Eduard Mörike
Bruchstücke eines Romans
Eduard Mörike

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»Teils brachten es die äußeren Verhältnisse des Baronets mit sich, daß er bald nach dem (frühzeitigen) Tode seiner ersten Gemahlin sich von der Stadt nach seinem stillgelegenen Landsitz zurückzog, teils war es namentlich der Gram über gedachten Verlust, was diesen Entschluß sehr begünstigte. Er lebte lange Zeit fast ausschließlich der Ökonomie und der Jagd. So fiel die frühe Kindheit der einzigen Tochter bis zu dem zwölften Jahr in einer selten unterbrochenen Einsamkeit der Aufsicht ihrer Großmutter väterlicherseits und dem Unterricht einer geschickten, dabei aber nicht sehr energischen Gouvernante anheim. Unter der Dienerschaft befand sich ein alter Schotte, James Gonnefield, der von Sir Leithem nicht ohne Vorliebe für die Sonderbarkeit seines Charakters, aber vorzüglich auch um seiner bewährten Treue willen, als Hausvogt auf das Gut gesetzt worden war; sein Kopf stak voll von Geschichten und Märchen; und wie nun auf dem Lande die Berührung zwischen Kindern und Dienstboten nicht immer zu vermeiden ist, so fand der Alte an dem Fräulein bald seine eifrigste Patronin; konnte doch selbst die Großmutter einiges Wohlgefallen an seinen Erzählungen nicht verleugnen. Der Reiz derselben war so neu und mächtig, daß es kein Wunder ist, wenn sie der Phantasie des Mädchens eine eigentümliche und bleibende Gestalt verliehen. Trotz diesem gab die durch so manche Überlieferungen von Seiten anderer stets frisch erhaltene Erinnerung an die Frömmigkeit einer früh verstorbenen Mu[tter] dem engen Horizont des Mädchens eine sehr milde und wohltätige Tinktur, aus welcher sich bereits die deutlichen Anfänge eines innigen religiösen Wachstums ankündigen zu wollen schienen. Leider aber fiel in eben diese Zeit ein Besuch, den der Baronet von einer nahen Verwandten seiner verstorbenen Frau aus Deutschland erhielt. Sie war, wie jene, streng, man darf wohl sagen schwärmerisch der katholischen Kirche ergeben, bei aller Jugend und Liebenswürdigkeit jeder Heirat abgeneigt, übrigens geistreich und bis auf einen gewissen Punkt, der leider bald genug zur Sprache kam, dem Baronet höchst wert. Fräulein Josephine trat nämlich, teils in Auftrag der Familie, teils aus eigener lebhaftester Überzeugung, mit der schon vor der Verbindung förmlich abgetanen, nachher aber zu verschiedenen Malen wieder erneuerten Frage wegen der Konfession des Kindes hervor, und der Vater, über diese unerwartete, unbillige Anmutung, so bescheiden sie auch anfangs [?] gestellt war, höchlich verwundert, sah sich im Verfolg der Unterhandlung mit allen seinen Einwürfen (worunter die zunehmenden Jahre der Tochter einer der gerechtesten war) dennoch verschiedentlich ins Gedränge gebracht. Denn nicht nur wiederholt man ihm ausführlich die Geschichte eines ganz ähnlichen Falles, der sich neulich in Österreich begeben, sondern er ward auch auf eine so zarte als schmerzliche Weise an die stillen Wünsche der seligen Lady erinnert, die in Betracht der unbegrenzten Liebe ihres Gatten mit der Hoffnung aus der Welt gegangen war, daß er vielleicht nach ihrem Tod erfüllen werde, was sie lebend ihm nicht hatte abgewinnen können. Es kam nunmehr zu lebhaften Auftritten, und die Dame beging die Unvorsichtigkeit, ihren Schmerz, ihre Sorge dem halb verstehenden Kinde nicht ganz zu verbergen. Dies mußte bei einem so ahnungsvollen guten Herzen notwendig Folgen haben. Das Mädchen empfand, es handle sich hier um etwas Heiliges, Entscheidendes und um den Segen ihrer Mutter, vielleicht um deren ewige Ruhe. Mit diesen Gefühlen kam die Zärtlichkeit für den Vater in einen eben [so] sonderbaren als gefährlichen Widerstreit. Sie ward insgeheim irre an ihm, sie begriff nicht, wie man zugleich so hart und so gütig sein könne; wie es dem Vater möglich gewesen war, die Mutter über alles zu lieben und doch dabei die größte Abneigung zu haben gegen das, was ihr der Weg zum Himmel gewesen. Sie hing in aller Stille tausend Betrachtungen nach, ohne daß solche jemand geflissentlich nährte; aber es fehlte nicht an Veranlassungen, wo diese Beängstigungen sich unvermutet mit einer Heftigkeit Luft machte[n], welche dem Baronet anfangs gar nicht und selbst der Dame nicht sogleich erklärlich war; wie sehr dieselbe auch den Schaden gutzumachen eilte, es gelang nicht vollständig. Der Vater seinerseits nahm die Sache im Herzen weit leichter, als seine strafenden Winke gegen Fräulein Josephine verrieten. Nicht lange darauf reiste sie ab, ziemlich versöhnt mit ihrem unerbittlichen Vetter. Allein bei Mary wirkten die schiefen Eindrücke noch im verborgenen fort, bis das Mädchen die ländliche Stille wieder mit der Stadt vertauschen durfte, wo freilich eine neue Welt sie umfing, ohne doch wirklich ihre volle Gewalt auf eine so innerliche reichbegabte Natur in die Länge ausüben zu können. Die junge Lady, als aufsprossende vielverheißende Schönheit weit über ihr Alter behandelt, war des geräuschvollen Taglaufs, der unaufhörlichen Gesellschaften und einer schalen Vornehmheit bald überdrüssig.«

»Wer aber sollte glauben, daß seit dem erwähnten Religionszwist mit [Lücke] sich ein stilles Mißtrauen, wenn nicht gar eine Abneigung gegen diese Materien bei dem Kinde einschleichen und festsetzen konnte, und doch war es nicht anders. Es fiel auch wohl zuweilen in öffentlichen Zirkeln ein keckes Wort, das jenen feinen Ohren nicht entschlüpfte; dazu kamen später einige in des Vater[s] Bibliothek zufällig aufgegriffene Schriften der Art, wie sie zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts aus falschem naturalistischen Bestreben in Unzahl ausgeheckt wurden, welche mit einem Schein von Wissenschaftlichkeit bei einer faßlichen und meist gefälligen Darstellung den erwachenden Verstand anzuziehen sehr geeignet waren. Wenn nun der Vater auch eine solche Lektüre nicht gerade unterstützte, so verbot er sie doch auch nicht strenge; er war vielleicht im Innern halb erfreut über diese Zeichen einer früh reifen reflektierenden Natur. Inzwischen merkte man bei Mary einen ganz ungewohnten Zustand. Sie zeigte sich ungesellig und heftig, viel verlangend und durch nichts befriedigt, nicht anders als ein Kind, das nicht weiß, was es will. War sie dagegen in andern Augenblicken wieder besonders anschließend und vertrauend, zumal gegen die Leute, so ging auch dies über ihr gewöhnliches Maß, und im ganzen blieb doch immer jene widerspenstige Laune die vorherrschende. Da sich kein bestimmter Grund dabei denken ließ, so ward jedermann ungeduldig, und sie hatte manchen Verdruß, denn freilich ahnte man nicht, daß ihr Benehmen nur der ungeschickte Ausdruck einer gewaltsamen Gärung aller ihrer sittlichen und natürlichen Kräfte sei. Sie verbarg ein Gefühl, das sie auf keine Art mit sich vereinigen, das sie weder anerkennen noch abweisen konnte. Ich erfuhr in der Folge das kleine Geheimnis aus dem Munde einer mir nahe verbundenen Freundin, die das Vertrauen des Fräuleins eine Zeitlang in hohem Grade besaß.«

[Alexis]

»Im tiefsten Schlafe lag halbnackt ein bettelhafter Knabe in der angenehmsten Stellung auf dem bemoosten Steine vor uns ausgestreckt. Ein hoher tragbarer Käfig mit fremden Vögeln und einer kleinen Schlange von ausgezeichneter Schönheit stand daneben und verriet das Gewerbe des jungen Menschen, dessen übriger Zustand uns noch Rätsel war, denn es sah eben aus, als wäre er, von Gaunern bis auf die Haut geplündert, in diesen Winkel geflüchtet; kaum, daß ihm ein paar kurze, rohe [?] Beinkleider übriggeblieben; Brust, Arme, Füße waren unbedeckt. Das sonnverbrannte höchst edelgeformte Gesicht zeugte von frischer Gesundheit, und seine dunkle Farbe stach auffallend gegen das zarte Weiß der Glieder ab. Er mochte 13 Jahre haben. Nachdem wir eine Zeitlang unsern Betrachtungen über die seltsame Szene nachgegangen, besonders auch nicht ohne Mitleid auf die Tiere geblickt hatten, die mit Verwunderung aus ihren Gittern äugelten, [Lücke: begann?] der Junge sich zu regen, er richtet den Kopf und starrt uns beide mit verworrnen schlaftrunknen Augen an, er muß sich erst besinnen, wo er sei, wie er hieher geraten, ihm fällt der Käfig ins Gesicht, und ein weinerlicher Zug von Schmerz und Unmut regt sich dabei um seine Lippen. Wir sprechen ihn an, doch gibt er kein rechtes Gehör und murmelte einige Worte, woraus man nicht viel mehr entnehmen konnte, als daß es ein Irländer sei. ›Sei artig, mein Bursche‹, sagt der Baronet, ›wir wollen dir helfen, entdeck uns deine Lage, du wirst es nicht bereuen.‹ So wenig dies freundliche Wort ihn zu ermuntern schien, so brachten wir zuletzt doch ungefähr soviel heraus: Der Knabe war vor zwei Tagen mit seinen kleinen Sehenswürdigkeiten im nächsten Dorfe angelangt, wo er unentgeltliche Herberge bei einem Wirt gehabt, dessen wilde Jungen sogleich ein Wohlgefallen an dem fremden Gast gefunden haben mochten. Sie gaben ihm, da er nun heute wohlversorgt seine Wanderung weiter fortsetzen wollte, zu vieren das Geleite vor den Ort hinaus, bis an den Waldbach, der sich in ansehnlicher Breite durch die schönsten Wiesen zwischen Obstbäumen hinschlängelte, wo sie dann alle miteinander, weil der Morgen schon sehr heiß gewesen, die Lust anwandelt, zu baden und so den Abschied auf eine vergnügliche Weise zu feiern, was denn auch geschah. Nun war ein besonders boshafter Bube dabei, der heimlich mit den andern Abrede nahm, dem Fremden zu guter Letzt einen seiner Papageien abzuführen. Unser Irländer belauscht jedoch den Frevler just über der Tat und springt, soeben im Ankleiden begriffen, mit Heftigkeit auf ihn los, es kommt zum allgemeinen Handgemenge, darüber der herrliche Vogel erdrückt wird. Jener, ganz außer sich vor Wut, trifft den Anstifter dergestalt mit der Faust ins Gesicht, daß er blutend zu Boden stürzt und liegen bleibt, worauf die andern um Hilfe rufend nach dem Dorfe rennen. Vergebens sucht der Fremde seine Kleider, die Gesellen hatten sie listigerweise vertragen. Um sich vor Schmach zu retten und in der Verzweiflung nahm jetzt der arme Tropf seinen Kasten auf den bloßen Rücken, durchwatete das Wasser und lief vom jenseitigen Ufer aus dem nächsten Walde zu, den steilen Berg durchs Dickicht herauf, wo er denn unvermutet hier auf das Portal der Höhle trifft. Er sank ermattet nieder und schlief, noch zornige Tränen im Auge, bald ein, so wie wir ihn dann fanden. Seine größte Sorge war nun der Bursche, den er in der Ohnmacht zurückgelassen, dann seine Kleider, sein Geld. Wir suchten ihn soviel wie möglich zu beruhigen, und wirklich rührend war's, wie die gelassenen Worte des Baronets, welcher die Gefahr des Verwundeten leicht nahm, den ersten getrosten Lichtstrahl auf des Knaben Stirne hervorlockten. Er sprach nun gern, seine Rede verriet viel Geist und Munterkeit. Indes war es doch Zeit, daß wir uns nach unserer Gesellschaft umsahn; der Knabe sollte sich inzwischen hier gedulden, man wollte einen Bedienten anweisen, ihm einstweilen die nötigste Kleidung zu schaffen.

Wir gingen und fanden nach stundenlangem Umherstreifen die andern endlich an dem vorher bestimmten Vereinigungsort sehr guten Muts beisammen. Der Baronet triumphierte, daß wir allein so glücklich gewesen sein sollten, die Höhle zu finden. Da es schon ziemlich spät und alle ohnehin gar sehr ermüdet waren, fiel es natürlich niemanden mehr ein, den Gang nachzuholen. Das kleine Abenteuer verschwieg der Baronet noch vorderhand, und auf dem Heimweg äußerte er mir, er wünschte mit dem jungen Menschen eine Probe zu machen, und wenn er sich gut anließe, etwas für sein Fortkommen zu tun, es sei bereits Anstalt getroffen, daß er nach der Stadt gebracht werde.

In der Tat wurde auch das ganze Haus nicht wenig überrascht, als schon am dritten Tag der angenehme Fremdling, der sich Alexis nannte, von Kopf bis zu Fuße verwandelt, in einer zierlich dunkeln Jacke sich produzierte. Er sah viel größer aus als damals, betrug sich mit ungezwungenem Anstand freundlich und sittig, deshalb ihn auch die Frauen gleich in besondre Gunst zu nehmen schienen. Nur Mary zeigte eine unwiderstehliche Scheu vor seiner Gegenwart, doch ohne sich, als man sie darüber fragte, befriedigend zu erklären. Man legte es daher ihrer gewöhnlichen Laune zur Last. Der Kammerdiener, welchem die Sorge der Ausstattung durch den Schneider überlassen war, berichtete nebenbei, es habe der sonderbare Mensch anfangs mit einer Art von Verlegenheit, sogar von heimlich gekränktem Stolze sich diese Wohltaten gleichsam aufnötigen lassen und ein paarmal herzlich gelacht über die ihm erzeigte Ehre; man könne überhaupt nicht recht aus ihm kommen.

Sir Leithem machte sich's nach seiner Art zu einem unterhaltenden Geschäfte, die Fähigkeiten seines Günstlings zu prüfen und in Absicht auf dessen persönliche Verhältnisse der Wahrheit möglichst auf die Spur zu kommen, wobei der Knabe, soviel er selber wußte, naiv und ehrlich Bescheid gab. Soweit seine Erinnerung reichte, betrachtete er Genf als seine Heimat. Er war daselbst anfänglich unter der Aufsicht einer Matrone von bürgerlichem Stande, später in eine große Pension gegeben worden, wo er infolge eines mutwilligen Streichs beschimpft und überdies so hart gehalten wurde, daß er in der Erbitterung und in der Not seines Herzens kein ander Mittel sah, als zu entlaufen. Er nahm einen Teil seiner Habseligkeiten zusammen, legte die schlechteste Kleidung an und suchte das Weite. Ein Savoyarde seines Alters überließ ihm jenen Käfig mit lebendigen Raritäten für einen Spottpreis, vermutlich weil er sie gestohlen und eilig wieder hatte los sein wollen. Alexis war glückselig in seinem neuen Besitz, den ihm auch niemand weiter auf seiner Wanderung streitig machte. Von jeher unverwöhnt, rüstig, gewandt, keck, wie er war, fand er eine Lebensweise, um die er früher manchen beneidete, eher bequem und lustig als drückend. Was aber seinen Mut im Innersten befeuerte, war die gleich anfangs gefaßte Hoffnung, seinen Vater ausfindig zu machen, von dem man ihm gesagt, daß es ein Engländer wäre, daß er sich seiner aus der Ferne annehme, angesehen und reich genug sei, um ihn dereinst zu Ehren zu erheben. Alexis selbst trug seines Vaters Namen nicht, doch hatte er sich diesen wohl gemerkt als er [bricht ab]. Es war ein Name, der uns zwar sogleich auf ein edles Geschlecht hinwies, der aber mehr als einer Familie in England angehörte. So konnte man freilich nur raten und vermuten. Indes bemerkten wir bald, daß Leithem im stillen bereits einen sicheren Faden verfolgte. Er ging sehr behutsam zu Werk, und niemand durfte von der Sache reden. Es liefen Briefe nach verschiedenen Seiten aus, deren Erfolg man abwarten mußte. Vorläufig konnte für den Jungen nicht besser gesorgt werden, als indem er einer öffentlichen Lehranstalt von anerkanntem Rufe überantwortet wurde, wo er mit Zöglingen jeder Altersstufe zusammenwohnend« [bricht ab]

*

»Er gefiel sich gut in seiner Lage und ward bei Leithems immer seltener gesehn.

Um aber von City zu reden, so befand sich diese ihrerseits in einem gem[ischten] Zustand, den freilich niemand ahnen konnte. Nachdem ich erzählt, auf welche Art und wo der Baronet mit mir den jungen Menschen aufgefunden, so werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen sage, daß auch Mary damals, von einem eigenen Unstern geleitet, jenem Versteck nahe genug gekommen war. Sie hatte sich im eifrigen Suchen nach der Höhle, indem sie ihrem eigenen Glücke mehr als fremdem vertraute, absichtlich oder zufällig von den andern entfernt, auch wirklich in kurzem den Platz ausgespürt, den wir soeben erst verlassen haben konnten, vergeblich sucht sie nach dem wahren Eingange, weil ihn das dichteste Gebüsch umgibt; seitwärts dagegen und höher hinauf zwischen Moos und Gestein bemerkt sie verschiedene Klüfte und engere Risse, durch deren einen man beim Niederbücken auf einmal mit froher Überraschung ins Innere des Felsen wie in eine helle Stube hinabschaut. Und nun – City traut ihren Sinnen kaum – ein lebendes Wesen hier unten zu sehn; sie ist wie angefesselt, wie geblendet. Der Fremdling liegt bequem rückwärts auf den Boden gestreckt, den Kopf hat er im Schatten ruhn und beide Arme darum geschlagen, auf einem Knie, das aufgerichtet ist, saß ihm ein Papagei, dessen Gefieder herrlich im Sonnenschein spielt. Der Knabe, der bis jetzt die hellen Augen wohlgemut und ruhig an der Wölbung umherkreuzen ließ, fährt, da er das Antlitz des Mädchens erblickt, betroffen auf, wie vom Wetterschein erschreckt, doch haben beider Blicke sich nicht so bald begegnet, als schon das Mädchen wieder verschwand. Sie eilt und läuft, als flammte der Wald ihr im Rücken, nach ihrer Gesellschaft zurück, wo sie noch lange vor uns beiden ankommt. Nachdenklich und einsilbig, wie man es meist an ihr gewohnt war, verriet ihr Betragen an selbigem Abend just nichts Besonderes. Wo sie gewesen und was sie gesehn, blieb tief in ihrer Brust verschlossen. Mit allem Reiz eines verbotnen Glückes, unheimlich und unwiderstehlich liegt das Geheimnis in ihr, worüber sie Zeit hat, die folgenden Tage zu brüten, sieht sie sich, wo sie geht und steht, wie von dem Glanz eines Wunders begleitet, sie ist sich selbst, die ganze Außenwelt ist ihr verändert. In jenem abenteuerlichen Bilde floß vor ihrer Phantasie alles zusammen, was ihr je Seltsames, Liebliches aus Märchen und Geschichten ihrer frühsten Kindheit vorgeschwebt hatte. Unaufhörlich bewegt sich die reizende Bildung des Knaben vor ihr, doch kommt der Wunsch, es sollte die Gestalt ihr leibhaftig an irgendeinem Ort zum zweitenmal begegnen, auch noch von fern nicht in ihre Seele, so ganz unmöglich schien die Wiederholung eines Moments, der selbst nur einem Traume glich. Als daher mit dem dritten Tage Alexis wirklich vor ihr stand, als er die Augen vor ihr niederschlug, sie glaubte in die Erde zu sinken vor Schrecken, Verwirrung und Scham.«

*

»Unterdessen hatte sich die Mutmaßung des Baronets bestätigt. – –

Alexis ist der natürliche Sohn des Lord Kinnmoore und einer Französin, die er in der Schweiz hatte kennenlernen. Nachdem sie ihren Beschützer lange genug hintergangen und auf die eigennützigste [ergänze: Weise] mißbraucht, wandte sie sich nach Frankreich, indes der Sohn unter Bedingungen, welche dem Herzen des Vaters zur Ehre gereichten, einer fremden Pflege anvertraut wurde. Ein unruhiger Reisegeist führte inzwischen den Lord zu Wasser und zu Lande durch die Welt; die letzten Jahre brachte er in Griechenland zu, wo er sich für die Sache der unterdrückten Nation sehr tätig interessiert haben soll. Der Weitentfernte konnte nun mitten unter seinen Zerstreuungen an eine unglückliche Epoche seines früheren Lebens auf keine angenehmere Weise erinnert werden, als da ein alter Bekannter (denn in der Tat stand einst der Baronet in gutem Verhältnis zu ihm) ganz unerwartet Nachricht von dem wundersamen Geschick eines hoffnungsvoll heranwachsenden Sohnes erteilte. Der letztere selbst hatte für seinen unbekannten Vater einige ehrerbietige Worte beilegen dürfen. Die Antwort, welche nicht zu lange ausblieb, lautete ebenso verbindlich gegen den Baronet als vielversprechend für den Zögling, im Falle er den guten Erwartungen ferner entspräche, die man von ihm hege. Zugleich war eine Anweisung gegeben, ihn, wenn er Neigung dazu hätte, auf die Militärakademie zu befördern. Dies Anerbieten wurde von Alexis mit größtem Feuer ergriffen und [Lücke] ausgeführt.«

Reise des Baronets nach Deutschland, wo Mary bei Killford bleibt. – Die Eltern weiter in die Schweiz.

*

Drei Jahre war Alexis in dem Institut, als ihm ein Schreiben aus Morea die bevorstehende Rückkehr seines Vaters meldet. Dieser verspricht, bis gegen Mitte Sommers zu Livorno einzutreffen. Dort soll ihn Alexis finden und zum erstenmal begrüßen, in der Zwischenzeit sich die Schweiz ein wenig besehen usw. [bricht ab].

»Ich sah in einen mächtig großen Saal, welcher von oben durch einen kleinen Kronleuchter sattsam erhellt, statt der Tapeten schöne dunkelrote Draperien, mehrere lange niedere Sofas von weißem Stoff, übrigens beinah keine Meubles hatte und doch das Auge nichts vermissen ließ, was zu der Harmonie des Ganzen diente. Eine halboffene Flügeltür führte auf den Balkon hinaus. In der Mitte des Saals aber lag die phantastische Schöne, den Ellenbogen durch ein Polster unterstützt und lesend, auf einem bunten Teppiche. Obwohl sie mir den Rücken bot, so hatt' [ich] doch meist ihr Profil vor Augen, wie es gegen den seitwärts auf dem Kanapee sitzenden James gekehrt war. Derselbe trug, wie man mir vorausgesagt hatte, eine alte verschossene Bergschottentracht, die ihn in Wahrheit sehr natürlich ließ. Nun reicht ihm die Gebieterin das Buch stillschweigend hinüber, er fängt bei der bezeichneten Stelle in englischer Sprache vorzulesen an, und zwar mit einer eigenen Feierlichkeit, die allerdings dem Gegenstand – es war nicht weniger noch mehr als eine Reisebeschreibung – unangemessen scheinen könnte, jedoch für mich unter gegenwärtigen Umständen und in dem Munde des von den Schilderungen seiner Heimat recht ernstlich begeisterten Schotten etwas Naives, Rührendes bekam. Meine geringe Sprachkenntnis hinderte mich nicht, den fremden Naturbildern einigermaßen nachzukommen und, soviel mir in Worten verloren ging, durch die erregte Einbildung ergänzen zu lassen. Es waren treffliche Beschreibungen von Staffa, Fingalos Höhle, von Papanestra und dergleichen. Während der Vorlesung, die mir am Ende doch etwas zu lange dauern wollte, kam auf den Zehen die alte Frau Gunnefield, eine hohe nordische Figur, mit dem Spinnrocken herein und setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Ecke, nachdem sie einen Korb mit frischgebrochnen Blumen neben City gestellt, welche sogleich einige herausgriff und einen Kranz zu flechten begann.

Ein auffallend starker und prächtiger Akkord, welchen auf einmal die Aeolsharfen zum Saal hereinsandten, unterbrach den Anagnosten. City sah freundlich bedeutend mit einer Gebärde empor, als wollte sie den traurig verschwebenden Ton an ihrer weißen Hand hinstreifen fühlen. ›Das verdient wohl ein Lied‹, sagt sie leise zum Alten hinüber, und ihren Sinn erratend begann er eine alte Romanze, deren schaurige Melodie nicht bezeichnender hätte sein können; dazu die angenehme Tiefe seiner Stimme, worein City alsbald den süß gedämpften Schmelz der ihrigen mischte, während sie den angefangnen Kranz auf ihren Knien ruhen ließ.

Es war ein Herzog Millisint usw.

Eine stille Pause trat ein, man hörte nur das rollende Spindel der Alten, und draußen rührte sich kein Lüftchen mehr. Ich meinerseits in meinem dunkeln Versteck war an ein Fenster getreten und sah den See geheimnisvoll zwischen den Pappeln durchblicken.

Indessen hat sich die Alte hinter das Fräulein zu deren Häupten gestellt, ein Putzkästchen steht offen daneben, und bequem auf ihren Knien liegend, schickt sich die Dienerin an, dem schönen Kinde den Kopfputz zu ändern, die schwarzen Haare fallen aufgelöst in breiten Teilen tief herab und schlichten sich unter dem Kamm. ›Nehmt's nicht übel‹, sagte die Gunnefield, ›dies Euer Lager deucht mir doch etwas gar zu unbequem für mich. Aber so seid Ihr einmal. Kaum sagt Euch gestern mein Mann, daß Herr Viktor diesen alten Teppich in besondre Affektion [ergänze etwa: genommen] und ich weiß nicht was für ein Wohlgefallen an der fremden Landschaft gefunden, an den wilden Tieren, Panthern, Affen, Schlangen, Papageien und was noch alles darauf eingewirkt ist, und daß er uns bei der Gelegenheit die Geschichte erzählt, wie ihn Sir Leithem in Gesellschaft solcher Bestien erstmals in einer Höhle getroffen, da war meine Lady außer sich vor Freuden und wollte gleich mitten unter diesen Ungeheuern, zwischen Palmen und Kokosbäumen ruhn. Nun, wenn's Euch in der Stellung schmeckt – ich habe nichts dawider; gehört's doch zu dem übrigen. Nur Euern Witz muß ich bewundern. Über die Liebe ist doch nichts Erfindrischers am Menschen.‹ Hier nahm die Alte ein zartes Fläschchen aus der Schatulle herauf und sagte schalkhaft: ›Das hat auch seine Bedeutung.‹ – ›Wieso?‹ fragte City. ›Nun meinet Ihr, ich soll nicht merken, aus welchen Händen Ihr den kostbaren Wohlgeruch habt? Warum ich nur in auserlesnen Stunden dieses Öl in Eure Haare träufeln darf! Der balsamische Zauber umfängt Eure Sinne mit der vollen Gegenwart des hübschen Knaben, dem Ihr das Gläschen verdanket. Jedoch, nehmt Euch in acht, so etwas schleicht ins Blut hinüber und macht die Seele krank.‹ – ›Schweig doch!‹ rief City halb lachend, halb böse aus, ›das ist ganz anders. Zwar soweit hast du recht, man könnte diesen Wohlgeruch wohl einen schwermütigen nennen. Ja, wahrhaftig! Da fällt mir ein, was eine gute arme sentimentale Miß einst zu mir sagte. Schwermütig seufzte sie: Wo ist denn etwas Schönes in der Welt, das nicht nach dieser Seite neigt? Nun ja, so ganz unrecht hat [sie] auch nicht.‹ – ›Ich kann Euch nur halbwegs verstehn‹, versetzte die Gunnefield, ›aber in meiner Jugend hab' ich ein hübsches Fischermädchen gekannt, der kam es manchmal an, im Mondschein ihren runden Arm zu küssen, ganz in Gedanken, als tät's der Liebhaber ihr.‹ City lachte herzlich: ›Das war eine Närrin, und du bist die größte, so etwas auch nur nachzusagen. Aber sieh, dein Mann ist eingeschlafen über dein unzeitig Geschwätz.‹ – ›Nicht doch‹, rief Gunnefield sich ermunternd, ›ich hatte nur so meine Gedanken vor mich hin über den tollsten Streich, der mir so lang ich lebe vorkam. Wenn Ihr erlaubt, erzähl' ich's Euch anstatt eines Märchens, obgleich es reine Wahrheit ist, wenn ich meinen leiblichen Augen habe trauen dürfen; derweil wird die vierhändige Flechtarbeit mit Kranz und Zöpfen fertig. Hört nur!«


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