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Der Pfarrer wohnte auf der Heide, dort wo die Heidehügel sich wie Berge auftürmen und die Schafe tagelang ungepflöckt weiden.

Bäume gedeihen nicht in seiner Gegend, und die Bewohner seines Kirchspiels veranstalteten selten Feste, nie aber machten sie tolle Streiche. Alle Tage schlichen gleichmäßig dahin. Einige von seinen Pfarrkindern schnitten Kerben unter den Hahnenbalken, um danach die Zeit zu berechnen, die meisten aber überließen dem lieben Gott selber die Berechnung. Der Sommer kam, wenn er kommen sollte, der Winter wurde lang, wie er werden mußte.

Von den Heidebergen herab sah man nur auf Heidekraut. Die Kirchtürme am Horizont ragten aus dem Heidekraut wie die Nadelspitzen. Es waren Meilen bis zu den nächsten Kirchspielen.

Der Pfarrer hatte früher einmal, wann und weswegen, das wußte niemand, das Rechenexempel seines Lebens abgeschlossen und sich nach dem Fazit eingerichtet. Seine Arbeit war zähe und unscheinbar wie das Heidekraut, es gehörten viel Blüten dazu, damit es schimmerte wie Blut und Brand.

Eins aber war sicher, dieser Pfarrer lebte nicht, um sein Ich zu pflegen und Mammon zu sammeln.

Er hatte seine Schafe und seinen Streifen grauweißen Ackerlandes, er hatte vier Gebäude um seinen Hof herum, und diese vier Gebäude zitterten, wenn der Sturm loslegte.

Da er sich die Möglichkeit vorstellte, daß nach ihm ein Pfarrer mit vielen Kindern kommen könne, ward es ihm zur Pflicht, Hof und Acker in gutem Stand zu erhalten, die Ackergerätschaften auszubessern, die Hecken um den blumenlosen Gartenplatz zu beschneiden und die Bevölkerung an Opfer und Gaben zu gewöhnen.

Sein Talar war ein wenig verschossen und blankgescheuert, aber sein Kragen schimmerte weiß wie die getünchten Wände der Kirche, denn die Kragen wusch und bügelte seine Tochter Malene.

Wenn der Pfarrer ausgegangen war, um die verirrten Schafe auf der Weide für sich und seine Pfarrkinder einzufangen, oder wenn er beim Torfstechen im Uggelmoor half, oder wenn er Abend für Abend seine Sonnenuntergangsspaziergänge machte und auf dem Wege – der Reihe nach – seine »Kinder« besuchte, von Sören Vanesed in Gultgaarden bis zu Anders Lus in Rövereden, so saß Malene im Pfarrhause bei ihrer Näherei und verrichtete die vielerlei häuslichen Geschäfte.

Da war Zeit, mit der Nähnadel in der Hand zu ruhen, Zeit, Wäsche in die Lauge zu legen, Zeit, Hemdenleinwand und Lakendrell zu weben und es auf die Bleiche zu legen, Zeit, Schafe zu scheren und einzusalzen.

Da war Zeit – – –

Seit ihrem zwölften Jahre, als die Mutter starb, wuchs sie immer schlanker und größer heran. Und mit jedem Jahre legte der Pfarrer neue Lasten auf ihre Schultern. Aber die hielten aus.

Malene nähte nicht immer in dem Zimmer nach Süden, wo der Wind so selten aufstand, sie liebte es, in allen Himmelsgegenden herumzuziehen, nach Westen zu, wenn die Sonne unterging, nach Norden, wenn der Wind mit seinem unendlichen Heer von grauen und weißen Wolken daherkam, und nach Osten, wenn ihr nach Weinen zumute war.

Dort ging die Sonne auf, von daher kam der neue Tag, dem sie sich jeden Abend entgegensehnte, von dem sie jede Nacht träumte.

Aber sie träumte den neuen Tag nicht wie den entschwundenen. Wenn die feinen, morgenerschauernden Wolken, licht und rosig wie Blumen an den Wegrändern in jener Welt hinter dem Heidereich aufsproßten, wenn die Wolken still und langsam auf sie zuglitten, war es ihr, als brächten sie ihr Verheißungen mit, Botschaften von etwas Gutem.

Deshalb liebte sie die Morgendämmerung und konnte in ihrem Bett mit dem Strohsack daliegen und hinausstarren, wie sich das Schwarz und Grau verwandelte und zu blendendem Gelb und Goldenrot wurde – bis endlich die Sonnenkugel mit ihrem ganzen Strahlengespinst am Himmel stand.

Im Sommer fiel Tau auf die Heide, und an dem gelben Ginster hingen Tautropfen, und auf dem Dach des Hauses stand das Zittergras mit einem schimmernden Tautropfen an jedem Herzen. – Aber im Winter lag der weiße Reif überall, dann glich die Heide einem Bleichplatz, auf dem die Leinwand ausgespannt lag.

Malene liebte die kleinen Lämmer und sie verfolgte sie zwischen den Hügeln, wenn sie blökend und liebkosend hinter der Mutter drein sprangen. Sie fand, ihre Welt war größer und freier, als die, in der sie lebte.

Malene dachte nicht darüber nach, daß ihre Augen vom Wind und der Zugluft, die durch die Fenster strich, und von dem ewigen Nähen blutunterlaufen und rotgerändert wurden. Auch daran dachte sie nicht, daß die grobe Arbeit ihre Finger krümmte. Sie benutzte keinen Spiegel, die braunen, Beiderrandkleider, die sie selber webte und nähte, saßen so gut es ging. Sie glichen sich wie der Wechsel der Jahreszeiten.

Es war nicht die Sehnsucht nach Tanz und heiterem Geschwätz, die sie seufzen machte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Es war ein Verlangen, das sie nicht in Worte zu kleiden vermochte.

Die täglichen Verrichtungen führte sie ohne Bedürfnis nach Anerkennung aus, und für die Arbeiten, die sie in ihrer freien Zeit tat, hatte der Pfarrer beständig dieselben Worte: »Es ist gut, Malene!«

Das sagte er, mochte sie das Strohdach auf den Häusern ausbessern, wenn der Sturm Stücke davon herabwehte, oder wenn sie ihm ein Hemd mit kunstvoller Weißstickerei am Halsausschnitt zeigte, oder den Webstuhl, der mit dem Stoff für seinen Winteranzug bespannt war.

Malenes Mutter hatte sie Französisch und Deutsch gelehrt, so gut sie es selber konnte, und diese Gelehrsamkeit entschwand niemals ihrem Gedächtnis, wie es viele Erinnerungen und Sorgen wohl taten. Sie konnte sich stundenlang im Deklinieren und Konjugieren üben, oder sie wiederholte die kleinen Fabeln, die sie gelernt hatte. Ein Gefühl sagte ihr: »Das ist ein goldener Schlüssel, den du an einer Schnur auf dem Busen trägst, verliere ihn nicht, er kann dir ein Königreich erschließen.«

Der Schlüssel verrostete, aber sie verlor ihn nicht.

Die Borte des Pfarrers standen vollgepfropft von Büchern über die allgemeine heilige Lehre, ganz oben in zwei Fächern lagen kleine, dicke Bände französischer Klassiker. Malene versuchte sie zu lesen und sie machten ihr Mühe, aber auch Freude. Aber der Pfarrer sah es eines Tages und sagte: »Laß die Bücher stehen, Malene, es ist nicht gut, sie zu lesen.«

Malene rührte sie nicht wieder an.

Sie lagen wie süße Früchte in dem Bereich ihrer Hand.

Sie rührte sie nicht wieder an.

Zu Weihnachten und Ostern wurde Malene zu den am wenigst verarmten Familien im Kirchspiel zu einem Schmaus geladen. Da aber kroch sie zusammen, die Verdrossenste unter den Verdrossenen.

Magd und Knecht schäkerten und neckten sich. Mann und Frau teilten gute und böse Jahre miteinander. Der eine wußte von dem, was sich im Westen, der andere von dem, was sich im Osten zutrug.

Sie saß da, als sei sie blind und taubstumm, und der Pfarrer sagte: »Malene paßt am besten für ihre Arbeit, da ist sie tüchtig.«

Damals, als Malene noch ganz klein war, und ihre Mutter jede Frage für sie beantwortete, pflegte sie auf einem Schemel zu der Mutter Füßen zu sitzen. Den Schemel schleppte sie mit, wohin die Mutter ging.

Die Mutter spann und webte und nähte. »Das sind Bettücher für deine Aussteuer, Malene.«

Und Malene erhielt eine Erklärung über Aussteuer und Hochzeit. Als die Mutter starb, lagen die vielen Betttücher da, alle mit Malenes Namen.

Und Malene trat die Erbschaft an. Sie webte die feinste Leinwand aus gleichmäßigen runden Flachsfäden und nähte alles mit Hohlsaum und schürzte alles aus. Sie nähte Hemden und Nachthemden und weiße Unterröcke, und packte alles in die Aussteuertruhe. Sie webte Bettdrell, rot und weiß. Sie webte den Stoff zum Brautkleid, und der war weich und blank wie Blumenblätter.

Die Truhe, in die alles gelegt wurde, war bis an den Rand voll, und der Deckel wurde zugeklemmt und der Schlüssel umgedreht.

Sie selber merkte es, daß sie ermüdete, wenn sie die Schafe einfing. Eines Tages sagte der Pfarrer: »Jetzt bist du eine alte Jungfer, Malene, aber vor dem lieben Gott bist du jung genug.«

Alt oder jung, Malene hatte nie darüber nachgedacht. Aber die Worte des Vaters klangen, als liege ein Verbrechen, eine Schande darin.

Wenn sie in der Kirche unter der Kanzel saß, wo der Vater schlicht und bestimmt sprach, da ward es ihr schwer, ihre Gedanken zum Gebet zu sammeln.

»Gedenket derer, die wie wilde Vögel umherflattern, ohne Dach über dem Kopf, ohne Glauben im Herzen!«

Malene sah durch die Kirchenfenster, da draußen flogen die wilden Vögel über die Heide dahin, soweit die Schwingen sie tragen wollten.

Sie hätte gern ihren Ewigkeitsglauben verkauft, um fortgetragen zu werden wie diese Vögel. Aber sie war zu schwerfällig zum Fliegen, zu träge, um zu fliehen.

Es war weit bis zur Landstraße, aber der Pfarrer wollte seinen Weg soweit rein halten, und er eggte ihn und walzte ihn fest nieder, er schaufelte ihn schneefrei und hackte die Heidekrautzweige heraus. Malenes Kräfte hielten länger vor. Allmählich fiel ihr die Arbeit zu, den Schnee wegzuschaufeln. Niemand im ganzen Kirchspiel machte sich solche Mühe mit seinem Hof, aber Pfarrers Malene war ja ein Mann, sie kannte kein größeres Vergnügen als Arbeit.

Der Pfarrer hielt es für seine Pflicht, den Weg in Ordnung zu halten, damit die Leute keine Zeit vergeudeten, um hindurchzukommen, wenn sie zu ihm wollten.

Es war an einem Wintertage, der Pfarrer stand an dem einen Ende des Weges und schaufelte Schnee, Malene an dem anderen. Sie wollten in der Mitte zusammentreffen. Sie konnte ihn nicht sehen, denn das Schneegestöber wirbelte blendende Wolken um sie auf. Hier lag der Weg rein, und dort stand der Schnee in ellenhohen Schanzen. Sie schaufelte weiter, es war, als wollte die Mitte des Weges gar nicht kommen. Oder hatte der Vater die Arbeit eingestellt?

Als sie ihn fand, lag er quer über dem Wege und der Schnee war nahe daran, ihn zu begraben.

Malene trug ihren Vater auf den Hof. Dann watete sie anderthalb Meilen, um einen Arzt zu holen. Es war eine schreckliche Lähmung, die ihn zu Boden gestreckt hatte. Malene wachte bei ihm.

Lange stand der Webstuhl und fing Staub. Der Wind fraß, soviel er konnte, von Dach und Schornstein. Die Schafe wurden schlecht gepflegt.

Nur mit Mühe konnte sie dazu kommen, daß sie ihnen ihr Futter brachte und soweit ausmistete, daß sie nicht vor Unreinlichkeit umkamen.

Nach diesem Winter kam ein Frühling. Der Pfarrer war und blieb lahm, die Sprache hatte er aber in seiner Gewalt, und da er nicht mehr zu seinen Pfarrkindern gehen konnte, kamen sie zu ihm.

Aber er mußte um einen Gehilfen einkommen, und der Gehilfe kam.

Malene ordnete zwei Zimmer für den Kaplan, sie wußte, daß er Arvid Eriksen hieß.

Sie kochte Suppe und deckte den Tisch, denn jetzt kam Arvid Eriksen.

Er war klein und schmächtig, mehr sah sie nicht, und er sprach eigentümlich sanft.

Sie erschrak plötzlich so sehr vor ihrer eigenen groben Stimme, daß sie anfing zu flüstern.

Der junge, kurzsichtige Mann hielt sie für die Dienerin des Hauses, und Malene ließ ihn in dem Glauben und half ihm Koffer und Kiste in die beiden Stuben tragen.

Sie hatte ihm eins nach Süden und eins nach Osten gegeben.

Nach Tische, als er begriffen hatte, wer sie war, sprachen sie eine Weile miteinander.

Ehe der Sommer da war, kannte er die Verhältnisse der ganzen Gemeinde und ging vom Morgen bis zum Abend aus, um willig Hilfe zu leisten, wo man deren bedurfte.

Er hatte ein Harmonium mitgebracht, und darauf spielte er jeden Abend geistliche Lieder. Malene saß in einer Ecke und lauschte. Sie weinte. Wenn er innehielt, ging sie in die Küche, um das Abendbrot zu bereiten, und der junge Kaplan knüpfte eine Unterhaltung mit dem Pfarrer an.

»Malene ist ein gutes Mädchen«, sagte der Pfarrer an einem solchen Abend.

»Ihre Tochter ist ein Engel – nur das Wort paßt auf sie«, antwortete Arvid Eriksen.

Die Tür tat sich auf und Malene kam herein. Sie hatte die Worte gehört.

An diesem Abend hätte sie zwanzig verirrte Schafe einfangen können, ohne zu ermüden.

Als der Pfarrer ins Bett getragen und Arvid Eriksen in seine Stube gegangen war, saß Malene im Zimmer vor der Orgel. Sie beugte sich herab und küßte die Tasten, die seine Finger berührt hatten.

Mit einem Licht in der Hand schlich sie auf den Boden hinauf, öffnete die Hochzeitstruhe und zerrte das weiße Linnen, den roten Zwillich, den weichen, blanken Stoff zu dem Brautkleid heraus. Sie sah auf den Haufen herab, als sei es eine blühende, sonnenbeschienene Wiese, und ihr Herz pochte, so daß sie die Hand gegen die Brust pressen mußte, um die Schläge zu dämpfen.

Ein Windstoß blies das Licht aus, und die Kälte und die Finsternis beschlichen sie wie eine Ahnung von Kummer. Tastend barg sie alles wieder in die Truhe, schloß sie ab und begab sich zur Ruhe.

Am nächsten Tage wurde sie fünfunddreißig Jahre alt.

»Ja, Malene ist jetzt ein altes Mädchen, aber ein gutes altes Mädchen«, sagte der Pfarrer, und Arvid Eriksen fügte hinzu, »und wenn Sie fünfzig wären, Fräulein Malene, Sie würden niemals alt für mich werden. Sie sind mir wie eine Schwester, – Sie sind mir mehr, als meine wirkliche Schwester für mich gewesen ist.«

Als er gegangen war, rief der Pfarrer Malene zu sich: »Die Hoffnung läßt niemand zuschanden werden, Malene, vergiß aber nie, dir selber zu sagen, daß du ein altes Mädchen bist, und daß die Jungen am leichtesten den Weg zum Brautschemel finden. Die Myrten wachsen für die Jungen, der Christdorn für die Alten!«

Und Malene setzte sich, um sich die Worte einzuprägen. Aber die Zeit reichte nicht aus. Am Abend, wenn sie sich fröhlich gedacht hatte und an die Worte des Vaters denken wollte, schlief sie ein und träumte, daß Arvid Eriksen sagte: »Sie sind jung, Malene, für mich.«

Er holte auch die französischen Bücher vom Brett herunter, und jetzt gab der Pfarrer die Erlaubnis. Malene las, bis sie vergaß, daß die Heide ihr Heim meilenweit umgab.

Aber Malene vergaß auch beinahe das Nähen. Sie bekam Verlangen nach einem blauen Kleide, und sie verschrieb sich Blau zum Färben aus der Stadt. Wie eine dunkle Kornblume sah das Kleid aus und Malene heftete weiße Striche um Hals und Ärmel und nähte alte, lange verwahrte silberne Schnallen an die Taille.

»Sie sind ja jung, Malene«, sagte der Kaplan. »Sie sind ja jung – in dem Kleide! Tragen Sie es immer!« – Und Malene hängte das braune weg und trug das blaue. –

Und dann mußte sie den feinen Stoff des Brautkleides zum Trauerkleid verarbeiten, denn im nächsten Sommer starb der Vater.

Auf dem Totenbett versprach Arvid Eriksen dem alten Pfarrer, seine Tochter nie zu verlassen, sondern ihr wie ein Bruder zu sein, solange er lebe. Als sie in den Tagen der Trauer dasaß und Heidekraut und Christdorn zu Kränzen und Girlanden für den Sarg wand, kam Arvid herein und küßte sie auf die Stirn.

»Sage nur du zu mir, wir sind ja jetzt Bruder und Schwester.«

Da aber war es, als flüstere ihr der kalte Tod ins Ohr: Myrten wachsen für die Jungen, Christdornen für die Alten. Und sie beugte sich herab und weinte.

Ein neues Leben begann für Malene. Arvid Eriksen verwaltete das Amt, bis die Ernennung vorlag, und er wie auch Malene hielten es für abgemacht, daß er die Pfarre bekam.

Malene machte eines Abends einen Spaziergang. Sie hatte das Bedürfnis zu gehen. Sorgfältig hielt sie sich den Häusern im Kirchspiel fern.

Sie ging hinein in die Glut des Sonnenunterganges und ließ sie hinter sich, unter das friedliche Sterngewölbe der Nacht tretend. Da kam Ruhe und Klarheit. Da kam, was kommen mußte. Eingelullt und gedämpft werden mußte jeder Gedanke, der voller Frauenscham und Frauenverlangen Arvid umwoben hatte. Zurückgedrängt werden mußte jede Hoffnung, die im Brautkleide der Zukunft entgegengeflogen war.

Ein Schloß, so getürmt und gezinnt wie die Wolkenburg der Morgenröte, mußte niedergerissen, der Erde gleichgemacht werden, und dort, wo das Schloß stand, mußte eine Hütte erbaut werden. Und Malene trug Steine zu der Hütte zusammen, mit jedem Schritt, den sie trat. Nicht Gattin, sondern Schwester – Schwester, nicht aber Gattin.

Er hatte gelobt, sie nie zu verlassen. Sie wußte, daß er das Versprechen hielt. So sollte denn von nun an das Heim die sichere Zufluchtsstätte zweier Geschwister sein. Er sollte sein Versprechen nicht bereuen, nein, er sollte es nicht bereuen!

Und wie sie dort ging, so tief in die Nacht hinein, laut redete und sich selber Antwort gab, kamen sie hüpfend auf sie herangestürmt wie Irrlichter, die Hunderte von kleinen, naseweißen Fragen, die Hunderte von guten Ratschlägen und das schwarz verschleierte Gefolge der Sorge.

Ja, sie war entschlossen! Er sollte nicht, wie sooft, von einem Fenster zum anderen gehen und nach den Wolken hinaufstarren, mit vor Sehnsucht blutendem Herzen. Er sollte frei kommen und gehen – – und kommen.

Malene hatte ein mütterliches Erbe von tausend Kronen außer den Zinsen – bald würden es zweitausend sein. Von dem zwölften Jahr bis zum siebenunddreißigsten. Im Rechnen war sie kein Meister. Tausend oder zweitausend – Arvid sollte das Geld flüssig machen. Wenn er fort war, wollte sie die Zimmer so ordnen, wie er es wünschen konnte.

Sie ging so weit, wie sie nie zuvor gegangen war. Sie kam an einen Bach, und darüber führte eine Brücke. Dann kam eine Landstraße mit duftenden Bäumen an beiden Seiten, das Licht rieselte hindurch, wenn die Blätter im Winde erschauerten. Eine Wolkenschicht nach der anderen wich, und die Sonne ging auf. Soweit das Auge gen Osten reichte, war Ackerland, der Grabenrand aber war ein Blumengewimmel, das sich wiegte und neigte, Häuser mit Gärten rings umher und Wälder – Baumkrone neben Baumkrone zu dunklen Dächern vereint, die sich über schwarze Erde ausbreiteten.

Malene griff an ihre Augen. Es war doch kein Traum? Sie pflückte und pflückte Kornähren und Blumen und rieselnde Grashalme, sie kehrte an den Bach zurück und spiegelte sich über das Brückengeländer hinweg. Ja, sie war es. Dann setzte sie sich an das Ufer des Baches, lächle den Fischen zu, die zwischen Steinen und Wasserpflanzen hindurchschlüpften, lachte nach dem anderen Ufer hinüber, lachte und lachte – und weinte.

Sie hatte ein Verlangen, ins Wasser hinauszutreten. Das schwarze Trauerbrautkleid abzulegen und ganz hinauszugehen – ganz hinaus. Aber da war es wieder, das kalte Flüstern: »Vergiß nie, dir selber zu sagen: Du bist ein altes Mädchen!«

Malene wurde plötzlich so müde – sie sehnte sich nur danach, sich dort im Hause auf der Heide zu verstecken. Und sie wandte sich ab von dem blühenden Land.

Bald trat der Fuß auf Heidekrautwurzelfasern und rotkörnigen Sand – die Heide umschloß sie.

Müde war ihr Gang. Malene hatte ein Gefühl, als reite das Alter auf ihren Schultern und bringe sie zum Stöhnen. Sie krümmte ihren Fuß in dem Strohwisch der Holzschuhe, um sicher zu gehen.

– Und Arvid hatte nicht Naß noch Trocken bekommen! Sie strengte sich an, als bahne sie einen Weg durch den Wald, und mühte sich vorwärts, gegen Schlaf und Unpäßlichkeit kämpfend.

Wenn Arvid sie nun vermißte, wenn er aus einem Zimmer in das andere ging und ihren Namen wiederholte, wenn er von den Heidehügeln herabspähte – wenn er ausging, um zu suchen, bis er ihre Spur fand?

Unwillkürlich nahmen die Beine einen Anlauf, sie stürmten im Eilschritt über Heidekraut und Heidewurzeln. Arvid mußte der Weg abgekürzt werden!

Aber wenn er aus war, sie zu suchen, da mußten seine Gedanken sie wohl zärtlicher umschlingen als die Gedanken eines Bruders für seine Schwester!

Malene sank in die Knie. Sie kannte Arvid, seit er als schwarzer, unregelmäßiger, kämpfender Punkt auf sie zusteuerte. Sie wollte das Vaterunser beten, das Gebet, das schon seit Monaten nicht über ihre Lippen gekommen war, aber die Gedanken verwirrten sich und sie betete: »Am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten!«

Sie hörte die Worte nicht, wiederholte sie aber, bis Arvid im Laufschritt auf sie zugeeilt kam.

»Ich war oben im Kirchturm, um nach dir auszusehen, Malene«, sagte er. »Ich war so besorgt um mein Schwesterchen! Es war, als wäre der Webstuhl oder die Orgel auf und davon gegangen. Du gehörst so unzertrennlich in die Stuben!«

Malene fügte hinzu: »Bei der Arbeit.«

Malenes Geld wollte Arvid aber nicht erheben. Er reiste für sein Gehalt und richtete sich auf einen dreimonatigen Urlaub ein. Die Ernennung erhielt er als ein letztes Glück auf die Reise. Und Malene fuhr zwei Meilen mit der Post, um so lange wie möglich bei ihm zu sein.

Sie ging nach Hause. –

»Alles, was ich weiß, schreibe ich dir, Malene; dann ist es, als wenn du mit warst, ich wollte du könntest mitkommen. Es wird mir schwer, ja, es ist das Schwerste für mich, dich, liebe Schwester, zu entbehren!« Das stand in dem ersten Brief, den Malene nach Verlauf einiger Zeit in der Hand hielt.

Sie las ihn in seinem Südzimmer, sie las ihn in der Stube nach Osten, in der Stube nach Westen, sie las ihn auf der Heide, so daß die Sonne das Papier rot färbte, und im Viehstall bei dem kranken Schaf.

Aber Malene schrieb nicht wieder. Sie konnte keine Sätze zusammenfügen. Draußen in der Sandgrube saß sie und ritzte mit einem verrosteten Nagel so viele Wörter in den Sand, die der Wind wieder auslöschte.

Ein andermal schrieb er: »Wie schön doch die Welt ist, Malene! Es ist, als habe ich die Sonne ins Herz hineinbekommen. Tag und Nacht kommen und gehen, aber meine Freuden gehen nicht mit mir. Malene, Schwesterlein, wir wollen immer zusammenhalten! Glaub' mir, ich sehne mich nach den stillen Stuben draußen auf der Heide, nach dem Weg, der zur Kirche führt, nach den kirchenbesuchenden Männern und Frauen. Nach dir sehne ich mich, aber die Sehnsucht ist ohne Unruhe und Qual. Dich, das weiß ich, werde ich da wiederfinden, wo wir uns getrennt haben. Malene, Malene, wirst du mich dann kennen, wenn ich wiederkomme, wirst du meinen Jubel verstehen?«

Malene las den Brief ganz langsam. In ihrem Herzen tönte kein Widerhall von der Freude, die aus seinem Briefe sang.

Sie mußte an die dichten Felder und an die Blumen der Grabenränder und den kleinen Bach denken – ja, die Welt da draußen war wohl reicher als die gedämpften Heidestriche. War es nicht denkbar und verzeihlich, wenn die Welt ihn lockte, so daß er nicht wiederkam? Malene ging auf die Hügel hinaus, starrte gen Osten und konnte ihren Mißmut nicht bezwingen.

Die Welt – die Welt, das waren Wälder, Berge, Seen und tiefe Täler mit Blumen, aber die Welt waren auch Menschen, und den Menschen galt ihre Angst.

Einen ganzen Monat hörte sie nichts von ihm. Es waren die längsten Tage, die sie gelebt hatte. Nur das Harmonium half ihr darüber hinweg. Jeden Abend ging sie den langen Weg, um dem Briefträger zu begegnen, er grüßte aber nur und rührte die Tasche nicht an. Sie ging nach Hause, setzte sich an das Harmonium und rief einzelne Töne hervor, ohne eine Melodie zu suchen: sie wollte nur das Geräusch des Klanges im Ohr haben.

Im Winter würde er da sitzen und die alten, friedlichen Kirchenlieder spielen, während sie aus dem weißesten Leinen Priesterkragen zuschnitt und für seinen Hals und seine Schultern in Falten legte.

Und dann meldete er sein Kommen. Malene machte die Nacht zum Tage, um alles fertig zu bringen, was sie sich vorgenommen hatte. Sie reinigte das Haus wie zum Fest.

Die Fensterkappen hingen bleich in dem Nebellicht des Oktobertages. Aber sie stellte Heidekraut in alle Vasen und flocht Erinnerungskränze für die Familienbilder.

Sie schlachtete das zuletzt geborene Lamm, bereitete es mit Salz und frisch gemachter Butter und rührte einen schwellenden Pudding an. Es sollte ein Festtag sein.

Sie deckte den Tisch für Bruder und Schwester und zog das kornblumenblaue Kleid an.

Jetzt stand sie Hand in Hand mit ihm da. Also hatte die Welt ihn ihr doch nicht weggelockt.

Sie hörte seine Stimme, vernahm aber anfänglich seine Worte nicht. Sie hielt ihn an der Hand, zog ihn herein und schloß die Tür hinter sich. Der Friede, der sie erfüllte, war tief wie der Friede des Todes.

Sie aßen vom Lamm und Arvid erzählte, und Arvid sah sich um in den festlich geschmückten Stuben, und Arvid setzte sich an das Harmonium und sang.

Malene wollte die Lampe anzünden, denn es war längst Dämmerung um sie her geworden, aber Arvid bat sie, damit zu warten.

»Setze dich zu mir, Schwesterchen, wir beide wollen von der Zukunft sprechen!« Und sie setzte sich. Eine neue Ahnung durchzuckte sie.

»Wir wollen uns doch niemals trennen, nicht wahr, du Liebe?« Sie antwortete nicht, er wußte es ja so gut.

»Malene, warum, glaubst du, habe ich die große, lärmende Welt schöner gefunden als unsere stille Heide? Antworte mir, du?«

Sie antwortete nicht; hier war etwas, was sie nicht verstand.

»Malene, ich habe ja das Glück da draußen gefunden! Verstehst du mich jetzt? Ich wollte es nicht schreiben, ich wollte selber derjenige sein, der zuerst deine Freude hörte. Denke dir, Schwesterchen, ich habe ein kleines Mädchen gefunden, das das Leben mit uns beiden hier draußen in der Stille teilen will – wenn du es willst, Malene? – Und ich weiß, daß du es willst – – – Warum sagst du nichts?«

Langsam, wie ein Seufzer nach dem andern, glitten die Worte in die Finsternis hinaus und schwanden hin, als Malene sagte: »Willst – du dich verheiraten? Kommt sie – – – hierher?«

»Ja, sobald du sie empfangen willst – – und dann, Schwesterchen, hilfst du ihr wohl die Aussteuer nähen und tüchtig werden, nicht wahr?«

Er zog sie an sich. »Küsse mich, du Liebe, und sag' mir, daß du dich ebenso darüber freust wie ich selber!«

Und er küßte Malene, aber es währte noch eine Weile, bis sie die Worte sagen konnte, die er zu hören verlangte.

Späterhin am Abend fragte sie, während sie an einem Tisch säumte: »Arvid, sie ist wohl jung?«

»Ja, Schwesterchen, sie ist so jung, daß du gut ihre Mutter sein könntest: sie ist fast noch ein kleines Mädchen.«

Am Morgen, als Arvid in das Zimmer kam, lag über Stühlen und Tischen in hohen Stapeln alle die grauweiße Leinwand, die Malene und Malenes Mutter gewebt und genäht hatten.

»Sich hier, Arvid, das ist für euch, das ist mein Brautgeschenk. Sie ist so jung, sie soll keine roten Augen und keine harten Finger vom Nähen bekommen. Ich bin ja alt, ich will dir schon helfen, ihr das Leben leicht zu machen!«

Und Arvid konnte nicht Worte genug finden, Malene zu preisen. Malene aber ging auf die Heide hinaus und weinte ihre Tränen in das harte Heidekraut.


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