wenn sie müssen. Laufen lieber mit Stutz und Kugelbüchs umher, ziehen auf die Cantonal- und Vereinsschießen, wo die Kehrscheiben sich drehen und Wetten gemacht werden. Es fährt ihnen wohl gar der romantische Schwindel in die Köpf, und gehen hinauf auf Tödi und Eigerstock Tage und Wachen lang, um ein mageres Gemsli zu erwischen oder ein paar Geierfedern ans Hütli zu putzen.«
Lydia lachte fröhlich auf, denn wie der Major dabei ihren Vetter ansah, konnte sie nicht zweifeln, daß diesem die Strafpredigt galt.
Herr Murhard aber wandte sich nun gegen den alten Herrn, dem er seine breite Hand reichte und dabei fortfuhr:
»Daß sich Gott erbarme, das sind unsere Helden! Halten sich einen Bernhardshund, so groß wie ein Kalb und ziehen mit solchem Beest durch Klüft und Felsgehörn. Statt bedrängten Leuten in ihrer Noth beizuspringen, stürzen sie selbst ungeschickter Weise in einen Eisspalt; kommen sie aber endlich nach Hans mit zerquetschten Rippen und gebrochenen Armen, glauben sie große Thaten verrichtet zu haben.«
»Alles dürfen Sie dem Major nicht glauben,« sagte Rudolf, indem er seiner Cousine lachen half. »Er malt meine Sünden mit gar zu schwarzen Farben.«
»Ich will Alles glauben,« erwiderte sie, »und möchte ihm noch mehr glauben, denn Ihre Sünden gefallen mir sehr gut, Cousin Rudolf. Ich möchte nicht, daß Herr Murhard Sie mit Tugenden überhäufte.«
»Oh!« rief der Major, »das kann nicht anders sein. Es liegt im Blut, wie es genannt wird, oder, wie geschrieben steht: Art läßt nicht von Art! – Ich denke aber, wir hören nun auf damit, setzen uns an den Tisch und unterschreiben den Frieden.«
Der alte Herr nahm diesen Vorschlag bereitwillig an, und der Major benahm sich wie ein Hausfreund, der keine Umstände zu machen braucht.
Er setzte sich neben Babette nieder und fing sogleich an, mit dieser in ungezwungenster Weise zu sprechen, Brot zu schneiden und zu erzählen, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit der Fremden zu nehmen.
Dem Legationsrath war dies Benehmen fatal, er hütete sich jedoch, mit diesem rohen Mann in Berührung zu kommen, der eine ungeheure Masse Speisen verschlang und dazu ebenso tapfer sein Glas leerte. Aber es war nicht möglich, eine Unterhaltung anzuknüpfen, in welche dieser unbescheidene Major sich nicht sofort einmischte und irgend eine plumpe Bemerkung und einen derben Ausfall gegen Rudolf oder dessen Vater, sogar gegen dessen Gäste sich erlaubte.
Babette war die Einzige, welche von ihm verschont blieb und die er sogar mit Auszeichnung behandelte, indem er ihr in seiner Art Schmeicheleien sagte. Der Legationsrath ärgerte sich heimlich darüber, daß die Gräfin Wohlgefallen an solcher Grobheit fand, wenigstens sich daran belustigte, und statt ihn in Ordnung zu bringen, ihn noch mehr dazu reizte.
»Haben Sie niemals Lust gehabt, eine Reise nach Italien zu machen?« fragte sie Rudolf.
»Nein,« erwiderte dieser. »Ich habe auf meinen Wanderungen durch die Alpen mehrmals nach Italien hinabschauen können auf die Kastanienwälder und Seen, aber immer die Sehnsucht empfunden, umzukehren.«
»Wie der Peter, der auf Reisen ging und an die Ecke gekommen,« lachte der Major, indem er sein Glas austrank.
»Sie sind gewiß dort gewesen, Herr Major?« fragte die Gräfin.
»Mehr als ein Mal, in Mailand und Turin,« erwiderte der Major.
»Auch in Rom?« fiel der Legationsrath ein.
»Ich hatt' in Rom nichts zu suchen. Hab' weder einen Cardinal zum Vetter, noch gehöre ich zu den Bildernarren.«
«Wozu gehören Sie denn, bester Herr Murhard!« erwiderte der Legationsrath, verbindlich lächelnd.
»Wie ich denke, zu den vernünftigen Leuten, die sich jede Sache ruhig anschauen, ohne vor jeder alten Tapete oder vor einem ausgegrabenen, halb vermoderten Stein die Augen zu verkehren und zu schreien: Da haben wir ein neues Wunder, das müssen wir anbeten.«
»Nun, Herr Murhard, wie ich merke, werden Sie niemals eine Gemäldegalerie sammeln,« sagte Lydia.
»So lange ich meine gesunden Sinne habe, wird's schwerlich werden,« versetzte der Major, und indem er seine Hand auf den Arm des jungen Grafen legte, fügte er hinzu: »Der junge Herr hier würde auch nichts davon zusammenbringen, wenn's nicht schon vorhanden wäre. Der alte Sauerteig will freilich noch nicht aus ihm heraus, aber er ähnelt doch seiner Mutter. Die war eine Staatsfrau, hätt' alle Tage ein einträglich Geschäft anfangen mögen.«
»Das also ist die Ursache, daß Sie ein so tüchtiger, arbeitsamer Landwirth geworden sind, Cousin Rudolf.«
»Ja, wenn's keine Mühe machte und die Schützenfeste und das Umherlungern auf den Bergen nicht besser schmeckten, könnt's wohl so sein,« antwortete der Major, spottsüchtig nickend und grinsend. »Ich hebe mein Glas auf und lass' meine Nachbarin leben. Das ist die Zierde fürs ganze Haus, hält' in Ordnung und hat Verstand für Alle. Das Bäbli hätt' ein Mann werden sollen, das wär' was Ganzes. Darauf wollen wir anstoßen.«
Ohne sich an das Gelächter zu kehren, stieß er rechts und links an, dem alten Herrn aber schien es Zeit zu sein, dieser Unterhaltung ein Ende zu machen. Mit seinem feinen würdigen Wesen hob auch er sein Glas auf und wünschte seinen werthen Gästen, daß es ihnen gefallen möge, recht lange zu seiner Freude in Mariahall zu verweilen. Nach einigen höflichen Worten und gewechselten Reden stand der alte Herr dann auf und entfernte sich am Arme seines alten Dieners, indem er die noch beim Nachtisch Sitzenden bat, sich nicht stören zu lassen.
»Er ist gewohnt, sein Mittagsschläfchen zu machen,« sagte Rudolf entschuldigend zu seiner Cousine.
»Und Sie machen es eben so?« fragte sie.
»Schlafen ist meine Sache nicht,« erwiderte er.
»Was thun Sie denn? Treiben Sie Musik?«
Er verneinte es.
»Aber Sie lieben doch Musik?«
»Zuweilen habe ich lebhaftes Verlangen danach,« erwiderte er.
»Und Fräulein Babette spielt Ihnen dann was vor,« sagte Lydia, als sie bemerkte, da er seine Augen zu der Wirthschafterin erhob und daß er dabei lächelte.
Fräulein Babette schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nichts davon,« versetzte sie, »der junge Herr bekommt seit langer Zeit nichts mehr zu hören. Als die Frau Mutter noch lebte, gab's Spiel und Gesang genug im Hause, denn sie war eine große Kennerin und Meisterin.«
»Wo ist das Instrument geblieben?« fragte Lydia.
»Im Erkzimmer drüben steht es noch, wo es gestanden, doch niemand rührt es mehr an,« sagte Rudolf.
»So lassen Sie uns gehen, Cousin,« sagte Lydia, indem sie aufstand, »und zusehen, ob wir den alten Geist aufwecken können.«
Sie gingen durch mehrere Zimmer bis zu dem letzten. Als es geöffnet wurde, stieg eine Staubwolke auf, vor welcher der Legationsrath zurückprallte.
»Wie ist ein solches Wunder möglich?« lachte die Gräfin. »Staub in dem Reiche, wo Fräulein Babette regiert?«
»Es ist das Zimmer meiner Mutter,« sagte Rudolf. »Sie wohnte hier – und ist auch hier gestorben.«
»Aber es spukt doch nicht darin?« lachte der Baron.
»Wenn Sie die Leute im Hause und der Umgegend fragten,« erwiderte der Graf, »so würden Ihnen Manche betheuern, daß dies ein verrufenes Zimmer sei.«
»Was giebt es denn hier für Erscheinungen?« fragte Lydia, indem sie den großen stillen Raum musterte.
»Selten betritt jetzt Jemand dies Gemach,« sagte Rudolf; »in der ersten Zeit nach dem Tode meiner Mutter war jedoch mein Vater oft in der Nacht hier. Man bemerkte Licht, bemerkte einen Schatten, der sich auf und nieder bewegte, und hörte zuweilen Musik, das hat zu manchen Gerüchten Anlaß gegeben.«
»Grausenvoll, Cousin! Aber Musik muß hier vortrefflich klingen. Das hohe weite Zimmer mit seiner düstern Holztäfelung und der tiefen Nische dort, die so schwarz aussieht wie ein Sarg, ist für Musik und Gespenster wie gemacht. Doch lassen Sie uns gehen, denn dies ist ein heiliger geweihter Ort.«
Rudolf schlug das Instrument auf und bat sie, zu bleiben.
»Der gute Geist, welcher hier einst wohnte,« sagte er, »umschwebt uns vielleicht noch heut, und wie wird er sich freuen, wenn die Melodien aufwachen, die so lange darin geschlafen haben.«
Babette kam jetzt mit dem Major herein, der sogleich sagte:
»Ich habe den Kasten da lange nicht gesehen, aber Keiner kennt ihn besser als ich, denn durch meine Hände ist das theure Spielzeug hierher gekommen. Keine drei Jahre vorher, ehe die Gräfin starb, schenkte es ihr der Graf zu ihrem Geburtstage. Von Paris ließ er es kommen, und ich bezahlte das Geld. Heidenmäßig kam's zu stehen, das alte wäre noch lange gut gewesen, wurde aber um ein Spottgeld verkauft.«
»Sie haben es gekauft, Herr Major!« sagte Babette.
»Richtig Bäbli, ich kauft's, weil's durchaus gleich auf der Stell' fort sollte, und hab' ein paar Batzen dabei verdient. Der reiche Oberst Kurtz hat es noch, all' seine acht Töchter haben darauf spielen gelernt und sind mächtige Talente geworden. Der theure Kasten hier hat Niemandem was genützt.«
»Weshalb kauften Sie ihn nicht ebenfalls?« fragte Lydia.
»Ich wollt's thun, und der Graf hätte kaum die Hälfte von seinem Gelde verloren, aber solche Herren verstehen nichts vom practischen Gesichtspunkt. Es mußte stehen bleiben, wo es stand, sollte nicht veräußert werden, und so steht's da und verzehrt Zinsen und Capital.«
»Macht auf du edler Geist!« rief Lydia, indem sie mit achromatischen Läufen über die Seiten fuhr. »Wache auf, und jage die Wechsler aus Deinem Tempel!«
Sie setzte sich nieder und begann zu spielen. Der Flügel war von vorzüglicher Güte, und obwohl so lange Zeit außer Gebrauch, doch unbedeutend verstimmt. Der Legationsrath suchte aus einem großen Notenstoße einige Musikstücke classischer Opern heraus. Etüden und Symphonien konnte Lydia auswendig und sie spielte so meisterhaft und mit solcher Innigkeit und solchem Feuer, daß der Baron mit wiegendem Kopf und entzücktem Lächeln neben ihrem Sessel alle Stadien enthusiastischer Bewunderung durchmachte.
In der schwarzen Nische auf dem Sofa dagegen streckte sich der Major aus und machte die Augen zu, Fräulein Babette saß neben ihm und strickte, am Fenster aber lehnte Graf Rudolf, den Kopf in seine Hand gestützt, über den See fortstarrend, als wären seine Gedanken weit entfernt.
»Köstlich!« rief der Legationsrath endlich, »himmlisch! göttlich! Ich habe Sie lange nicht so gehört, es war ein bezaubernder Genuß. Ja, die wahre Musik ist zaubermächtig, ich begreife, wie Orpheus den ganzen Orcus damit einschläfern konnte.«
Er lächelte dabei zu dem Grafen hin, dem Lydia, die aufgestanden war, sich näherte.
»Sie haben genug davon, nicht wahr, Cousin?« fragte sie ihn.
»Sie spielen besser, als ich es zu beurtheilen vermag,« erwiderte er.
»Aber was thun wir nun? Was verstehen Sie?«
»Sehr wenig, Cousine Lydia. Wollen Sie mit einer Bolzenbüchse oder mit Pistolen schießen? Oder Billard spielen, oder im Garten Kaffee trinken und dann auf den See hinausfahren in meinem Segelboote?«
»Wir wollen Alles versuchen, Cousin, und ich glaube im Voraus, daß Sie überall ein Meister sind.«
»Spielen Sie oft Billard?« fiel jetzt der Baron ein.
»Wenn ich zu Haus bin, täglich. Mein Vater spielt selbst noch zuweilen und findet Unterhaltung am Zusehen.«
»Wer aber spielt mit Ihnen, wenn er zusieht?«
»Oh, gewöhnlich Babette. Sie ist ein sehr gefährlicher Gegner, und man muß sich vor ihr in Acht nehmen.«
»Das glaube ich gern,« lachte Lydia beistimmend. »Ich bitte Sie, meine liebe Babette, lassen Sie uns sehen, wer die Partie gewinnt.«
Nach einigen Tagen hatte sich das Gleichgewicht des Lebens in dem Landhause hergestellt und eine gewisse Ordnung festgesetzt, nach welcher sich die Geselligkeit regelte. Am Vormittage that Jeder, was ihm beliebte, oder was nöthig war. Der alte Herr stand spät auf und kam erst zum Vorschein, wenn die Sonne alle Nebel und Dünste fortgeschafft hatte. Dann wurde ein Frühstück im Gartensaale aufgetragen, bei dem es außer Speisen und Getränken auch mancherlei geistige Genüsse gab. Der alte Herr hielt eine Anzahl Zeitungen, schweizerische, deutsche und französische, welche jeden Morgen sammt den neuesten Büchern sind Schriften aus der Stadt gebracht wurden und dann den Tisch bedeckten. In allen wurde gelesen und geblättert, die vorhandenen Neuigkeiten mitgetheilt und gespottet und gelacht, so lange Lust, Stoff und Zeit dazu vorhanden.
Gewöhnlich zeigte sich Rudolf am wenigsten geneigt, viel zu lesen und lange auszuhalten, oder den Gesprächen feines Vaters dauernde Theilnahme zu schenken, obwohl sie zuweilen interessant genug waren. Die beiden Herren kannten nicht allein die Verhältnisse der Tagesgeschichte sehr genau, sie kannten auch die verschiedenen Beweggründe und die vornehmsten Leiter und Führer der Cabinetsspolitik. Als Diplomaten standen sie ohne Zweifel auf sehr verschiedenen Standpunkten, allein das hinderte sie nicht, mit der größten Höflichkeit über Personen und Zustände ihre Meinungen auszutauschen.
Der Baron war der entschiedenste Gegner sogenannter Freisinnigkeit und spöttelte über Alles, was danach schmeckte. Der alte Herr zeigte sich als constitutioneller Aristokrat, mit noblen Grundsätzen, wie sie ein geborener Pair hat. Wenn Rudolf sich davon machte, und Fräulein Babette ihr Hauswesen bestellte, dauerten die pikanten Mittheilungen zwischen den beiden Herren noch einige Zeit, ehe sie mit einer scherzhaften Wendung abgebrochen wurden. Der Baron ging dann in die Bibliothek, oder er betrachtete Gemälde, die ihm gefielen, oder er schrieb Briefe, machte Toilette und endlich eine Promenade, bis die Zeit zum Diner da war.
Drei Tage vergingen also in ziemlicher Gleichmäßigkeit, denn Besuch aus der Stadt fand sich nicht ein; es kam Niemand als der Major Murhard, welcher regelmäßig jeden Abend erschien, wenn er aus seinem Geschäfte kam, das eine halbe Stunde entfernt am Seeufer lag, und solange blieb, bis es dunkel wurde. Seine Gesellschaft wurde dem feinfühlenden Baron fortgesetzt lästig und schon um dessenwillen hätte er diesen Ort je eher je lieber verlassen mögen; allein da er bestimmt wußte, daß dies nicht möglich sei, ertrug er mit Beherrschung des vollendeten Weltmannes, was sich nicht ändern ließ. Lächelnd beobachtete er in diesen drei Tagen das Benehmen der Gräfin Lydia, und so viel er daran zu tadeln hatte, hütete er sich vor Spötterei oder jedem Anlaß, der sie zu Streit und Vertheidigung herausfordern konnte.
Wenn der junge Graf sich vom Frühstückstisch davon machte, weil er, wie er sagte, allerlei Geschäfte abzuthun hatte, begleitete ihn Lydia, und sobald er zurückkehrte, war sie bei ihm. Sobald sie seine Stimme im Garten hörte, oder der ungeschlachte Hund ihn durch Gebell ankündigte, war sie am Fenster und empfing ihn mit Neckereien und Schmeichelein.
Gräfin Lydia war keine Putz- und Modeheldin, allein sie gehörte doch zu den eleganten Frauen, deren Anzug von feinstem Geschmack zeugt; jetzt jedoch schienen ihr alle Gewänder nicht einfach genug zu sein. Sie kam täglich in demselben ältesten und unscheinbarsten Reisekleide zum Vorschein, das sie besaß, ließ zum Schrecken ihrer Kammerfrau, ihr Haar in den schlichtesten glatten Scheitel kämmen und verbannte allen Schmuck.
Warum sie dies that, war dem Legationsrath gewiß kein Geheimniß, daher machte er keine Bemerkung darüber; es schien ihm nichts aufzufallen, aber er bemerkte, daß Graf Rudolf diese äußerste Bescheidenheit seiner Cousine wohlgefällig aufnahm und sich ihr jedenfalls offener und zwangloser näherte, als wenn sie in prächtigen Roben und mit Blumen und Steinen verziert ihm ihre Freundschaft angeboten hätte.
Das Einzige, was der Legationsrath that, war, daß er sich mit verdoppelter Sorgfalt mit seinem Anzuge beschäftigte und nichts verabsäumte, als befände er sich in der auserwähltesten Gesellschaft. Er wechselte nach den Tageszeiten seine Kleider; seine Wäsche war von ausnehmender Feinheit und Frische, seine Brillantringe durften niemals fehlen, eben so wenig die zartesten Handschuhe, sobald er das Haus verließ.
Herr von Springfeld besaß für die feine Toilette sehr bedeutende Vorzüge. Er war groß und stattlich gebaut, jede Bewegung hatte die schicklichste Gemessenheit, und sein Gesicht mit klugen, scharfen Augen und vollen Wangen drückte eben so viel Wohlwollen wie seine Beobachtungsgabe und alle Eigenschaften des vollendeten Weltmannes aus.
Jung war Herr von Springfeld allerdings nicht mehr, denn er zählte vierzig Jahre, allein er sah jünger aus, als er war. Nirgends ließ sich ein Fältchen entdecken, nirgends etwas, das einem grauenden Haare glich. Das Rasirmesser hielt seine Haut so frei von jedem Keim eines Bartes, daß das schärfste Auge nicht entdecken kannte, ob überhaupt die Möglichkeit dazu vorhanden sei; und wie dies glatte, behagliche Gesicht, so war Alles glatt und behaglich an dem Baron, der seine lächelnde Ruhe niemals verlor, mochte geschehen, was da wollte.
Es geschah nun zwar in diesen Tagen nichts, als daß die Gräfin an den Nachmittagen öfter mit ihrem Verwandten weite und ermüdende Spaziergänge in die Berge und Büsche machte, wobei Sumpfstellen, spitze Steine, Löcher und wilde Ranken in Fülle vorkamen, bis eine Höhe oder eine Mühle oder ein Baum erreicht war. Der Baron konnte es nicht einmal dahin bringen, daß Fräulein Babette mitging, da sie dem alten Herrn Gesellschaft leistete; am dritten Tage aber blieb er selbst zu Haus, denn Lydia wollte durchaus eine Wasserfahrt machen, und da sie wußte, welchen Abscheu er vor dieser Art Belustigung in einem kleinen wackeligen Kahne hegte, verstand er ihre Absicht sehr gut. Sie wollte mit dem Cousin allein fahren, er sollte dem ungeschlachten Gesellschaftsfräulein geopfert werden, und er verstand sich dazu mit dem verbindlichsten Lächeln ohne den geringsten Neid.
Es war ein heißer Tag, die Sonne hatte ein röthliches Licht, und unten wogte der See ziemlich stark in goldig flackernden Wellen; aber auch der Wind war heiß, und wenn er lebhafter herauswehte, wischte sich der Legationsrath die Stirn, denn es war, als ob ein feuriger Athem ihn berührte.
Er blieb mehrere Stunden lang in seinem Zimmer, ehe er sich entschließen konnte, dies Asyl zu verlassen; als er es jedoch that, fand er, daß die Atmosphäre noch viel drückender geworden sei. Der alte Herr war nicht an seinem Platze, Fräulein Babette saß unter den Linden allein bei ihrer Näharbeit und verkündigte ihm, daß ihr Gebieter bei der Schwüle sich zurückgezogen habe, da diese ihm nicht recht bekomme.
»Ich bin sehr froh,« erwiderte der Legationsrath, »bei Ihnen hier zu sitzen, bestes Fräulein Babette.«
Babette's mächtiger Kopf neigte sich ihm dankbar entgegen.
»Ich fürchte nur, Sie werden es nicht lange bei mir aushalten,« sagte sie.
»Welche Gründe können Sie haben, dies zu glauben?«
»Weil's Ihnen immer heißer an meiner Seite werden wird.«
»Muß man nicht an der Seite junger Damen in Hitze gerathen?« erwiderte der Baron artig. »Ich versichere Sie, bestes Fräulein Babette, ich bin entzückt von dem Gedanken, Ihr warmer Verehrer sein zu dürfen, weit entzückter, als säße ich in dem kleinen Boote dort unten auf dem See.«
»Das Boot wird bald zurückkehren,« versetzte sie, eifrig weiter nähend.
»Meinen Sie? Graf Rudolf schien anzunehmen, es könne spät werden.«
»Es wird nicht spät werden, denn er wird umkehren, weil der Wind zum Föhnwind geworden ist,« sagte sie.
»Ist das ein gefährlicher Wind?«
»Er kann's zu Zeiten werden,« antwortete Fräulein Babette aufblickend und auf den See hinabschauend.
»Was sehen Sie da?« fragte er. »Sehen Sie das Boot?«
»Nein, aber es wird schon kommen.«
Sie fing wieder an zu nähen, und fuhr dabei fort:
»Der See ist noch klar, und Rudolf kennt ihn genau. Er wird nicht warten, bis die Dünste alles einhüllen.«
»Dann also wird es gefährlich?«
»Der Föhn kommt vom Süden her,« sagte sie, »und zuweilen fährt er wie rasend durch die Thäler und Seen, wirft die Wasser hoch in die Luft und an die Felsblöcke und Steine. Aber ehe es so weit kommt, kann man es merken und sich davor hüten.«
»Und Graf Rudolf ist jedenfalls ein vorsichtiger, junger Mann,« fiel der Legationsrath jetzt lächelnd ein.
Sie schwieg eine ganze Weile und sagte dann:
»Wenn er's ist, so kann er es jetzt zeigen.«
»Sie müssen es am besten wissen, welche Gefahren ihm drohen können,« antwortete er eben so doppelsinnig. »Gräfin Lydia freilich« – er hielt einen Augenblick inne – »wird allerdings nicht geneigt sein, ihm Gefahren zu ersparen, denn sie liebt romantische Abenteuer.«
»So mögen sie es mit einander bestehen, und mag das Ende gut sein,« versetzte sie in ihrer derben Weise.
»Warum sollte das Ende nicht gut sein, liebes Fräulein Babette,« lächelte der Baron äußerst zutraulich. »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mit wahrem Vergnügen sehe, wie innig die Jugendfreundschaft zwischen den beiden jungen Verwandten aufgewacht ist. Ich bin erstaunt darüber, da ich weiß, wie sehr die Gräfin bis jetzt sich vor allen Huldigungen verschlossen hat, und wie wenig sie geneigt war, ihre Wittwentrauer aufzugeben. Daher kann man nicht ableugnen, daß Graf Rudolf einen Zauber auf sie ausübt, der äußerst interessant ist.«
Der Legationsrath konnte bemerken, welchen Eindruck seine Mittheilungen machten. Sie waren zu plötzlich gekommen, um nicht zu überraschen, zu eigenthümlicher Art und zu offen, um mißverstanden zu werden. Es kam ihm vor, als würde Fräulein Babettes dickes Gesicht länger; ihre dunklen Augen sahen ihn eine Minute lang forschend an, während er so heiter wie immer lächelte, seine schmale Hand mit den sorgsam gepflegten Nägeln an sein Kinn legte und ihr vertraulich zunickte.
Nach diesem Anschauen fing Fräulein Babette wieder eifrig an zu arbeiten und sagte mit ihrer tiefen Stimme:
»Ich glaube es nicht!«
»Was glauben Sie nicht?«
»Aber ich möchte wünschen, es könnte geschehen,« fuhr sie fort, und nachdem sie dies gesagt hatte, richtete sie ihren Kopf wieder auf, und ihre Augen funkelten darin wie von Zorn und Schmerz.
»Sie scheinen meinen Vermuthungen nicht günstig zu sein,« sagte er sanft.
»Ich komme dabei nicht in Betracht!« erwiderte Babette. »Ich möcht' es wünschen, gnädiger Herr, und da Sie ein Wort gesprochen haben, von dem wir beide nicht wissen, was wahr ist oder nicht wahr, so müssen wir warten, bis es sich zeigt, was geschehen wird. Sollt's so sein, wär's sicherlich zu des alten Herrn Freude und Glück.«
»Ich glaube gewiß, daß der Graf selbst schon daran gedacht hat, was aus diesem Besuche entstehen könnte,« lachte er.
»Aufrichtig kann ich sagen ja!« antwortete sie. »Er hat heut' noch mit mir davon gesprochen. Nicht daß er sich einbildete, er stände vor einer Gewißheit, sondern nur von dem, was ihm lieb wäre, redete er.«
»Das läßt sich wohl deuten,« sagte Herr von Springfeld, wir müssen es ja Alle gern sehen. Es wäre eine Fügung des Himmels und ein beneidenswerthes Glück. Warum aber wollten Sie es nicht glauben?«
»Warum?« fragte Fräulein Babette, indem sich ihre Stirn verfinsterte und ihre Stimme sich erhob:
»Weil er es nicht werth ist!«
»Wer? Graf Rudolf? Meinen Sie, weil er in ländlicher Stille mitten in dieser natürlichen Einfachheit aufgewachsen ist? Darüber beruhigen Sie sich, liebes Fräulein Babette. Eben diese unschuldige Natürlichkeit ist so anziehend und –«
Der Legationsrath hielt inne, denn Babette drehte sich hastig um, und wie er ihrer Bewegung folgte, sah er nicht weit davon, wo ein Pfad, der aus dem Gebüsch kam, in die Rotunde mündete, eine Bäuerin stehen, vom Hause her aber kam zugleich ein Mann geschritten, der seinen Rock über den Arm und seinen Hut in der Hand trug. In der Bäuerin erkannte der Baron das stattliche Mädchen, das er in dem Wirthschaftszimmer der Haushälterin gefunden, in dem Mann den Major Murhard.
»Was hast Du hier zu suchen?« fuhr Babette das Mädchen an.
»Ich habe Euch zu suchen!« erwiderte Vreneli unerschrocken.
»Was willst Du?« fragte sie in demselben rauhen Tone weiter.
»Ich will fragen, ob die Jungfer etwas braucht, was ich bringen könnte.«
»Geh' in die Küche, hier ist Dein Ort nicht. Frag' an und laß Dich fürder nicht da blicken, wohin Du nicht gehörst!« war die harte Antwort, mit welcher Fräulein Babette die Hand befehlend ausstreckte.
»Und ich rath Dir, Du bernerisch Maidschi!« rief der Major, der eben herankam, »geh nicht in die Küche, sondern lauf heim, was Du laufen kannst, denn ehe eine Viertelstunde um ist, wird's einen Tanz geben, der Dir nicht gefallen möchte.«
»Wer soll ihn denn tanzen?»fragte der Legationsrath.
»Oh!« schrie Major Murhard, »da ist ja der Herr von Springfeld, aber wo sind die anderen Herrschaften? Das ist so recht gemacht für die romantischen Leut.«
»Schaun's dort hinaus über den See hin, wie sieht es da aus?« fuhr er fort. »Ist es nicht eine so brillante Beleuchtung, wie sie kein Fürst befehlen kann?«
Und das war allerdings nicht abzuleugnen. Der ganze Himmel strahlte wie von einem ungeheuren Brande. Jenseits des Sees hingen an den Bergen Wolken oder Nebel, die wie Feuer flammten und sich über den See niederwälzten, um ihn in Gold und Blut zu verwandeln.
Durch diese leuchtenden Nebel ließ sich kaum mehr das Seeufer erkennen; alle Ferne und Nähe schwamm in dem seltsamen Lichte, von Schleiern eingesponnen, die mit jedem Augenblick dunkler und verrätherischer wurden. Es schien in diesem zuckenden, durchglühten Dunstkreise eine Kraft zu arbeiten, die tausend Gelenke regte, und eine bange Ahnung überkam den Legationsrath, als er in dies Gewirr von Licht und Nacht blickte.
»Was wird das werden?« fragte er erschrocken.
»Das allerschönste Feuerwerk wird's werden. Schreibt's gleich in Euer Tagebuch, Herr,« versetzte der Major. »Ein heidenmäßig Wetter wird's werden, ein Föhnsturm, bei dem die Leut' in ihren Hütten auf ihren Knieen liegen und um Hülfe und Rettung schrein.«
»Was wird aus der Gräfin?« rief der Baron entsetzt.
»Wo ist sie denn?«
»Dort!« –
Herr von Springfeld wies in das Lichtmeer.
»Auf dem See? Mit wem?« schrie der Major. »Mit dem Rudolf? Sie muß ihm den Kopf schon ganz verdreht haben, denn sonst hätte er's nimmer gethan. Von früh Morgens an war es zu merken, daß ein Föhnsturm und Wetter im Anzuge sei.«
Babette hatte bisher nichts gesagt, sie war bis an den Abhang vorgegangen und schaute auf den See hinaus, ob sie etwas entdecken könnte, aber aus den Nebeln glänzte nur an einzelnen Stellen die Flut hinauf; Alles war ungewiß und verworren.
»Er wird nicht hinausgefahren sein,« sagte sie, »sondern wartet in Horgen oder an einem anderen Platze.«
»Da ist er, da!« rief eine helle Stimme, und Fräulein Babette sah sich ingrimmig um, denn kein Anderer konnte das sein als Vreneli. Schelten aber konnte sie jetzt nicht, dazu blieb keine Zeit.
»Wo?« fragte der Major.
Wie ein Felsenspalt lief eine lichte Gasse, die von beiden Seiten durch dunkle Wände eingefaßt war, weit über den See fort, und am äußersten Ende derselben schwebte ein schwarzer Punkt, der vielleicht ein kleines Fahrzeug sein konnte.
»Wer weiß, was da schwimmt, es ist unmöglich, das genau zu sagen,« bemerkte jetzt der Legationsrath, der auch mit seinem Glase nichts sehen konnte.
»Er ist es! Ich seh's genau!« schrie Vreneli noch einmal.
»Dann, helf ihm der gnädige Gott im Himmel!« sagte der Major in sichtbarer Angst und Erregung.
»Haben wir keine Leute, die ihm Hülfe bringen, ihm entgegen fahren können?« fragte der Legationsrath.«
»Damit ist es nichts. Das wagt niemand und kann auch nichts fruchten.«
»Aber warum kehrt er nicht um? Wir müssen ihm Zeichen geben.«
»Was Zeichen geben und umkehren!« schrie der Major ärgerlich, »das würde ihn gerade ins Unglück hineinführen. Jetzt ist er mitten auf dem See, und seine Sache versteht er! Kommt das Wetter hinter ihn, treibt's ihn von selbst herüber, wenn nicht der Kahn umschlägt oder an einen von den Steinen geschleudert wird, die überall im Wasser liegen. Es ist bei Gott ein Boot und ich glaub's beinahe, daß das Wettermaidschi mit seinen Hexenaugen richtig gesehen hat. Er kommt, so schnell er kann, und fährt auf die Rinne los, wo der Bach sich herumwindet. Kann er da hinein kommen, glücklich bei dem Gestein vorüber, so ist er geborgen. Aber es wird schwer halten, denn wo soll er den Weg finden, wenn Alles um ihn Nebel, Schaum und Gischt ist? Und da geht's schon los! Es kommt mit Macht. Nur noch eine Hand voll Minuten, so kann's ihm helfen.«
»Wir müssen hinab!« rief der Legationsrath, und gegen das Haus hin schrie er nach den Bedienten, die Mäntel, Decken und Regenschirme bringen sollten.
In dem Augenblick ging ein hohles Rauschen durch die Bäume, bei dem das feurige Licht zur fahlen Schwärze zusammenschrumpfte; dann kehrte die unheimliche Stille nochmals zurück, aber nur auf eine Minute, denn gleich darauf begann ein Tosen in der Luft, ein Klatschen und Pfeifen, und durch das heiße Windfächeln fuhr ein wüthender Windstoß, der Blätter und Aeste aufwirbelte und die Steine vom Giebel des Hauses brach und niederwarf.
»Herein, herein! Und laßt die ersten Stöße vorbei, laßt die ersten Regengüsse fallen!« schrie der Major.
»Aber wenn das Boot inzwischen verunglückt!« sagte der Baron.«
»Dann können wir Beide es doch nicht halten, zu Boden gerissen werden wir und naß bis auf den letzten Knochen, ehe wir aus dem Garten kommen.«
Der Major faßte Fräulein Babette unter den einen Arm, den Legationsrath unter den anderen und steuerte mit beiden dem Hause zu. Sein Rath war auf jeden Fall gut, denn kaum war die Thür erreicht, so brach der Föhnsturm mit größter Gewalt los.
In wenigen Augenblicken war die letzte Spur des rothen Lichtes erloschen. Der Himmel, bedeckt mit in einander geballten bleifarbenen Wolken, die mit rasender Geschwindigkeit fortgerissen wurden, bot einen schreckenden Anblick dar, Windstöße, welche sich blitzschnell folgten und an Gewalt überboten, umheulten das Haus, brachen die Kronen der Fruchtbäume und zerschmetterten sie. Finsterniß und Schrecken vereinigte sich, um alle Herzen mit Furcht zu füllen, und plötzlich entstand ein entsetzliches Krachen, der Boden bebte, Staub und zermalmte Pflanzen flogen umher, denn zwei der stärksten und größten unter diesen alten Linden lagen mit ungeheuren zerbrochenen Gliedern auf dem Boden, Tod und Verderben verbreitend.
Welche Ankündigung des Schicksals! Babette faltete ihre Hände. Der alte Graf kam aus seinem Schlafzimmer auf seinen Stock gestützt, und rief mit zaghafter Stimme nach seinem Sohne und nach Lydia.
Niemand antwortete ihm. Aber Babette warf ein Tuch über ihren Kopf, und der Major drückte seinen spitzen grauen Filz so tief ins Gesicht, daß nur noch die Augen hervorsahen. Gleich darauf sah man Beide gegen den Sturm kämpfen, der sie nach den ersten Schritten zurückwehte. Der Baron unterstützte den greisen Diplomaten, der gebeugt die eingestürzten Bäume betrachtete und sich vom Fenster abwandte.
»Es ist im Grunde nichts als Holz,« sagte er, »und was ist nicht vergänglich!«
»Die welken Blätter,« murmelte der Greis bitter lächelnd, »und die grünen, frischen.«
Um Eine hatte sich Niemand gekümmert, als Alle vor dem Unwetter in das Haus flohen. Vreneli war ihnen nicht dahin gefolgt. Statt sich auch zu schützen, lief sie durch Garten und Weinberg, wo ein Pfad steil am Abhange niederlief. Diesen verfolgte sie zum See hinab im athemlosester Eile. Staub und Steingesplitter, Halme und Ranken flogen in dichten Wolken auf. Der Wind zerwühlte ihr Haar, sie glitt und fiel, sprang auf und lief weiter.
Jetzt war sie am Wege, am Bache, dem der See sein Wasser entgegenwarf und seine Schaumflocken warnend in ihr heißes Gesicht spritzte. Wie ein sturmgepeitschtes Meer sah er aus. Ein falbes Schimmern zuckte durch diese Nacht, und nichts Anderes war zu schauen, nichts zu hören, als das Klatschen und Toben, das die Wellenköpfe abfegte und in Atome versplittert durch die Lüfte riß.
Es lief eine schmale Landzunge in den See hinaus und dehnte sich wie ein Bogenstück vor der Mündung des Baches aus. Hier standen ein paar alte Fischergerüste, aber der Sturm hatte sie niedergerissen. Vreneli ergriff eine der Stangen und hielt sich daran fest, dann drang sie weiter vor und plötzlich stieß sie einen Schrei aus, denn vor ihr auf der Spitze einer mächtigen Welle schwebte der Kahn und sank in die Tiefe. Sie sah den Grafen, wie er das kleine zerbrechliche Fahrzeug zu leiten suchte, sie sah auch vor ihm die schöne Dame, welche auf ihren Knieen lag und sich an ihm festhielt.
Die Spitze der Landzunge bildete ein Felsstück, das sich oben abplattete und ein halbes Dutzend Fuß hoch aus dem Wasser hervorsah. Dahin lief das unerschrockene Mädchen, ohne zu fragen, was ihm selbst geschehen würde. Ueberall lagen mächtige Steine, klippenartig zerstreut, überall ging es schroff und tief hinab in den tiefen See. Wenn es nicht gelang, das Boot hinter die Landzunge zu bringen, mußte es zerschmettern, und nur wenn Rudolf zeitig gewarnt werden konnte, schien es möglich, daß er die günstige Stelle fand und erreichte.
Mit Hilfe ihrer Stange erklomm Vreneli die abschüssige Platte, und ihr Vorstecketuch in der Hand hielt sie dies hoch empor und wehrte sich gegen den Sturm. Mehrere Minuten stand sie so, alle Kräfte aufbietend, um nicht niedergerissen zu werden. Der Wind peitschte ihre Kleider und ihr lang flatterndes Haar. Der gelblich düstere Widerschein fiel in ihr Gesicht, und ihre todesmuthigen Augen richteten sich auf das gebrechliche Boot, das von den Wellen wild umhergeschleudert wurde.
Und jetzt hatte der bedrängte Schiffer sie gesehen, er wandte die Spitze und arbeitete mit gewaltiger Anstrengung. Hinter ihm aber drehte sich eine schwarze Säule, die vom See in die Wolken zu steigen schien und einen weiten trichterförmigen Kreis bildete, in dem die Wasser aufgezogen wurden, wie zu einem wandelnden Berg. Es war einer jener Wirbelwinde, der den See zerwühlte, kämpfende Luftströme, die mit unwiderstehlicher Wuth wie ungeheure Schlangen ihre Leiber zu einem Kneuel zusammenwinden, und alles zerschmettern, worüber sie hinrollen.
Als sei die Natur vor ihren eigenen Kindern bange, trat ein plötzliches Schweigen ein. Der Sturm hörte auf, die Wasser außerhalb des äußeren Kreises flossen stiller zusammen und suchten sich vor den bösen Mächten zu verbergen. Vreneli schlug ihre harten Hände verzweifelnd zum Gebet zusammen und richtete ihre Augen mit einem irren hülfesuchenden Blick in die Wolken, dann aber eben so schnell stählte sich ihr Herz wieder.
»Arbeite, Herr, arbeite!« schrie sie, und sie hörte wie ein Schrei ihr Antwort gab. Sie sah, wie die Dame dort in Todesangst ihre Arme aufhob; ihr Leben hätte sie freudig hinwerfen mögen, konnte sie an ihrer Stelle sein.
»Wenn ich den Schalten fassen könnt',« schrie sie auf, »so wäre Alles gut!«
Die Wind- und Wassersäule nahte sich mit schrecklicher Eile, und nun begann ein Brausen und Heulen in der Luft, wie Vreneli es nie gehört. Jetzt war aber das Boot nahe dem Stein, doch hatte es der Sturm zur Seite geworfen, und Rudolf konnte es nicht länger halten. Im nächsten Augenblick mußte es umschlagen oder an den Steinen zerschmettert werden. Aber Vreneli sprang an dem Gestein hinab. Bis an den Leib im Wasser, faßte sie mit dem Haken der langen Fischerstange, den Rand des Bootes und zog es an sich.
Dann stieß sie es an die Stelle, wo die Landung möglich war und ohne ein Wort zu sprechen, warf sie die Stange fort und griff nach der regungslosen Dame, die in dem halb mit Wasser gefüllten Fahrzeug lag. Sie nahm Lydia in ihre Arme und trug sie auf die Landzunge, und mit einem Sprunge folgte ihr der Graf, und jetzt zerriß ein blendender Blitz den Himmel und fuhr mitten durch die düstere Säule in den See. Ein furchtbarer, betäubender Donnerschlag folgte ihm nach. Die Wasserhose war zerschmettert, aber der Orkan, den sie gefangen hielt, war frei. Das kleine Boot stürzte mit, schlug gegen die Steine und versank, und der Himmel öffnete seine Schleusen und ließ einen sündflutlichen Regen niederfallen, der von furchtbaren Blitzen und Donnerschlägen begleitet wurde, die einem indischen Tornado gehören konnten.
Nirgends war hier ein Schutz, die drei Menschen auf der Landzunge waren der ganzen Wuth der Elemente Preis gegeben, aber ihr Leben war gerettet. Vreneli hielt Lydia noch immer in ihren Armen und suchte sie zu schützen. Der Regen fiel so dicht, daß nicht fünfzig Schritte weit zu sehen war.
»Das ist ein Wetter, Vreneli!« sagte Rudolf. »Was fangen wir an?«
»Kommt,« sagte sie, »rasch nach Haus.«
»Aber sie ist ohnmächtig!«
»Sorgt nicht, ich trage sie.«
»Du gutes Vreneli!«
Stimmen kamen von der Straße her. In dem Wassernebel wurden mehrere verhüllte Gestalten sichtbar.
»Es ist der Major und Babette,« sagte Vreneli. »Laßt uns eilen.«
Er hielt sie fest.
»Hört sollst nicht! Bleib' hier, ich trage sie selbst.«
»Ihr könnt es nicht, Herr. Die Wasser stürzen von den Bergen nieder, der Boden weicht unter Euren Füßen.«
»Laß ihn weichen, Vreneli. Ich will dennoch fest stehen. Habe Du Dank zu anderem Dank; rette Dich, so schnell Du kannst. Gieb her geschwind!«
Sie legte die leblose Gestalt in seine Arme.
Er hob sie auf seine Schulter und eilte mit ihr fort.
Der Bach kam schon wild von der Höhe nieder mit trüben tobenden Wellen, welche Steine, Trümmer und Holzstücke fortrollten. Von der Brücke her hörte Vreneli das Geschrei des Majors, und ihre scharfen Augen sahen, wie nach einer augenblicklichen Berathung Herr Murhard seinen Regenkragen über die Gräfin warf, und wie er mit dem Bäbli dann dem Träger folgte, der trotz seiner Last schnell genug voraneilte.
Um sie kümmerte sich Niemand. Ihre Schuhe hatte sie verloren, ihre Strümpfe waren im See geblieben, als sie Lydia heraustrug. Aus ihren schweren Röcken troff das Wasser und floß an ihren langen Haaren nieder wie von einem seidenen Schirm. So stand sie eine Zeit lang bewegungslos in dem stürzenden Regen, aber ihr Gesicht war warm, ihre Augen blickten freudig den Gestalten nach, bis sie verschwanden.
»Habe Dank, Vreneli!« sagte sie lächelnd. –
Niemand hörte es, öde und nächtig war es umher. Der Sturm tobte weiter.
Am andern Morgen war der Friede in der Natur hergestellt, aber Lydia lag im Bett, sie hatte eine Erkältung davongetragen, welche der Arzt, der aus der Stadt herbeigerufen wurde, zwar für unbedeutend erklärte, aber doch Ruhe empfahl.
Der alte Herr ließ sich den ganzen Tag über nicht sehen, denn dieser Tag war unfreundlich, rauh und erst gegen Abend wärmer und klarer. Die Hausgenossen meinten, er wolle die Verwüstungen gar nicht anschauen und erst kommen, wenn Alles fortgeschafft sei; daher wurde denn mit verdoppeltem Fleiße gearbeitet, die Lindenstämme zersägt und fortgeschafft, Aeste und Zweige aufgelesen, die Beete geordnet und die Tausende zerknickten schwachen Leben, welche bei dem Fall der Mächtigen zu Grunde gegangen, in Eile völlig aus der Welt geschafft.
Fräulein Babette führte das Regiment und zeigte sich in aller ihrer Herrlichkeit und Feldherrntugenden. Sie war immerfort auf den Beinen, bald da, bald dort im ganzen Hause umher, und wer den Klang ihrer Sturme hörte, strengte sich noch mehr an als bisher, denn er wußte, daß Ihre Augen Alles sahen. Bei alledem war Fräulein Babette außerordentlich gnädig, als habe der Gewittersturm ihr Sanftmuth gebracht. Sie scherzte und lachte über die vergangenen Schrecken und tröstete den Gärtner damit, daß Alles wieder wachsen und bald noch schöner dastehen würde, als es gewesen.
Als der Legationsrath kam, ging sie ihm eben so freundlich entgegen und erkundigte sich nach seinem Befinden.
»Ich sollte weit eher fragen, wie Ihnen diese schreckliche Promenade bekommen ist?« erwiderte der Baron.
»Wasser macht naß, und weiter ist es nichts,« lachte sie.
»Wie geht es dem Herrn Grafen?«
»Meinen Sie den jungen Herrn, den habe ich heute noch wenig gesehen. Er ist in die Wirthschaft hinaus, und in den Gemeindewald, an dem das Gut Antheil hat, um zu schauen, was das Wetter Unheil angerichtet hat.«
»Eigentlich meinte ich den alten ehrwürdigen Herrn,« sagte der Baron. »Ich hoffe, die Angst hat ihm nichts geschadet.«
»War die Angst groß, war doch die Freude noch größer, als der Sohn hereintrat und die Gräfin in seinen Armen lag.«
»Diese Wasserfahrt muß entsetzlich gewesen sein!«
»Freude war gewiß nicht dabei,« sagte Babette, und ein Glück war's, daß –« damit brach sie ab und hörte zu stricken auf, denn während sie auf und ab gingen, strickte sie unausgesetzt. »Bei allem Unglück ist Glück,« fuhr sie fort, »doch ich will's gestehen, als die beiden Bäume plötzlich brachen und niederstürzten, hielt ich's für ein Zeichen, das der Himmel schickte, und eigentlich halt' ich's auch noch dafür, nur will's anders verstanden sein.«
»Das heißt, für ein Zeichen glücklicher Verkündigungen,« erwiderte der Legationsrath.
»Wie ich sie stürzen sah,« versetzte Babette, »schrie es in mir auf: Da liegen zwei Leichen vor dem Haus, und den alten Herrn überwältigte es auch. Er schrie nach seinem Sohne und äußerte dabei, daß er keinen mehr hätte. Aber der Mensch soll nicht verzagen und Zeichen nach seiner Verzagtheit deuten.«
»Heut giebt es somit andere Deutung,« meinte der Baron.
»Die giebt es. Das alte Leben ist von ihnen abgefallen, ein neues wird beginnen.
»Meint das auch der würdige Herr Graf?«
Fräulein Babette stand still und lächelte, dann sagte sie:
»Ich will's Ihnen nicht verschweigen, ich habe heute wieder mit dem Herrn eine Unterredung gehabt, denn ich fand ihn auf Gedanken, die mir dazu entgegenkamen.«
»Sie sagten ihm, was ich gestern Ihnen vertraute?«
»Ich sagte es ihm, weil er mit seinen Hoffnungen seine Sorgen mischte und nicht glaubt, daß Sie, Herr von Springfeld, für diese Sache sein könnten.«
»Damit kann er aufs Bestimmteste rechnen,« erwiderte der Legationsrath. »Sagen Sie ihm das, meine liebe Babette. Ich will allerdings kein Unterhändler sein, aber ich werde, was ich Einfluß besitze, anwenden, um eine glückliche Lösung herbeizuführen. Es kann nicht anders sein, als daß dies gefährliche Abenteuer die beiden jungen Herzen noch näher zusammengeführt; dann wird es von dem Grafen Rudolf abhängen, sein Glück zu sichern, sobald er dessen gewiß zu sein glaubt.«
»Er wird den Rath seines Vaters und seiner besten Freunde befolgen,« sagte Babette in einem Tone, als sage sie es sich selbst.
»Man verlangt nur Rath, wenn man an sich selbst zweifelt,« erwiderte der Legationsrath »In diesem Falle aber – ja, wenn er vielleicht, wie die Dichter es ausdrücken, ein anderes Bild schon im Herzen trüge.«
Seine Augen beobachteten sie scharf, obwohl er die Worte scherzend hinwarf, und er bemerkte eine Unruhe, die sie gewaltsam verbergen wollte.
»Das ist ja unmöglich!« sagte sie, »ganz unmöglich! Aber da kommt der Major, den dürfen wir nichts hören lassen. Morgen wird alles gut sein.«
Der Major erhob seine Stimme und hinderte die Fortsetzung dieser Verständnisse, welche die Ueberzeugungen des Legationsrathes in nichts erschütterten. Er rechnete still alle alle seine Beobachtungen zusammen, während der tapfere Major Vielerlei von den Schäden erzählte, den das Heidenwetter in der ganzen Umgegend angerichtet. Auch in seinen Holzvorräthen hatte es arg gewirthschaftet, und er fluchte in barbarischer Weise darüber, daß er ein paar tausend Franken verloren habe. Dabei aber sah Herr Murhard aus, als säßen nicht zehn Franken in seiner Tasche. Sein grauer Hut war von dem Regen schrecklich zugerichtet, und seine Bekleidung, die allerdings niemals köstlich gewesen, war nicht viel besser fortgekommen; nur seine Lust zu groben Ausfällen hatte keinen Schaden gelitten.
Als er hörte, daß Lydia krank sei, fing er roher Weise an zu lachen.
»Wenn's Rosenöl vorn Himmel gegossen hätte, und statt des Sturmes ein Regiment Musik gemacht, spränge die gnädige Frau heut sicherlich wie ein Eichkätzchen; aber die Klügsten, Bäbli, sind wir nicht. Mein Hut ist hin, mein Rock zusammengelaufen wie eine Speckschwarte am Feuer, nahe an die vierzig gute Schweizerfranks, ohne die Stiefeln. Die Klügsten waren die, die zu Haus blieben und das gesalbte Toupé bewahrten. Heidnisch dumm sind wir gewesen, lassen uns hinaussprengen und kommen dann hineingelaufen, hinter einem, der uns unsere Kleider abfordert, um seine Sünden damit zu bedecken.«
Babette rief lachend:
»Sie thaten es doch gern; gaben Ihren Kragen freiwillig her und hätten wohl gar die Sünde auf Ihre eigene Schulter genommen.«
»Bei Gott, nein!« schrie er, auf seine Brust schlagend, »dergleichen Sünde paßt nicht für meine Schultern. und ich schlage mein Kreuz davor. Wo ist der romantische junge Herr? Liegt er auch im Fieber?«
»Ein wenig Fieber, denke ich, wird er wohl im Blute haben.«
»Ich will ihm den Kopf zurechtsetzen! Will ihm zeigen, wo es leer bei ihm ist!«
Babette wurde abgerufen. Der Major aber gab sich damit nicht zufrieden:
»Es ist ein Unglück,« fuhr er fort, »daß seine Mutter von ihm genommen wurde, die hätte ihm die richtige Vernunft gegeben.«
»Die praktische Richtung, meinen Sie,« lächelte der Baron.
»Alle die Narretheiung hätt' sie aus seinem Kopf gebracht. Anlagen hat er dazu, ein vernünftig Wesen zu sein, so aber ist er aufgewachsen ohne festes Ziel, und der alte Herr hat's gehen lassen, denn er hat's nicht besser gemacht.«
»Giebt's denn kein Mittel, den Schaden herzustellen?« fragte Herr von Springfeld.
»Es giebt gegen alle Dinge Mittel in der Welt,« antwortete der Major. »Eine verständige Frau mit müßte er haben, die ihn in Zucht und Ordnung hielte.«
»Bei dem lustigen, freien Leben des Grafen Rudolf würde allerdings eine junge Frau, welche ihn an's Haus zu fesselte versteht, sehr Viel thun können.«
Der Major blinzelte ihn von der Seite an und sagte darauf:
»Nur keine, die ihn noch verwirrter macht zu allerlei Tollheit!«
Eine kleine Pause trat ein, dann begann der Baron vertraulich:
»Es wundert mich, daß Graf Rudolf nicht unter den Familien in Zürich schon eine Wahl getroffen hat.«
»Glauben Sie, daß das so leicht ist?« rief der Major. »Ein Fremder bleibt in der Schweiz ein Fremder, und wenn's ein Graf ist, bleibt er's erst recht.«
»Aber der Graf ist doch Schweizer Bürger.«
»Es hilft nichts, wenn er auch zur Gemeinde gehört, Keiner sieht ihn für vollgültig an. Graf Gersau ist daher auch Graf und Fremder geblieben, obgleich er länger als ein Vierteljahrhundert hier wohnt. Bauer ist er nicht geworden, ein Gewerbe oder Geschäft hat er nicht ergriffen, Handel und Fabrik auch nicht; es lebt aber kein gültiger Mann im Lande, welcher nicht seine thätige Stellung einnimmt. Alle unsere alten Geschlechter schämen sich nicht zu arbeiten, und haben es von je an gethan, darum haben sie auch das, was das rechte Ansehen giebt: Geld! mein lieber Herr von Springfeld, Geld und Gut! Was ist aber in Mariahall davon zu finden? Alte Bilder und Bücher und allerlei theurer Plunder; da ist es hineingesteckt worden, statt es nützlich umzukehren.«
»Unter solchen Umständen kann ich mir allerdings erklären,« lächelte der Legationsrath, »daß Graf Rudolf zu keiner nützlichen und trefflichen Hausfrau gelangen konnte.«
»Wie man's nehmen will,« sprach her Major. »Oft liegt das Brot auf dem Tisch, und man sucht's hinter dem Ofen.«
»Sehr wahr, bester Major. Wenn ich aus Ihrer Lehre Schlüsse ziehen darf, so ist das Brot noch immer vorhanden.«
»Es ist vielleicht ein bischen trocken geworden,« rief er in seiner groben Art lachend, »aber noch ist es eine herzerquickende Speise. Oh, wenn die verständige Frau nicht in ihr Grab gerissen wäre, die wußte, was ein solch' Madli werth ist und hatt's zum Besten vor.«
»Aber mein bester Major,« erwiderte Springfeld, sehr erfreut über Alles, was er hörte, »wenn, wie ich annehme, von einem bestimmten Fall die Rede ist, so müssen doch manche Verhältnisse berücksichtigt werden. Die Verschiedenheit des Alters sowohl, wie die Neigungen, endlich wie Sie selbst sagen, die Vermögensverhältnisse.«
»Was das anbelangt,« versetzte Herr Murhard, indem er stolz seinen schäbigen Hut ins Genick rückte, »so kann die, welche ich meine, sich dreist mit allen messen, denn was ich habe und einmal zurücklasse, gehört ihr allein. Wenn sie aber ein halbes Dutzend Jahre älter ist, so paßt nichts besser für ihn, und endlich hören Sie an« – er faßte den Legationsrath am Knopf und stand still – »All die Kunst und Gelehrsamkeit und das lustige, nichtsthuerische Leben hier im Hause wäre längst untergegangen, wenn sie es nicht in Ordnung hielte. Zieht sie ihre Hände davon ab, so stürzt der ganze Bau zusammen, und wenn etwa gewisse Leute hochmüthige Pläne jetzt machen sollten, so wird dafür in alten Tagen noch vielerlei Noth und Klage über sie kommen.«
»Vor allen Dingen wäre aber doch zu fragen, ob diejenigen Personen, auf welche es zumeist ankommt, damit einverstanden sind,« erwiderte der Baron; »ganz besonders natürlich, wie die junge Dame darüber denkt.«
»Nein wird sie wahrlich nicht sagen, denn sie hat auch ihr Herz,« brummte der Major, »und das hängt fest an dem Mann, der es eigentlich nicht verdient. Aber sie hat ihn aufgezogen und für ihn gesorgt, wie die Henne für ihre Brut; dadurch ist natürlich ein innig Verhältniß entstanden, so daß, wer es kennt, nicht zweifeln kann, wie es enden muß«
»Das wünsche ich mit Ihnen,« fiel Herr von Springfeld ein.
»Glaub's Ihnen,« sagte der Major, ihn angreifend, »und hab's darum gesagt. Fahr' Keiner in des andern Holz, sondern behalte Jeder, was er hat.«
Vom Weinberge herunter kam jetzt ein Mann daher, in Jacke und Mütze mit lederner Knieehose und Nägelschuhen. Das graue Haar hing ihm lang unter dem rundköpfigen Bauernhut vor, und ohne Zweifel war es ein Bauer vom Wirbel bis zur Zehe; Einer, dem sein Schaffen und Wirken im Gesicht geschrieben stand. Voller gefurchter, harter Züge war die Arbeit eines langen Lebens darin ausgeprägt, doch war der mächtige Mann nicht darunter gebeugt. Sein gewaltiger Knochenbau trug sich gerade aufrecht, und aus seinen Augen schaute ein ehrlich festes, aber gewiß nicht einfältiges Wesen.
Als er herankam, zog er seinen Hut ab und grüßte die Herren mit Bescheidenheit.
»Was hat Euch das Wetter gebracht, Mathies?« fragte Herr Murhard.
»Schaden genug, Herr« antwortete der Bauer. »Die halbe Ernte ist niedergeschlagen, die Bäume liegen im Walde zu Dutzenden.«
»Schlimm für Euch!«
»Gottes Wille ist es gewesen, Herr, es konnte noch schlimmer kommen.«
»Wie wars mit dem Madli?« fragte der Major. »Kam es glücklich noch vor dem Regen nach Haus.«
»Gott hat's behüt,« erwiderte der Bauer. »Es ist frisch geblieben.«
»Das Vreneli gehört auch zu den Klugen,« lachte der Major, »die nichts thun, was Unglück bringen könnte.«
»Keiner wird thun wollen, was ihm Unglück bringt,« meinte der Bauer, »man weiß nur nicht immer, was man thut.«
»So thut Jeder sein Bestes, daß heißt, ich meine, er sieht zu, wie die meisten Batzen in seine Tasche kommen.«
Mathies verzog sein Gesicht zum Lachen.
»Das bleibt freilich immer die letzte Sach',« sagte er.
»Sucht Ihr den jungen Herrn?« fragte Murhard. »Der ist nicht hier.«
»Da steht er schon,« erwiderte der Bauer und wies in den Garten hinaus, wo Rudolf neben Babette stand.
Er hatte ihr die Hand gegeben, sie strich mit der andern über seine Stirn, und schien zu schelten und zu scherzen; dann gingen sie Beide vertraulich sprechend dem Hause zu, wo Herr Mathies sie auch einholte.
Der Major blickte wohlgefällig darauf hin und es währte einige Minuten, ehe Herr von Springfeld fragte:
»Dieser Bauer scheint eine derbe, kernige Natur zu sein. Er ist wohl der Meier auf dem Hofe, von dem ich gehört habe?«
»Einer von den Zähen und Schlauen,« erwiderte der Major, »der schon zusehen wird, daß er keinen Schaden leidet, mag's Unglück kommen, wie es will.«
»Er sieht verständig genug aus.«
»Und Gottes Wille hat ihn vom Kandersteig heruntergeführt in unser gesegnetes Züriland und wird ihm auch weiter helfen,« sagte lachend Herr Murhard.
»Ja, sehen Sie,« fuhr er nach einer Weile fort, »das ist auch ein romantisches Stückchen, von dem jungen Herrli da, und ein richtiger Beweis, daß ihm nichts anderes helfen kann, als eine verständige Frau, damit er nicht noch andere Geniestreiche macht.
Im vorigen Jahre ist er durch die hohen Gebirgsstöcke gelaufen, die das Oberbern von Wallis trennen, hinauf in die Gletscher überm Matterhorn und Toroenthore. Da liegt eine Alp, die hatte der Mathies gepachtet als armer Senn und das Vieh dazu von wohlhabenden Leuten umher. Denn so wird's gemacht, der Senn zahlt für jedes Stück eine gewisse Summe in der Herbstzeit. Wie nun das Vreneli eben in der Sennhütte beschäftigt ist, kommt ein Hund hinein gestürzt, springt an ihr auf, zerrt sie und reißt sie, springt wieder hinaus und steht und bellt und zerrt sie von Neuem. Da denkt das Madli, es muß ein Unglück passirt sein, faßt eine Stange, ein Beil und einen Strick und läuft dem Hund nach. Der führt sie hinauf an den Matterhorngletscher hin, mitten durch die Eiswüste, da liegt in einem Spalt wohl an die vierzig Fuß tief ein Mann, der hineingebrochen. Denn über die Spalten legen sich oft Brücken von Schnee und decken sie zu; wenn aber der Sommer da ist, und das Wasser über Gletscher läuft, fallen sie zusammen, und tritt dann ein unvorsichtiger Fuß darauf, so stürzt er in den Abgrund. Aus den aber ist selten ein lebendig Entkommen, weder für Menschen noch für Gemsen. Brechen sie nicht gleich Hals und Gebein, so erstarren sie nach wenigen Stunden in der Kälte zwischen den blauen glatten Wänden, wo sie eingeklemmt liegen und vergebens nach Hülfe und Rettung schreien. Da ist kein sterblich Wesen, das sie hört, aber geschah es auch selbst, so sind nicht gleich Stangen und Stricke bei der Hand, und ehe diese heraufgeschafft werden können, ist der Tod schon eingetreten und hat den letzten Schrei auf den starren Mund gedrückt.«
Der Legationsrath fühlte es kalt über sich hinlaufen.
»Und in solchem Spalt lag Graf Rudolf?«
»Lag unten, daß er sich nicht rühren konnte, und mochte sich auch nicht rühren, denn hinter der schmalen Stelle, die ihn hielt, wurde der Spalt wieder weit und verlor sich eine Tiefe hinab, die sein Auge nicht messen konnte. Ein einziger heftiger Druck konnte das Eis brechen. So lag er und hörte den Hund in der Ferne bellen und sah hinauf, wo der Himmel herein schien in sein schrecklich Gefängniß und plötzlich sah er ein menschlich Gesicht und eine Stimme rief hinab:
›Lebt Ihr, Herr?‹«
»Das muß wie eines Engels Stimme gewesen sein!« rief der Baron.
»Nu, Vreneli's Stimme ist eben nicht besonders himmlisch,« lachte der Major, »aber ich glaub's gern, daß er es dafür nahm. ›Ich lebe wohl noch,‹ antwortete er, ›doch kannst Du mir nicht bald helfen, so ist's vorbei.‹
›Ich will laufen,was ich kann,‹ schrie sie oben, ›aber mein Vater ist hinab; und weit und breit kein Mensch da!‹
›So geht es nicht,‹ sagte er, ›so muß ich sterben.‹
Da begehrte sie auch, es sollte nicht geschehen, sie wollte es allein versuchen und faßte es mit solcher Entschlossenheit an, daß man sagen muß, sie that's wie der beste Mann. Ihre Stange hieb sie in Stücke und ließ ihm eins davon hinab, damit er es in die Quer zwischen die Eiswände klemmen sollte und sich daran halten konnte, dann reichte sie ihm den Strick hin, um seinen Leib festzuknüpfen, so auch das Beil, um Staffeln für seine Füße zu hauen, wenn sie ihn hochzöge; und als dann Alles mit unsäglicher Mühe geschehen war, begann sie ihr Werk und bracht's zu Stande. Die Eiskante brach unter ihm, sowie er sich erhob, aber er kam glücklich auf das eingeklemmte Holzstück und wie er mit den Füßen darauf stand, konnt' er ein anderes fassen, das sie ihm reichte, auch mit dem Beile neue Löcher hauen, bis sie ihn mit ihren Händen erlangen und an's Licht ziehen konnte. Und das Vreneli hat Hände, was die angreifen, kommt nicht wieder los.«
»Ich habe sie gesehen,« sagte der Baron, »sie scheint allerdings sehr kräftig zu sein.«
»Man sagt's dem Schlag dort nach, daß er von den Riesen abstammen soll, welche in uralter Zeit zuerst das Schweizerland bewohnten,« lachte Herr Murhard. »So ein echtes Maidli, wie das eins ist, fürchtet sich vor keiner Last. Wie der junge Herr auf dem Eise lag, kam die Schwäche über ihn. Seine Glieder waren zerschlagen und steif, so nahm ihn Vreneli auf ihren Arm und trug ihn in die Sennhütte hinab, wo er fast eine Woche zubrachte, ehe er sich erholte und nach Thun hinab konnte.«
»Dann hat er aus Dankbarkeit seine Retterin und ihren Vater hierher versetzt,« fiel Herr Springfeld ein.
»Das that er, aber es war wiederum ein lustiger Streich. Statt dem Mathias ein Stück Geld zu geben, wodurch sich der Mann daheim geholfen hätte, überredete er den alten Herrn und machte Babette die Sache so süß, daß sie es mit ihm zu Stande brachte. Nun sitzt der Senn auf dem Tobelhof und macht seine Sache gut genug, aber eine kostbare Dankbarkeit bleibt's bei alledem.«
»Sie glauben also, daß der Graf dabei zu kurz kommt?«
»Wo soll's hinaus?« rief der Major. »Sie haben gebaut und gewirthschaftet; ein neues Haus aufgerichtet, den Viehstand groß gemacht, der Hof ist so stattlich, wie einer von den besten im ganzen Land. Das kostet Geld, und die Wirthschaft hier unten kostet auch Geld. So ein Herr will sich nicht einschränken und kann's auch nicht. Ich habe ein Capital hergegeben, des Bäbli's wegen, sonst hätt' ich's nicht gethan. Es aber muß hier bald eine andere Wirthschaft beginnen, und ich hab' meinen Plan gemacht. Babette soll den Platz einnehmen, der ihr gehört, und auch dem jungen Herrn soll ein vernünftig Wesen werden, damit wird's gehen.«
Der Baron war ganz damit einverstanden, und als Babette kam, um die beiden Herren in's Haus und an den Tisch zu bitten, fand sie sie so vertraulich beisammen plaudernd, wie sie es noch nicht gesehen.
Am nächsten Tage ließ der alte Herr seinen Sohn zu sich rufen und hielt mit ihm ein langes Gespräch unter vier Augen. Er war ungewöhnlich heiter und lebendig, aber immer mit derselben Würdigkeit umgeben, die ihm zur Natur geworden war.
Sein alter Diener hatte ihm ein reines, weißes Halstuch reichen müssen, niemals trug er ein schwarzes; sein Haar war wohl geordnet und toupirt, die gestreifte Manchette lag auf seiner schmalen, feinen Hand. So saß er in dem grünen Damaststuhl und empfing den Sohn mit seinen wohlgefällig messenden Blicken.
»Setze Dich hierher zu mir, mein Sohn,« sagte er, »ich freue mich, Dich zu sehen. Du bist doch wohl?«
»Sehr wohl, lieber Vater.«
»Das Abenteuer auf dem See ist Dir somit gut bekommen?«
»Ich habe keine üblen Ewigen davon.«
»Aber unser lieber Gast, Deine liebenswürdige Cousine.«
»Ich denke, es wird ihr ebenfalls nicht geschadet haben,« sagte Rudolf. »Ich habe am Fenster mit ihr gesprochen. Sie wird zu uns herunter kommen.«
»Hoffentlich wirst Du sie nicht wieder in solche Gefahren bringen,« lächelte der Graf, indem er mit dem Finger drohte.
»Gewiß nicht, aber sie hatte Schuld daran.«
»Lydia gehört zu den Frauen, deren lebhafte Einbildungskraft bei allem was sie thun, vorherrscht. Sie ist sehr jung verheirathet worden und ist, wie ich glaube, nicht besonders glücklich gewesen. Jetzt sucht sie ihren Neigungen zu folgen, und wenn ich nicht irre, mein lieber Sohn, sind diese Dir sehr günstig.«
Eine hellere Röthe sammelte sich auf Rudolfs Stirn, er machte eine unruhige Bewegung, die seines Vaters Ausspruch abzuleugnen suchte.
»Nun, ich denke, Du hast nicht darüber zu erschrecken,« fuhr der alte Herr fort, »auch will ich durchaus keine Bekenntnisse von Dir verlangen. Nur einige Bemerkungen möchte ich Dir machen und einige Rathschläge geben, wenn Du nichts dagegen hast.«
Der Sohn war gewöhnt, seinen Vater mit Ehrfurcht zu betrachten. Er empfand in dessen Nähe vor dieser gütigen Würde, welche niemals sich vergaß, nie eine Leidenschaft sich beikommen ließ, eine gläubige Unterweisung. Niemals erinnerte er sich, von seinem Vater ein hartes Wort gehört zu haben, nie hatte er ihm einen Befehl ertheilt, eben so wenig seinen Willen gehemmt. In seiner Kindheit hatte die Mutter mit fröhlichen raschen Beschlüssen über den Knaben bestimmt, dann hatte Fräulein Babette ihn behütet, der Vater aber hatte ihn immer seinen eigenen Weg gehen lassen. Er erkannte bald, daß eine andere Natur in seinem Sohne sei, als seine eigene war, ein anderer Charakter sich daraus bilde, und er wehrte diesem nicht, sich nach seinen Grundlagen zu entwickeln. Als er jetzt bei ihm saß, überdachte er dies Alles und schien damit zufrieden zu sein.
»Du bist jetzt vierundzwanzig Jahre alt,« sagte er, »also ein fertiger Mensch, dessen Leben und Zukunft geordnet sein muß. Was denkst Du nun darüber, mein lieber Sohn? Welche Pläne hast Du Dir gemacht? Welches Ziel hast Du Dir gesetzt?«
»Mein Ziel ist nicht weit gesteckt, lieber Vater,« erwiderte Rudolf. »Ich glaube auch nicht,« setzte er hinzu, »daß ich danach trachten könnte, mehr zu erreichen – als ich besitze.«
»Und was besitze Du denn?« fragte der alte Herr lächelnd.
»Ich glaube Zufriedenheit genug, um ein einfaches Leben zu führen und nicht nach der großen Welt zu verlangen.«
»Und was kennst Du denn von der Welt?»
»Nichts, lieber Vater, das ist wahr, allein ich denke, das ist auch nicht nöthig, wenn ich sie entbehren kann.«
»Du möchtest also am liebsten so weiter leben, wie es bisher geschehen. Wirst Du das können, Rudolf?«
»Warum sollte ich es nicht?«
»Du hast bis jetzt ein sehr ungebundenes Leben geführt; hast Dich sehr wenig ernsthaft beschäftigt. Ein junger Mann in der glücklichen Lage, nicht arbeiten zu müssen, kann Gefallen daran finden, einige Jahre mit jugendlichen Zerstreuungen hinzudringen; allein das kann nicht immer so bleiben.«
»Es soll auch nicht immer so bleiben,« erwiderte Rudolf, »ich will arbeiten, lieber Vater, und thue es schon. Die neue Wirthschaft giebt mir manche Gelegenheit dazu und wird mir deren noch mehr bieten.«
»Ein Bauernhof kann einen Bauern beschäftigen,« sagte der alte Herr, »Dich wird das bald ermüden und langweilen.«
Er legte seine durchsichtige Hand auf die Schultern des jungen Grafen und blickte ihn liebevoll gütig an.
»Wie lange wird es noch dauern,« sagte er, »so wirst Du allein sein, und mein väterlicher Rath ist auf ewig verstummt. Ehe es dahin kommt, möchte ich doch gern eine Sicherheit mit auf den Weg nehmen, daß Dein Weg ein geordneter sei. Du bist in dem Alter, Rudolf, wo ein junger Mann an eine Lebensgefährtin denken muß. Hast Du schon daran gedacht?«
Die helle Röthe trat wieder auf die Stirn des Sohnes und der alte Herr lächelte stärker und nickte ihm freundlich zu.
»Ich sehe wohl, Du hast daran gedacht,« fuhr er fort, »vielleicht auch schon ehe das Glück uns Lydia zuführte. Aufrichtig, Rudolf, hast Du schon früher daran gedacht?«
»Ja, Vater!« antwortete er, seine ehrlichen Augen aufhebend.
»Das heißt, Du dachtest an eine Andere, an Eine, der Dein dankbares Herz sich zuwandte?«
»Ja, lieber Vater!« sagte Rudolf mit größerer Stärke.
»Gut, mein Sohn. Hättest Du sie zu mir geführt, ich würde sie nicht zurückgewiesen haben. Nein, ich hätte es nicht gethan, denn ich weiß, was sie werth ist, und kümmere mich nicht um Vorurtheile.«
»Ich verachte sie!« rief Rudolf lebhaft aus. »Wenn aber das Deine Meinung ist, theurer Vater, wenn ich wagen darf, Dir Alles zu gestehen –«
»Still!« unterbrach ihn der alte Herr, »höre erst an, was ich Dir mittheilen muß. Alles hat sich verändert. Ich sagte, daß ich nicht nach den Meinungen der Menschen gefragt haben würde, weil ich weiß, daß der Gegenstand Deiner dankbaren Gefühle besser ist, als Viele, die in der gesellschaftlichen Reihe höher zu stehen glauben.«
»Nicht Dankbarkeit ist es allein,« sagte Rudolf, »es ist eben, wie Du sagst, ihr wahrer menschlicher Werth, oder ich weiß nicht, was mich zu ihr zog.«
»Nenne es, wie Du willst,« antwortete der alte Herr, »ich würde zunächst glauben, daß die Einsamkeit Deines Lebens, Deine Unbekanntschaft mit andern Frauen, die Gewohnheit, ihr Dein Vertrauen zu schenken, bei ihr und mit ihr zu sein. auf Deine Empfindungen einwirkte. Nun plötzlich ist ein neuer Stern an Deinem Himmel aufgegangen, ein schöner, glänzender Stern, es ist eben so natürlich, daß die anderen davor erbleichen.«
Rudolf richtete sich erschrocken auf und fragte mit bewegter Stimme:
»Wer sagt das?«
»Beruhige Dich!« lächelte der alte Herr; »aber ist es nicht so? Aufrichtig, mein Sohn, denkst Du nicht an Lydia?«
Rudolf senkte seinen Kopf nieder, er vermochte es nicht, seines Vaters Blick auszuhalten. Er murmelte ein paar unverständliche Worte, die wie: Ja aber dennoch – klangen.
»Dennoch ringst Du gegen die fremde Gestalt und suchst ihr zu entkommen,« fuhr sein Vater fort, »allein es will nichts helfen, Du bist einmal gefangen. Es ist kein Unrecht dabei, mein Kind, ich freue mich herzlich darüber und will Dich vollständig beruhigen, denn Du sollst wissen, daß sie es von ganzem Herzen wünscht, daß Lydia Dich beglücken möge.«
»Sie? Ist es möglich!« fragte Graf Rudolf aufblickend.
»Sie war hier,« sagte der alte Herr, »wir haben aufrichtig gesprochen.«
»Sie»war bei Dir?«
»Ja.«
»Was sagte sie? Was wollte sie?«
»Ich will Dir den Auszug unserer Unterredung mittheilen. Jedes Mädchen sieht scharf, wenn ihr Herz betheiligt ist, mag sie im Palast oder in der Hütte geboren sein. Sie führte das Gespräch auf den Besuch der Gräfin, auf die Verhältnisse und auf die glückliche passende Partie für Dich, wenn Du Dich mit ihr vermähltest.«
»Das glaubt sie!« sagte Rudolf, indem er aufstehen wollte, aber sein Vater hielt ihn davon zurück.
»Warum sollte sie nicht glauben, was Jeder glauben muß,« fuhr er fort, »und was Du selbst am besten weißt? Ja, mein liebes Kind, es wäre ein Glück, das ich mit Freuden kommen sehe, wie Sonnenglanz für mein Alter. Mit geheimer Furcht habe ich mich oft nach Deiner Zukunft gefragt. Dein Erbe ist nicht bedeutend. Was ich außer diesem kleinen Gute besitze, außer meinen Kunstwerken und Büchern in meinem Hause, hat sich sehr verringert. Lydia ist reich, Du wirst mit ihrer Hand zugleich der Besitzer bedeutender Güter, und auch dies weiß die gute, verständige Babette, auch von dieser Seite zeigte sie mir Dein Glück und den Glanz Deines Namens.«
»Babette!« flüsterte Rudolf.
»Die edle, treue-Seele! Du hast keine, die inniger an Dir hängt. Folge nur ihren und meinen Wünschen, sei so glücklich, wie Du es sein kannst, und jetzt, mein Sohn, jetzt wo es keine Zweifel mehr für Dich geben kann, benutze die Gunst der Verhältnisse. Ein Mann muß immer kühn sein, auch in der Liebe muß er entschlossen handeln. Bringe mir bald Deine Braut, meine liebe Tochter, in meine Arme.«
»Rudolf! Wo ist er?« rief im Garten Lydia's Stimme. Seine Hand, die sein Vater festhielt, zuckte.
»Nur Geduld!« sagte der alte Herr, fein und würdig lächelnd. »Ein Ruf von ihr bringt ja eine wahre Revolution in Dir hervor. Geh' hin, Rudolf, geh', mein Sohn. Zieh aus und erobere Dir Dein Königreich.«
»Ich will's versuchen, Vater!« erwiderte der junge Mann, während der alte Herr ihn umarmte und küßte, dann begleitete er ihn bis zur Thür, und entließ ihn.
Er stand am Fenster, als sein Sohn hinaus trat, und sah, wie Lydia ihm entgegen eilte. Wie froh und wie schön sah sie aus, und welche Veränderung war mit ihr vorgegangen Sie hatte sich zum ersten Male wie eine reiche, vornehme Dame gekleidet und geschmückt. Statt des einfachen Reisekleides trug sie eine kostbare Robe, Spitzen und edle Steine glänzten und funkelten an ihr, goldenes Geschmeide schimmerte ihm entgegen.
Der alte Herr rieb seine schmalen, zarten Hände und lächelte entzückt. Sein Sohn stand geblendet vor der reizenden Erscheinung und küßte ihre Hand. Sein Gesicht war roth von dem rebellischen Blut, daß sie durch seine Adern jagte, aber er hörte ihr fröhliches Lachen, er hörte ihre metallvolle Stimme, und der Vater sagte leise vor sich hin:
»Sie wird ihm schon Muth machen, sie, die Dame aus dem Salon, ihm, dem blöden Schäfer. Er wird bald die Scheu überwunden haben. Ein Mensch gewöhnt sich an Alles, an den Bettelstab sowohl, wie an eine Krone.«
Der alte Herr wußte nicht, was Lydia zu dieser plötzlichen Metamorphose bewegt hatte, aber er kam zu dem richtigen Schluß, die schöne Gräfin wollte sich ihrem schüchternen Geliebten im vollem Glanze ihrer Reize zeigen und ihn damit bezaubern.
Er wußte nicht, daß sie diesen Entschluß erst vor einer Stunde gefaßt hatte, als der Legationsrath ihr seinen Besuch machte, um ihr Glück zu ihrer Genesung zu wünschen. Nachdem er sich zu ihr gesetzt und seine Einleitungen getroffen hatte, nach einer Reihe von Scherzen über ihr Abenteuer und über das Verderben, welches dabei ihren Anzug getroffen, setzte er mit ironischer Warnung hinzu:
»Ich denke, es wird an diesem einen Anzuge genug sein, und eine göttliche Warnung darin sich geltend machen.«
»Ich habe wirklich die Lust verloren, mich in Gefahren zu begeben und darin umzukommen,« erwiderte sie.
»Wenn das der Fall ist,« lächelte er, »so thäten wir am besten, unsere Reife fortzusetzen.«
»Warum?«
»Weil in diesem romantischen Landhause so viele Geheimnisse stecken, daß ich fürchte, die Gefahren werden kein Ende nehmen.«
»Welche schrecklichen Geheimnisse haben Sie ausgewittert?« fragte sie.
»O, ich glaube, es ist damit nicht zu spaßen, und möchte Niemandem rathen, die Katastrophe abzuwarten.«
»Gewiß eine ganz entsetzlich blutige und grauenvolle.«
»Nein, im Gegentheil eine sehr lustige Hochzeit,«
Lydia legte sich in den Stuhl zurück. Ihre Augen füllten sich mit Spott und Zufriedenheit.
»Also eine Hochzeit. Wer wird heirathen?«
»Ein junger Herr, der so unschuldig aussieht wie Endymion, als die schöne Diana ihn im Schlafe erblickte.«
»In der That ist dies ein ganz vortrefflicher Vergleich,« fuhr er fort. »Ein Jäger und ein Hirt, ein liebenswürdiger Naturmensch, der von den Süden dieser Welt nichts weiß, wird von einer Göttin entdeckt, die es allerliebst findet, mit ihm durch Flur und Hain zu schreiten, und idyllische Träume träumt. Diana ahnte nicht, daß ihr Endymion schon von einem Pfeile getroffen wurde; daß dieser Verräther in seiner Hütte –«
»Hören Sie auf,« fiel Lydia ein. »Sagen Sie mir einfach, wie diese glückselige Nebenbuhlerin Diana's heißt.«
»Babette heißt sie.«
Sie lachte hell auf.
»Nonsens, mein würdiger Freund; von diesem strickenden und kochenden Ungeheuer hat Diana nichts zu besorgen.«
»Kehren wir aus der Geschichte der abenteuerlustigen Göttin zur Geschichte dieses Hauses zurück,« erwiderte er, »und betrachten wir die Sache ohne alle Romantik, wie sie ist, so verhält es sich damit sehr natürlich. Babette ist von guter Familie, als Waise in dies Haus gekommen, als sie sechszehn Jahre alt war. Sie fand einen zehnjährigen Knaben dort vor, und als dessen Mutter drei Jahre darauf starb, half sie ihn erziehen, und er lohnte ihre Liebe mit seiner Anhänglichkeit. So ist es fortgegangen bis vor wenigen Wochen und alle Welt wartete darauf, wann Hochzeit würde.«
»Laßt sie nur warten,« lachte Lydia.
»Am meisten aber wartet der grimmige Major, und Fräulein Babette ist allerdings keine zu verachtende Partie, denn dieser Tölpel, der nichts Angenehmeres auf Erden kennt als Batzen sparen, spart für die liebliche, gräfliche Braut in Mariahall.«
»Seht lustig! Sehr lächerlich!« rief Lydia, »aber fort damit! Wenn er dies häusliche Ungethüm begehrte, stand es ihm nicht schon längst zu Diensten? Mein bescheidener Cousin hat einen besseren Geschmack. Niemals hat er daran gedacht, sich so weit zu vergessen.«
»Es ist möglich, daß sein Geschmack eine noch seltsamere Richtung genommen hat,« lächelte Herr von Springfeld.
»Was meinen Sie damit?« fragte sie lebhaft. »Sie meinen mich, Sie finden das noch seltsamer – nicht wahr? Wenn es so wäre –« sie stutzte den Kopf in ihre Hand und sah ihn an.
»Erwarten Sie meinen Rath darüber?« fragte er lächelnd.
»Nein. Niemands Rath, ich bin mündig. Mein Cousin ist ein junger Mann, den ich sehr hochschätze seiner schönen und guten Eigenschaften wegen. Ja, ich wiederhole es Ihnen ernsthaft, seiner schönen und herrlichen Eigenschaften wegen! Er hat allerdings nicht die feine Politur unserer Herren aus der Gesellschaft, aber was thut das? Phrasen auswendig lernen kann ein Jeder: abgeschliffen, wie ein verbrauchtes Geldstück, das durch unzählige Hände wandert, wird man leicht, aber hier – hier! –« sie tippte mit dem Finger auf ihre Brust – »das Herz auf der rechten Stelle haben, ehrlich und offen denken und handeln, das ist nicht Jedermanns Sache.«
Ihr Gesicht glühte, sie war sehr aufgeregt und ging auf und ab. Herr von Springfeld blieb sitzen, seine Füße gekreuzt und seine Daumen um einander rollend.
»Ich hoffe nicht,« sagte er mit unerschütterlichem Sanftmuth, »daß Sie an meiner Offenheit und Ehrlichkeit zweifeln. Eben dadurch bin ich bestimmt worden, Ihnen zu sagen, was ich sagte. Nicht mein Interesse verfolge ich. Ich denke allein an Ihr Glück, meine theure Freundin, um dessentwegen allein bin ich besorgt. Ihr Jugendfreund erscheint Ihnen als eine reine edle Natur. Ihr Herz feiert daran ein Frühlingsfest und glaubt, ein neues Leben beginnen zu können, vielleicht ein Schäferleben, würdig für einen Schäferroman, aber bedenken Sie wohl, was Sie thun. Wir können nicht von uns abstreifen, was uns angeboren und anerzogen ist; um glücklich zu sein, muß das Glück, das wir suchen, zu uns passen. Ein Bauer, dem ein Stern an den Rock geheftet wird, wird bald sein Glück verwünschen, und wie interessant es auch immer scheinen mag, einen jungen Mann mit Liebe zu beglücken, in ihm das Ideal für ein vom reinsten Glück verschöntes Menschenleben zu sehen, es ist wohl zu bedenken, ob nicht das Unglück damit sich statt dessen an Alle heftet, die so Unklares, so Unnatürliches verlangen.«
Lydia wandte sich rasch zu ihm um.
»Sie sind mein bewährter Freund,« sagte sie, »wir kennen uns Beide. Sind Sie mit Ihrem Serinon fertig?«
»Ich kann nichts weiter hinzufügen.«
»So danke ich Ihnen. Auf Ihre Ergebenheit kann ich sicher zählen. Ich habe einen Auftrag für Sie.«
»An Fräulein Babette. Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß sie sich den Schein giebt, als habe sie nie daran gedacht, Wünsche zu hegen, und daß sie mit dem alten Herrn ganz einverstanden ist, Niemand sei würdiger, ihren Platz einzunehmen, als Gräfin Lydia.«
»Ich verzeihe Ihnen Ihren Spott,« erwiderte Gräfin Lydia, »jetzt hören Sie mich an. Haben Sie eine junge Bäuerin hier bemerkt, welche Vreneli heißt?«
»Allerdings. Was ist mit ihr?«
»Dies Mädchen hat mir einen großen Dienst erwiesen, den ich ihr vergelten muß. Sie hat uns bei der Landung auf dem See beigestanden, und ohne ihre Hülfe würden wir wahrscheinlich verunglückt sein.«
»Davon weiß kein Mensch etwas!«
»So sage ich es Ihnen. Graf Rudolf wird es nicht der Mühe werth gefunden haben, darüber zu sprechen.«
»Aber das ist merkwürdig genug. Das Mädchen hat ihm schon einmal sein Leben gerettet. Hat er Ihnen das erzählt?«
»Nein.«
»Dafür hat er sie mit ihrem Vater hierher versetzt und überreich belohnt. Es ist ein in ihrer Art hervorragendes Geschöpf mit plastischen Formen.«
Ein lebhafter Unwille malte sich in Lydias Gesicht.
»Dies Mädchen, der mein Cousin, Graf Rudolf, seine Dankbarkeit bezeigte, ist die Tochter des Mannes auf seinem Hofe dort oben auf dem Berge. Ich wünsche von Ihnen, Herr Baron, daß sie sich zu ihrem Vater begeben und ihm sagen, daß ich gern etwas für seine Tochter thun möchte. Das Mädchen hat, wie ich nicht zweifle, irgend einen Knecht oder Bauer, der um sie wirbt. Ich will ihr ein reichliches Hochzeitsgeschenk geben. Erkundigen Sie sich bei dem Vater und lassen Sie ihn oder das Mädchen selbst aussprechen, was sie wünschen.«
»Sie wollen überall glückliche Paare machen!« lächelte der Legationsrath. »Ich werde bestrebt sein, mein Möglichstes zu thun, um ihre edlen Absichten zu erfüllen.«
»Inzwischen werde ich mit Rudolf heute in die Stadt fahren und dort die verschiedenen Sammlungen und sonstige Herrlichkeiten besichtigen.«
»Auch das ist sehr gut, damit ich ungestört meinen Auftrag ausführen kann.«
»Es wird mir sehr lieb sein, wenn ich dem armen Mädchen Gutes thun kann,« sagte sie nochmals, als er Abschied nahm. »Ich habe zwei Tausend Francs dafür eben übrig; sollte das nicht genug sein, so auch mehr. Was wir vorhaben, muß inzwischen geheim bleiben.«
»Wo so viel Geheimniß ist, kommt es auf eine Kleinigkeit mehr oder weniger nicht an,« sagte er scherzend. »Wir werden dem Hirtenkind mit einer solchen Summe zu viele Bräutigame auf den Hals laden, wie ich besorge.«
Als er fort war, ließ Lydia sich ankleiden und wählte die reichsten und geschmackvollsten Gegenstände, welche sie besaß. Ihre Kammerfrau lebte auf, als sie hörte, daß die Zeit der Niedrigkeit vorüber sei, und bestrebte sich, alles Versäumte nachzuholen. Sie freute sich aber auch dafür mit innigster Selbstbefriedigung über ihr Werk, als sie Lydia im Garten sah, der halbwilde Cousin sie anstaunte und kaum zu berühren wagte, und Fräulein Babette in unterthänigster Freundlichkeit umherknixte, daß ihr die Tasse aus der Hand fiel. –
Nach einer halben Stunde fuhr Lydia mit Rudolf in die Stadt. In dem weißen Caschmirmantel sah sie wie eine Fürstin aus, aber der Herr Cousin in dem grauen Röckchen wollte der Kammerfrau gar nicht gefallen.
Nachdem das Frühstück vorüber war, begleitete der alte Herr den Legationsrath ein Stückchen Weges bis in seinen Weinberg. Er sprach mehr von der Zukunft als von Vergangenheit und Gegenwart, erkundigte sich nach manchen Lebensverhältnissen in der großen Hauptstadt, wo Herr von Springfeld seinen Wohnsitz hatte, und äußerte sich derartig, daß der gewandte Mann bald seine Schlüsse ziehen und ordnen konnte.
Die beiden Diplomaten suchten sich gegenseitig auszuforschen und behandelten sich dabei wie zwei Cabinette, welche allerlei Künste anwenden, um zu ermitteln, in wie weit sie zu einer Verständigung gelangen könnten. Der alte Herr sprach mit anscheinender Unbefangenheit zunächst von seinem Sohn und forderte freundschaftlichen Rath, ob es nicht sehr gut sein würde, wenn Rudolf etwas reise und sich in der Hauptstadt aufhalte, damit er die dortigen Verhältnisse kennen lerne.
Der Legationsrath bejahte dies im Allgemeinen, ohne jedoch Gelegenheit zu geben, die besonderen Umstände zu berühren, welche einen solchen Aufenthalt wünschenswerth machen könnten. Er erschöpfte sich dagegen in Lobeserhebungen über die glückliche Lage dieses lieblichen Landsitzes.
»Sie empfinden das Glück, das ich lange Zeit genossen habe,« sagte der Graf, »doch kann man dies nur, wenn man auf dem Strome der Welt umherschwamm und sich müde darin gearbeitet hat. Dann wirft man die Täuschungen von sich ab und rettet sich in einen Hafen, wohin die Wellen nicht schlagen, die von den Leidenschaften aufgeregt werden. Man flieht an den Busen der Natur und zu ihrem Frieden, wie man es poetisch ausdrücken mag.«
»Sehr wahr,« erwiderte Springfeld, »allein man kann dagegen sagen, daß, wer in diesem Frieden aufwuchs und nichts von seinem Glücke weiß, gewöhnlich gern in den großen Strom hinaus möchte, um nach den glänzenden Phantomen zu greifen, welche dort auf- und abziehen.«
»Die Jugend ist reich an Hoffnungen,»lächelte der alte Herr, »und den Verhältnissen muß man Rechnung tragen. Sie waren niemals vermählt, mein bester Baron?«
»Niemals, und wie ich annehme, wird es auch nie dazu kommen.«
»Aus Liebe zur Freiheit oder aus Haß gegen die Frauen?«
»Keins von beidem. Ich fand nie das, was ich suchte.«
»Aber, wenn ich so bestimmt fragen darf, unsere liebe Freundin Lydia?«
»Diese habe ich allerdings gefunden,« erwiderte Herr von Springfeld, »allein, um aufrichtig zu sein, ich fand sie zu spät, als Frau eines Freundes, und dann« – er lächelte in seiner feinen Weise, – »dann wurde ich ihrer Freundschaft gewürdigt, und ich lernte die Wahrheit der weisen Lehre kennen, daß Freundschaft einer Frau da anfängt, wo ihr Herz aufhört. Der Vertraute und der Geliebte einer Frau sind ganz verschiedene Gegensätze.«
Die klugen Augen des alten Herrn hefteten sich leise forschend auf Springfelds Gesicht.
»Das Herz hat keine Gesetze« sagte er, »dieser gesetzlose Zustand macht, daß Weisheit meist daran verloren geht. Man muß somit Nachsicht üben. Der Freund aber wird in seiner großmüthigen Freundschaft um so mehr geneigt sein, das Glück der Freundin zu befördern.«
»Das ist eine sehr würdige und edle Aufgabe!« erwiderte Springfeld, indem er lebhaft den Blick des Grafen erwiderte. »Ich stimme Ihnen völlig bei, doch, wenn ich mir ein Wort über unsere theure Freundin gestatten darf, so muß ich damit anfangen, zu betheuern, daß ich ihr so ergeben bin, nichts zu wollen, was sie nicht will, und alles für recht und gut halte, was sie dafür hält. Ich habe diesen edlen und schönen Charakter kennen gelernt,« fuhr er fort, »und weiß, welche Stärke und welche Reinheit er besitzt.«
»Ein warmes und empfängliches Herz,« sagte der Graf.
»Mehr als das. Bei der lebhaftesten Einbildungkraft ein klarer, ernster Wille und eine männliche Entschlossenheit, um alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sich ihr entgegenstellen. Welche Anstrengungen hat man gemacht, um sie von dieser Reise abzuhalten! Eine junge, schöne Frau so reich und so geistvoll, war natürlich Gegenstand der verschiedensten Bestrebungen.«
»Ich kann es denken,« fiel der alte Herr ein. »Diese Bestrebungen werden auch sie empfangen, wenn sie zurückkehrt.«
»Darum eben scheint es mir, daß die Gräfin sie mit einem raschen Schnitt zerschneiden möchte. Sie hat ihre Erfahrungen gemacht; eine Convenienzehe hat ihre Spuren in eine nach freier Bewegung schmachtende Brust gedrückt. Dadurch ist ein tief empfundener Abscheu gegen jedes sogenannte Raffinement der Gesellschaft entstanden, und eine gewisse nervöse Verstimmung zeigt ihr Alles, was dahin schlägt, als abschreckende Unnatur. Ihre edle Seele schwärmt für Wahrheit, für Einfachheit, für sittliche Kraft in bescheidener Hülle, und somit zweifle ich nicht daran, daß Gräfin Lydia zurückkehren wird als –«
Er hielt inne, und sein lächelndes Gesicht begegnete dem lächelnden Gesicht des alten Herr. Sie hielten es wohl eine Minute so aus, dann sagte der Graf:
»Als was, mein theuerster Legationsrath?«
»Als Verlobte!« erwiderte dieser, und indem er seinen Hut lüftete und den Grafen verbindlich grüßte, ging er weiter und stieg den Hügel hinab.
»Adieu!« mein lieber Baron,« rief der alte Herr.
»Verirren Sie sich nicht.«
»Ich kenne meinen Weg sehr genau, seien Sie ohne Sorgen!« erwiderte Springfeld, und er schlug den Pfad ein, den Lydia mit ihrem Vetter gegangen war, um nach dem Tobelhof zu gelangen, und behielt seine vergnügliche Miene bei, selbst als er in die Sumpfquellen gerieth, wo seine Lackstiefeln eine empfindliche Taufe empfingen.
»Was thut man nicht Alles aus Menschenliebe,« sagte er, »und was thut nicht ein Freund für seine Freundin, die ihm den liebenswürdigen Auftrag ertheilt, ihr eine armselige Nebenbuhlerin vom Halse zu schaffen!«
Als er oben anlangte, stand er still und trocknete seine Stirn.
»Da liegt das Haus,« sagte er, »dies muß es sein. Sonderbar, daß die schöne Gräfin eifersüchtig sein kann gegen die arme Magd, der dieser tugendhafte Vetter Dankbarkeit erweist. Es ist in aller Tollheit Methode,« fuhr er lachend fort, indem er weiter ging, »das Eine führt zum Andern; ich aber bleibe der weise Herr in der Komödie, der eifrig fördert, was ich nicht hindern kann, wie Diplomaten die rothe Fahne auspflanzen helfen, damit sie um so gewisser niedergerissen wird.«
Niemand ließ sich sehen, als er vor dem Hause anlangte. Wie gewöhnlich schienen die Leute mit ihren Feldarbeiten oder in Stall und Scheuer beschäftigt zu sein. Nach einigem Umherblicken stieg der Baron die Treppe hinauf auf die vorspringende Gallerie und öffnete dann die Thür, welche in eine große niedrige Stube führte. Einfache Geräthe, Tische und Holzstühle standen darin, aber die Dielen waren so rein wie die Wände, der Schrank mit Tellern und Tassen stand sauber an der Seite. Die rothen Vorhänge an den kleinen Fenstern deuteten auf modische Verschönerungslust, die kleinen Bilder und Spiegel über einer Commode von polirtem Holz auf wachsenden Wohlstand, denn beide waren sicherlich erst vor ganz kurzer Zeit neu angeschafft.
Unter dem Spiegel hingen zwei Zeichnungen, die auf Pappe gezogen, mit goldener Borte eingefaßt und mit Glas bedeckt waren. Die eine davon stellte einen Gletscher dar, der seinen Eisstrom in ein Thal niedersenkte, die andere enthielt wahrscheinlich dies Thal selbst, wo es eine Alpenmatte bildete, auf welcher eine jener niederen, rohen Sennhütten stand, die man aus Stein und Holz aufrichtet.
Herr von Springfeld errieth sogleich, was das zu bedeuten hatte. Er lächelte, nachdem er die Zeichnungen betrachtet, und seine Augen wandten sich dann zwei anderen Gegenständen zu, welche er auf der Commode bemerkte. Der eine war ein großer wollner Strumpf, halb fertig, an welchem noch die Nadeln steckten, und neben ihm ein ganz fertiger, an welchem ein eingestrickter Buchstabe sich befand, der ohne Zweifel ein R bildete. Zur Seite desselben lag ein Instrument, das eigenthümlich aussah und über dessen Anwesenheit der Baron sehr erstaunte. Es war eine Zither von der Art, wie man sie in Tyrol häufig, in der Schweiz dagegen sehr selten sieht. Flach und breit, sieht sie wie ungeschicktes Holz aus, das mit einer Anzahl Saiten bezogen ist, theils von blankem Stahldraht, theils besponnen.
Indem er diese ungefüge Arbeit betrachtete, hörte er Schritte in der Kammer nebenan, und als er sich aufrichtete, sah er Vreneli an der Thür stehen.
»Nun mein liebes Mädchen!« rief er ihr zu, »da Du nicht zu mir kommst, muß ich wohl zu Dir kommen.«
»Gott's Willkommen, Herr!« antwortete sie freundlich. »Es ist auch schön bei mir oben.«
»Daran kann niemand zweifeln,« erwiderte er mit einem Kennerblicke. Sie gefiel ihm auch heut, so häuslich arbeitsam sie aussah. Ihr Vorstecketuch war sehr weiß und schmiegte sich fest um den vollen Nacken. Ihr weiches Haar ringelte glatt gekämmt um die braune, frische Stirn, und wie plastisch füllten alle Formen das knappe Mieder aus.
»Du möchtest wohl niemals Dein hübsches Haus mit einem andern vertauschen?« fragte der Baron.
»Nein, Herr,« versicherte sie.
»Also auch nicht in Dein Heimathsthal in die Sennhütte zurückkehren?«
»Nein Herr!«
»Warum denn nicht?«
»Da oben in den Alpen ist es auch wohl schön,« sagte sie, »aber Eis und Steine giebt's zu viel dort. Der Mensch kann nimmer die Natur dort bewältigen, wie hart er sich auch müht.«
»Seht verständig, mein Kind. Hier giebt es keine Eisspalten, in welche man hineinstürzen kann.« –
Er deutete auf die Zeichnung, welche den Gletscher darstellte.
»Das ist wohl der Eisberg, wo Du den Grafen fandest?«
»Der Matterhorngletscher, Herr.«
»Und in dieser Sennhütte wohntest Du?«
»Ja, Herr.«
»Es ging Dir beinahe wie Saul, der ausging, seines Vaters Eselin zu suchen, und ein Königreich fand.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Diese Zeichnungen hat er gewiß selbst gemacht und Dir geschenkt.«
»Das hat er schön gemacht, Herr. Ganz so, wie es ist.«
»Vorzügliche Kunstwerke. Du möchtest sie wohl nicht verkaufen?«
»Wie sollt' ich sie verkaufen!« antwortete das Mädchen.
»Gewiß nicht, daß ist ein Andenken, das Dir bleibt, wenn der Graf vielleicht nicht mehr kommt und – nicht mehr daran denkt.«
»Daran wird er immer denken,« sagte sie »und warum sollte er nicht kommen?«
»Er kommt gewiß oft.«
»Alle Tage wohl. Hier ist Alles sein Eigenthum.«
»So?« lachte der Baron; »dann ist er glücklicher als ich meinte. Aber wer spielt denn die Zither?«
»Ich Herr.«
»Und wo hast Du das gelernt?«
»Von meinem Vater, Herr. Der ist seiner Zeit weit hinaus gewesen, in den Krieg nach Welschland hinein und in's Tyroler Land, bis er nach Haus zurückkam und sein Weib mitbrachte.«
»Sicher singst Du auch zur Zither?« fuhr der Baron fort.
»Ich weiß nur wenig zu singen.«
»Aber der Graf hört es gern, und Du singst und spielst ihm gewiß fleißig vor.«
»Gern hört er es,« sagte sie lächelnd. »Er ist so gut und lieb, daß er alles anhört, was ich ihm vorschwatze.«
»Dafür thust Du ihm gewiß auch gern Alles zu Gefallen,« erwiderte der Baron. »Strickst ihm sogar Strümpfe.«
»Ja seht, Herr, das sind die rechten Schweizerstrümpfe, die wir im Lande brauchen, und der Herr Rudi meint, keine andere verstände es, sie so dicht und warm zu arbeiten.«
»Und wenn die Füße warm sind, ist auch das Herz warm, der ganze Mensch wird dadurch gesund,« sagte Herr von Springfeld »Nun, ich sehe wohl, hier ist ein Freundschaftsbund geschlossen, dessen rührende Seite für weichgeschaffene Seelen wie gemacht ist. Aber mein liebes Mädchen, als ich Dich zuerst sah – es war im Wirthschaftszimmer Fräulein Babette's – da standest Du und betrachtetest ein Bild, ich weiß nicht, was es für ein Bild war, aber Du warst ganz im Anschauen versunken.«
»Das ist das Bild von des Herrn Rudi Mutter, Herr.«
»Von des Herrn Grafen Mutter. Du nennst ihn schlechtweg Rudi.«
»Er will's nicht anders,« sagte sie.
»Als Republikaner, dem die menschliche Ungleichheit ein Greuel ist. Hast Du denn Herrn Rudolfs Mutter gekannt?«
»Die ist lange todt. Aber sie soll so gut und brav gewesen sein wie er, und hat auch so lieb und herzlich ausgesehen. Alle Leut umher sprechen noch von ihr mit Lust.«
»Und was sprechen sie denn von Deinem Freunde? Du hast wohl schon gehört, was bald mit ihm geschehen wird?«
»Was soll denn geschehen, Herr?« fragte sie aufhorchend.
»Er wird sich verheirathen, Vreneli.«
»Verheirathen!«
Der Legationsrath nickte bejahend und beobachtete sie.
Vreneli stand einige Augenblicke nachsinnend und überrascht, aber das Lächeln in ihrem Gesicht wurde stärker, und indem sie sich zu dem Verkündiger dieser Nachricht neigte, sagte sie:
»Ich weiß, was Ihr meint, und hab's mir gedacht. Die schöne Dame ist's, nicht wahr?«
»Gräfin Lydia, seine Verwandte.«
»Es ist recht!« rief sie aus. »Da kommt mein Vater, der soll's hören, es wird ihm das ganze Herz füllen.
Springfeld war erstaunt. Er konnte nicht daran zweifeln, daß diese Freude in Vreneli aufrichtig sei. Alle Fäden, die er sich gesponnen, wurden mit einem Mal zerrissen.
»Du freust Dich also über meine Nachricht?« fragte er.
»Wie sollt' ich mich nicht freuen?« fiel sie ein. »Es ist nichts Schöneres auf der Welt, das ich hören könnte. Hat's Gott so gefügt, so ist es auch recht.«
»Du hast einen vortrefflichen Glauben, mein liebes Mädchen,« lächelte der Legationsrath,« und verdienst Deine Seligkeit. Aber wirst Du nicht traurig werden, wenn ein Freund Dich verläßt, und Du ihn vielleicht niemals wiedersiehst?«
Vreneli wurde ernsthaft.
»Was meint ihr, Herr?« fragte sie. »Warum sollt ich ihn nicht wiedersehen?«
»Weil er seine junge Frau begleiten muß und mit ihr weit fort in einer prächtigen Stadt leben wird.«
Sie sah still vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.
»Das wird er nicht thun!« rief sie plötzlich voller Gewißheit. »Nein, nein, das thut er nimmer.«
»Du glaubst es nicht? Warum denn nicht?«
»Weil er es mir erst vor wenigen Tagen gesagt hat: Vreneli, ich geh' nicht fort aus meinem Haus. Hier will ich leben, hier will ich sterben; um aller Welt Schätze möcht' ich nicht hinweg.«
»Das hat er gesagt?« erwiderte Springfeld, und in seinen klugen Augen blitzte es auf. »Es wird aber doch wohl so sein müssen, mein liebes Kind, oder –« er folgte mit seinen Augen Vreneli's Stimme, die ihrem Vater, welcher eben hereintrat, die frohe Nachricht entgegenrief, und bestätigte sie mit einigen Worten.
Der Bauer stand in seiner groben Jacke demüthig vor dem vornehmen Gaste und ließ sich die Neuigkeit erzählen, ohne daß in seinem harten, festen Gesicht eine Miene sich änderte; als aber Vreneli wiederholte, daß Herr Rudi gewiß nicht fortziehen und sie Alle verlassen würde, sagte er ruhig und gelassen:
»Bist ein einfältig Kind,Vreneli, es kann nicht anders sein. In der Bibel steht zwar geschrieben, das Weib soll Vater und Mutter verlassen und ihrem Manne nachfolgen; wo es aber das Heil gebietet, ich meine, wo es nützlich ist, folgt auch der Mann dem Weibe nach.«
»Ist es denn gut und nützlich?« fragte Vreneli unerschrocken.
»Dergleichen Dinge kannst Du nicht beurtheilen, und ist auch nicht Deine Sache,« antwortete er.
»Solcher vornehmen Dante würd's aber sicher nicht gut thun, in solcher Stille zu leben. Das paßt nicht für sie und wie sie es kennt. Wenn nun also der Herr Rudi sie lieb hat, muß er mit ihr hinaus.«
»Aber er kennt das fremde Leben nicht und liebt's nicht. Also müßte sie bleiben, wo es ihm gefällt.«
»Würdest Du denn mit einem Manne ziehen, der Dich weit fort holen wollte?« fragte Herr von Springfeld.
»Gewiß Herr, ich würd's thun, wohin er mich führen möchte. Wenn ich aber ein Mann wäre,« fügte sie mit Nachdruck hinzu, »so ginge ich nicht.«
Ein beifälliges Gelächter belohnte sie, ihr Vater aber sagte:
»Du bist ein geschwätzig Maidli, die nicht viel nachdenkt. Wenn ein Mann hochzeitet und bekommt damit Geld und Gut, so müßte er ein Narr sein, wenn er nicht gehen wollte.«
»Darum erst recht müßt' er nicht gehen,« versetzte sie.
»So geh Du selbst, Du Schalk!« fuhr er, mit seiner rauhen Hand ihr Gesicht berührend, fort. »Sieh nach Deinem Feuer und Deiner Suppe, die Leute müssen gleich aus dem Felde kommen.«
Springfeld wurde von dem tüchtigen Wesen dieses Bauers außerordentlich eingenommen. In seinen Worten wie in feinem Gesicht fand er eine gehörige Portion Verstand, und seine Augen gefielen ihm besonders durch einen Ausdruck von Klugheit, der unter ihrem ehrlichen, geraden Anschauen lauerte.
Als er mit ihm allein war, fragte er hin und her nach seinem Leben, und Mathies hielt sich damit nicht zurück. Er war in der Welt umhergeworfen, hatte in einem Schweizerregiment dem französischen Kriege gedient, dann in Italien und in Tyrol, wo er sich ein Weib genommen, und war endlich mit wenigem Geld und manchen Erfahrungen wieder nach Haus gekommen.
»Nun seid Ihr in einen guten Hafen eingelaufen,« sagte der Legationsrath, »und habt nur das eine Kind.«
»Von dreien hat's mir Gott allein gelassen,« antwortete der Bauer.
»Es ist ein braves, tüchtiges Mädchen.«
»Gott sei gedankt!« sagte er.
»So wird sich denn auch bald ein reicher Schwiegersohn finden, wie Ihr ihn wünscht.«
»Reich hält sich zu Reich, und Vornehm zu Vornehm,« meinte er.
»Vreneli ist nicht arm,« erwiderte der Baron. »Habt Ihr es nicht, so giebt es Freunde, die für sie sorgen werden.«
Der Bauer öffnete seine klugen Augen bedächtig, und nachdem er sich hinlänglich besonnen hatte, sagte er:
»Es ist Gutes genug an uns geschehen, mehr als wir verdienen.«
»Ich spreche nicht ohne Grund,« fuhr der Gast fort, sondern habe sogar die Absicht, Euch im Vertrauen eine Mittheilung zu machen. Nur müßt Ihr aufrichtig gegen mich sein.«
»Daran soll's nicht fehlen, Herr,« erwiderte der Bauer.
»So sagt mir zunächst, wie alt ist Vreneli?«
»Eben zwanzig geworden, Herr.«
»Das richtige Alter bei einem Mädchen, wo sie sich nach einem Mann umsehen, oder wo es Vater und Mutter für sie thun, damit es eine verständige Wahl wird.«
»Das ist die Sache,« meinte Mathies. »Verstand ist oft nicht dabei, wenn sie ihr Fenster aufmachen.«
»Ein Schwiegersohn muß Euch, wie ich denke, willkommen sein.«
»Wenn's ein fleißiger Bub' ist, so kann er kommen; ich seh's gern.«
»Habt Ihr Euch schon einen ausgesucht, den Ihr gern hättet?«
Mathies schaute ihn wieder nachdenklich an und sagte darauf:
»Was man sich wünschen möchte in der Welt, geht oft nicht an.«
»Das heißt, den Ihr wünschtet, wünscht Vreneli nicht?«
»Der Anstoß möchte nicht sein.«
»Woran fehlt's also? Ist es Einer, der sich für zu vornehm hält?«
»Im Himmel droben sind alle Menschen gleich,« erwiderte Mathies, »hier unten ist's freilich anders damit.«
»Dann giebt's ein Mittel, mein alter Freund,« erwiderte der Legationsrath. »Geld gleicht auf Erden Alles au.s«
»Das thut's, Herr!«
»Ich sagte Euch schon, daß es daran nicht fehlen soll. Ihr habt einen Freund, der dem Vreneli gern einen guten Mann verschaffen möchte und ihr die Aussteuer schenkt.«
»Hast es gehört?« fragte Mathies, indem er sich nach der Thür umwandte, wo Vreneli eben wieder erschien.«
»Ja, Vater,« sagte sie.
»Möchtest Du heirathen?«
»Warum nicht?« war ihre Antwort
Der Baron nickte ihr zu.
»Das ist doch ein gescheutes Wort,« sagte er, »daß Deinem Verstande Ehre macht. Es giebt gewiß einen frischen Buben, den Du gern möchtest?«
»Daran fehlt's mir nicht,« antwortete sie, froh aufblickend.
»So sprich mit ihm und sag' ihm, Du hättest in jeder Hand tausend Francs und in der Schürze wohl noch eben so viel.«
»Wo soll all der Reichthum herkommen!« rief sie erstaunt. »Macht keinen Spaß, Herr.«
»Es ist Ernst, Vreneli,« erwiderte Herr von Springfeld, ergötzt über ihr Benehmen. »Komm mit Deinem Bräutigam morgen herunter nach Mariahall, so wirst Du sehen welch' Glück Dich dort erwartet.«
»Aber das Geld, das Geld!« rief sie. »Wo ist das?«
»Sorge nicht, Dein Freund ist reich und gutmüthig.«
Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Lebe wohl,« sagte er.
»Lebet wohl, Herr.«
»Du sprichst also mit Deinem Schatz?«
»Ja, ja, ich wills thun!«
»Und wenn Herr Rudi Hochzeit macht, feiern wir Deine Hochzeit gleich mit.«
»Will's Gott, so kann's geschehen.«
Sie begleiteten ihn Beide bis zur Thür, wo er freundlichen Abschied nahm.
»Auf morgen also,« sagte er. »Ich bin begierig zu wissen, welche Wahl Du getroffen hast. Jedenfalls hat er von Glück zu sagen und an meinem Segen soll's nicht fehlen.«
Als er den Abhang erreicht hatte, blickte er auf das Haus zurück, stand still und begann zu horchen.
»Wenn das wirklich so sein könnte,« begann er, »wenn dieser dankbare Taugenichts so weit sinken könnte, es wurde ein erhabener Schutz für diese Idylle sein. Es ist ein allgemeines Naturgesetz, daß alle göttlich geschaffenen Wesen sich täuschen und betrügen sollen, Niemand darf sich davon ausschließen. Ich habe als redlicher Mann das Meinige gethan, somit kann ich mich beruhigen.«
Er blickte auf die Straße hinab, wo so eben der Wagen heranrollte, welcher Rudolf und Lydia aus der Stadt zurückbrachte.
»Da kommen sie!« sagte er. »Wie die Leute stillstehen, wie sie ihnen nachblicken; ein wonniglich junges, von allen Göttern gesegnetes Paar. Aber dieser Narr des Glücks wird so oder so wie ein Narr enden!«
Der Tag verging den Gästen in frohester Weise; der alte Herr selbst war nicht weniger beglückt. Lydia schien es sich vorgenommen zu haben, alle Welt durch ihre Liebenswürdigkeit zu bezaubern, sie war in der heitersten und glücklichsten Laune. Ihre zärtliche Sorglichkeit verjüngte den Diplomaten, der ihr jedes Schmeichelwort durch eine Liebkosung vergalt, welche zugleich auf seine Hoffnungen und Wunsche zielte.
Lange Zeit ließ er sich von ihr und von seinem Sohne in den schattigen Gängen umher führen, und seine Absicht war es gewiß, eine Erklärung herbeizuführen, allein Graf Rudolf schien nicht den Muth zu haben, um den rechten Augenblick zu benutzen.
Als der Abend kam, sank die Sonne in ein glühendes Wolkenmeer, und östlich stieg der Mond über die welligen Schweizer Berge und mischte sein blasses, träumerisches Licht mit dem feurigen Schein, der auf dem See und auf allen Höhen brannte. In diesem magischen Schimmer ging Lydia mit ihrem Verwandten bis zur Rebenlaube auf der Spitze des Hügels.
Der Legationsrath hatte ihr den Erfolg seines Spazierganges mitgetheilt, welcher so wohl gelungen war. Sie hatte sich sehr an seiner Darstellung ergötzt. Also nichts als Gier nach Geld war in der Hütte auf dem Berge. Eine Hand voll Gold mehr sollte sie reichlich haben. Es mußte eine eigenthümliche Scene geben und sie freute sich mit einer gewissen Begier darauf.
Mit dem Instincte der Frauen hatte sie entdeckt, daß Rudolf diesem Bauermädchen sein Wohlwollen zuwandte, sie hatte es an seinen Blicken und Worten bemerkt; daß diese Dirne bei dem Sturm auf den Steinen im See so unerschrockenen Beistand leistete, hatte ihren Neid vermehrt. Weiter kam Vreneli nicht in Betracht. Sie war ein zu ärmlicher Gegenstand, um ihn ernstlich zu bedenken; allein es war Lydia lieb, wenn sie mit großmüthigem Lohn zugleich ihn gänzlich beseitigte, und es kam ihr auch vor, als ob sie den Mann ihrer Wahl um so sicherer an sich fesselte.
Dessen war sie keinen Augenblick zweifelhaft, denn sie kannte ihre Ueberlegenheit und alle Hoffnungen, welche sie in diesem Landhause erregte. Der Legationsrath hatte ihr nicht verschwiegen, wie beglückt der alte Herr von seinen Wünschen war, wie deutlich er sie zu verstehen gab. Die Blödigkeit ihres Cousins, seine scheue Ehrfurcht, seine ungeschickten Huldigungen machten ihr Vergnügen. Anfänglich hatte es ihr gefallen, zu ihm herunterzusteigen, jetzt gefiel es ihr, ihn zu sich emporzuheben, und die erfahrene, im Glanze der großen Welt erzogene Dame erfreute sich nicht weniger daran, dies Naturkind zu formen und zu bilden und einen dankbaren und liebenswürdigen Mann daraus zu machen.
Ihre Ueberlegenheit und Gewißheit machte sich jetzt geltend. Als sie auf dem Hügel vor der Laube standen, lag die köstlichste Abendruhe auf See und Thal. Kein Mißton des Menschenlebens drang zu ihnen herauf. Stille war weit umher, leichte Nebel ringelten an den Bergseiten, darüber schwamm goldiges Licht; leise Heerdenglocken allein klangen von den Matten in die Tiefe.
Lydia legte ihre Hand auf Rudolf's Schulter und blickte ihm ins Gesicht. Sie stand in dem rosigen Schein vor ihm und sagte dann übermüthig lächelnd:
»Sie sehen mich so ernsthaft durchdringend an, als wollten Sie sich mein Bildniß fest einprägen.«
»Das will ich auch,« erwiderte er.
»Und wie erscheine ich Ihnen?«
»Wie ein Engel Gottes,« antwortete er in seiner aufrichtigen Weise.
»Wirklich, galanter Cousin?« lachte Lydia. »Dank Ihnen, viel tausend Male, aber ach! Der Engel ist weit davon entfernt, seine eigene Göttlichkeit anzuerkennen. Haben Sie jemals den Faust gelesen?«
»Ich habe sehr wenig gelesen, liebe Lydia.« sagte er.
»Das gefällt mir mehr, als Sie denken. Was haben die jungen Herren sonst nicht Alles gelesen, und wie weise wissen sie darüber zu sprechen. Von den Geistern in der Luft, die zwischen Erde und Himmel schweben, sich an uns heften wie ungeheure Fledermäuse, uns ruhelos umherjagen, unser Blut trinken, untere Köpfe mit entsetzlichen Bildern und Vorstellungen erfüllen – mit denen haben Sie noch niemals etwas zu schaffen gehabt.«
Er sah sie erstaunt an.
»Niemals,« sagte er darauf.
»Sie schlafen gewiß sehr ruhig und fest?«
»Gewöhnlich ja, doch jetzt –«
»Jetzt schlafen Sie nicht?«
»Seit einiger Zeit,« antwortete er mit leiser Stimme seine Augen von ihr abwendend, »habe ich wenig Ruhe«
Ihre Augen leuchteten über ihn hin. Mit Mühe behauptete sie ihren Ernst, doch dann fragte sie theilnehmend:
»Wie geht das zu, mein armer Freund? Sie sind doch nicht krank?«
»O, nein, aber – ich kann nicht schlafen, weil ich von einer schrecklichen Unruhe befallen bin.«
»Aber weswegen beunruhigen Sie sich?«
»Um Dinge, die mich betreffen, sehr nahe betreffen, von denen sehr viel abhängt,« sagte er stockend.
»Die also sehr wichtig sind.«
»Von der größten Wichtigkeit für mein ganzes Leben.«
»Das ist ja entsetzlich! Seit wann geht es Ihnen so?«
»O, seit Kurzem erst, – eigentlich seit Sie hier sind, beste Lydia.«
Sie schlug ein helles Gelächter auf.
»Seit ich hier bin?« sagte sie. »Sonderbar, höchst sonderbar! Wie ist das möglich? Ist es ein Geheimniß?«
»Ein Geheimniß ist es,« antwortete Rudolf, »obwohl nicht für Jedermann, – denn Babette kennt es, und verschwiegen kann es nicht bleiben,« setzte er entschlossener hinzu. »Sie müssen Alles erfahren, liebe Lydia!«
»Muß ich Alles erfahren? Nun gut, wenn Sie glauben, daß es nicht anders sein kann, so reden Sie. Aber halt!«
Er stand noch immer nachsinnend da, als wisse er nicht, wie er beginnen solle. In dem Augenblick jedoch, wo er den Kopf aufhob, ließ sich unten am Hügel eine helle Stimme hören. Auf dem Fußsteige, welcher dort am Rande der Weinpflanzung hinlief, kam ein Mädchen daher, einen Rechen auf der Schulter. Von dem groben Strohhut flatterte ein rothes Band, und während sie mit starken, raschen Schritten emporstieg, sang sie ein ländliches Lied, das einen angenehmen Klang hatte.
Es war Vreneli, die dort ging. Noch war es hell genug, um sie gut zu erkennen, ihre feste, kräftige Gestalt, der es nicht an Biegsamkeit fehlte, ihr Gesicht selbst, das roth und frisch heraufschimmerte. Hätte sie sich umgewandt und hinaufgeschaut, würde sie die Beiden bemerkt haben, allein sie ging weiter und verschwand hinter einer Hecke; nur ihr frohes Singen bezeichnete ihren Weg.
»Auch jene dort weiß nichts von Unruhe und Sehnsucht,« sagte Lydia spottend, »und wird vortrefflich schlafen, morgen so glücklich wie heut. Jetzt fahren Sie fort. Rudolf, was soll ich erfahren? Sie wollen mich zu Ihrer Vertrauten machen.«
»Ja, das möchte ich gern,« sagte er.
»Es ist eine Herzenssache?«
»Ja, meine Herzenssache. Sie sollen mir beistehen.«
»Bei wem?«
»Bei meinem Vater. Bei aller Welt. Wollen Sie das thun?«
»Ich werde mich besinnen. Was versprechen Sie mir dagegen?«
»Alles, Alles, was ich geben kann!« rief er mit ungewohnter Lebendigkeit, und seine Augen glänzten feurig.
Seine Aufregung bewegte Lydia's Blut. Er hielt ihre Hände fest und blickte sie bittend an.
»Verzeihen Sie mir, Lydia,« sagte er. »Das Herz fragt nicht nach Unterschieden, welche die Menschen sich machen, nach Bildung und Rangstufen. Ich bin weit zurückgeblieben in allen Lehren und Künsten.«
»Still,« versetzte sie, »wer fragt danach! Sie werden lernen, allein bedenken Sie wohl, was Sie thun.«
»Ich habe Alles bedacht.«
»Und sind Sie entschlossen?«
»Hören Sie mich an.«
»Nicht jetzt,« erwiderte sie. »Morgen, Rudolf, morgen vor Ihrem Vater. Er soll uns Beide hören. Und nun gute Nacht, armer Cousin! Schlafen Sie ruhiger, träumen Sie, alle Ihre Wünsche seien erfüllt, alle Sorgen in Wonne verwandelt. Gute Nacht! Gute Nacht! Springfeld kommt uns entgegen. Ich kann heut' weiter nichts hören. Gute Nacht!«
Sie machte sich los, aber indem sie dies that, fühlte er ihre Lippen an sich hinstreifen. Sie schlug das große Tuch sich um und eilte fort; bestürzt und verwirrt blieb er stehen, und so sehr war er mit sich selbst beschäftigt, daß er nicht hörte, wie hinter der Laube Jemand hervorkam, der ihn plötzlich so derb auf die Schulter schlug, daß er erschreckt zusammenfuhr.
»Hei da! Erschreckt nicht!« rief der Major zu gleicher Zeit, »es ist ein Freund, der Euch auf den Beinen halten will, da Ihr fallen möchtet.«
»Ich denke nicht zu fallen,« erwiderte Rudolf, sich sammelnd.
»Um so besser, sagte der Major, »aber ich will doch dem jungen Herrn meine Hand bieten; ob er sie annehmen will, ist seine Sache.«
»Es ist die Hand eines Freundes,« lächelte Rudolf, indem er die ausgestreckte Rechte des Majors ergriff.
»Das ist sie und es ist Einer, der Euch herzlich lieb hat, und der es nicht leiden will, wenn er Euch auf schlechtem Wege sieht.«
»Was nennen Sie den schlechten Wege?« fragte Rudolf erröthend.
»Wir wollen es kurz abmachen,« fiel Murhard ein; »glaubt nicht, daß ich blind bin. Euer Vater will Euch verkaufen, dem stolzen Weib da, die aus der Fremde gekommen ist und Euch dahin mitnehmen möchte.«
»Ich werde nicht gehen,« sagte Rudolf.
»Wie Abraham möchte er Euch opfern, aber nicht dem rechten Gott, sondern dem alten Moloch, der in ihm sitzt, und wenn's dazu kommt, soll er es deutsch hören, wie ich darüber denke. Was aber Euch betrifft, Rudi, so laßt Euch nicht verlocken. Ihr seid nicht der Mann, der für diese Frau paßt; Ihr steht neben ihr wie der Diener neben dem Herrn, und sie lächelt auf Euch herunter, wie ein Meister auf den Anfänger. Aus Laune und aus Ueberdruß hat sie Euch ausgelesen und meint, so ein unerfahren, kreuzbrav ehrlich Bübchen müßt ihr anhängen, wie ein Sünder seinem Heiland. Thut es nicht, Rudi, es geht nicht an, immer wird sie die Katze sein, Ihr aber die Maus, und wenn Ihr Euch aufrichtet und Euch neben sie stellen wollt, wie es sich gehört, wird sie Euch niederducken, und Ihr werdet eine jämmerliche Rolle spielen bis an Euer Ende.«
»Ich werde keine jämmerliche Rolle spielen,« fiel Rudolf ein, »und die ich zu meiner Frau mache, wird nach meinem Willen thun und mir gehorchen.«
»Man kann's nicht immer verlangen,« sagte der Major bedächtig, »auch thut eine feste Frau Leuten gut, die nicht immer ihren rechten Verstand haben. Ihr wollt Euch also nicht verkaufen lassen?«
»Ich glaube nicht.«
»Dann hört an, was ich Euch sage. Es giebt nur Eine für Euch, die in allen Stücken paßt, und was sie nicht hat, habe ich für Euch Beide: Geld genug und ein ansehnlich Geschäft. Ich nehm Euch darin als Theilnehmer und als meinen Erben. Schlagt nur ein, laßt die vornehme Cousine reisen. Bleibt ein freier Mann, Rudolf, demüthigt Euch nicht.«
»Es soll auch nicht geschehen.«
»Tretet hin vor Euren Vater und sprecht, wie Ihr es fühlt.«
»Das denke ich zu thun.«
»Wann wollt Ihr es thun?«
»Morgen in der Frühe.«
»Ich will dabei sein und Euch beistehen. Und dann geht und nehmt das Bäbli bei der Hand, die wird's Beste schaffen.«
»Ja, sie ist die Beste von Allen!« rief Rudolf. »Sie allein kann mir helfen, keine Andere.»
»Bleibt hier! Nehmt mich mit! Hört an!« schrie Herr Murhard dem Davoneilenden nach, aber dieser achtete nicht darauf.
»Es ist doch ein captaler Bub,« sagte er herzlich lachend. »Haben wir ihn nur beide erst, das Bäbli und ich, so wollen wir einen Mann aus ihm machen, wie's im ganzen Züriland keinen zweiten geben soll.«
Mit dieser Betheuerung kam der tapfere Holzhändler zu der Gesellschaft zurück und brachte einen unerschöpflichen Sack voll Grobheiten für sie mit, denn er war in seiner besten Laune. Der Abendtisch wurde unter den Bäumen gedeckt, da die Nacht so mild und warm war, wie im höchsten Sommer. Doch der Mond, der nun groß und voll über dem See stand, hatte die silbergleiche Klarheit, die ihm in der Herbstnähe eigen ist.
Der alte Herr blieb in seiner Fröhlichkeit viel länger bei Tische, als gewöhnlich; seit Jahren hatte man ihn nicht so heiter gesehen. Er erzählte viel aus seinem Leben, von dem Glanz früherer Zeiten, von seinem Aufenthalt an verschiedenen Höfen, von fürstlichen Festen und prachtvollen Palästen, bis ihn der Major mit seinen Sarkasmen unterbrach.
»Meiner Seel!« schrie er, »der Herr Graf sieht aus, als stände er mit Stern und Band schon wieder mitten darinnen in dem Haufen der besternten Leut.«
»Für mich ist das vorbei, mein lieber Freund,« erwiderte der alte Herr, »allein die Erinnerungen leben fort.«
»Und solche Erinnerungen sind historische Hinterlassenschaften. Graf Rudolf kann sich ein Beispiel daran nehmen,« sagte der Baron.
»Mit dem ist's nichts!« schrie der Major. »Der fällt lieber in einen Eisspalt und läßt sich bei einem Sennermadli nieder, denn bei Gräfinnen und Prinzessinnen. Die demokratische Schweineluft hat ihn bis in's Herz hinein verdorben.«
»Davon muß er geheilt werden und soll er geheilt werden,« sagte Lydia. »Sie sollen mich begleiten, Cousin Rudolf. Ich will aus diesem stolzen Republikaner einen getreuen Unterthanen machen.«
»Das wird, wie ich vermuthe nicht schwer halten,« lächelte der alte Herr, indem er seinen Sohn scharf anblickte und sein Glas aufhob. »Viele sind schon in so süßer Weise von ihren Freiheitsträumen bekehrt worden.«
»Ich bleibe treu!« erwiderte Rudolf, indem er anstieß, und Lydia bemerkte mit Vergnügen den kühlen Glanz seiner Augen bei diesen Worten.
»Darauf wollen wir den Vertrag abschließen,« fiel sie fröhlich ein.
Aber indem sie ihr Glas nehmen wollte, stieß sie es um und es zerbrach.
Der Unfall gab zu mancherlei neuem Scherz Anlaß, allein er bewirkte auch, daß die Gesellschaft sich schneller trennte, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Der alte Herr stand auf, Lydia ging mit ihm, küßte seine Hand, sagte ihm zärtlich gute Nacht und dann ins Ohr:
»Morgen früh soll der Vertrag trotz aller Hindernisse abgeschlossen werden, mein lieber, theurer Papa!«
Damit küßte sie seine Hand, nickte ihm zu und verließ ihn fröhlich lachend. Als sie zurückkehrte, fand sie, daß Rudolf sich entfernt hatte.
Der Morgen war da, der Frühstückstisch stand bereit, und der alte Herr saß in seinem Sessel und las die Zeitungen, aber er las sie ohne Aufmerksamkeit. Wenn er einige Minuten seine Augen auf die Buchstaben gerichtet hatte, blickte er über die Blätter fort, bald nach den Baumgang hinab, bald nach den Fenstern des Hauses hinauf.
Nach einiger Zeit stand er auf, denn er hörte Lydia's Stimme. Sie kam die Stufen herunter mit dem Legationsrath, und oben, nicht zur Freude des alten Herrn, sah er auch den Major, der sonst nur an Sonntagen in solcher Frühe sich blicken ließ.
Er war jedoch weit entfernt davon, seinem Mißfallen auch nur einen Blick zu gönnen; Lydia eilte ihm entgegen, und er umarmte sie, indem er ihre Stirn küßte.
»Sind Sie allein, mein lieber Papa?« fragte sie. »Wo ist Rudolf?«
Und wie damals, als sie zuerst hier eingetreten, blickte der alte Herr umher und sagte dann:
»Ich denke, er muß sogleich kommen. Setzen Sie sich, meine liebe Lydia. Setzen Sie sich, meine werthen Herren. Die Zeitungen enthalten nichts Neues, wir können Sie heute gänzlich entbehren!«
»Wenn nichts Neues darin steht,« meinte der Major, der eine ungeheure Cigarre rauchte, »so muß man sorgen, ihnen eine Geschichte zu liefern, die ein extra Geschrei macht.«
»Haben Sie dergleichen im Vorrath?« fragte Springfeld.
»Warum nicht?« versetzte der Major. »Lustige und traurige Streiche geschehen alle Tage in der Welt, und Narren giebt's immer vollauf, die angeführt werden.«
»Sie, mein verehrter Herr Major,« sagte der Legationsrath freundlich, »sind gewiß niemals angeführt worden.«
»Dazu sind die klugen, feinen Leut geschaffen, die bei allen Dingen obenan stehen. Da kömmt's Bäbli, das hat seinen Verstand allzeit auf der richtigen Stelle und wird sich nimmer nehmen lassen, was ihr gehört.«
»Wo ist mein Sohn, Babette?« fragte der alte Herr.
»Dort kommt er,« erwiderte sie.
Von dem Hügel her näherten sich zwei Männer, in deren Begleitung sich ein Weib befand, aber es waren ohne Zweifel Bauern und als sie aus den Weinstöcken hervortraten, erkannte der Major den Vorangehenden als den Meier vom Tobelhofe.
Der Alte hatte seinen blauen weiten Sonntagsrock angezogen, darunter die rothe Weste. Er trug weiße Strümpfe, die mit den Gurtschnallen seiner sammetmanchesternen kurzen Beinkleider unter den Knieen befestigt waren. Das lange graue Haar fiel ihm aber den weißen Hemdkragen unter dem breitkrämpigen Hut hervor und rollte an den Seiten seines mächtigen, faltenvollen Gesichts nieder.
»Das ist ja der Mathies!« schrie Herr Murhard, »und Vreneli sieht aus wie eine Braut mit dem gewichtigen Sträußli am Mieder. Es ist ein Hochzeiter da an ihrer Seite. Eh, was ist mir das?!«
Mit diesen Worten schrie er das Paar an, das dicht hinter dem Meier daher kam. Vreneli in ihren allerbesten Röcken, die große Silberkette um Mieder und Latz und einen Strauß davor, der bis an ihr frisches Gesicht reichte. Ihr Arm aber lag in dem Arm eines schlanken Burschen, in einer neuen Bauernjacke mit blanken Knöpfen, Bauerschuhen und Strümpfen, das Hemd über das Seidentuch geschlagen und nicht minder einen tüchtigen Strauß Feldblumen vorgesteckt.
»Vreneli und ihr Bräutigam,« sagte Herr von Springfeld.
Der Major lachte auf.
»Was hat er vor?« schrie er laut. »Seht ihn doch an, den Herrn Bräutigam. Da ist er! da ist er!«
»Rudolf!« sagte Lydia. »Was soll diese Posse?«
Der alte Herr saß still in seinem Sessel und regte sich auch nicht, als Mathies vor ihm stand und seinen Hut abnahm. Er blickte zu ihm auf, er, der Graf, der das Ordensband festlich angethan hatte, auf den Bauer in seinem Festkleide.
»Ich komme, mein lieber Herr, sagte Mathies, »weil's so sein muß. Wir haben's zugesagt, daß Vreneli ihren Bräutigam bringen soll, wenn's ihm so gefällt, und da hat er gemeint, es könnte nicht anders sein. Er wollt's nicht länger verbergen, was er sich gewählt hat. Es ist mein Kind, lieber Herr, ich weiß wohl, wie es damit steht. Aber Gott hat es so gewollt, und ein ehrlich gutes Maidli ist, die Euch gewiß nimmer Schande machen wird.«
Der alte Herr schwieg noch immer und Niemand antwortete. Das Lächeln um seine Lippen wurde zum Zittern, er wandte seine Augen von dem Bauer auf seinen Sohn, und auf Vreneli deutend, sagte er:
»Sie ist verständig und weiß, was sich für sie schickt. Wir haben doch nicht Fastnacht, Rudolf?«
»Nein, Vater,« sagte der junge Mann mit fester freier Stimme, »aber heute ist der Tag, heute ist es ein Jahr, wo ich auf dem Matterhorn in meinem Grabe lag, aus dem diese Hand mich hervorgezogen hat. Kein Auge hätte jemals mich wiedergesehen, Du hättest keinen Sohn mehr, wenn sie nicht ihr Leben für mich hingeworfen.«
»Das war sehr brav,« antwortete der alte Herr, »und bis zur Stunde habe ich sowohl Gott dafür gedankt, wie ihr. Wir wollen uns weiter darüber verständigen, Rudolf. Aber dies ist ein Irrthum, aus schwärmerischer Vorstellung entsprungen. Du mußt das einsehen; frage alle Deine Freunde. Ich denke, Mathies, Ihr seid ein vernünftiger Mann. Ihr seid mir lieb, und Eure Tochter, das wißt Ihr, soll uns immer dankbar finden. Geht mit ihr, geht Beide. Niemand wird etwas davon erfahren. Geht, Ihr sollt von mit hören, geht!«
»Nein, Vater, Vreneli wird nicht gehen,« sagte Rudolf.«
»Ich befehle Dir, zu schweigen!« erwiderte der alte Herr. »Komm her,« fügte er milder hinzu. »Setze Dich hierher, gieb mir Deine Hand. Du hast Fieber, Du bist krank, wir müssen Dich vor Dir selbst behüten.«
»Ich bin nicht krank, Vater,« antwortete der junge Mann, »ich bin vollständig im Besitz meiner Sinne und weiß genau, was ich thue. Von dem Tage an, wo Vreneli mich meinem schrecklichen Tode entriß, habe ich den Gedanken gefaßt, mein Leben mit ihr zu theilen.«
»Das ist Ueberspanntheit, Jugendthorheit!« fiel der Graf ein. »Man kann denken, wie ein solches Ereigniß auf ein lebhaftes, dankbares Gemüth zu wirken vermag, und kann ihm vergeben.« – Sein würdiges Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück, er blickte nach Lydia hin, die neben ihm saß und ihre Augen auf Vreneli richtete, während ihr ganzer Kopf glühte, dann blickte der alte Herr auf den Legationsrath, der wie von Erz gegossen schien, auf den Major, welcher, die Arme gekreuzt, furchtbar rauchte und seine Nasenlöcher aufblies, endlich auf Babette, die neben seinem Stuhle stand und auf dessen Lehne ihre Hände faltete.
»Das muß man bedenken, und alle Deine Freunde werden es bedenken,« fuhr der Graf fort. »Meine liebe Lydia –«
»Ich habe nichts zu bedenken,« fiel Lydia ein.
»O, Lydia,« sagte Rudolf, »haben Sie nicht versprochen mir beizustehen? Sie sind gut, Sie sind gerecht. Ich brachte Vreneli hierher, ich sah sie täglich, ich sagt mir täglich, daß ihr Leben mit meinem Leben sich vereinigt habe, daß sie fühle, denke, empfinde, wie ich selbst. Ein einfaches Mädchen, aber Gottes Engel, den er mir gesandt, und ich selbst ein einfacher, armer, unwissender Mann, der nichts anders sein will als –«
»Mein Sohn!« unterbrach ihn der alte Herr. »Kein Bauer – mein Sohn, wenn Du das sein willst. –«
»Mein Vater,« antwortete Rudolf gerührt, »ja, Dein Sohn bis in alle Ewigkeit, dennoch kann ich nicht anders. Ich habe es geschworen,« fuhr er fort, indem er seinen Kopf aufhob, und seine Augen blitzten mit solcher Kühnheit, daß Lydia davor erblaßte – »ja, ich habe es geschworen. Vreneli soll mein Weib sein, und hier stehe ich, Vater. Thue mit mir, was Du für recht hältst.«
Der alte Herr wandte sich nun zu Mathies und sagte:
»Ihr seid alt, Freund, Ihr habt das Leben kennen gelernt; ich brauche Euch nicht zu sagen, daß alle menschliche Ordnung sich gegen dieses thörichte Versprechen sträubt. Ihr seid Vater, wie ich Vater bin, habt ein Wort mitzureden, also sprecht. Es kann doch nichts daraus werden. Das seht Ihr ein.«
»Warum nicht?« fragte Mathies.
»Warum nicht?« antwortete der Graf, verwirrt lächelnd, und sich aufrichtend, wiederholte er stolzer:
»Warum nicht, sagt Ihr?«
Der Meier auf seinen Eschenstock gestützt, richtete sich aus seiner demüthigen Stellung ebenfalls auf. Der gewaltige Mann reckte die breite Brust heraus und streckte die muskelvollen Arme. Seine grauen Locken wehten um ihn her, er stand wie ein Kriegsmann da, der sein Leben vertheidigen will und sagte:
»Lieber Herr, Ihr nennt das ein schlechtes, falsches Wort, aber ich sag es noch einmal: warum nicht? Ich bin arm und ein Bauer, Ihr seid ein Herr und ein Graf, was hat es aber damit zu schaffen? Ich bin Schweizer Bürger, Ihr seid es auch. Ich bin in der Welt umhergewesen, habe viel Unrecht gesehen und vielen Hochmuth, aber das ist's, was die Menschheit trennt.«
Der Graf sank in den Sessel zurück und winkte abwehrend mit der Hand.
»Laßt mich weiter sprechen,« fuhr Mathies fort, »ich bin kein unvernünftig Geschöpf, weiß auch zu beurtheilen, was Ihr Unterschiede nennt. Wäre Euer Sohn ein feiner Herr, voll Weltlist und Klugheit, und Kettli und Knöpfli hingen an ihm, wie an dem Herrn dort« – er deutete auf den Baron – »so wär's ein Werk, das nicht gedeihen könnte; nimmer würd' ich ihm das Vreneli geben, und wollt er's auch mit Franzen und Seide behängen und mit Gold bezahlen. Aber Euer Sohn, lieber Herr, ist nicht also. Er ist nicht für's hohe Leben, nicht für die Feinheit.«
»Mein Sohn hat nichts mit dem Bauern zu schaffen!« rief der Graf empört. »Ich will Euch nicht mehr sehen.«
»Wenn er gehen soll, Vater, so gehe ich mit ihm,« sagte Rudolf.
»Hast Du denn ganz vergessen, wer Du bist?« fragte der Graf. »Alle Liebe, alle Dankbarkeit vergessen«
»Du hast meinen Neigungen bis jetzt keinen Zwang aufgelegt,« erwiderte Rudolf. »Ich hin, aufgewachsen wie ein Waldbaum. O meine Mutter, Du würdest Deinen Sohn nicht verdammen!«
Bei diesem Ausrufe sank der Kopf des alten Herrn auf seine Brust und seine Hände fielen ermattet nieder.
»Schweigt still, Ihr tödtet ihn!« rief Babette, indem sie sich zwischen Vater und Sohn stellte. »Welchen Fluch und welche Sünde wollt Ihr noch auf Euch laden?«
»Es ist eine Schande, eine Heidenschande!« fiel der Major ein, der jetzt auch Sprache erhielt. »Wo soll's mit der Unvernunft hinaus? Denkt daran, was ich Euch gesagt habe. Wollt ihr der Bauerndirne Euch an den Hals werfen? Wie ein Knecht arbeiten?«
»Ja, Major, ich hoffe tüchtig zu arbeiten.«
»So lauft und verkommt!« schrie Murhard, »Ihr seid nichts Besseres werth. Das Bäbli ist mein, über Euch aber wird's Elend kommen. Stoßt ihn hinaus,« fuhr er fort, indem er sich zu dem alten Herrn wandte, »er verdient nichts anders. Eine Magd ohn' alle Geburt, ohn' alle Familie, darum hatt' er uns sämmtlich hinter's Licht geführt. Es ist heidnisch!«
»Wo ist Euer Christenthum, die Ihr mich verdammt?« fragte Rudolf mit fester Stimme.
Der Graf hatte sich gesammelt, und stand auf und stützte sich auf Babette.
»Komm hierher,« sagte er, »und höre mich an.«
Vreneli an seiner Hand that der junge Mann einige Schritte.
»Willst Du von der dort lassen?« fragte der alte Herr.
»Nein.«
»Ist das Dein fester Entschluß?«
»Ja.«
»So thue nach Deinem Willen, Du bist mündig nach dem Gesetz, ich hindere Dich nicht. Deiner Mutter Erbe sollst Du erhalten, wir werden uns auseinandersetzen Jetzt geh.«
»Und keine Stimme spricht für mich?« fragte Rudolf sanft.
»Ich verbiete Dir, jemals wieder vor meinem Angesicht zu erscheinen, denn ich würde Dich verfluchen!«
»Vater,« rief Rudolf schmerzlich.
»Ich habe keinen Sohn mehr,« sagte der Graf, indem er sich umwandte.
»Aber eine Tochter, theurer Vater, eine Tochter!« rief Lydia. die sich in seine Arme warf.
»Und Freunde, die alle Dornstöcke ausreißen wollen!« schrie der Major. »Könnt ihr es auf Euch nehmen, Mathies? Müßt Ihr nicht versinken vor Schand und Gewissensangst? Reißt den Vater vom Sohn, den Sohn vom Vater.«
Der greise Bauer fühlte nichts davon.
»Die da gehen,« sagte er, »gehen in ihrer eig'nen Sünd'. Gottes Wille mag walten. Herr, da steht mein Kind. Will er es lassen, mag er es lassen, will er es halten, soll er willkommen sein. Soll Weib und Vater finden in Lieb und Noth und bis an's Ende.«
»Komm Vreneli! Komm Vater!« sagte Rudolf, und er nahm das Mädchen an seinen Arm. Mathies ging mit großen Schritten voran. Der graue Hund folgte langsam mit gesenktem Kopfe seinem Herrn nach, das einzige Wesen, das ihn nicht verließ.
»Da geht er hin!« schrie der Major, »der unnatürliche Bub', und hat nicht gesehen, wie Bäbli's Augen voll Thränen hingen; hat nicht gesehen, wie ihr das Herz dabei brach.«
Der Legationsrath lächelte, indem sie Beide dem alten Herrn nachfolgten, welcher von Lydia und Babette geführt wurde.
»Das ist ein sehr festes und starkes Herz« sagte er, »es wird gewiß nicht verzagen, auch kann es ja immer noch zu einem guten Ende kommen.«
»Damit ist es vorbei!« versetzte der Major zornig. »Ich kenne den Bub', versucht nichts mehr, es glückt doch nicht. Und würfe Eure Gräfin sich ihm zu Füßen und das Bäbli dazu, er stieße sie Beide von sich und nähme die Magd in seinen Arm. Das Bäbli ist zu stolz dazu, meine und ihre Sach' werd' ich in meine Hände nehmen.«
Damit stürmte er zum Garten hinaus, Springfeld aber legte die Hände auf den Nacken und lächelte weiter.
»Wir sind nicht so stolz,« sagte er, »wir werden uns demüthigen. Ein edler Charakter, dieser alte Mathies, er könnte in eine Komödie kommen. Bei alledem ist der Schluß doch nahe, wir haben nur noch Zeit, zum letzten Male Beifall zu klatschen.«
Der Tag ging in tiefer Stille vorüber. Das Landhaus schien ausgestorben, im Garten ließ sich Niemand sehen. Fräulein Babette's laute, helle Stimme, welche sonst überall erschallte, war verstummt. Die alten Diener standen flüsternd beisammen, und erzählten sich mit ungläubigen, erschrockenen Gesichtern seltsame Geschichten. Der alte Herr hatte sich in seine Zimmer zurückgezogen, Niemand durfte zu ihm. Die Gräfin hatte eine lange Unterredung mit Babette gehabt, welche sehr lebhaft endete.
»Die gesammte Familie wird geschändet,« sagte die Gräfin. »Der Vater stirbt vor Gram. Es muß etwas geschehen.-«
»Es kann nichts weiter geschehen,« antwortete Babette.
»Ist das Ihre aufrichtige Meinung?« fragte Lydia.
»Ich weiß nichts Besseres.«
»Die Gemeinheit sollte triumphiren! Haben Sie gesehen, wie roh und fühllos sie bei ihm stand, ohne eine Miene zu verändern, ohne Rührung, ohne Gewissen.«
»Vielleicht war sie von ihrem Rechte überzeugt.«
»Von ihrem Rechte? Das verächtliche Geschöpf.«
»Verächtlich ist sie nicht,« sagte Babette.
»O, wie Sie wollen! Aber Sie müssen mir beistehen, Babette. Wir dürfen nichts unversucht lassen, ihn von dieser entsetzlichen Verzauberung zu retten.«
»Ich kann nichts mehr dagegen thun,« antwortete Babette, »und ich will nichts mehr thun,« fügte sie hinzu.
»Dann haben Sie auch niemals so innigen Antheil an ihm genommen, wie ich es voraussetzte!« rief Lydia. »Man hat mir gesagt, daß Sie –«
Sie hielt inne, als scheue sie sich das Wort auszusprechen, das auf ihren Lippen schwebte. Babette blickte sie fragend an, ihre dunklen Augen glänzten, und die groben starken Züge ihres Gesichtes wurden weicher und schöner.
»Es ist wahr, und ich will's nicht verleugnen,« begann sie mit ihrer rauhen Stimme, »ich habe ihn herzlich lieb gehabt, und so ist's noch, ob er auch an einem anderen Herzen ruhen will. Aber weil's so ist, bitt' ich Gott, daß er ihn glücklich mache, wo es immer sei.«
»Glücklich! Unmöglich! Nein, so soll es nicht enden!« rief die Gräfin. »Er soll nicht sagen, daß keine Hand da war, um ihn aus diesem Abgrunde zu retten.«
Mit diesen Worten entfernte sie sich, und man sah sie mit ihrem vertrauten Begleiter unter den Bäumen umhergehen, bis sie in ihren Zimmern verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam.
Am Abend stand der Vollmond über dein Tobelhof und schüttete sein glänzendes Licht darüber aus. In lautloser Stille lag das langgestreckte Balkenhaus, die alten Eschen und Tannen umringten es wie riesige schwarze Wächter, und aus der Schlucht herauf murmelten die Wassergeister zu den leuchtenden Zweigen und Büschen, welche mit ihnen lachten und flüsterten. Waren es Bach und Geblätter, Stimmen der Nacht und gespenstisches Klingen und Singen, oder kam es von der Geisblattlaube, wo Lydia vor wenigen Tagen mit Rudolf ausgeruht hatte?
Der Schatten des Hauses schnitt mit einer dunklen, scharfen Leiste das Licht ab, aber von oben fiel dies durch die Ranken. Auf der Bank saß das junge Paar, Vreneli hatte ihren Kopf an ihres Freundes Brust gelegt und horchte auf die Schläge seines Herzens, während er zu ihr sprach.
Zuweilen wurde es lauter, und sie antwortete ihm lebhafter, und ihre Stimme klang muthig aus dem Schatten hervor. Wenn sie das Gesicht zurückbog, wurde der Mond zur Fackel, und ihr Geliebter sah die frischen einladenden Lippen; und wenn Alles still war, klang plötzlich die kleine Zither, die auf Vreneli's Schoß lag, und es war ein süßes Klingen und Klagen, ein Jubeln und Vertrauen, das sich zu Melodien und Liedern verband, den Muth aufweckte und die Zweifel vertrieb.
Doch Rudolf hörte Vreneli's Lieder nicht allein. Auf dem Platze vor dem Hause stand Lydia, neben ihr Springfeld. Mit langsamen Schritten näherten sich Beide der Laube, nur die Biegung des Hauses trennte sie davon.
»Es geht fröhlich her,« flüsterte der Baron. »Soll ich Sie hier erwarten?«
Sie antwortete nicht, aber sie ging weiter. Wie ein schwarzes Gespenst in ihrem schwarzen Seidenmantel glitt sie in den Schatten fort, und stand am Eingange. In dem Augenblick schwieg die Zither und fiel klirrend aus die Erde.
»Wer ist das« fragte Rudolf.
Lydia nahm die Kappe von ihrem Kopf, der Mond beleuchtete sie.
»Ich,« sagte sie, »ich bin es.«
»Lydia!«
»Lydia, die Dich sucht, die zu Dir kommt, Dir ihre Hand zu bieten.«
»Gute, gute Lydia! Sie zürnen mir nicht!« fragte Rudolf.
»Tritt heraus zu mir, aus der Nacht hierher in das Licht,« fuhr sie fort, »daß wir Auge in Auge sehen.«
Er trat heraus, sie reichte ihm ihre Hand und wandte ihm ihr blasses Gesicht zu. Die Energie ihres Willens leuchtete darin und auf ihrer stolzen Stirn, wie in ihren zu aller Selbstverleugnung entschlossenen Blicken.
»Ich bin gekommen,« sagte sie, »um Dir nichts zu verschweigen. Wie in unserer Kinderzeit nenne ich Dich Du und fordere von Dir, Du sollst mich hören, Du sollst mir folgen.«
»Wohin?«
»Fort von hier! Mein Wagen wartet. Ehe der Morgen kommt, sind wir weit. Die Vergangenheit sinkt hinter Dir, ein neues Leben erwartet Dich!«
»Welches Leben?« murmelte er.
»Bei mir,« fiel sie ein, »bei Lydia, bei Deiner Freundin, die – Dich liebt, Alles für Dich, Rudolf, Alles für Dich. Als ich Dich wiedersah, trieb mich die Sehnsucht meines Unglücks. Ich wollte Dich wiedersehen, Dich wiederfinden Mit Angst erwartete ich den Augenblick, mein Glück wachte auf, als ich Dich erblickte. Ich wollte meine Bande von mir werfen, in Deinen Arm mich retten, mich nicht noch einmal verkaufen lassen, und nun liegt Du selbst in Banden. Raffe Dich auf, sie sind einer unwürdig. Denke an mich, denke an Deinen Vater, an Deinen Namen, an Alles, was Du von Dir werfen willst. Laß und gehen. Rudolf. Ein Schritt, – rief sie, ihre Arme öffnend, – und Du bist frei.«
In diesem Augenblick stand Vreneli neben ihm und griff mit ihrer derben Hand nach seiner Hand.
»Ohne mich soll's nicht geschehen,« sagte sie; »wie ein Dieb in der Nacht sollt Ihr ihn nicht stehlen; dazu freilich seid Ihr auch zu schwach. Schwatzt, was Ihr wollt, er wird nicht auf Euch hören, ich aber mag ihn Euch nicht lassen, weil's nimmer Glück für ihn sein könnte. Habt Ihr nicht gehört, was mein Vater spricht? Ist das ein Mann, wie Ihr ihn braucht? Wär's nicht ein Spielwerk in Eurer Hand, und würd's Euch nicht bald zum Ueberdruß sein? Geht, stolze Dame, geht! Er folgt Euch nicht. Das arme Vreneli hat er sich aufgelesen, das arme Vreneli fragt nichts nach Nam' und Geld. Da steht einer, den wählt, der paßt für Euch und zu Eurem Glück. Den Rudi bekommt ihr nicht, der ist mein!«
Sie deutete auf den Legationsrath, der sich genähert hatte und wenige Schritte von Lydia stehen blieb.
»Wähle zum letzten Male!« sagte Lydia in heftiger, leidenschaftlicher Bewegung. »Wähle zwischen ihr und mir.«
»Ich habe gewählt!« erwiderte er mit seiner sanften, festen Stimme.
Lydia blickte starr auf ihn hin. Vreneli hatte beide Arme um ihn geschlungen, seine Hand lag um ihren Nacken.
»Unglücklicher!« murmelte die Gräfin, den schwarzen Mantel um sich schlagend. Der Legationsrath führte sie fort.
Als die alten Linden in Mariahall im nächsten Jahre wiederum ihre Blätter durch Garten und Weinberg streuten, wenn der Föhn über den See wehte, war es eines Tags in Zürich sehr lebendig um den Großmünster her. Der Cantonsrath hielt seine Jahresversammlung, und nach alter Sitte kam der Zug von der Kirche her, wo eine gottesdienstliche Feier stattgefunden hatte, um nun im großräthlichen Sitzungssaal die wirklichen Geschäfte zu beginnen.
Viele Fremde, welche sich eben in Zürich befanden, wohnten als Zuschauer diesem Aufzuge bei, denn das Wetter war besonders schön und einladend dazu. Eine dichtgedrängte Menge geputzter Herren und Damen wanderte über die Limmatbrücke hin und her, unterhielt sich in den verschiedensten Sprachen und zeigte die Gesichtsformen und Eigenthümlichkeiten der verschiedensten Nationalitäten.
Unter manchen Anderen, welche die Aufmerksamkeit mehr oder weniger erregten, befand sich auch eine Dame um Arme eines vornehm blickenden Herrn von einnehmendem Aeußern. Dem blassen edlen Gesicht der jungen Frau blickten viele Augen nach, plötzlich aber erröthete sie, und zwar vor einem dickköpfigen, rothbärtigen Mann, der, in einen schlechten Sackpaletot eingeknöpft und einen ebenso schäbigen Hut aufgestülpt, eine Cigarre qualmend ihr entgegen kam. Als er dicht bei ihr war, stutzte er vor ihrem Anblick, sah ihren Begleiter an, blieb stehen und schrie auf:
»Ist's wahr oder ist's nicht wahr?«
»Ich denke, es ist wahr, mein sehr würdiger Major,« antwortete der Herr, fein lächelnd. »Sie wissen wohl, man kann Sie nicht anführen, dazu sind andere Leut da.«
»Bei Gott! daran erkenne ich den Herrn Legationsrath,« lachte der Major. »Aber ich will's zugeben, wir sind Alle angeführt worden und ich zu allermeist«
»Wirklich? Sollten wir Alle ein solches Geständniß bestätigen müssen?«
Der Major drehte seinen Filz um und grinste satanisch.
»Es mag Jeder bei sich untersuchen!« schrie er. »Die Frau Gräfin wird's am besten wissen. Wird eine Extrafreude in Mariahall sein, wenn Sie hinaus kommen!«
»Das ist die Absicht der gnädigen Frau wohl nicht,« fuhr der Baron fort. »Wir denken noch heut unsere Reise nach Italien fortzusetzen, wo wir längere Zeit verweilen werden.«
»Wie geht es in Mariahall?« fragte die Gräfin, ihn unterbrechend. »Wie befindet sich der alte Herr?«
»Ich denke, nicht schlechter als gewöhnlich,« erwiderte Herr Murhard; »aber ich bin lange nicht draußen gewesen, denn ich hab's satt gekriegt. Wo die Vernunft aufhört, will ich nichts weiter zu schaffen haben.«
»Ein gewiß zu beherzigender Grundsatz, dem man beistimmen muß,« erwiderte der Legationsrath lächelnd.
»Wo ist Babette?« fragte Lydia.
»Die hat es nicht gemacht wie andere Leut'!« schrie der Major mit seiner gewöhnlichen Grobheit, »hat sich nicht trösten lassen, und darin liegt mein Aergerniß. Am dritten Tage darauf, wie die Geschichte geschehen war, und alle guten Leute die Köpfe schüttelten und klagten die saubere Wirthschaft an, ging ich hinaus, nahm's Bäbli bei Seit' und hielt nicht zurück mit meinen Absichten. Das ist ein verloren Haus, wer darinnen bleibt, muß dulden, daß man mit den Fingern auf ihn weist, also komm mit mir und mach' mit der Wirthschaft ein Ende. Schlecht haben sie Beide an Dir gehandelt, so hör' mich an. Nimm mich dafür mit Allem, was ich habe, ich will's Dir vergelten, so viel ich vermag.«
»Und dies Glück hat sie ausgeschlagen!«
»Wie eine Gans, die ins Feuer läuft. Wenn ein Haus wankt, worin man in guter Zeit gewohnt, sprach sie, und wenn die Leute darin klagen und verzagen, muß man sie nicht verlassen Also ich danke Euch, wie gut ihr es auch meint, denn ich kann's nicht annehmen.«
»Geht es dem Grafen nicht gut?« fragte die Gräfin.
»Es ist vorbei mit allem alten Glanz und wenn's Bäbli nicht wäre, könnte das äußere Ansehen längst nicht mehr gehalten werden. Bei der Auseinandersetzung mit seinem Sohn hat der alte Herr eine unvernünftige Großmuth bewiesen, gab ihm den Tobelhof mit allem Land und aller Einrichtung, statt den Buben hinauszujagen und das Ganze vortheilhaft zu verkaufen, wie es recht und billig gewesen wäre.«.
»Sind sie nicht versöhnt?«
»Bewahr's Gott! darin hält er fest, nicht vor die Augen darf er ihm kommen. All' sein Flehen, und was das Bäbli im Geheimen versucht, hat nicht gefruchtet. Niemand darf den Namen vor ihm aussprechen.«
»Eine strenge, aber wohlverdiente Gerechtigkeit,« sagte der Baron.
»Alles hat seine Zeit,« sagte Herr Murhard. »An der Sache selbst ist nichts mehr zu ändern. Vorher hätt' er Einsehen haben, hätt' das Bäbli bedenken sollen. Jetzt wär's besser, wenn er Nachsicht üben wollt, damit der Sohn sich dankbar bewiese; aber ich glaube, er ging lieber ins Weite. Verschiedentlich schon hat er seine Bilder und Kunstsachen ausgeboten, jedoch viel zu hoch, ein wahrer Heidenpreis. Es kauft es auch Keiner, es müßt' sich denn ein eben solcher Narr finden, wie er es selbst ist.«
»Wie hoch?« fragte die Gräfin.
»Da hab' ich's Blatt, da steht's drin. Es ist ein Lachen darüber in ganz Zürich.«
»Und er« fuhr die Gräfin fort. »Wie geht es ihm?«
»Der Bauer im Tobelhof?« schrie der Major. »Nun, die Wahrheit zu sagen, ich bekomme die Zinsen für mein Geld, das ich darauf stehen habe, mit aller Pünktlichkeit auf Tag und Stunde. So habe ich nicht zu klagen und andere auch nicht. Die Bäuerin hält Ordnung, und ein schmuck' Frauensbild ist es. Es gafft Mancher nach, wenn's in die Stadt kommt. Das Geschäft treibt's eifrig, so kommt es vorwärts. Doch jetzt geht's nicht mit ihr,« setzte er behaglich grinsend hinzu, »sie kann nicht fort.«
»Ist sie krank?« fragte der Baron.
Der Major lachte auf.
»Es ist so eine Krankheit, die mit der Kindtauf' ihr Ende nimmt. Ein Bub' ist angekommen auf dem Tobelhof, doch der Großvater will auch von ihm nichts wissen. Sie haben es nicht einmal wagen dürfen, ihn anzumelden. Doch schauen Sie hin, da kommt der Vater daher; den hat die Gemeinde zum Großrath gewählt, und das ist ein würdig Zeichen für die Achtung, in die er sich gehoben hat.«
Der Zug der Cantonalräthe kam die Stufen vom Münster herunter, und unter den ersten Paaren erblickte Lydia ihren Verwandten. Stattlich schritt er daher, den Kopf frei, das milde Gesicht so freundlich und feierlich, wie sie es kannte, aber gebräunter und männlicher, die Schultern breiter, die Gestalt kräftiger. Einen langen forschenden Blick warf Lydia auf ihn, dann verhüllte sie ihr eigenes Gesicht mit dem Kantenschleier ihres Hutes.
»Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?« sagte sie zu dem Major.
»Ihnen zu gefallen, will ich erfüllen, was Sie befehlen,« versetzte er galant.
»So erwarte ich Sie in einer Stunde in unserem Hotel und bin Ihnen sehr dankbar dafür.«
Mit diesen Worten gab sie dem Legationsrath ihren Arm und entfernte sich, ehe der Zug den Platz erreichte.
So geschah es denn, daß am Nachmittage der Major in den Garten von Mariahall eintrat und plötzlich vor dem alten Herrn und vor Fräulein Babette stand. Der Graf saß in seinem Sessel, seine Füße waren mit Decken eingehüllt. Fräulein Babette saß ihm gegenüber am Tische und las ihm aus einem Buche vor, wobei sie fleißig strickte.
Der alte Herr war in dem einen Jahr viel älter geworden, viel faltiger und vertrockneter. Fräulein Babette dagegen sah noch größer und muskelkräftiger aus. Der Bart auf ihrer Oberlippe schien dem Major noch schöner gewachsen und die dunklen Augen noch energischer zu blicken. Wie sie ihn ansah, empfand er einen Respect, der ihn hinderte, sich so anzumelden, wie er Lust hatte, nämlich in seiner Weise, mit einer gutgemeinten Grobheit, die auf das Haus- und Familienverhältniß Bezug hatte. Babette's Anschauen aber schien ihm dies zu verbieten. So nahm er denn seinen Hut ab und machte eine höfliche Einleitung, daß ein Freund einmal vorspreche, der es sich lange vorgenommen habe.
»Sie sind wirklich seit einiger Zeit nicht bei uns gewesen, mein lieber Major,« erwiderte der alte Herr, mit seiner gewöhnlichen Würdigkeit lächelnd, und er fügte einige allgemeine Fragen hinzu, welche das Wohlergehen des Herrn Majors betrafen.
Es klang jedoch Alles so, als hätte der Gast sich vielleicht in einer Woche nicht blicken lassen, und wäre nicht sonderlich vermißt worden. Nicht die geringste Andeutung, daß etwas vorgefallen sein könnte, wodurch er behindert worden sei, kein Fremdthun, keine Klage und kein scherzendes Wort.
Der Major setzte sich auf den Stuhl, wo er sonst immer gesessen, der alte Christian kam mit einer Flasche Seewein, wie sonst. Babette schenkte ihm ein und reichte ihm ein brennendes Zündhölzchen, um seine Cigarre anzustecken.
Nach und nach wurde es dem Major unheimlich. Bei Allem, was er erzählte, kam er immer bald auf einen Punkt, wo er abbrechen mußte, weil Babette ihn so ansah, daß er es verstand. Er sprach von der Fischerei auf dem See, die in diesem Jahr besonders einträglich sei, da fiel ihm ein, daß die Gerechtigkeit zu fischen, jetzt zum Tobelhof gehöre. Das Holz sei heidnisch theuer, und die schönen Buchen auf der Höhe das Dreifache werth.
Das Bäbli schüttelte der Kopf. In Zürich sei heut der neuerwählte Großrath eingezogen, und zu seiner Freude seien viele tüchtige Männer darin, die des Volkes Wohl bewahren würden. Da legte das Bäbli den Finger auf den Mund und that eine Querfrage: ob er die Zeitung schon gelesen hätte.
»Ich habe sie gelesen.!« schrie er, »und weil ich sie gelesen habe, komme ich her. Sie wollen Ihre Bildersammlung verkaufen, Herr Graf, ich bin der Käufer.«
Der alte Herr hob seinen Kopf auf und lachte ungläubig.
»Ich habe allerdings die Absicht, wenn ich weiß, daß meine Sammlung in gute Hände kommt, allein Sie, mein lieber Freund –«
»Es ist einerlei,« fiel Herr Murhard ein, »ich zahle das Geld, hier liegt's in meiner Brieftasche in guten Wechseln, die ich selbst nehmen will. Aber verschweigen will ich's nicht, mein Geld ist es nicht, denn solch ein Narr bin ich nicht.«
»Wer ist also der Narr oder der Käufer?« fragte der Graf.
»Das bleibt vor der Hand ein Geheimniß,« erwiderte der Major, »bis wir den Kauf abgeschlossen haben.«
Der alte Herr blickte ihn mißtrauisch an und sagte:
»Herr Murhard, ich hoffe nicht von Ihnen, daß Sie einen Auftrag übernommen haben, der etwa mit Menschen und Verhältnissen zusammenhängt, von denen ich nie wieder hören will.«
»Was meinen Sie?« lachte der Major. »Meinen Sie etwa, auf dem Tobelhof wüchsen Frankenthaler, oder das Vreneli könnte sie aus Butter pressen?«
Das bleiche, eingefallene Gesicht des Grafen röthete sich. Er winkte dem Major Schweigen zu, aber dieser ließ sich so leicht nicht abweisen, denn er fuhr fort:
»Da oben giebt's jetzt andere Bilder, so recht aus dem Menschenleben heraus, mit Händen und Beinen und hellem Geschrei.«
Babette unterbrach ihn jetzt.
»Der Herr Graf will zunächst wissen, wer die Sammlung kaufen will, um sich darüber zu bestimmen. Alles Andere gehört nicht hierher.«
»Ich sollte meinen, der Herr Graf schlüg' sie gern los, wenn Einer kommt, der nicht handeln und bieten will,« versetzte der Major. »Geld ist eine schöne Sache unter allen Umständen; es giebt aber Umstände, wo man es nimmt, und käm's auch von Türken und Heiden. Was sollen die alten Stücke da hängen? Auch die Leute im Tobelhof können sie nicht brauchen.«
»Es wird mir zu kühl hier,« sagte der alte Herr. »Brechen wir davon ab, Herr Murhard. Ein andermal, wenn es Ihnen gefällig ist.«
»Sie wollen das Geld nicht nehmen?« rief der Major.
»Der Herr Graf will wissen, wer es giebt,« sagte Babette.
»So denn, meinetwegen; der Herr Graf ist – ein gescheuter Herr! Hier ist ein Brief, den ich ihm übergeben sollte, sobald der Handel seine Richtigkeit gehabt. Seht zu, was darin steht.«
»Er ist an mich gerichtet,« murmelte der Graf.
»Welche Handschrift ist das? Lesen Sie ihn, liebe Babette.«
Fräulein Babette brach das Siegel und begann zu lesen:
Mein theurer väterlicher Freund!
Ihre edle und treffliche Sammlung darf nicht in fremde, unwürdige Hände kommen. Ich bitte Sie daher, dieselbe mir und meinem Gemahl zu überlassen, der sie zu schätzen weiß. Herr Murhard ist beauftragt, den Kaufpreis zu zahlen. Seit einer Woche bin ich mit dem Legationsrath von Springfeld vermählt. Wir verweilen auf der Reise nach Italien nur wenige Stunden in Zürich; sobald wir zurückkehren, eilen wir nach Mariahall in Ihre Arme. Glücklich, wenn diese sich freudig für uns öffnen, wenn wir den verehrten Freund versöhnt und glücklich finden. Vergeben Sie Rudolf! Der Sohn darf dem Vater nicht fehlen, der weise, gütige Vater darf der menschlichen Schwäche des Sohnes nicht immer zürnen. Vergeben Sie auch mir, vergeben Sie uns Allen. Seit einem Jahre leidet auch Ihr Herz. Heilen Sie die Wunden. Segen über Sie!
Lydia.
»Verheirathet ist sie mit ihm!« schrie der Major. »Ich hab's nicht gemerkt, lustig mag es ihr nicht vorkommen. Abgereist sind Beide, doch das Geld ist hier, und der Brief da muß bis in eine heidnische Seele dringen. Niemand kann's leugnen, daß es im Tobelhof wacker hergeht, und nicht umsonst hat die Gemeinde den Mann darin zum Großrath gewählt. Wie soll das Geld gezahlt werden, Herr Graf?«
»Ein Jahr ist vergangen,« sagte der alte Herr mit einem Lächeln, das in den Falten ums seinen Mund stehen blieb, als er schwieg. Plötzlich stand er auf, blickte den Major an und sprach mit lauter Stimme:
»Nein!«
»Nein?« fragte dieser, »was soll es bedeuten, Herr Graf? Wollen Sie das Geld denn nicht haben?«
»Ich will meine Sammlung nicht verkaufen, Herr Murhard.«
»Sie wollen nicht? Es ist keine Vernunft darin. Wollen Sie dem Sohn nicht vergeben, auch jetzt nicht, wo ein schuldlos Wesen da ist – wo Gott vom Himmel steigen könnte und vermöchte nichts mehr zu ändern, so ist es Ihre Sache, – aber das Geld nicht nehmen wollen, das ist eine himmelschreiende Sünd'!«
Der alte Herr erwiderte nichts, er ging, auf Babette gestützt, dem Hause zu, und der Major schüttelte zornig sein Kleid, schlug sich den Hut auf und wollte eben einen grimmigen Schwur anstimmen, mit dieser Unvernunft niemals wieder zusammenzutreffen, als Fräulein Babette zurückblickte, ihm zunickte, und mit einem Zeichen ihn besänftigte. Er hatte einen so bittenden, kläglichen Blick noch nie an ihr gesehen, und dabei deutete sie mit dem Finger nieder, er sollte bleiben, was er nicht mißverstehen konnte.
Er setzte sich daher auf seinen Platz, steckte eine neue Cigarre an und wartete, bis die Schatten immer länger wurden und endlich aus dem Abendhimmel die Sterne hervorschienen. Ein rosiges Leuchten lag auf dem Etzelberg, und der Mond kam darüber her, doch immer noch kam das Bäbli nicht.
Alle Viertelstunden faßte der Major an seinen rothen Bart und wetterte, wollte davon laufen, sprang auf und stand doch wieder still und setzte sich nieder, denn er konnte nicht fort, das Bäbli hatte gar zu flehentlich gewinkt.
»Es muß doch zuletzt kommen,« sagte er, »es geht nicht anders, und ich will's hören, sei es, wann es sei. Denn ich meine es noch zur Stunde gut mit ihm, das will ich ihm beweisen.«
So saß er denn ausharrend, bis er endlich Schritte hörte, und sie war es wirklich.
»Dank Ihnen, mein lieber Freund, daß sie mich erwartet haben,« sagte sie, ihm die Hand drückend, daß er es fühlte.
»Es ist ein Kern in Allem, was Bäbli thut,« antwortete er, »darum halt ich aus.«
»Ich wußt' wohl, Sie würden mich nicht verlassen,« antwortete sie.
»Niemals, Bäbli. Wollen Sie endlich fort aus dem fallenden Hause, wo nichts mehr geachtet wird, nicht einmal das Geld?«
»Ja, ich will fort. Gleich auf der Stelle.«
»Heut noch?« fragte er erstaunt. »In der Nacht? Wohin?«
»Auf den Tobelhof. Hülfe ist jetzt allein bei Vreneli.«
»Bei Vreneli?« schrie er, an seinen Kopf fassend. »Ist's nicht mehr richtig hier oben?«
»Hell und klar,« sagte sie in ihrem festen Tone. »Sorgen Sie nicht, mein lieber Freund, das Bäbli weiß, was es thut. Das Geld in ihrer Tasche wird nicht verachtet werden.«
»In Gottes Namen denn vorwärts!« rief der Major. »Geht's, wohin es gehen mag, ich will dabei sein.«
Nach einiger Zeit lag das Haus wieder in seiner lautlosen Hülle von Nacht und Mondschein, die sich weich und duftig um Giebel und Mauern und um die alten Bäume schmiegte, welche träumerisch darüber hingeneigt, in silbernen Decken schliefen. In den öden Zimmern von Mariahall war Niemand, der sich daran erfreut, und hinausgeschaut hatte auf diesen nächtlichen Glanz und auf den See im Thale, der so wunderbar prächtig heraufstrahlte.
Nur hinter einem Fenster schimmerte Licht durch die geschlossenen Läden, und drinnen saß der alte Herr, seine schmerzenden Füße mit Kissen bedeckt, und gegen den Schmerz in seiner Brust und gegen die wühlende Pein in seinem Kopfe seine Hände bald da, bald dorthin deckend. Sein Athem war kurz und schwer, seine Augen hingen trübe an dem trüben Flämmchen des Lichtes und wanderten unruhig umher irrend durch das Zimmer bis in die fernem dunkelste Ecke. Zuweilen hob er den greisen, schweren Kopf auf, und die alte Würdigkeit dämmerte darin; ein mattes, aber stolzes Lächeln überlief sein Gesicht. Die schmalen, durchsichtigen Hände rangen sich zusammen, als wollte er sie wärmen, aber sie fielen wieder nieder, und seine Lippen zuckten gichtisch, die hohe Stirn zog sich wieder zusammen, der gebrechliche Körper wand sich, als kröchen Scorpione daran herauf bis an sein Herz, und sein Gemurmel wurde zum Seufzer.
Um ihn schwebten die Gespenster seines Lebens. Die Aerzte haben Mittel gegen alle Krankheiten gefunden, aber keines gegen die Qualen einsamer Freudlosigkeit, verlorener Hoffnungen, zerstörter Wünsche und gegen das Gedankenfieber des Unglücks.
Was der alte Herr heute erlebt hatte, schärfte die Pfeile, die ihn getroffen, und das Gift, das an ihren Spitzen trocknete. Seinen Sohn hatte er von sich gestoßen, jede Erinnerung an ihn betäubt, selbst wenn er schlaflos in seinem Bette lag und plötzlich der Vorhang zerriß, der die tragische Werkstätte bedeckt, in welcher die Erinnerungen gemacht werden. Er zog ihn gewaltsam wieder zu, erbitterter als zuvor über den Frevel, der ihm so viel genommen, und nichts als Schmach und Spott dafür gegeben hatte.
Und wenn sein Stolz sich so mit Wehmuth tränkte, dachte er an Lydia und verhärtete sich noch mehr. Der rothe Faden, mit welchem er Vergangenheit und Zukunft verbinden wollte, war zerstört, die Briefe der Gräfin zeigten ihm, wie glücklich sein Lebensabend sein konnte, wie unglücklich Alles geendet. Seit längerer Zeit hatte sie nicht mehr geschrieben, doch der alte Herr beschäftigte sich um so mehr mit ihr. Auf seinem Tische lag ein angefangener Brief, der seine Sehnsucht nach ihr und seinen Trost für sie und sich selbst ausdrückte. Plötzlich war auch dieser Trost eine Täuschung geworden. Lydia hatte sich selbst getröstet, und sie kam, um ihr Bündniß aufzulösen, um ihm dies abzukaufen, und für den verstoßenen Sohn zu bitten.
Was er im tiefsten Grunde seines Herzens verwahrte, eine ungewisse letzte, leise Hoffnung, einen dunkleren Traum, der zuweilen vor ihm vorüberzitterte und ein Schattenbild in seinen Schlummer webte, auch das war jetzt verloren. Sein Sohn konnte niemals mehr aus der Hütte niedersteigen, niemals mehr zu seinen Füßen sinken, seine Arme nach ihm ausstrecken und reuig rufen: Vergieb mir, mein Vater, vergieb mir, Lydia! Mein Unglück, mein Leichtsinn ist abgebüßt, da bin ich, nehmt mich auf.
Lydia erwartete ihn nicht mehr, ein Almosen hatte sie für ihn zurückgelassen. Der alte Herr richtete sich auf, sein Kopf glühte, ein schmerzvolles Zittern schüttelte ihn, aber er lächelte voll Genugthuung dazu und stieß seine Hand durch die Luft, als schöbe er etwas Schweres von sich.
»Fort damit!« flüsterte er, »ich will nichts mehr davon hören. Nichts will ich hören, nichts. Was verloren ist, ist verloren!«
So saß er eine lange Zeit, aber die Pforten waren gesprengt, die Gedanken und ihre Bilder drängten sich um ihn, ohne daß er sich wehrte. War denn sein Sohn so unglücklich? War, was er gethan, so strafenswerth? Ein Menschenleben, wenn es verronnen, läßt wie ein Vulkan nichts übrig als Asche. Hatte er nicht in seiner Jugendzeit, was er damals Plunder und Flitter nannte, was, wie er oft gerufen, der Menschheit Verderbniß enthalte, von sich geworfen und war in diese Zurückgezogenheit gewandert, um seine menschliche Freiheit zu bewahren? Wenn sein Sohn weiter ging, weiter hinabstieg in Arbeit, Schweiß und Stille, war das Schande? Wenn er leben wollte, wie Millionen leben, war das entehrend? – Hatten ihn seine Mitbürger nicht geehrt; sagte der Major nicht, daß er zum Großrath gewählt wurde, und seine Frau – diese Magd – Vreneli – er hatte sie immer loben hören, und – sein Leben gerettet.
Wenn er sie liebte – warum sollte das nicht möglich sein? Die Liebe hängt nicht an Seidenkleidern und Kanten, und was der alte Mathies gesagt hatte, war das Lüge? Es kommt darauf an, wie die Neigungen passen, ob der Graf zum Hirtenmädchen oder zur Gräfin gehört.
Der alte Herr kämpfte gegen jeden Satz an, den eine geheime Macht in sein Ohr flüsterte. Ohne Regung saß er in seinem Stuhl, aber in ihm rangen starke Feinde, und keiner wollte unterliegen.
»Nein, nein,« murmelte er, »Elend hat er über sich und mich gebracht.«
»Du trägst die Schuld!« rief die Stimme in seinem Ohr.
»Nicht ich. Er allein! Er war es,« antwortete er.
»Hast Du sorgfältig über ihn gewacht, ihn sorgfältig erzogen?« fragte die Stimme.
»Auch das noch, auch solchen Vorwurf!« seufzte der alte Herr.«
»Nach seiner Mutter rief e!t« flüsterte die Stimme. »Sie hätte ihn nicht mit ihrem Fluche an den Fersen von ihrem Angesicht gejagt.«
»Nicht?« sagte der alte Herr, sich aufrichtend. »Ja! ja! Sie hätte wie ich gefühlt, hätte wie ich ihn aus ihrem Herzen gerissen. Es darf nicht geschehen. Du hast keinen Sohn, Maria; ich nicht!«
Die Hände über seine Augen gedeckt, saß er in seinem Weh, und die Stimme sprach nicht mehr. Es war, als bräche die Ewigkeit über ihn herein, als zerfiele alles in und um ihn in Staub, und nichts bliebe übrig, nichts als Schweigen und Finsternis.
Plötzlich aber hörte er einen leisen, süßen Ton klingen, einen Ton des Lebens aus ferner Welt, und ein Lächeln ergoß sich über sein müdes Gesicht. Er ließ die Hände niederfallen und horchte dem Tone nach, und dieser Klang kam von Neuem. Wie Geisterhauch kam es um ihn her, und als er seine Augen öffnete, wußte er gewiß, daß es keine Täuschung sei.
Er stand auf, seine Füße wankten, zitterten, als er das Licht ergriff. Wer sandte ihm das Zeichen? Wer rief ihn und wozu? Die Sehnsucht wachte in seinem öden Herzen auf und trieb ihn durch die dunklen Gemächer dem süßen Klange nach, und jetzt stand er vor dem letzten, wo die einst gelitten und gestorben, die er geliebt und beklagt hatte. Jetzt öffnete er die Thür. Durch die hohen Fenster fiel das Mondlicht herein und übergoß das Getäfel vor der finstern Nische mit seinem feinen, strahlenden Glanz. Von dort her klangen die Accorde und verhallten, als der alte Herr sich näherte.
Ein Weib lag dort auf ihren Knieen, ein Mann kniete neben ihr, und wie sie die Zither fallen ließ, die sie bisher gehalten, nahm sie aus des Mannes Arm ein Kissen, auf dem ein Kind schlief, und hielt es dem alten Herrn entgegen.
Er blickte auf sie nieder in ihr Gesicht, das froh und vertrauend zu ihm aufschaute, dann blickte er den Mann an und wandte sich ab.
»Lieber Herr!« rief Vreneli, »das ist unser Bub'. Zürnt uns nicht darum, wir bringen ihn Euch, damit Euer Segen ihm nicht fehle.«
Der alte Herr stand ohne Regung.
»O! seht doch, seht,« sprach Vreneli, die blauen Augen voll Freudigkeit, »was es für ein feines Bübli ist. Segnet es, lieber Herr, es wird Euch Freude machen.«
Der alte Herr trat einen Schritt näher heran, langsam streckte er seine Hand aus und legte sie auf den Kopf des schlafenden Kindes. Er beugte sich nieder und blickte in das friedliche Gesicht, da übermannte ihn die Liebe.
»Er sieht aus wie Deine Mutter, Rudolf,« sagte er mit so vieler Festigkeit, wie ihm möglich war.
»Um meiner Mutter willen!« rief Rudolf. »Deine Vergebung! Deinen Segen, Vater!«
»Die Ereignisse sind leider dahin gekommen,« antwortete der alte Herr würdevoll, daß – daß mein Segen – o! mein Sohn! – mein Sohn!«
Er konnte nicht länger die Würdigkeit behaupten, er breitete seine Arme aus, der Sohn lag an seiner Brust.
»Segen über Dich!« flüsterte er mit zitternder, erstickender Stimme. »Ueber Dein Kind, über Vreneli!«
»Da ist es!« sagte Vreneli, das Kind ihm hinhaltend. »Nehmt's in Eure Arme, Herr, nehmt es hin und gebt ihm seinen Namen.«
Er blickte es lange an und küßte es, und indem er es zurückgab, sagte er:
»Meinen Namen soll es tragen, aber Gott gebe ihm Dein treues gutes Herz, Vreneli – meine Tochter.«
»Und es ist Alles gut!« schrie der Major, indem er mit Babetten aus der düsteren Nische trat, wo er mit ihr verborgen gestanden. »Schaut's Bäbli an, Herr Graf, das hat den richtigen Verstand. Sie bringt Euch, was Ihr verschmäht habt, Kinder und Enkel und dazu das Geld. Das werdet Ihr jetzt nicht mehr zurückweisen, und somit ist Alles da, um das wankende Haus wieder fest und voll Freud' zu machen.«