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Der Sieg des Schwachen.


1.

Unter den Handwerkern ist der Schneider von altersher eine humoristische Figur gewesen; die Tatsache ist unleugbar und nicht schwer zu erklären. Die sitzende Lebensart und die Beschäftigung mit der Nadel sind nicht geeignet, die Gliedmaßen imponierend auszubilden und dem Körper jene Derbheit und Schlagkraft zu geben, die in roheren Zeiten vor allem Respekt einflößen. Die verhältnismäßige Feinheit und Friedlichkeit der Arbeit begünstigt die Reflexion, und wenn der Mangel an tüchtiger Bewegung eine Schwächung des Leibes zur Folge hat, so pflegt der Schneider sich auch gewöhnlich noch »des Gedankens Blässe anzukränkeln«. Das Metier weist ihn endlich darauf hin, seiner Erscheinung etwas Zierliches zu geben und sich selbst den höhergestellten Persönlichkeiten, die er durch sein Talent standesmäßig auszustaffieren hat, nach Möglichkeit anzunähern. Infolge von alledem wird der Schneider in der Regel eine schmächtige, bläßliche, reizbare, nette und putzige Figur mit einer überwiegenden Tendenz zur Vornehmheit in Haltung und Benehmen. Wie leicht er damit der komischen Nemesis verfällt, sieht man. Seine Reizbarkeit und seine Meinung von sich selbst verwickeln ihn in Händel, die seine Gliedmaßen siegreich durchzufechten außer stande sind. Das Bewußtsein, den Willen seines Herzens nicht durchsetzen zu können, gibt seinem Wesen ein eigentümliches Gepräge von Resignation, einen Ausdruck, der jedermann verrät, daß ein etwaiger Anlauf seinerseits nicht gar schwer in einen Rückzug umzuwandeln ist. Gleichwohl kann er seine Ansprüche nicht ganz verbergen, und der böse Feind treibt ihn zuweilen an, vermessen damit hervorzutreten. – Ein trefflicher Gegenstand offenbar für die heitere Laune, das Necken und das Hänseln, womit die gute alte Zeit, die vor allem Spaß verstand, die Zeit abzukürzen pflegte.

Die Wirklichkeit hat stets für eine gute Zahl rühmlicher Ausnahmen gesorgt; aber die Ausnahme bestätigt nur die Regel, und so ist der Schneider als solcher für den Humor im Leben und in der Kunst ein Typus geworden und hat die Sprache mit charakterisierenden Ausdrücken bereichert. Wenn in einer Erzählung ein Schneider auftritt, so denken wir uns notwendig eine Figur, die der oben gegebenen Schilderung entspricht. Hätte der Poet nun die Absicht, durch einen Vertreter dieses Handwerks gewaltige Taten tun zu lassen, so müßte er seine Fähigkeit dazu ganz besonders nachweisen. Der Hufschmied kann ohne weiteres ein halbes Dutzend Schneider in die Flucht schlagen; wenn aber ein Schneider ein halbes Dutzend Hufschmiede niederstreckte, so wäre das eine Tat, über deren Möglichkeit wir uns eine nähere Erklärung ausbitten müßten.

Auf dem Dorfe erleidet dieses Verhältnis eine naturgemäße Abänderung. Der Schneider ist hier zugleich Besitzer einer kleinen Ökonomie und legt die Nadel vielfach weg, um den Pflug, die Sense, den Dreschflegel in die Hand zu nehmen. Dies erhält ihn frischer und läßt zwischen den Gestalten seiner Nachbarn und der seinigen keinen allzu großen Unterschied aufkommen. Dennoch äußert das Metier auch hier seine Einwirkung, und zumal auf dem jungen Schneider pflegt im Punkte des Mutes und der Körperstärke für die anderen Bursche eine levis notae macula zu sitzen. Der Name bezeichnet weder einen Goliath, noch einen David, und wenn der Träger desselben dem alten Vorurteil nicht mit Geduld oder guter Laune begegnen will, so muß er es für seine Person durch Taten entkräften. Es kommt nun auch wirklich vor, daß zu irgend einem gefährlich scheinenden Unternehmen just ein Schneider sich meldet, der den Verdacht der Feigheit von sich abwälzen will; sein Entschluß erweckt aber bei den übrigen stets eine gewisse Verwunderung, und unter Umständen Heiterkeit.

Ein Dorf, das im mittleren Riese gelegen ist, besaß in seinem Hauptschneider – neben ihm existierte noch ein geringerer für die geringeren Leute – eine der ehrenvollsten Ausnahmen, die je das Metier zierten. Balthasar Eber war nicht nur der Starken einer im Orte, sondern geradezu der Stärkste selber, groß, von tüchtigem Knochenbau und einer Muskelkraft, der schon in seiner Jugend keiner seiner Altersgenossen zu widerstehen vermochte. Er wurde Schneider, weil es sein Vater war, trieb aber das Handwerk in gesunder Abwechselung mit der Landwirtschaft, und es bekam ihm und er behauptete den Ruf, den er sich als lediger Bursch im Meistern und ernstlichen Faustkampf erworben hatte, bis in sein reiferes Alter. Als einst ein reicher Bauer aus dem unteren Ries, den ein Geschäft ins Dorf und der Durst ins Wirtshaus geführt hatte, nach Vertilgung der zweiten Maß Braunes den Mann mit einem gewissen Hochmut anredete, und von der rücksichtslosen Erwiderung beleidigt, ihn verächtlich als »Schneider« behandelte und schmähte, erhob sich unser Mann, packte ihn und warf ihn zur Türe hinaus. Schäumend vor Wut, obschon etwas hinkend, drang der Bauer wieder herein und wollte auf den Frechen losgehen; Bekannte traten dazwischen. »Was,« schrie der Gedemütigte, »von einem Schneider soll ich mir so was gefallen lassen?« – »Ja, das ist halt einmal ein solcher,« entgegnete man ihm, und der Bauer konnte nichts tun, als schimpfend einspannen lassen und davonfahren, während Eber schmunzelnd seine Maß austrank und noch eine zweite kommen ließ, »auf den Schrecken«. Das Siegesgefühl, das aus seinen Mienen sprach, hatte nun doch einen besonderen Charakter. Ein Schmied oder Zimmermann hätte durch eine solche Tat nur das Ordentliche getan, der Schneider tat das Außerordentliche, und das Bewußtsein, durch eine solche Leistung seinen Stand gerächt zu haben, verstärkte den Ausdruck des Triumphes auf seinem Gesicht durch einen Zusatz von Schelmerei, der ihn förmlich pikant erscheinen ließ. Die Dorfgenossen beobachteten ihn mit großem Vergnügen, und auch ein paar »Vettern« des Bauern konnten's nicht lassen, ihn lächelnd einen »verfluchten Kerl« zu nennen.

Balthasar Eber war zweimal verheiratet und begrub die zweite Frau noch in den Dreißigen seines Lebens. Die erste war durch Sanftmut und Gutmütigkeit fast ein Engel zu nennen, zartgebaut, hübsch und von Herzen fromm; die andere, von derber Konstitution und selbstsüchtiger Gemütsart, nötigte den Mann zuweilen, ihr die Faust zu weisen, und einmal, seine Oberherrlichkeit tatkräftig festzustellen, wurde aber als tüchtiges Hausweib von ihm nicht weniger betrauert als die Gute. Jede hatte ihm einen Sohn geschenkt. Der ältere, Tobias, war das Abbild der Mutter, der jüngere, nach dem Großvater Kasper genannt, ließ Vater und Mutter gleichmäßig erkennen.

Tobias ist im Ries kein gewöhnlicher Name. Der Schneidersohn hatte ihn von einem nahen Verwandten seiner Mutter, der im »Württembergischen« ansässig war, woselbst er zu den »Frommen« gehörte. Dieser wackere Mann besuchte die Familie auch nach dem Tode seiner Base jährlich ein paarmal und arbeitete, nachdem die Bekehrung des alten Schneiders und seiner zweiten Ehehälfte sich als unmöglich erwiesen hatte, an der geistlichen Erziehung seines Paten, der ihm gutartig zuhörte und mit häufigem »Ja, ja« beistimmte. Wäre er nicht gestorben, so würde er den Burschen vielleicht ganz zu dem Seinen gemacht haben. Vielleicht! Denn in Tobias, als er heranwuchs, trat immer mehr ein Charakterzug hervor, den wir nicht anders als »weltliche Eitelkeit« nennen können. Von seinen Kameraden einmal wegen seines Vornamens verspottet, beklagte er sich darüber gegen den »Doten« und sprach sein Bedauern aus, keinen »schöneren« zu haben. Der Fromme, der dadurch nicht nur den Tobias der Schrift, sondern auch sich selber beleidigt und einen gefährlichen sündlichen Hang in dem Burschen zutage treten sah, ereiferte sich gewaltig und hielt ihm eine Strafpredigt, in welcher er seine gewöhnliche Sanftmut ganz beiseite setzte und ihm die fleischliche Dummheit mit einer fleischlichen Heftigkeit vorhielt, deren sich ein tüchtiger Naturmensch nicht hätte schämen dürfen. Der gute Junge stand höchst betroffen da und bekannte, niedergedonnert, sein Unrecht einzusehen; gleichwohl flüsterte eine Stimme in seinem Innern, daß es eben doch viel besser wäre, wenn er Fritz hieße. – Als der Pate gestorben war, stand diesem Hang kein frommer Zuchtmeister mehr entgegen und seine Bildung und sein Schicksal nahmen einen anderen Verlauf, den ich eben hier zu erzählen habe.

Tobias lernte von dem Vater das Handwerk und wurde ein Schneider im reinsten Sinne des Wortes. Um einen halben Kopf kleiner als der Alte, die Gliedmaßen zart, das Gesicht hübsch und zierlich, die Farbe hell, die ganze Person leicht und fein, schien er von dem Starken nichts geerbt zu haben als das Selbstgefühl, das bei ihm aber einen vorherrschend mädchenhaften Charakter annahm. Er war ein guter, ein ungewöhnlich guter Mensch, unser Tobias, wohlmeinend gegen alle Welt, und begriff nicht, wie man ein Vergnügen daran haben könne, andere ohne Not zu vexieren und zu plagen. Von Natur leicht erregbar und phantasiebegabt, konnte er unschwer seine Fassung verlieren, desgleichen in jene Gemütslage kommen, wo einem nach dem Rieser Ausdruck »alle seine Sünden einfallen«. Er pflegte sich dann nicht besonders aus der Affäre zu ziehen und sich über sein Mißgeschick, auch über seine Dummheit, bedeutend zu ärgern, bis ihn sein leichtes Blut alles wieder vergessen ließ. Sein Element war der Friede, und im Frieden glücklich zu sein, hatte er alle Eigenschaften. Leider besaß er aber auch ein paar, die recht darnach angetan waren, seine Ruhe zu stören und ihn in die Aufregung und Unlust des Kampfes zu verwickeln.

Wer die Menschen kennt, der weiß, daß man eigentlich nur auffallend gutmütig zu sein braucht, um den Geist der Bosheit gegen sich in Bewegung zu setzen. Ist der Gutmütige noch selbstgefällig und empfindlich, dann ist das Maß der Anziehungskraft voll, und es scheint, als ob niemand ein anderes Geschäft hätte, als so einem den Humor zu verderben und Verdruß zu bereiten. Tobias hatte als Inhaber dieser Eigenschaften bereits als Schuljunge viel zu leiden. Es war, als ob die anderen Buben kein größeres Vergnügen finden könnten, als ihn zu »trätzen«; und wenn ein Schlingel den Anfang machte, so hatte er augenblicklich Genossen, und was dem einen nicht einfiel, wußte der andere. Fing der Geärgerte in der Verzweiflung endlich an zu schimpfen oder gar zu schlagen, so machte er seine Sache nicht besser. Er bekam die Hiebe zehnfach wieder, und wenn er zuletzt heulend davonging, so wurde ihm noch ein boshaftes Gelächter nachgeschickt. Nach und nach fing er an zu fühlen, was für ihn das Geeignetere sei, und hütete sich, es so weit kommen zu lassen; er zog es vor, lieber gleich Geduld zu haben und die Spottreden der kleinen Bösewichter, wie sehr sie ihn kränkten und schmerzten, mit Resignation auszuhalten, bis sie aus Mangel an Wirkung versiegten.

Als er herangewachsen war und mit den ledigen Burschen ins Wirtshaus und auf die Gasse ging, wurde dasselbe Stückchen, nur in einer anderen Tonart, weiter gespielt. Es waren ja meist die nämlichen Menschen, die ihn als Buben geplagt und erfahren hatten, wie sehr er sich dazu eigne und wie trefflich man an ihm den Übermut, der ein Opfer haben muß, auslassen könne. Lange hielt er an sich oder antwortete mit Entgegnungsversuchen, womit er's nach seiner Meinung den unverschämten Menschen tüchtig hinausgab, die aber im Grunde bloße Empfangsbescheinigungen der erhaltenen Stiche waren und als solche erheiternd nur zu gesteigerten Angriffen reizten. Eines Tages verließ ihn aber die Geduld. Am Wirtstisch von den boshaftesten Burschen des Dorfes in die Mitte genommen und durch anzügliche Reden über seine Person und seinen Stand endlich rasend gemacht, griff er in dem instinktmäßigen Gefühl, daß seine Faust auch im Schwunge des Zorns nicht gewichtvoll genug sein möchte, nach dem Bierkrug und schlug den Ärgsten, der ihm eben am wehesten getan, mit »'ner höllenmäßigen Geschwindigkeit« hinter die Ohren, daß die Folgen sogleich sichtbar wurden und Blut mit Bier vermischt von dem dicken Schädel herabfloß. Das war unerhört, und recht eigentlich empört mußten die Kerle über den unverschämten Schneider sein, der nicht einmal Spaß verstand und ihnen so einfältig ihre Freude verdarb. In gerechter Entrüstung fielen sie über den Armen her, zerdroschen ihn jämmerlich, und schleuderten ihn, der im höchsten Grimm sich wehrte, und auch seinerseits noch ein paar unangenehme Stöße austeilte, in die Nacht des Wirtshaushofes hinaus. Genau genommen war es für den Einen und Feinen keine Schande, von vier Lümmeln überwältigt zu sein, vielmehr der Umstand, daß viele gegen einen beschäftigt waren, eine Ehre; aber so groß war die Ungerechtigkeit schon in bezug auf ihn, daß am anderen Tag die Leute, die ihm begegneten, doch Spottmienen zeigten, und seine etwas prahlende Versicherung gegen einen Bekannten, daß vier Kerle nötig gewesen seien, ihn aus dem Wirtshaus hinauszuwerfen, nur ein vergnügtes Lachen hervorrief. So von mehreren Seiten zum Nachdenken gemahnt, erkannte er wieder das Ratsamere und faßte den Entschluß, zum bösen Spiel höhnender Worte gute Miene zu machen und sich hauptsächlich auf das zu legen, worauf er am Ende doch von der Natur am meisten angewiesen war – auf die Geduld.

Er hatte die Kraft, diesem Entschluß, äußerlich wenigstens, nachzuleben. Er setzte dem hie und da wiederkehrenden Gestichel ein ruhiges Gesicht oder ein stilles Achselzucken entgegen, bis es endlich ganz aufhörte. Erneuerte Attacken, die an fernere Gelegenheiten anknüpften, suchte er mit Repliken abzuweisen, die er bei anderen wirksam gesehen hatte, und den stärksten gelang es nur, ihm jenes schmerzliche Lächeln abzunötigen, wodurch verletzte Seelen einen Teil ihrer inneren Bewegungen verraten. Denn die Verletzlichkeit selbst konnte er freilich nicht ablegen; – immer mußte es ihn verdrießen, daß er, der durch Feinheit und guten Charakter offenbar weit über den groben Burschen stand, von diesen sich begegnen lassen sollte, als ob er tief unter ihnen stände. – Aber konnte er sich nicht auf andere Weise helfen? Konnte er die Menschen nicht in seinen Gedanken heruntermachen und ihnen die Titel geben, die ihnen gebührten? Ja, konnte er sie hier nicht auch tatsächlich behandeln, wie sie's verdienten? – Er machte denn zuletzt, wie es mancher ehrliche Deutsche tut, eine Faust in der Tasche und regalierte seine Feinde mit ideellen Schlägen, denen zu seinem vollständigen Triumph nichts abging als eben die gemeine Wirklichkeit. Hatte man ihm eines Abends übel mitgespielt und er saß zu Hause und arbeitete mit der Nadel, so stach er diese nicht ins Tuch, sondern ins Fleisch irgend eines Unverschämten, daß es Blut gab und der Tropf zuckte und Ach und Wehe schrie. Wenn er den Schneiderhammer schwang, so klopfte er nicht eine Falte, sondern den breiten Rücken eines boshaften Spötters aus, wobei ihn namentlich dessen klägliche Widerstandslosigkeit innig erfreute. War er besonders erzürnt und handhabte er die Sense auf der Wiese, so mähte er statt des Grases seinen Widersachern die Beine weg, daß sie jämmerlich um und um purzelten und dalagen, daß es eine Schande war. Eine solche Strafe war indessen für bloße Worte, so impertinent sie auch gewesen sein mochten, doch etwas stark; die Rachbegierde des Guten war hier schneller gesättigt, und indem er die Handlung nun selber grausam fand, war es ihm zuletzt lieb, daß er eigentlich doch nicht die Beine von Menschen, sondern bloß Gras entzweigeschnitten hatte, worüber der Augenschein keinen Zweifel ließ. Er konnte dann auch über sich selbst lächeln, der gute Tobias; aber die Sense wetzte er doch mit Behagen und schritt mit aufgehellter Miene zur Fortsetzung der Arbeit.

Die Natur mit ihrem sicheren Takt findet in allen Verhältnissen die entsprechende Arznei für die Wunden des Lebens, und so lernte auch unser Freund die Mängel des irdischen Daseins, die ihm oft so schweren Verdruß bereiteten, durch die Phantasie heben und sich das in der Wirklichkeit für ihn nicht Existierende wenigstens einbilden. Das gute Hausmittel half bei ihm wie bei anderen; er wurde heiterer und nach und nach in der Tat fähig, die Unbilden leichter hinzunehmen, die sich ihm nun auch weniger andrängten. Ganz nach seinen Vorsätzen kann freilich niemand leben und Rückfälle gibt es immer und überall. Bei Tobias führten aber diese wenigstens nichts Außerordentliches mehr herbei. Er war eben der »junge Schneider« oder der »Schneiders-Tobies« und spielte als solcher eine Rolle im Dorf, an die sich die Leute und endlich er selber gewöhnten.

Die Geduld, die zur Durchführung derselben immerhin erforderlich war, hatte er indes nicht nur unter den Leuten, sondern auch zu Hause nötig, und da zeitweis mehr als draußen. Sein Vater mochte ihn nicht. Einem Mann, den keiner zu vexieren wagte und der, wenn's darauf ankam, eher unrecht tun als leiden konnte, diesem mußte es natürlich sehr fatal sein, einen Sohn zu haben, der von anderen Kränkungen hinnahm. »Wie komm' ich zu diesem Menschen?« fragte er sich manchmal im Unmut über irgend einen ihm zugegangenen Bericht. Die Antwort, daß er eben der Mutter nachschlage, lag freilich nahe; aber er sagte dann: »Was sich für ein Weib schickt, das ist für einen Mann eine Schande. Sich so etwas gefallen lassen! Aus dem wird nie etwas, nicht einmal ein rechter Schneider!« Wenn Tobias folgsam war und ehrbar seine Arbeit tat, so half ihm das nicht viel; denn in den Augen des Alten tat er damit nur seine verdammte Schuldigkeit, und am Ende, was war er denn, wenn er nicht einmal das konnte? Machte er aber zufällig einen Fehler oder ließ er sich gar eine Anwandlung von Selbständigkeit beikommen, dann loderte in dem Alten der Verdruß über den Wicht um so rascher und heftiger auf und die Verachtung schärfte die Strafe, welche die väterliche Gerechtigkeit diktieren zu müssen glaubte. Der Gedemütigte konnte sich dann nicht einmal an dem Bruder erholen, und die schönen Titel, die er erhielt, an diesen weitergeben; denn Kasper, obwohl zehn Jahre jünger, war ein trotziger Bursch, der sich gegen ihn stellte und um so kecker wurde, je mehr er wahrnahm, wo es bei Tobias eigentlich hoppte und daß er im Notfall mit Sicherheit auf den Beistand des Alten rechnen konnte.

Eine Entschädigung gewährte dem Schneider doch auch die wirkliche Welt – in dem Wohlwollen des schönen Geschlechts. Der hübsche, feine Mensch mit der geraden, zierlich kleinen Nase, wie es im Dorf keine zweite gab, hatte den Beifall der Mädchen; und das Unrecht, das man ihm antat, flößte den guten Seelen keine Geringschätzung, sondern ein gewisses Mitgefühl ein, das dem, der es erregt, stets nützlich zu werden pflegt. Sie lächelten zwar gelegentlich auch über ihn, aber mit Freundlichkeit und mit einem Blick, als ob sie an dem Angefochtenen gar viel Gutes wüßten, wo andere froh sein könnten, wenn sie's hätten. Tobias tanzte vortrefflich, schwätzte, wenn er in Laune war, nicht übel; konnte als Schneider, der in allerlei Häuser kam, so manches erzählen und war eben ein seelenguter Mensch, dem man nicht bös sein konnte. Hie und da nahm sich eine Wohlmeinende, die zugleich etwas älter war, seiner mütterlich an und führte einen Angreifer durch lustig eifrige Vorhaltung der Tugenden ab, die den Tobias vor ihm auszeichneten. Und wenn es nun freilich nicht sehr schmeichelhaft war, daß ein Mädchen für ihn einstehen mußte, so lag in der Lebhaftigkeit des Beistandes doch auch wieder etwas Angenehmes für ihn, und er konnte behaglich vor sich hinsehen oder durch eine gelungene spöttische Bemerkung gar die Niederlage des Gegners vollenden.

Auch zu Hause hatte er einen Rückhalt an einem weiblichen Wesen – an der älteren Verwandten, die dem Vater die Wirtschaft führte. Diese, die ehemalige Schusterin Walpurg, war froh, als arme Witwe ein solches Unterkommen gefunden zu haben, und hütete sich wohl, den alten Schneider durch Widerspruch zu erzürnen. Sie erfreute aber den jungen Vetter im geheimen durch gute Reden und gute Bissen, die sie ihm zusteckte; und wenn's der Alte nach ihrer Meinung gar zu arg machte, so wagte sie auch, ihn bescheiden inständig zur Nachsicht zu ermahnen und ihm die unleugbare Tatsache vorzuhalten, daß Tobias – kein böser Mensch sei.

Bei der Gunst, welche dieser bei den Schönen des Ortes fand, konnte es auffallen, daß er mit keiner in ein Verhältnis verflochten wurde. Das lag aber in einer Eigenheit seines Wesens, die er nur ganz im geheimen pflegte: in einem besonders feinen Geschmack und in ungewöhnlichen Ansprüchen, die er machen zu können glaubte. Er wollte zum Schatz und zum Weib etwas Apartes, ein Mädchen, das ihm ganz und gar gefiel und in jeder Beziehung Ehre machte – und so eine konnte er unter den Dorfkindern, soweit sie für ihn erreichbar waren, dermalen nicht finden. Durch Reden Erfahrener, durch Lieder und durch Erzählungsbücher, wie sie auch dem Bauer in die Hand gelangen, hatte er einen höheren Begriff von der Liebe erhalten, und er setzte nun bei sich fest, nur eine solche zu nehmen, die er liebte, wie es im Buche stand. Die Freundlichkeit der Mädchen mit Artigkeit erwidernd, freute er sich ihrer und tat sich in munterer Stimmung an der Seite der guten Geschöpfe recht von Herzen gütlich; aber er band sich nicht, weil ihm eben am Ende doch keine gut genug war. So täuschte er hie und da eine Hoffnung, stürzte indessen keine der Enttäuschten in Verzweiflung, weil die Liebesdesperation auf dem Lande, des vorherrschend gesunden Sinnes und der Leichtigkeit des Ersatzes wegen, überhaupt nicht sehr üblich ist.

Eine indes richtete ihr Absehen länger auf ihn und hatte von seiner Kaltsinnigkeit auch zu leiden, weil er ihr besonders anständig war und ein anderer, der sie hätte trösten können, ausblieb. Es war die Tochter eines nicht unbegüterten Webers, die in der Taufe Sibylle genannt, mit Tobias einen ungewöhnlichen Vornamen gemein hatte, sonst aber keine ungewöhnliche Eigenschaft besaß, es müßte denn die sein, daß bei einer etwas kurzen Statur die eine Schulter ein wenig mehr in die Höhe strebte als die andere. Ein reguläres Dorfgesicht mit einem regulären Bauernverstand, die sich beide durch entschiedene Einfachheit und eine gewisse Mannesähnlichkeit auszeichneten. So eine konnte einen Tobias freilich nur um so weniger einnehmen, obwohl ihre Arbeitsamkeit und Sparsamkeit über allen Zweifel erhaben waren, und der Alte ihr eine ganz annehmbare Aussteuer zu geben vermochte. Die gute Sibylle, die sich nach jahrelangem Hoffen und Bemühen keines Erfolges rühmen konnte, empfand dies in Augenblicken, wo die Besorgung des Hauswesens ihr Muße zum Nachdenken ließ, recht bitter, ließ sich aber nicht abhalten, ihrem Herzen mit erneuter Hoffnung zu schmeicheln.

Unter solchen Erfahrungen und Beziehungen wurde Tobias vierundzwanzig Jahre alt. Trotz dem höheren Streben, das in ihm lag, war er stets im väterlichen Hause geblieben. Auf die Wanderung hatte er sich nicht begeben, weil der Vater ihn nicht entbehren konnte, und in die Reihen der Landesverteidiger war er nicht eingetreten, weil er sich freigespielt hatte. Nun handelte es sich aber darum, an das Scheiden aus dem bisherigen Verbande gleichwohl zu denken: er mußte die Frage der künftigen Existenz ins Auge fassen. Das Haus des Schneiders war Kasper bestimmt, Tobias mußte sich einen eigenen Herd erheiraten oder mit Hilfe einer wohldotierten Hochzeiterin kaufen. Durch die Sorge der Mutter war ihm eine bestimmte Summe ausgemacht worden, aber keine sehr bedeutende, und wenn sie der Vater nicht großmütig ergänzte (was wenig Wahrscheinlichkeit hatte), so mußte Tobias, sofern er weise handelte, entweder unverheiratet bleiben oder sich nach einem Mädchen umsehen, die ein ordentliches Vermögen hatte.

Die Alternative war vor ihn gestellt; und indem er sie reiflich erwog, ging in seinem Innern eine gewisse Veränderung vor.

Erfahrene wissen, daß die poetischen Träume recht schön sind für die Jugend, daß aber nach und nach eine Zeit herankommt, wo sie weniger befriedigend erscheinen und sehr an Wert verlieren, während etwas Reelles, das man bisher für unannehmlich, ja in stolzen Momenten für unwürdig gehalten hatte, ein freundlicheres Ansehen bekommt und im Preise steigt. Das wirkliche Leben tritt mit den Idealen des Herzens in Kampf, und dieser endet in der Regel damit, daß die ätherischen Mächte weichen müssen und der große Begriff der Versorgung das Feld behauptet. Wenn dies feinerzogenen und zartgesinnten Stadtkindern begegnet, um wieviel mehr dem Dorfsohn, dem praktischeres Wesen angeboren ist und der nur ausnahmsweise städtischer Idealität etwas nähertreten kann. Tobias hatte sich freilich immer ein Mädchen gewünscht, die nicht nur ausnehmend schön und angenehm, sondern auch bedeutend reich war, die er über alles liebte, die ihn durchaus wollte, und von der auserwählt er alle seine Neider und Feinde und sogar seinen Vater, der ihn so sehr verkannte, tief beschämen konnte. Allein bis jetzt hatte sich eine solche nicht gezeigt, und es war nicht viel Aussicht vorhanden, daß sie sich demnächst finden werde. In einzelnen Momenten stellte sich ihm nun der Gedanke dar, daß er am Ende gar keine kriegen könne! Und in dem bänglichen Gefühl, welches diese Vorstellung in ihm erweckte, mußte jede gewinnen, die, von anderen Eigenschaften abgesehen, mindestens den Vorteil hatte, daß sie eine war.

Als er sechs Wochen ins fünfundzwanzigste Jahr ging, sah es aus, als ob just das geschehen sollte, was von allem das Unwahrscheinlichste gewesen war. Seine Gutmütigkeit hatte dem Schneider einen Streich gespielt. Bei einem Geschäftsbesuch, den er im Hause des Webers machte, hatte Sibylle die Wünsche ihres Herzens wieder so deutlich merken lassen und ihn dabei mit ihrem halb männlichen Gesicht so weiblich verlangend angesehen, daß er, geschmeichelt und gerührt, den Blick viel freundlicher erwiderte, als er's je für möglich gehalten hätte. Ihre Hoffnungen wurden dadurch ungemein belebt und traten im Lauf des Gesprächs in einer Anspielung hervor, die niemand mißverstehen konnte. Ein zufällig Anwesender teilte seine Vermutung bei der nächsten Gelegenheit dem alten Eber mit, und dieser fand die Sache nicht unerwünscht. Er sprach den Sohn gleich darum an; und als Tobias bemerkte, daß er die freilich haben könnte, wenn er sie wollte, versetzte der Alte: »Schön ist sie nicht, und gar so viel wird sie auch nicht mitkriegen; aber ein rechtes Mädchen ist sie sonst, und du darfst auch nicht hoffärtig sein. Ich glaub', du tätst gut, wenn du's richtig machtest mit ihr; denn eine andere, die was hat, kriegst du doch nicht!« – »Oho!« entgegnete Tobias im Gefühl der Beliebtheit, deren er sich bei den Mädchen immer noch erfreute. – Der Alte sah ihn spöttisch lächelnd an. »Ja, in deiner Einbildung kannst du alle haben, das weiß ich schon! – Nun, überleg' dir die Sach'!« – Dieser letzte Satz war mit einem Blick begleitet, der einen Befehl enthielt; und Tobias, dort gelockt, hier getrieben, fing an die Sache näher zu betrachten. In kurzem war er mit der Vorstellung schon vertraut, und ein paar Tage darauf beinahe damit befreundet.

Die Sache war: der Alte hatte recht mit seiner Ironie. Sibylle war gegenwärtig ohne Mitbewerberinnen; denn Tobias hätte zwar in früherer Zeit andere haben können, dermalen aber war jede, die er der Sibylle hätte vorziehen müssen, versehen, und diese die einzig Mögliche. Der Gedanke, durch die Heirat der Zuchtrute des Alten zu entgehen und sein eigener Herr zu werden, hatte unvermerkt auf die Gestalt des Mädchens eine modifizierende Einwirkung geübt. Die hohe Schulter war niedriger, so niedrig geworden, daß man sie von der anderen kaum mehr unterscheiden konnte; das robuste Gesicht, letzthin schon von Wunsch und Sehnsucht erweicht und durchglänzt, erlangte in der Verliebtheit, die er sich immer größer denken mußte, einen beinahe schönen Ausdruck. Noch eine Zusammenkunft und dazu die Beihilfe guter Geister – und Sibylle war glücklich, der Schneider gefangen.

Da geschah es, daß die bisherige Pfarrmagd ihren Dienst verließ, und an ihre Stelle ein Mädchen kam, die, aus dem benachbarten Kesseltal gebürtig, das letzte Jahr in Ulm gedient hatte und der Pfarrerin von dort rekommandiert worden war. Tobias, der dem geistlichen Herrn einen ausgebesserten Rock heimzutragen hatte, sah sie, sprach sie – und kam als ein Verwandelter nach Hause.

Barbara, rieserisch Bäbe, war aus einem protestantischen Dorfe jenes Tals, das von bewaldeten Anhöhen eingeschlossen, von der kleinen, mühlentreibenden Kessel durchströmt ist, und dessen Bewohner, obwohl sie einzelne Ausdrücke und Manieren für sich haben, im ganzen von den Riesern wenig unterschieden sind. Das Kind unbemittelter Eltern, hatte sie früh dienen müssen, aber gute Häuser gefunden und als regsames Mädchen endlich in der Stadt ihre Geschicklichkeit vervollkommnet. Bei dem Ruf in das Dorf war ihre Neigung zum Landleben wieder erwacht, und sie gab ihr nach – vielleicht getrieben von dem Geschick, das eben hier eine Lebenswendung für sie bereit hatte.

Das Mädchen gehörte zu den glücklichen Geschöpfen, die mit Gesundheit und Tüchtigkeit an Leib und Seele eine gewinnende natürliche Anmut verbinden. Stattlich, wohlgebaut und von gedrungenen Formen, in ihrem Benehmen sicher und ruhig, flößte sie auf den ersten Anblick Vertrauen ein. Der Kopf war mehr rund als oval, die Stirn nicht sehr hoch, weil die urkräftigen, dunkeln Haare etwas tiefer als gewöhnlich heruntergingen. Mit dunkelbraunen Augen und einem Gesicht, dessen frisches Rot sich ins Bräunliche verlief, war sie, was man auch im Ries »a schwarzbrauns Deandel« zu nennen und sehr zu schätzen pflegt.

Die Anmut in ihrem Wesen beruhte in angeborener Gutmütigkeit und einer natürlichen Schlauheit, die sie in ihren verschiedenen Dienstverhältnissen ausgebildet hatte. Sie half gern, nahm sich gern der Bedrängten an, erreichte aber auch gern selber ihre Zwecke, die wesentlich praktisch waren und am Ende darauf hinausgingen, in einem guten Dienst bei stetigem Fleiß das bisher ersparte Sümmchen Jahr für Jahr zu vermehren, um endlich, wenn's Gottes Wille wäre, einen braven Mann damit glücklich zu machen. Vergnügten Sinnes von Natur, wurde sie leicht heiter und zeigte beim Lachen hinter frischen, sinnlich behaglichen Lippen schöne mittelgroße Zähne. Wenn sie eines leiden mochte, sah sie es mit unverhohlenem Wohlwollen und einer Art von mütterlichem Ausdruck an; hatte sie aber entschiedenes Gefallen an jemand und wollte sie selber gefallen, so gewann ihr Gesicht einen Glanz bis zum Rosigen, ihre Stimme eine Weichheit bis zum Süßen.

Ich glaube durch diese naturgetreue Schilderung unseren Tobias gerechtfertigt zu haben, wenn er aus dem Pfarrhaus mit Empfindungen heimging, die ihm durchaus neu waren, die er aber sogleich als die »rechte Liebe« erkannte und mit freudigem Schreck als langersehntes Glück begrüßte, trotzdem daß ein lebhaftes Beben ihn auch schon das damit verbundene Verhängnisvolle ahnen ließ. Zu seiner Bezauberung mochte das dunkle Gefühl beigetragen haben, daß dieses Mädchen eben an sich hatte, was ihm fehlte, daß er ihr sich anvertrauen und an ihr eine Ergänzung finden konnte. Die Bäbe gab sich allerdings nicht viel mit Einbildungen und Erwägungen ab. Sie war von denen, die wissen, was sie wollen; und was ihr recht und gut schien, das führte sie mit geräuschloser Festigkeit aus, ohne sich durch den Gedanken, was wohl andere Leute dazu sagen möchten, allzuviel beunruhigen zu lassen. Ihre Fassung zu verlieren, lag nicht in ihrem Wesen, vielmehr konnte sie im Notfall entschlossen auftreten und kräftig ihre Rechte wahren. Von alledem erhielt der junge Schneider eine Ahnung, als er sie in Abwesenheit der Pfarrleute vor sich stehen sah und nach den ersten Fragen und Antworten in ein kleines Gespräch mit ihr kam. Er freute sich ihrer Statur, ihrer schönen Rundheit und ihrer teilnehmenden Reden. Als aber der nette Bursch, das gute, feine, an ihr mit offenbarem Wohlgefallen hängende Gesicht auch vor ihren Augen Gnade fand und sie sich nicht erwehren konnte, ihn mit liebevollen Blicken anzusehen und ihrer Stimme dabei einen holderen Klang zu geben – da war er fertig.

Die ersten Stunden nach der Zusammenkunft vergingen dem erregbaren Herzen in einem förmlichen Rausche. Als die Wogen der Gefühle zu sinken begannen, fing er an zu überlegen – und erkannte klar das Ängstliche seiner Lage. Sibylle erschien ihm jetzt fatal, ja, sofern sie ihn zum Mann begehrte, recht eigentlich anmaßend. Wie konnte er eine solche Person heiraten – er, den die Bäbe angelächelt hatte, die Bäbe, die Schönste, die er je gesehen, die in ihrem städtischen Kleid etwas Vornehmes hatte und aussah wie ein Frauenzimmer? Aber die Sibylle wollte der Vater und hatte, wie es schien, seinen Kopf darauf gesetzt; und die Bäbe, das wußte er aus dem kurzen Gespräch, hatte nur noch eine Mutter und einen Stiefvater, die sich kaum selber durchbringen konnten, und von ihnen so gut wie nichts zu hoffen. Die städtische Tracht, in seinen Augen ein Vorzug, war dem Alten zuwider; denn dieser war ein ganzer Bauernschneider, fand nur die Rieser Tracht schön, legte selber die kurzen Lederhosen nie ab und hatte auch dem Sohn lange tuchene nicht früher gestattet, als bis der junge Schuster des Dorfs ihm darin vorangegangen war. Das gab einen bösen Handel, wenn er diesem Mann sagte, er wolle nicht Sibylle, sondern die Pfarrmagd! Aber es mußte gleichwohl heraus aus ihm, wenn's einmal nicht anders ging; denn die Sibylle nahm er nicht – um die ganze Welt nicht.

Fürs erste konnte er freilich Ruhe haben. Er brauchte ja dem Alten nichts zu sagen, konnte sein Glück für sich behalten und mit der Sibylle die Sache hinziehen, sich durch Ausreden helfen! – Unterdessen fiel etwas vor; ihm oder der Bäbe stand unverhofft ein Glück an, und alles machte sich endlich von selber – wer wußte das? – Er wollte die schöne Pfarrmagd vorderhand im stillen lieben, ganz im geheimen, so daß niemand etwas davon wußte als sie beide. Aber dazu mußte er natürlich vor allem erfahren, ob denn sie auch wirklich ihn mochte.

Zwei Begegnungen, zwei kurze Unterhaltungen ohne Zeugen, die ihm sein gutes Glück bescherte, gaben ihm in dieser Hinsicht Gewißheit. In der ersten redete er von gleichgültigen Dingen, aber seine Augen sprachen mit einer Deutlichkeit, daß die Bäbe seinen ganzen Zustand erkannte. Es sah ordentlich komisch aus, wie er sie anguckte, als ob er gar nicht genug bekommen könnte; aber die Bäbe fand das nicht komisch, sondern diese Liebe rührte ihr Herz, und zum erstenmal zuckte auch in ihr der holde Blitz auf, der uns bezeugt, daß wir fortan nicht mehr uns selbst, sondern demjenigen angehören, der uns angehört.

Das zweite Mal grüßte er schon munterer und sprach sie vertrauter an. Da sie gar so gut und freundlich hersah, begann er sie zu loben, wie sie so schön sei und so geschickt, und daß es kein Mädchen im ganzen Dorf gebe wie sie. Darauf konnte sie das begreiflich nur ablehnen und ihrerseits ihn loben, und das machte sich der Schneider zunutze. Ja, entgegnete er, wenn er so einer wäre und wenn sie wirklich so von ihm dächte, das wäre eine Red' wert; denn so ein Mädchen wie sie hätte er sein Lebtag nicht gesehen, und wenn ihn so eine möchte, dann würde er mit dem König nicht tauschen. Hierauf lächelte die Bäbe gar nicht abschreckend und Tobias rief in aller Treuherzigkeit der Hoffnung und der Freude: »Könntest du mich gern haben, Bäbe? Könnt's möglich sein? – Sag's!« Und die Bäbe erwiderte mit Holdseligkeit: »Ich sag' nicht nein! Aber so schnell geht das doch auch nicht; wir müssen uns doch erst näher kennen lernen!« – »Was braucht's da näher kennen lernen,« rief der Schneider heroisch; »wir sind ein Paar – komm, gib mir deine Hand darauf!« Als der Schneider die seine hinstreckte, zögerte das Mädchen; aber er drängte, und sie gab ihm ihre Hand, indem sie sagte: »Nun, in Gottes Namen – weil du's nicht anders tust!«

Der Bund war geschlossen – der Schneider im höchsten Aufschwung der Freude. Als er wieder heimkam und in die Stube trat, mußte er sich ordentlich Gewalt antun, um die Lust, die ihn durchwogte und ihm wie Feuer aus dem Backen ging, nicht so auffällig werden zu lassen, daß zuletzt der Alte etwas merkte und ihn durch Fragen in Verlegenheit setzte. Dieser hielt ihn aber bloß für erhitzt und trug ihm eine Arbeit auf, ohne ihn weiter anzusehen; und nach und nach lernte der Gute in sein Glück sich finden und empfand die Seligkeit jener heimlichen Liebe, die bekanntlich heißer brennt als eine glühende Kohle, eine Reihe von Tagen – den schönsten seines Lebens. Ohnehin war's im Monat Mai, wo alles in Blüte stand, die Vögel in Lüften und auf Bäumen wonniglich sangen und auch der gewöhnliche Bauernbursche die Welt »lieble« findet, um wieviel mehr ein liebender Schneider, der schon an sich zarter empfinden konnte als irgend einer im Dorfe! – Die beiden wußten es einzurichten, daß sie sich wenigstens flüchtig sahen – und was brauchten sie zunächst mehr? Sie hatten ja die Gefühle der ersten Liebe, die herrlicher sind als alles, was die Welt bieten kann. In dem Licht der Freude war es dem Schneider, als ob es kein Hindernis gäbe für ihn und er alles durchsetzen müßte, was er nur ernstlich wollte; und darum belebte fröhliche Hoffnung sein Herz und er sah in die Zukunft, als ob er das Wünschhütlein besäße und nur sagen dürfte, das möcht' ich, – so hatt' er's!

Da trat plötzlich ein Ereignis ein, das ihn aus dem Paradies, in welchem er sich und die Welt vergessen hatte, gewaltsam herausriß, indem es von ihm eine Entscheidung und, statt holder und beglückender Vorstellungen, eine Tat verlangte.


2.

Der Weber hatte außer der Sibylle noch zwei Kinder, einen Sohn, der Soldat war, eine jüngere Tochter, die noch in die Schule ging. Dem Sohn war natürlich die Sölde zugedacht, und da er im letzten Dienstjahre stand, so hätte er sie um so früher übernommen, als er dadurch auch den Wünschen des nicht mehr ganz rüstigen und etwas bequemen Vaters entgegenkam. Da traf eines Tages die Meldung ein, daß er in der Garnison an einer dort grassierenden Seuche plötzlich gestorben sei. Durch diesen Todesfall war der Stand der Dinge mit einem Mal verändert; und nachdem eine Woche in aufrichtiger Trauer und Teilnahme verflossen war, konnten die Beteiligten nicht umhin ihn zu betrachten und ihre Entschließungen darnach einzurichten.

Sibylle war jetzt nicht nur eine bessere Partie, sondern hatte auch Aussicht, Hauserbin zu werden, und eine solche hat für den Bauern stets einen eigentümlichen Wert, indem sie das Herumsuchen nach einem Anwesen überflüssig macht und als der Vogel, der im Neste bleibt, auch bei der Teilung am besten wegzukommen pflegt. Bei der Gesinnung des Alten hatte es alle Wahrscheinlichkeit, daß er die Sölde an die ältere Tochter abgab, sofern sich ein Mann fand, der ihm besonders erwünscht sein mußte.

Diesen Umstand erwogen vor allen Sibylle und der alte Schneider. Das Mädchen behielt ihre Gedanken für sich und besorgte ruhig ihre Geschäfte, indem sie annahm, daß sich der Tobias nun schon bald selber einstellen werde. Der alte Schneider, für den der Handel nachgerade ernsthaft zu werden anfing, wollte nichts versäumen, ihn sobald als möglich zur Entscheidung, zu bringen.

Eines Tages, als er sich mit dem Sohn allein in der Stube sah, faßte er diesen ins Auge und sagte: »Nun, wie stehst du mit der Sibylle? Hast du mit ihr gesprochen?« – Tobias, der bei der unerwarteten Frage ziemlich »verhofft« war, entgegnete mit angenommenem Ernst: »Noch nicht. In der Zeit, hab' ich gedacht, wird sich's doch nicht schicken.« – »In der Zeit«, fiel der Alte ein, »schickt sich's grad, daß du mit dem Mädchen die Sach' richtig machst. Wenn jetzt einer kommt und ist der Mann danach, dann gibt ihm der Weber das Haus; das wissen andere so gut wie ich, und drum sorg' ich, wer jetzt nicht bald vorwärts macht, der hat das Nachsehen.« – »Nun,« wagte Tobias einzuwenden, »gar so arg würd' ich mich dann grad auch nicht kränken!« – Der Alte sah ihn befremdet an, und Tobias, dem die Liebe den Mut zu einer Art von Widerspruch gab, fuhr fort: »Ich muß dir sagen, Vater, die Sibylle – ich weiß nicht – aber sie gefällt mir nicht.« – »Das sind Redensarten,« entgegnete der Alte, indem er die Stirn runzelte. Und ganz ernsthaft setzte er hinzu: »Was fehlt dem Mädchen?« – »Nun,« sagte Tobias mit halbem Lächeln, »zum Lieben ist sie doch wahrhaftig nicht gemacht. Und wenn man eine heiratet und man sie haben muß sein ganzes Leben lang, da sollte man sie doch auch gern haben, sollt' ich meinen. Die Eh' ist am End' eine heilige Sach', und da geht's hernach doch nicht so mir nichts dir nichts.«

Das Befremden des Alten war bei diesen Worten in einem Grade gestiegen, daß er den Sohn brauneren Gesichts mit großen Augen ansah und ihn unterbrechend rief: »Was sind das für Einfäll'? Steckt dir von deinem Doten noch was im Kopf? – Die Sibylle ist brav, ist geschickt und fleißig bei der Arbeit, und ich hab' in meinem Leben gar manche gesehen, die lang' nicht so schön gewesen ist und doch einen Mann gekriegt und gut mit ihm gehaust hat. Willst du etwa gar heikel sein und den Vornehmen spielen und aus dummem Stolz dein Glück verpassen? Oder – hast du vielleicht eine andere?« – Tobias errötete bei dieser Frage, rief aber schnell mit so tiefer Empfindung: »Ach, wie sollt' ich zu einer anderen kommen!« daß der Vater bei der geringen Meinung, die er überhaupt von seinen Fähigkeiten hatte, die Röte falsch deutete und spöttisch erwiderte: »Ja, das möcht' ich auch wissen!« Ernsthaft setzte er hinzu: »Also laß diese Späß' jetzt und mach' vorwärts! Du weißt, lang' Streiten ist meine Sach' nicht. Ich hoff', ich hör' die Woch' noch, daß du im reinen bist!« – »Aber so schnell, Vater –.« – »'s ist schon ausg'red't jetzt,« versetzte der Alte und kehrte ihm den Rücken zu.

Die Sache stand schlimm für Tobias. Der Vater hatte einen festen Beschluß gefaßt, und ihm, obwohl er jetzt noch gar nichts wußte, schon eine Miene gezeigt, die ihn erschreckte; – was war erst von ihm zu erwarten, wenn er die Wahrheit erfuhr? – Das mußte jeder einsehen: diese ihm jetzt zu sagen, war unmöglich! Ebenso unmöglich war es aber, seinen Willen zu tun und die Sibylle zu heiraten. Und was konnte sonst geschehen?

Nach einiger Überlegung erhielt das erbangte Gesicht des Guten einen getrösteteren Ausdruck. Es war ihm ein schon früher erwogenes Mittel eingefallen. Ging's nicht mit der Wahrheit, so ging's mit dem Schein. Konnte er dem Alten nicht wirklich folgen, so konnt' er sich doch anstellen, als ob – und das beschloß er. Er wollt' es klug machen und in bezug auf den Fortgang der Bewerbung Hindernisse erfinden, die ihn eben nicht zum Zwecke gelangen ließen; so hoffte er wenigstens für die nächsten Tage Frieden und zum Ausdenken von Rettungsgedanken Zeit zu gewinnen.

Obwohl er den Webersleuten rechtzeitig kondoliert hatte, sprach er jetzt doch wieder bei ihnen ein und drückte mit ernstem Gesicht und würdiger Haltung sein Bedauern aus über das Unglück, das sie betroffen, indem er die gewöhnlichen Trostgründe anfügte, die man auf dem Lande zu wiederholen nicht müde wird. Der alte Weber dankte und Sibylle sah ihn mit Augen an, als ob sie nun wenigstens eine Anspielung erwartete, die zu dem Heiratsantrag hinüberführte. Tobias behielt aber eine Miene, deren Ernst zu sagen schien, daß man jetzt an nichts anderes denken könne als an den Trauerfall; und Sibylle, die sicherer geworden war, fand sich auch nicht bewogen, ihm entgegenzukommen. Man sprach nur noch einiges vom Wetter, das einige Tage trocken gewesen war, kam darin überein, daß jetzt »a kloes Regale« (ein kleiner Regen) nicht schaden könnte, und Tobias verabschiedete sich.

Heimgekehrt und vom Vater befragt, erzählte er, wo er gewesen, fügte jedoch hinzu, die Leute wären noch so traurig, daß es ihm jetzt nicht möglich gewesen sei, ihnen mit einem Heiratsantrag zu kommen. Er habe indessen gesehen, wie es stände, und die Sache habe wirklich keine Eile. Bei der Sibylle werde ihm keiner den Weg verlegen, das wisse er nun genau. – Der Alte war beruhigt und prägte ihm nur noch ein, die nächste passende Gelegenheit ja nicht zu versäumen.

Tobias lächelte schlau für sich hin. Er fühlte zum erstenmal den Reiz, den es hat, einen Despoten, der auf seine Herrschaft lossündigt, durch List zu bekämpfen und ihn tüchtig anzuführen. – Was einmal gegangen war, konnte öfter gehen. Auch sollte ihm schon wieder etwas Neues einfallen, womit der Alte wieder zufrieden war; unterdessen wurde die Sibylle, die ihm schon diesmal nicht mehr so eifrig geschienen hatte, ungeduldig, es kam ein anderer an sie und nahm sie ihm weg, – er hatte von dieser Seite mindestens Ruhe und konnte daran denken, die Heirat mit der Bäbe ebenso fein durchzusetzen.

In dem süßen Bewußtsein, für seine Liebe etwas getan zu haben, wollte er sich nun auch durch ihr Anschauen belohnen. Er wußte, daß die Bäbe heute in der Dämmerung Milch holen mußte, und fand sich rechtzeitig in dem Gäßchen ein, durch das der Weg zur Verkäuferin führte. Und richtig, sie kam daher mit dem leeren Gefäß, und schon von weitem, als sie ihn erkannte, blinkten ihm ihre holden Augen entgegen! Nachdem sie sich vorsichtig nur wie Bekannte, nicht wie Liebende, gegrüßt, blieb Tobias doch um so mutiger bei ihr stehen, als er in der von Gartenhecken eingeschlossenen Gasse niemand gewahrte. Und nun sahen sie sich wenigstens an wie Liebende, und Seligkeit füllte das Herz des Schneiders. Was war das, mit der Sibylle verglichen, für ein Mädchen! Wie schaute sie her, wie glänzte ihr Gesicht, wie lachte sie ihn an! – Ach, ihr nur die Backen zu streicheln, muß ja besser schmecken als Zucker! Ihr nur die Hand zu drücken, muß ein Glück sein für Kaiser und Könige! Und dieses Mädchen, das ihn liebte, sollte er nicht zum Weibe haben? Er sollte die »Wilde« nehmen, und die Schöne einem anderen lassen? Nein, dies geschah – dies litt er nicht, und wenn er in Stücke zerrissen würde!

Das Pärchen wurde in ein Gespräch verwickelt, das wir nicht weiter verfolgen wollen, da es den Lesern schwerlich so wunderschön vorkommen möchte wie ihnen, und nichts zur Geschichte Gehöriges darin verhandelt wurde. Sie fragten sich, rühmten sich und fragten sich noch einmal, wußten eigentlich selbst nicht, was sie sagten, und fühlten nur, daß es köstlich war und daß man so fortreden könnte ohne aufzuhören. Und beide gefielen sich besser als je vorher. Der Bäbe kam das Gesicht des Tobias heute entschlossener, männlicher vor; und sie schien dem Tobias sogar bei der Liebeserklärung nicht so lieb gewesen zu sein wie jetzt »zwischa' Liecht« (zwischen Licht, in der Dämmerung). – Endlich hörten sie starke Schritte von weitem und schraken auf, – Tobias, wenn ich die Wahrheit sagen soll, etwas lebhafter als die Bäbe. Ein Mann kam die Gasse herauf. Bäbe sagte mit gedämpft süßer Stimme Gutenacht und ging mit ruhigem Schritt und unbefangener Haltung den Weg zur Bäuerin. Tobias eilte in die Hauptgasse zurück und begab sich heim.

Es war das letzte reine Glück, welches unserem Paar das Schicksal gönnte. Der Mann, der die Gasse heraufkam, war jener Bekannte des alten Schneiders, der ihm schon seine Beobachtung wegen der Sibylle mitgeteilt hatte. Den jungen Schneider so vertraulich bei der Pfarrmagd stehen zu sehen, fiel ihm auf; und so unbefangen die Bäbe an ihm vorüberging, so merkte der alte Praktikus doch aus einem gewissen Leuchten des Gesichts, daß es keine gewöhnliche Ansprache gewesen sein konnte, welche die beiden miteinander gehabt hatten.

Als Tobias am anderen Morgen in die Stube trat, bemerkte er in dem Gesicht des Alten einen Ernst und zumal in den hängenden Lippen eine Strenge, die ihm sehr verdächtig vorkam. Augenblicklich fielen ihm seine begangenen Sünden ein und er harrte mit Bangigkeit auf die erste Rede. Sie kam schneller und schlimmer, als er gedacht. Mit der Miene des Anklägers fragte der Alte barsch: »Was hast du denn des Abends um Betläuten mit der Pfarrmagd zu reden?« – Tobias fuhr zusammen und erblaßte. »Ich?« brachte er endlich mit Mühe hervor. – »Ja du!« entgegnete der Vater. »Von dir ist die Sprach'!« – »Nun,« erwiderte der Gute, der sich einigermaßen gesammelt hatte, »wie man eben in eine Ansprache kommt miteinander. Ich hab' gefragt, wo sie hinginge, und sie hat gesagt: ins Wirtshaus; und wie eine Red' die andere gibt –.« – Der Alte, der aus dieser Erklärung und der ganzen schuldbewußten Haltung des Burschen gesehen, daß die hübsche Pfarrmagd ihm nicht gleichgültig sei, fiel ihm ins Wort und versetzte: »Los' (höre), wir wollen deutsch miteinander reden. Du hast mir versprochen, daß du's mit der Sibylle sobald als möglich richtig machen willst; – ist's so oder nicht?« – »Ja,« erwiderte der Überführte mechanisch. – »Du hast nichts getan in der Sach'! Dafür muß ich hören, daß du mit der Pfarrmagd vertraut diskurierst und daß sie aussieht, als ob du ihr, Gott weiß was, in den Kopf gesetzt hättest. Willst du mich hinters Licht führen? Willst du deinen Vater für'n Narrn haben?« – »Ach,« rief der erschreckte Tobias, »warum nicht gar! Wie kannst du nur –.« – »Gut,« versetzte der Alte. »Wenn du's nicht willst, so zeig's! Die Pfarrmagd hat nichts und paßt nicht für dich; bei der Sibylle bist du versorgt, bleibst im Dorf und kannst einen rechten Mann machen. Ich verlang', daß du zwischen heut und morgen mit den Leuten red'st, oder – ich red' selber!« – »Aber mein Gott,« rief der Unglückliche, »so übers Knie kann man die Sach' doch nicht abbrechen?« – »Ich hoff' doch,« entgegnete der Vater, indem er den Widerstrebenden argwöhnisch betrachtete, »daß du's kannst. Sonst könnt' ich am End' dich übers Knie nehmen und –.« Er machte eine deutliche Bewegung. – Tobias war in verzweifelter Lage. Er mußte sich sagen, daß sein Vater nur verlangte, was er ihm versprochen; er hatte sich ihm nie widersetzt und wußte gar nicht, wie er sich dazu anstellen sollte; sein Kopf war überdies in einer Verwirrung, daß alles, was er vorbringen würde, notwendig ungeschickt herauskommen mußte: – aus allen Gründen konnte er ihm jetzt nicht mit der Wahrheit entgegentreten. Instinktmäßig trachtete er nur danach, einige Frist zu erlangen, und rief mit dringlichem Ton: »So laß mir nur wenigstens noch acht Tage Zeit! Ich will ja alles tun, was ich kann! Es eilt ja nicht so! Man kann ja so eine Sach' nicht in jeder Stund' vorbringen! Man muß ja doch auch im rechten Humor dazu sein!« – Der Alte war kein böser Mann; er fühlte, daß er am Ende nichts gut machte, wenn er den Sohn mit Gewalt zum Weber hinnötigte, und von dem wahren Verhältnis mit der Pfarrmagd hatte er noch keine Ahnung; daher sagte er nach kurzem Bedenken: »Nun gut; ich will zeigen, daß ich auch dir deine Weis' lassen kann. Acht Tag' will ich warten. Aber dann hab' ich die Antwort?« – »Dann hast du die Antwort,« erwiderte der Sohn. – Mit Nachdruck, obschon in etwas milderem Ton, setzte der Alte hinzu: »Das Reden mit der Pfarrmagd laß jetzt unterwegs. Ein junger Mensch kann wohl einmal einen Unterhalt haben mit so einer – ich weiß wohl, wie man in den Jahren ist; für dich aber schickt sich's jetzt nicht mehr. So! Ich geh' hinaus aufs Feld – und du mach' das ›Leible›‹ (Weste) fertig. – Wenn du verständig bist und mir folgst, dann sollst du sehen, daß auch ich als Vater an dir handeln kann. Willst du mir aber was vormachen und gehst mit Lügen um, dann sei dir unser Herrgott gnädig!« – Nachdem er dies mit entsprechendem Schwingen des Zeigefingers gesagt, setzte er den Schaufelhut auf und verließ die Stube.

Tobias fühlte sich tief niedergeschlagen, oder besser zu reden, vernichtet. Das letzte Mittel, wodurch er die Sache glaubte hinziehen zu können, bis irgend eine rettende Wendung eintrat, war ihm genommen. Er mußte sich entscheiden, mußte entschlossen mit der Farbe herausgehen – aber das war ja gerade das Unmögliche! Wenn er nach allem, was bis jetzt geschehen und was er jetzt wieder versprochen hatte, vor seinen Vater hintrat und ihm erklärte, er wolle die Pfarrmagd heiraten – den Auftritt, den es da gab, wollte er nicht einmal denken, geschweige denn erleben! Wenn er's aber doch tat, so half es nichts, denn der Alte gab nach einem solchen Auftritt nur um so weniger nach. – Es war ihm, als ob ihm Hände und Füße mit Stricken gebunden wären und er nichts tun könnte, als ruhig dasitzen und alles über sich ergehen lassen. Eine Zeitlang gab er sich stillem Brüten hin und kostete das Gefühl der Rettungslosigkeit von Grund aus. Dann raffte er sich auf und arbeitete an dem Leibchen und nähte hastige Stiche und riß wiederholt den Faden ab. Es war zu arg, wie es ihm ging! Sein lebelang war er schlecht behandelt worden, und während andere ihr Glück machten, hatte er nur Verdruß und Unehr' gehabt in der Welt. Und jetzt, wo auch er glücklich werden konnte, sollte er dies expreß nicht, nein, sondern unglücklich sollte er werden! Das war ja doch, um ins Wasser zu springen! Wahrhaftig, wenn er ein rechter Kerl war, lief er jetzt fort und machte seinem Leben ein Ende! Gab's noch einen Menschen wie er einer war? Der Teufel hatte sein Spiel mit ihm ganz extra! Nur ihm sollte alles konträr gehen – sonst niemand! – Der gute Tobias, auf dieser Höhe des Zorns angekommen, stieß einen Fluch aus, der einem Stärkeren Ehre gemacht hätte, stampfte mit dem Fuß und warf die Arbeit auf den Tisch, daß es klatschte – zum Glück für den Eigentümer des Leibchens, der ein kläglich genähtes Stück auf den Leib erhalten hätte.

Nach und nach legte sich der Sturm seiner Aufregung. Er begann wieder zu nähen und suchte in akkurater Arbeit die Qualen seines Inneren zu vergessen. Als er so mit stillgefaßtem Duldergesicht dasaß, kam die Walpurg von der Küche herein und sah ihn von der Seite an. Sie wußte nichts von der Bäbe, kannte aber den Plan mit der Sibylle und hatte als erfahrenes Weib ihre Gedanken. Mitleidig sagte sie: »Ja, ja, Tobias, ich glaub' schon, daß du nicht dran willst! Die Schönst' ist sie freilich nicht, die Sibylle; aber du mußt halt ein Aug' zudrücken. In der Eh' geht's manchmal gar kurios, und es hat schon manchem eine nachher besser gefallen als vorher. Dir kann's wohl auch so gehen!« – Tobias starrte sie an; »'s mag sein,« erwiderte er und nähte weiter.

Er hatte einen elenden Tag, unser Schneider; aber das Elend, die andauernde Gesunkenheit seines Wesens, machte ihn müde, und er schlief besser, als man's hätte denken sollen. Frühmorgens erwachend, fühlte er sich erfrischter, gestärkter, und als er im Schein der Morgensonne die Situation überdachte, kam sie ihm schon viel weniger desperat vor; ja, zuletzt begann sogar schüchtern, aber süß, die Hoffnung sich wieder zu regen. Er freute sich, daß er seinem Vater noch acht Tage Zeit abgewonnen, und war sich dessen als einer Art von Tat bewußt. In acht Tagen – was konnte da nicht alles geschehen! Welche Auskunftsmittel konnten ihm da nicht einfallen!

Für sich war er entschlossen. Das Gesicht der Bäbe, wie er es zuletzt gesehen, glänzte wieder so wunderschön vor seiner Seele – von ihr zu lassen konnte ihm nicht einen Augenblick in Gedanken kommen! Er wollte das auch seinem Vater sagen, wenn's not tat – nur jetzt nicht. Jetzt wollte er eben warten und das Glück der achttägigen Frist auch wirklich benützen. Er wollte sinnen und denken, wie er möglicherweise am besten und leichtesten zu seinem Zwecke und zunächst um die Sibylle herumkomme.

Zwei Tage sann er nach und kein Gedanke bot sich ihm dar, welcher brauchbar gewesen wäre. Endlich hatte er einen Einfall – augenscheinlich den besten, den er haben konnte, und den er auch ohne weiteres ins Werk setzen mußte. Er wollte mit der Bäbe eine Zwiesprach halten, ihr wollte er alles entdecken, wie es stand – und sie sollte ihm raten, was nun zu tun sei. – Dieser Gedanke mehrte das Vertrauen, das ihn wieder zu beleben angefangen hatte, mit einem Mal um das Doppelte. Die Bäbe, die in verschiedenen Diensten herumgekommen, die sogar in Ulm gewesen war, die überhaupt aussah, als ob sie durch nichts in Verlegenheit gebracht werden könnte – sie mußte eine Auskunft wissen.

Er überlegte, an welchem Tag, zu welcher Tageszeit er sie sprechen könne, ohne daß es jemand sah und sie störte, und kam endlich mit sich überein, sie für den nächsten Sonntag abends zu sich in seinen Garten einzuladen. Sonntag abends war der Alte regelmäßig im Wirtshaus, der Kasper trieb sich mit seinen Kameraden herum, und die Walpurg benützte sehr häufig die Gelegenheit, mit einer Bäuerin, die einige hundert Schritte weiter ihren Hof hatte, auf der Hausbank zu schwätzen. Der Garten ging, wie die meisten dörflichen, aufs Feld hinaus, hatte eine Hecke und neben alten Obstbäumen eine zu dichtem Buschwerk verwilderte Laube, hinter der man sich wohl verbergen konnte, falls auch eines auf dem Feldweg vorbeiging, das über die Hecke sah. Gegen die Gasse schützte das eigene Haus und der Stadel des Nachbars, nebst einer kurzen, aber hohen Mauer, die beide verband. Es war freilich hier nicht vollkommen sicher, möglicherweise konnte man sie doch sehen – aber das mußte eben riskiert werden! – Den Eingang konnte die Bäbe vom Feld aus durch ein zerrissenes Eck der Hecke nehmen, das man glücklicherweise noch nicht ausgebessert hatte; und sie mußte eben so gescheit sein und nur hineingehen, wenn niemand um den Weg war!

Als er sich das alles ausgedacht hatte und lebhaft vorstellte, wie's gut ging, war er ordentlich erheitert. Er wollte sich um nichts kümmern, bis er mit der Bäbe gesprochen hatte; denn am Ende, – wurde es anders, wenn er sich absorgte? Als er mit seinen Leuten zu Mittag aß, betrachtete ihn die Walpurg und dachte: er hat sich dreingefunden. Und der Vater sagte sich im stillen: der Humor scheint ihm zu kommen. Laut sagte er nichts; denn er hatte dem Sohn acht Tage Frist gegeben und die sollte er ungestört haben bis zur letzten Stunde. Dann wollte er schon mit ihm abrechnen.

Tobias hatte zunächst die Einladung zu machen. Diese ging nicht wohl ohne eine vorläufige Aufklärung der Bäbe über den Stand der Dinge, also nicht ohne ein kleines Gespräch bei irgend einer Begegnung, und das war jetzt in keiner Art ratsam. In der Not, in welche ihn diese Frage verstrickte, hatte er eine Idee, auf die bis jetzt noch kein Liebender im Dorf geraten war: er setzte sich in seiner Kammer hin, schrieb mit Bleistift nieder, was er der Geliebten zu sagen hatte, ging dieser in der Abendstunde zu Gefallen und drückte ihr im Vorbeigehen nach leichtem Gruß das Briefchen in die Hand. Die Bäbe nahm es, ohne überrascht zu sein und ohne sich etwas merken zu lassen. So gut wußte sie sich in allen Verhältnissen zu benehmen.

Wie sie zu Hause das Schreiben las, geriet sie doch in große Aufregung. Solche Gefahr drohte ihrer Liebe? Der Tobias sollte gezwungen werden, eine andere zu heiraten? Und die Sibylle, die letzte von den Mädchen im Dorfe, – diese Sibylle sollte den lieben Menschen haben? Da wollte sie doch auch ein Wort mitreden! Das wollte sie doch erst sehen, ob man ihr nehmen könnte, was ihr gehörte von Gott und Rechts wegen!

Daß Tobias ihr geschrieben und sie zu einer geheimen Unterredung einlud, freute sie herzinnig. Sie hatte schon vernommen, daß er nicht gerade der Herzhafteste sei und sich aus Gutmütigkeit manches gefallen lasse, was andere zum Beißen und Kratzen brächte: um so mehr schmeichelte ihr die Entschlossenheit, um ihretwillen etwas zu wagen und dem Vater sich entgegenzustellen. Die Gefahr, das treue Herz zu verlieren, machte ihr ihn nochmal so teuer – und als sie am anderen Tag wieder an ihm vorüberging, sagte sie nach dem lauten, gewöhnlichklingenden »Gutentag«, mit gedämpft entschlossener Stimme: »ich komm'!«

Dies war am Samstag. Der Sonntag brach herrlich an und versprach das schönste Juniwetter. Am Freitag hatte nicht nur »a kloes Regale« die Wünsche der Landleute erfüllt, sondern ein echter Landregen, der abends begann und die Nacht durch währte, sie übertroffen. Nachdem am Samstag bei aufgeklärtem Himmel die Trocknung begonnen hatte, war am Sonntag von den Wirkungen des Ergusses nichts mehr übrig als die Staublosigkeit und die allgemeine Frische der Natur. Die Vögel sangen mit Jubel und die Landleute grüßten sich mit jenen halbfeierlichen, tiefzufriedenen Mienen, die ihnen am heiligen Tag eigen sind, wenn die Sonne scheint und der Stand der Saaten eine ergiebige Ernte verheißt.

Tobias war in guter, ja heiterer Stimmung. Das allgemeine Vergnügen der Natur und der Menschen wirkte magisch auf ihn, und eine Hoffnung belebte sein Herz, die zur förmlichen Zuversicht wurde. Des Abends ging alles nach Wunsch. Man aß früher als gewöhnlich und Kasper eilte sogleich hinweg. Als die Walpurg mit dem Geschirr in die Küche gegangen war, sah der Alte den Erstgeborenen mit einem eigenen Lächeln an und sagte: »Nun, gehst du nicht auch ins Wirtshaus?« – Tobias, die Frage verstehend, zeigte sich der Situation gerecht und erwiderte mit einem täuschend schlauen Ausdruck: »Vorderhand nicht; ich hab' erst noch ein Geschäft abzumachen.« Der Vater, der nichts anderes denken konnte, als daß er sich bei dem Weber das Jawort holen wollte, meinte mit freundlichem Gesicht: »So so!« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Nun, ich wünsch' viel Glück,« und verließ behaglich das Haus. Die Walpurg folgte ihm, nachdem sie noch den Kühen etwas aufgesteckt hatte, wenige Minuten später – und Tobias war allein.

In der Einsamkeit überkam ihn ein wundersames Gefühl. Es begann in ihm zu beben, erst leise, dann stärker; aber dieses Beben hatte etwas Süßes, das Bangen vor dem Unternehmen war gepaart mit der Lust der Heimlichkeit und mit dem Reiz der lieblichen Erwartung. Er hätte ordentlich noch länger so dasitzen mögen! Doch die Zeit war gekommen, er mußte der Geliebten den Weg bereiten; mit sachten Tritten begab er sich in den Hof, und von hier in den Garten. Möglichst unbefangen ging er zu der schadhaften Stelle der Hecke, machte sie durch Knicken und Zurechtbiegen hindernder Äste zum Eingehen noch etwas bequemer und kehrte zurück, um sich hinter die Laube zu stellen. Und in kurzem vernahm er ein feines Geräusch; ein freudiger Schreck durchfuhr ihn; er lugte vor und sah die Bäbe leicht und rasch übers Gras, durch die Bäume herwandeln.

Mit leisem Gruße, kurz Atem holend, stellte sie sich zu ihm. Die Bewegung, in die das Wagnis am noch hellen Tag auch ihr Gemüt versetzt hatte, gab ihr eine feinere Röte und ließ ihr ganzes Wesen ätherischer erscheinen – Tobias war von ihrer Schönheit ordentlich geblendet. Sie reichte ihm zärtlich lächelnd die Hand, er drückte sie, die Augen beider erglänzten – halb zog sie ihn, halb sank er hin – und auf einmal hingen sie im ersten, brennenden Liebeskusse zusammen. Ach, so ein Kuß, im Augenblick des innigsten Verlangens gegeben und empfangen, ist sicher das höchste Glück, das den Sterblichen auf Erden vergönnt ist, und wenn auch nur von der Dauer eines Blitzes, dennoch wert, daß alles dafür gewagt und alles dafür erduldet werde!

Tobias, die Geliebte betrachtend, die im hübschen Sonntagskleid wunderbar vor der grünen Laube stand, rief in tiefgefühltem Flüsterton: »O Bäbe, wie kann man dich mir nicht lassen wollen? Geld und Gut ist ja gar nichts gegen das Glück, so ein Weib zu haben!« – Geschmeichelt, erfreut entgegnete das Mädchen: »Ja, so redest du, Tobias; aber die Leut' sehen das ganz anders an, und die Leut' –« – »Die Leut',« fiel Tobias mit einer Art von Geringschätzung ein, »was gehen mich die Leut' an? Ich hinder' ihnen nicht, was sie wollen, und sie sollen mir nicht hindern, was ich will! Und ich will einmal dich, Bäbe, und keine andere!« Die Bäbe erwiderte diese Worte mit einem süßen Blick und einem unmerklich wehmütigen Zug um den Mund. »Du guter Tobias,« sprach sie und faßte seine beiden Hände. – Tobias geriet über diese Liebe ganz außer sich, und indem er sie fest ansah, rief er: »Mädle, ich lass' dich nicht! Weiß Gott, ich lasst dich nicht! Mag mein Vater anfangen, was er will – er kennt mich nicht! Ich bin freilich ein guter Mensch und geb' lang' nach; aber auf einmal, da –.« Er konnte den Satz nicht vollenden. Ein Getöse, wie von einem Schlag oder Stoß, vom Hof her, war in sein Ohr gedrungen, er fuhr zusammen und horchte mit dem ebenfalls betroffenen Mädchen in atemloser Spannung. Plötzlich richtete er sich auf, bedeutete der Bäbe still zu bleiben, und ging klopfenden Herzens, aber die Unruhe bezwingend und für den Vater, wenn er ihm entgegenkam, auf eine gute Ausrede sinnend, vor gegen den Hof. Im Garten sah er niemand. Ermutigt trat er zu der Türe, die in den Hof ging, öffnete sie und erblickte auf der Gasse den Kasper, just bevor er hinter dem Hause verschwand. Hatte dieser sie gesehen und wollte sie verraten? – Es konnte nicht sein. Er war nur im Hof, nicht im Garten gewesen – und wie hätte er sie hinter dem Gebüsch wahrnehmen können? Offenbar hatte er nur etwas vergessen gehabt, was ihm schon öfters passiert war, und suchte jetzt wieder die Kameraden auf.

Tobias kehrte zurück. »Es ist nichts,« sagte er zu der Bäbe. »Auch auf dem Feld ist niemand – wir können ganz außer Sorge sein.« – Erheitert schaute das Mädchen den Wackeren an, der bei erneuter Röte des Gesichts und entsprechendem Selbstgefühl wegen bewiesener Geistesgegenwart ein stattlicheres Ansehen erlangt hatte. Sie freute sich, daß er der Gefahr so beherzt entgegengegangen war, um sie zu beruhigen, und belohnte ihn mit einem Blick voll Erkenntlichkeit. Dann fragte sie: »Du bist so gut, Tobias; – hast du mich denn wirklich so gern?« – »Wie kannst du nur so fragen,« rief Tobias. »Ins Feuer tät' ich gehen für dich, wenn's nötig wär'! Umbringen ließ ich mich – auf der Stell'!« – »Nun,« entgegnete die Bäbe, »so weit wird's nicht kommen!« Lächelnd ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen. Sie sah, daß er viel versprach, aber sie sah auch, daß er's aus Liebe und aus ganz ehrlichem Herzen tat. Sie fühlte, daß er ihr gehörte, und gab sich schweigend der Lust dieser Empfindung hin. Nach einer kleinen Weile rief sie kindlich erfreut und empordeutend: »Ei sieh!« – Eine Grasmücke hatte auf dem nächsten Baum ihren holden, heimlichen Sang begonnen; eine zweite, durch sie angeregt, antwortete ihr aus benachbarter Baumkrone. Die Liebenden horchten mit Ausrufungen des Vergnügens. Sie hörten nun auch den Lerchensang, der fern und hoch herab ertönte, eine Himmelsmusik, die feiner, ätherischer und allseitig erscholl, so daß die ganze Welt von Klängen umfaßt schien und die fernen die nahen nicht störten, sondern recht eigentlich dazu stimmten.

Der Abend war köstlich. Die ungewöhnlich klare Luft hatte von den Strahlen der tiefstehenden Sonne einen goldenen Ton erhalten, der ihr Blau lichter und wärmer erscheinen ließ, und die grünen Bäume hoben sich in reinster Frische davon ab. Es war alles verschönt und wahrhaft verklärt. Die Blumen von dem kleinen Beet hinter dem Hause leuchteten aus dem Schatten mit auffallendem Schein; sogar das Unkraut im Winkel sah fett und behaglich her, und den Nesseln schien es wohl in ihrer stachelgeschützten Haut zu sein.

Die Bäbe fühlte sich so glücklich, daß sie das ernste Gespräch, um dessentwillen sie gekommen war, nicht sogleich beginnen, sondern lieber noch den Augenblick genießen wollte. Sie sah umher und sagte zu Tobias: »Wie schön ist's jetzt im Garten! Sieh nur, so hell ist mir der Himmel nie vorgekommen wie heut, und so schön hab' ich die Vögel noch nie singen hören, mein' ich. Jetzt horch nur!« – Tobias horchte ein wenig, sah aber hauptsächlich dem Mädchen ins Gesicht und meinte: »Nun, freut mich, daß es dir gefällt! – Aber ich hab's doch noch besser, als du!« – »So?« – »Ja; denn ich seh' das Allerschönste!« – Die Bäbe lachte über das Kompliment, das der Gute halb wohlgefällig, halb geschämig vorgebracht hatte, und erwiderte neckend: »Du bist ein rechter Schmeichler und Lügner! Sei still mit solchen Reden, oder ich geh' fort!« – Tobias hatte ihre Hand gefaßt und rief: »Das probier' einmal!« Sie zog ein wenig, er drückte stärker, und sie ließ sich gerne drücken und den Geliebten, den Mann, seine Kraft an ihr beweisen. »Ach,« rief sie, »wer hätte geglaubt, daß du so stark bist! – Hör' auf oder ich schrei!« – Tobias, dem das Lob seiner Stärke wohler tat als alle Schönheit des Abends, steigerte das Drücken zum förmlichen Pressen, und die Bäbe tat den Mund auf, als ob sie schreien wollte. Er aber kehrte sich nicht dran und leistete nochmals das Allerbeste, dann erst ließ er sie los. Die Bäbe, mit der Miene jenes Scheinvorwurfs, der die beste Anerkennung enthält, sagte: »Du bist aber bös! Wenn ich jetzt geschrien hätt' und man hätt's gehört und uns hier getroffen?« – »Bah,« rief Tobias in stolzer Sicherheit; »so hitzig geht's nicht! Und am Ende – was wär's dann?« – Sie, die mutige Weise ihm lassend, versetzte mädchenhaft: »Ja, das glaub' ich, du hast gut reden! Aber wenn man mich bei dir im Garten träfe, da würde es schön über mich hergehen!« – »'s hat keine Gefahr,« entgegnete Tobias. »Kein Mensch ist um den Weg, 's ist ordentlich, als ob's so sein sollt', daß wir hier ungestört beisammen sind. Schau doch herum – siehst du was?« – Das Mädchen sah und hörte niemand; aber sie sah, daß die Helle sich gemindert hatte, daß die Sonne untergegangen und die Frist beinahe schon verstrichen war, die ihr die Pfarrerin ausnahmsweise zum Besuch einer Kamerädin vergönnt hatte. Sie sagte: »'s wird dunkel, Tobias, und die Zeit vergeht. Wir müssen jetzt von dem reden, warum wir zusammen gekommen sind!«

Tobias war ernsthaft geworden. Die Mahnung hatte ihn mit einem Ruck aus dem heiteren Gebiete der Phantasie in die wirkliche Welt versetzt, wo man sich nicht so frei und schön bewegen kann, sondern vor Hindernissen steht, die aus dem Wege geräumt sein wollen. Bedeutsam nickend, sagte er: »'s ist wahr!« – Die Bäbe begann: »Du hast mir geschrieben, daß du die Sibylle heiraten sollst und nicht weißt, wie du's anfangen sollst, um von ihr am besten loszukommen. Nun sag' mir vor allem eins: hast du mit ihr, eh' du mich kennen gelernt hast, vom Heiraten gesprochen?« – »Nein!« versetzte Tobias, froh, diese Antwort geben zu können. – »Auch mit ihrem Vater nicht?« – »Nein,« wiederholte er. »Ich hab' wohl gesehen, daß sie mich gern hätt' und sich vielleicht auch einbildet, ich wolle sie; aber gered't ist nichts worden in der Sach'!« – »Nun, das ist gut,« sagte die Bäbe. »Wir haben's also nur mit dem Vater zu tun!« – »Ja, versetzte Tobias; »nur mein Vater will's haben! Aber das ist ein gewalttätiger Mann, der sich nicht weisen läßt, und wenn der sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, dann meint er, es muß nausgeführt sein, bieg's oder brech's. Darum hab' ich dir eben geschrieben, ob du mir keinen Rat geben kannst, wie wir auf irgend eine Weis' –.« Er hielt inne und schaute sie fragend an. – Nach kurzem Bedenken entgegnete sie: »Wir können zweierlei tun. Wenn's dir wirklich Ernst mit mir ist und du etwas wagen willst für mich –.« – »Bäbe!« rief Tobias mit der Miene des Vorwurfs, »kannst du daran noch zweifeln? – Alles wag' ich für dich – alles, was du willst, gar alles!« – »Nun,« erwiderte das Mädchen, »dann hat's keine Not und die Sach' ist einfach. Du gehst zu deinem Vater, sagst, du kannst die Sibylle nicht nehmen, und er solle und müsse ein Einsehen haben; du würdest unglücklich sein dein ganzes Leben lang – es ginge nicht und du könntest's nicht tun – um die ganze Welt nicht!«

Tobias hatte betroffen gehorcht und sah nun sehr betreten vor sich hin. Um ein solches Gespräch mit seinem Vater zu vermeiden, hatte er ja gerade an sie geschrieben und von ihr einen Rat gewünscht – und jetzt war das der Vorschlag, den sie machte? Nun, den hätte er sich auch wohl selber machen können und nicht nötig gehabt, deswegen an sie zu schreiben und mit ihr im Garten zusammenzukommen! – Er hatte gedacht, sie wüßte eben ein Mittel, wo er mit seinem Vater gar nicht mehr zu reden brauchte! So ein Mittel, wo die Sache auf irgend eine andere Weise ging, ohne einen Auftritt, und ohne daß er –! –

Kleinlaut fragte er: »Ist das der Rat, den du mir gibst?« – »Ja,« versetzte die Bäbe; »und ich weiß keinen gescheiteren. Das ist der gerade Weg, und der ist immer der beste. Frisch gewagt und gesagt, wie die Sach' ist, und wenn's nicht gleich durchgeht, wie zu vermuten ist, dann standgehalten!« – Tobias nickte bedenklich. »Diesem Mann so was sagen,« erwiderte er, – »meinem Vater!« – »Grad weil's dein Vater ist,« versetzte das Mädchen, »mußt du vor allen Dingen mit ihm den Versuch machen und ihm die Ehr' antun!« – »Ja,« entgegnete der Bursche mit einem kuriosen Lächeln, »dann wird aber er mir auch die Ehr' antun – fürcht' ich!«

Die Bäbe verstand diese ironischen Worte nur halb; in der Meinung, Tobias befürchte nur heftigen Widerspruch und Schimpfreden, fuhr sie fort: »Nun, den ersten Zorn mußt du eben aushalten. Du hast ja vorhin gesagt, daß du etwas wagen wolltest für mich – oder hab' ich nicht recht gehört'?« – »Ja,« erwiderte Tobias, »das hab' ich schon gesagt!« – Und ganz im Ernst und in bester Meinung hatte er's gesagt. Er wollte etwas, er wollte alles wagen für die Bäbe; aber es mußte etwas Außerordentliches, Unaussprechliches sein, und besonders etwas, das weit vom väterlichen Hause weg vor sich ging. So etwas, hoffte er, würde die Bäbe wissen; und jetzt wollte sie just das gewagt sehen, welches zu vermeiden er gerade alles andere wagen wollte!

»Ja,« begann er nach einer Pause aufs neue, wagen will ich etwas, ganz natürlich, und recht gern will ich's tun; aber –.« Er hielt wieder inne. – Die Bäbe wurde ungeduldig. Mit einem Ton, der ihre Empfindung verriet, bemerkte sie: »Es scheint, du willst just das wagen, was niemand von dir verlangt; das, was man verlangt und was nötig ist, aber grade nicht!« – »Nicht so,« erwiderte Tobias; »aber siehst du, Bäbe, vor meinen Vater hintreten, nach allem, was jetzt geschehen ist, und nachdem er glaubt, ich sei mit seinem Plan einverstanden –.« – Er stellte sich vor, wie er das machen sollte, dachte sich das Gesicht des Vaters, seine ersten Reden und Antworten – und es war ihm, als ob's eben nicht ginge. Er stand ratlos da.

Die Bäbe fühlte sich ernstlich gekränkt. Sie verzog den schönen Mund und sagte mit dem Nachdruck eines verletzten Herzens: »Nun, ich seh' schon, daß du trotz deiner schönen Reden nichts für mich tun willst, daß du mir nur was vorgemacht hast und daß es mit deiner Lieb' zu mir nichts ist. Ich bin recht dumm gewesen, daß ich geglaubt hab', du hättest mich so gern, wie ich dich! Jetzt seh' ich, wie's steht, und jetzt will ich schnell gehen, eh' man uns hier beieinander sieht und ich mit dir ins Geschrei komm' wegen nichts und wieder nichts!« Sie drehte sich, um fortzugehen; Tobias hielt sie am Arm. »Aber Bäbe,« rief er vorwurfsvoll, »wie kannst du mir so unrecht tun! Hab' ich denn schon gesagt, daß ich's nicht tun will? Ich hab's ja nur überlegt – und das wird man doch dürfen? Nun gut, ich will mit meinem Vater reden – wenn du's durchaus haben willst!«

Das Mädchen war begütigt, und aus dem dunkelbraunen Auge ging ein Strahl auf ihn, der Lieb' und Lob ausdrückte. »Das lass' ich mir gefallen,« rief sie freundlich. »Und sieh, das ist auch bei weitem das beste, was wir tun können! Man sucht oft etwas in der Ferne und hat's ganz in der Nähe. Ich sag' dir, Tobias: reden, aushalten, und auf seinem Sinn bleiben – das führt zum Ziel.« »Nun,« versetzte Tobias mit Ergebung, »in Gott's Namen! – Aber – du hast ja vorhin gesagt, du wüßtest noch etwas! Möchtest du mir nicht vorher auch noch sagen –?« – »Nein,« rief die Bäbe mit Nachdruck. »Es wäre sündhaft, wenn wir etwas anderes täten, eh' du mit deinem Vater gesprochen hast und eh' wir's mit ihm versucht haben. Wenn's da nicht geht und wenn alles nichts hilft, dann ist's immer noch Zeit!« – Tobias machte ein Gesicht, das zu sagen schien: alles gut; aber man könnte doch auch das andere Mittel vorher noch überlegen! – Die Bäbe, die seine Gedanken erriet, fuhr fort: »Wenn man zu etwas kommen will in der Welt, muß man sich resolvieren können und frischweg tun, was man sich vorgenommen hat. Dann setzt man dem andern was in den Weg, und er mag dann zusehen, wie er damit zurechtkommt. Wenn dein Vater so gewalttätig ist, wie du sagst, dann wird er freilich meinen, was er im Kopf hat, das müss' durchgehen. Aber du sagst eben: ich kann nicht und ich mag nicht – und was will er dann machen? Fressen wird er dich nicht; und vielleicht schimpft und tobt er nicht einmal so arg, wie du meinst.« – »Ja, ja, Bäbe,« bemerkte Tobias mit dem Ausdruck tieferer Einsicht, »arg wird's wohl werden!« – »Nun, dann mag's arg werden!« erwiderte die Bäbe entschlossen. »Wenn man haben will, was man gern hat und was einem das Liebste ist, da muß man auch was dafür dulden können. Aber,« setzte sie in ermutigendem Tone hinzu, »bedenk, Tobias, wie schön wird's sein, wenn wir uns haben und glücklich sind, und du kannst dir sagen: daran bin ich selber schuld, weil ich couragiert gewesen bin und ausgehalten hab' und mein Vater seinen harten Sinn hat brechen und nachgeben müssen! – Da schmeckt ja alles noch tausendmal besser, wenn man so was sagen kann!«

Tobias hatte hoch aufgehorcht und fand diesen Gedanken sehr schön. Lebhaft erwiderte er: »Ja, das ist wahr!« – Das Mädchen, den Erfolg ihrer Rede bemerkend, fuhr fort: »Und wenn's dann bekannt wird – denn verschwiegen bleibt nichts in der Welt! – daß dein Vater dich zur Sibylle hat zwingen wollen, und hat gemeint, es ging' ganz leicht, weil du eben so gutmütig bist und gerne nachgibst – hat aber seinen Mann in dir gefunden und selber die Segel streichen müssen – was meinst du, daß man da für einen Respekt haben wird vor dir? Das ist ein anderer, wird man sagen, als wir gedacht haben! Und wenn's ihm jetzt gut geht, so gehört's ihm auch, denn er hat sich's selber gut gemacht!« – Tobias war ergriffen. Seine Wangen färbten sich höher, seine Augen glänzten und mit Selbstgefühl nickend, rief er: »Ja, wahrhaftig, so wird man sagen müssen!«

»Nun,« fuhr die Bäbe fort, »und was ist's denn, was du dafür tun sollst? Eine Zunge hast du und reden kannst du, also hast du nichts mehr nötig als ein bißchen Courage. Kann dich dein Vater denn nötigen ein Mädchen zu heiraten, die du nicht magst? Wie sollt' er's denn anfangen? – Kann er dich in die Kirch' schleppen und dich zwingen, ja zu sagen?« – Tobias zuckte die Achsel und sagte: »Das wär' eine neue Manier! – Das wird er wohl nicht versuchen!« – »Ein Einsehen wird er haben,« versetzte das Mädchen, »still wird er sein, wenn er sieht, was bei dir die Glocke geschlagen hat! Wer sich zu Klei macht, den fressen die Schwein'; aber wer die Zähne weist, dem geht man aus dem Weg!«

Der Schneider, von der Wahrheit dieser Worte getroffen, war entzündet bis zur ausbrechenden Flamme. »Ja,« rief er mit einer Art von Entrüstung über sich selbst, »du hast recht! Ich bin ein Narr gewesen, daß ich mir so viel aus dem Mann gemacht und mich vor ihm gefürchtet hab' wie ein kleines Kind! Was kann er denn an fangen mit mir? Wenn er mir was zuleid tut, so ist's sein eigener Schaden – er wird sich wohl hüten! Und dann soll er erst sehen, wie ich bin, wenn ich Ernst mach'! Kreuz Donner und's Wetter! Wenn ich vor ihn hintret' und sag': ich will nicht, geh zum Henker mit deiner buckligen Sibylle! Heirat' sie selber, wenn du sie mit Gewalt haben willst! Ich bin zu gut dafür – ich halt' zu viel auf mich, als daß ich so eine möcht'! Pfui Teufel! Eine mit einer hohen Schulter! 's ist eine Sünd' und eine Schand', daß du von deinem Sohn verlangst, er soll so eine nehmen, wo er die Schönste haben kann und die Geschickteste und die Gescheiteste!« – Er holte Atem und fuhr dann in erhöhtem Tone fort: »Ja, ich will ihm den Kopf zurechtsetzen, diesem bockbeinigen Mann; ich will ihm sagen, was er noch von keinem gehört hat, ich will ihm –

Plötzlich hielt er inne. Wie durch einen Zauberspruch gelähmt, weiß wie Kreide stand er da und starrte mit halboffenem Munde nach rechts, als ob er dort etwas Entsetzliches erblickte. Die Bäbe sah erschreckt auf ihn; sie meinte, es hätte ihn der Schlag getroffen, und wollte ihn halten. Da rief neben dem Busch eine Stimme voll Grimm und Hohn: »So! Das willst du tun?« – und der alte Schneider trat hervor und heftete seinen Blick auf den Unglücklichen.

Es war kein Ungefähr, das ihn hieher geführt. Kasper hatte in der Alltagsjoppe den Tabak vergessen gehabt, den er in Gesellschaft zweier Kameraden heimlich zu rauchen pflegte; auf dem Wege nach Hause sah er die Pfarrmagd, und von dem Alten schon früher beordert, auf sie und Tobias ein Auge zu haben, schlich er ihr nach. Als er sie in seinen Garten schlüpfen sah, ging er in den Hof und bestieg eine an die Schupfe angelehnte Leiter, um zu sehen, was dort geschehen sollte. Bei der Begrüßung der Bäbe hatte Tobias einen Arm neben dem Gebüsch hervorblicken lassen, und der feindliche Bruder wußte genug. In der Freude seines Herzens riß er die Leiter um, stürzte selber mit ihr und begab sich erst, nachdem er sich erholt und gesäubert hatte, ins Wirtshaus. Es verging einige Zeit, ehe er den in behaglichem Diskurs begriffenen Vater dazu bringen konnte, ihm in den Wirtshof zu folgen und seine Zeitung zu vernehmen. Um so heftiger wirkte diese. Mit dem größten Zorn über den heimtückischen Verräter ging der Alte nach Hause, grimmige Gedanken schossen auf dem Weg in ihm auf, aber sein starker Geist blieb Herr der Situation. Vorsichtig öffnete er die Gartentüre am Hof, leise schlich er ans Gebüsch und kam eben recht, die letzten Reden des Sohnes zu vernehmen.

Wie er dastand vor Tobias, hätte er auch einem anderen, der sich gegen ihn vergangen, schrecklich erscheinen können. In dunklem Gewand, die Pelzkappe auf die Stirn gedrückt, die Augenbrauen zusammengezogen und starrend, die Nasenflügel in Bewegung, die Lippen aufeinandergepreßt, das ganze Gesicht in dem unheimlichen Schein zurückgehaltener Wut glänzend, schien er ein böser Geist zu sein, der aus der Erde emporgestiegen war, um ein Opfer zu holen, In der Rechten hielt er seine Tabakspfeife, einen großen Ulmerkopf, der in seiner Hand genügt hätte, einem Widerspenstigen den Garaus zu machen. Doch er bediente sich dieses Instrumentes nicht, ihm genügte der Blick seiner Augen; mit diesen, die fest auf ihn gerichtet waren, durchbohrte er den Ertappten und Erstarrten und schien ihn völlig vernichten zu wollen.

Tobias hatte nur das fürchterliche Bild vor Augen und die Strafen, die ihn jetzt wegen des verübten Frevels unausbleiblich treffen müßten. Alle anderen Kräfte waren aus ihm gewichen, er konnte nichts mehr denken und sich vorstellen, er hatte keinen Willen und kein Gedächtnis mehr, er war nichts mehr als ein Gefäß der Sündenangst und der Gerichtsfurcht. Aber plötzlich machte er eine Anstrengung. Es schien, als wolle er sich aus der Betäubung reißen, in die ihn das überraschende Phantom versetzt hatte; als wolle er sich ermannen, den Zauber brechen, der auf ihm lastete, und ein Mensch dem Menschen entgegentreten. Seine Glieder bewegten sich, er erhob den Kopf, wendete sich und – lief davon.

Die Bäbe hatte sich nach einem kurzen Moment der Betroffenheit gefaßt; aller Mut war ihr gekommen und damit der Gedanke, daß man diesen Überfall benutzen müsse, um die Sache sogleich zur Entscheidung zu bringen. Als Tobias sich aufrichtete, hatte sie gehofft, er wollte in diesem Sinne handeln und seine Verzagtheit, welche durch die Überraschung erklärlich war, gutmachen – und jetzt sah sie ihn Reißaus nehmen wie einen Schulbuben, und sie, seine Geliebte, auf die feigste Manier im Stich lassen! In tief schmerzlicher Verachtung zuckte sie die Lippe, unendliche Bitterkeit erfüllte ihr Herz! – Sie wußte nicht, wie ein plötzlich sich darstellendes »Ungeheure« auf gewisse Nerven und Gemütseigenschaften wirken kann! Sie wußte nicht, daß in einem Menschen von solcher Beschaffenheit die Mannheit unter Umständen suspendiert werden kann, so daß er nichts mehr ist als seine schwache, willenlose Hälfte, die dann eben handelt, wie's ihr zukommt! Sie beurteilte den Schneider nach sich, und er kam ihr über alle Maßen erbärmlich vor.

Auch der Alte sah ihm verachtungsvoll nach und ließ ihn laufen, denn er war seiner Sache sicher. – Mit Strenge wendete er sich zu dem Mädchen und sagte, indem er sie mit geringschätzigen Blicken maß: »Was hat die Jungfer hier in meinem Garten zu tun? Wie komm' ich zu der Ehr'? Hab' ich sie eingeladen?«

Wenn er glaubte, die Bäbe einschüchtern zu können, wie den Tobias, irrte er sich. Die Geringschätzung seines Blickes mit dem ihrigen übertrumpfend, entgegnete die Beleidigte: »Er nicht – aber sein Sohn hat mich eingeladen; und ich bin gekommen, weil ich geglaubt hab', sein Sohn sei ein Mannsbild und hab' ein Herz und wisse, was er wolle!« – »Sie hat meinen Sohn verführt,« rief der Alte, »und ihn aufgehetzt gegen seinen Vater!« – »Das ist verlogen!« versetzte das Mädchen mit Entrüstung. »Ich hab' ihm gerade gesagt, was seine Schuldigkeit ist gegen seinen Vater. Aber er, anstatt sie zu tun, ist davongelaufen wie ein Tropf. Nun, daran bin ich unschuldig. Mein Sohn ist er nicht und ich hab' ihn nicht aufgezogen.«

Der Alte sah sie betroffen an. Fühlend, daß er mit der da nicht fertig würde, sprach er: »'s ist genug. Geh' Sie aus meinem Garten 'naus jetzt und komm' Sie mir nicht wieder! – Mein Sohn ist nicht für so eine – das lass' Sie sich gesagt sein.« – Die Bäbe zuckte verächtlich die Achseln. »Hab' Er keine Sorg', Herr Schneidermeister,« rief sie ihm entgegen, »daß ich von dem noch was wissen will. – Ich bin nicht darauf aus, einen so armseligen Menschen zum Mann – und einen Grobian zum Schwiegervater zu haben! – So! Adieu, Herr Eber!« – Mit einem Blick voll Überlegenheit und Stolz und mit einer Haltung, deren sie ohne die Ausbildung in Ulm nicht wohl fähig gewesen wäre, schritt sie an ihm vorüber und ging auf die Türe zu, die in den Hof führte, um aufrecht die »Ewend« des Schneiders zu verlassen.

Dieser schaute ihr erstaunt nach. Er konnte sich eines gewissen Respekts, ja einer gewissen Anerkennung ihres Auftretens nicht erwehren. »Das ist eine Person!« rief er aus. »Die hat das Maul am rechten Fleck! Tausendsapperment!« Zugleich fühlte er sich aber höchlichst erleichtert. Das Gefühl, daß es jetzt aus sei mit den beiden, ließ die Zornwogen in seinem Herzen ebben und gab seinem Gesicht für den Moment beinahe den Ausdruck der Zufriedenheit. – Des Sohnes gedenkend wollte er sehen, wohin er seinen Lauf genommen habe. Er ging einige Schritte in der Richtung, die der Flüchtige eingeschlagen, sah umher, – und ein trauriges Schauspiel bot sich ihm dar!

Tobias war in der Angst sinnlos weggelaufen und seine Beine hatten ihn an etlichen Zwetschgenbäumen vorüber in den Winkel zwischen seinem Haus und dem Nachbarstadel gebracht. Hier befand sich eine Grube, in welche durch eine Öffnung, die unten am Mauerstück angebracht war, von der Gosse das Regenwasser floß; ein anderer Zufluß kam aus dem Kuhstall, und die Mischung war trefflich zum Bewässern des Grases und zum Begießen der Pflanzen. In seiner Gemütsverfassung hatte der Bursche an die ihm so wohlbekannte Grube, die gegenwärtig allerdings auch durch üppig herumwuchernde und überhängende Brennesseln fast verdeckt war, nicht gedacht, er sprang hinein, stürzte nach vorne, besudelte sich schlimm und verbrannte sich Gesicht und Hände. Durch den Unfall zur Besinnung gebracht, erhob er sich mit einem Weheruf, trat auf das Unkraut heraus, schüttelte sich und ging endlich mechanisch einige Schritte vorwärts. Was er getan, wie er gehandelt, stand plötzlich im klarsten Licht vor seiner Seele. Die Flamme der Scham ergriff ihn und brannte ihn stärker als die Nesseln. Mit einem Innern, das noch schlimmer zugerichtet war, als durch den Sturz in die Grube sein Äußeres, bot er ein Bild des Jammers, wie es nicht vollkommener gesehen werden kann. Der Vater, als er ihn erblickte, wußte sogleich was. Gegen einen so bestraften Sünder noch Unwillen zu fühlen, war unmöglich. Spöttisch lächelnd rief der Sieger ihm zu: »Du willst mir den Kopf zurechtsetzen? Du? – Ja, du bist der rechte Mann dazu! – So, nun geh' hinein und wasch' dich. Morgen reden wir weiter!«


3.

Die Bäbe war von dem Stelldichein mit dem Gefühl nach Hause gekommen, daß es mit ihr und dem Schneider aus sei und aus sein müsse. In der Aufregung ihres Zorns hatte sie all ihre Selbstbeherrschung nötig, um sich nichts anmerken zu lassen: sie ging zu Bette, sobald es möglich war, konnte aber lange nicht einschlafen und hätte Tränen vergießen mögen, aus bloßem Verdruß über den Menschen, den sie so gern gehabt und der sich so kläglich benommen hatte.

Am anderen Morgen war die Entrüstung nicht mehr in erster Stärke vorhanden, aber ihrem Spruch mußte der erwägende Verstand beitreten. Wer seinen Vater so fürchtete, wie der Tobias, der wagte und tat nie etwas gegen ihn und konnte also nie ihr Mann werden. Aber angenommen, sie bekäme ihn doch noch, so oder so, was hätte sie für eine Guttat als sein Weib? Schande mußte sie ausstehen mit ihm und ärgern mußte sie sich über ihn – weiter nichts.

Nach einer so ruhigen Erwägung, wie das verletzte weibliche Selbstgefühl und die Geringschätzung eines Mannsbilds ohne Herz irgend zuließ, beschloß die Bäbe, den Schneider ohne weiteres aufzugeben – ihn seinem Vater und der schönen Sibylle zu überlassen. – Sie traute sich am End' auch noch einen zu kriegen, und das einen anderen als so einen!

Wenn das Verhältnis damit in ihren Augen zu Ende war, so konnte es doch noch üble Folgen für sie haben. Ein Vorfall wie der gestrige pflegt im Dorfe nicht leicht verschwiegen zu bleiben, und die Bäbe mußte annehmen, daß außer den beiden Schneidern noch irgend ein schlechter Mensch davon wußte, der die Zusammenkunft dem Alten verraten hatte. Kam es auf, daß sie bei Tobias heimlich im Garten war, dann hatte sie einen schlimmen Stand im Pfarrhaus und verlor vielleicht den Dienst, der ihr liebgeworden war, und für welchen den Ehestand einzutauschen sie nun keine so nahe Hoffnung mehr hatte.

Indem sie von Tobias den Blick mit Fleiß wegwendete, richtete sie ihn um so mehr auf die Pfarrleute und forschte wiederholt in ihren Mienen, ob sie schon etwas erfahren hätten oder nicht.

Der geistliche Herr und seine Gattin führten zusammen ein stilles, friedliches und in seiner Art glückliches Leben. Er, ein geborener Franke, stand hoch in den Fünfzigen und war nicht von rüstiger Gesundheit, sah darum etwas bejahrter aus, litt aber an Unpäßlichkeiten, bei denen man alt werden kann, zumal wenn man der Pflege einer Frau genießt, wie die Pfarrerin eine war. Diese stammte aus der Umgegend von Ulm und gehörte zu jenen Schwäbinnen, deren Herzensgüte durch eine bedeutende Gabe von Klugheit geschützt ist. Damit paßte sie vortrefflich zu dem Geistlichen, dessen natürliche Gutmütigkeit im Umgang mehr mit sich selbst und mit Büchern als mit der Welt einen kindlichen Charakter behalten hatte und dem im Punkte der praktischen Gewandtheit, die zur Führung eines Hauswesens doch auch gehört, eine Ergänzung nicht schaden konnte. Beide waren dermalen allein; ein Sohn und eine Tochter waren versorgt, und ihre Besuche brachten nur zuweilen ein geräuschvolleres Leben ins Pfarrhaus.

Daß die Bäbe sich in dieser Familie wohl fühlte, begreift sich um so mehr, als die Leute auch eigenes Vermögen hatten und die Pfarrerin, die einen geordneten Haushalt führte, an nichts zu kargen brauchte, auch nicht am Lohn und an der Beköstigung der Magd. Beide hatten sich aber auch schon an die Bäbe gewöhnt und würden sie ungern vermißt haben. Ihr guter Humor, ihre unverdrossene Art zu arbeiten und ihre natürliche Schmeichelkunst, gegründet auf die schnelle Erkenntnis dessen, was den Menschen angenehm war, hatte sie bald beliebt gemacht, und da sie auch die Probe der Zeit bestand und in ihren Tugenden sich gleich blieb, so war das Gefallen wechselseitig. – Kein Wunder, daß das Mädchen jetzt, wo sie den Schneider verloren hatte, wenigstens ihren guten Ruf und den Dienst zu behalten wünschte.

Acht Tage vergingen, und sie bemerkte keine Änderung in dem Betragen ihrer Herrschaft. Durch vielfache Erfahrung belehrt, wie derartige Vorgänge im Dorf aufzukommen pflegen, mußte sie diesmal im Punkte der Geheimhaltung an ein Wunder glauben. Das Wunder war allerdings geschehen; aber es hatte einen natürlichen Grund.

Der alte Schneider, der nach dem Abgang der Bäbe das seinem Plan entgegenstehende Hindernis weggeräumt sah, erkannte vor allem die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß Tobias mit dem Mädchen nicht ins Geschrei komme, damit nicht zuletzt die Sibylle empfindlich wurde und von ihm abstand. Er untersagte dem Kasper und der Walpurg, die zur Waschung des Tobias heimgekommen war und ebenfalls eingeweiht werden mußte, das Ausplaudern der Geschichte mit harter Drohung, daß beide sich hüteten, auch nur davon zu schnaufen. – Daß der Bursche selber und die Pfarrmagd die erlebte Schande für sich behalten würden, nahm der Alte mit Recht an; und auf diese Art geschah es, daß ein Skandal, so köstlich zu vernehmen und weiter zu verbreiten, wie ein vergrabener Schatz unbenutzt liegen blieb, und Dorf und Umgegend um die angenehmste Unterhaltung gebracht wurden.

Gegen Tobias verfuhr der Alte anders, als er in der ersten Aufregung gedacht hatte; tat aber das Beste, was zunächst geschehen konnte. Er teilte ihm die Ausdrücke mit, deren sich die Bäbe über ihn bedient hatte – und überließ ihn dann sich selbst.

Wer die Eigentümlichkeit des jungen Schneiders erfaßt hat, der denkt sich, in welchem Gemütszustand er sich befand. Die Natur, die keinen Widerstand hat für das erschreckende Annahen feindlicher Gewalten, hat auch keinen für die Angriffe der Reue über die Folgen jenes Mangels; der Eigenschaft der Furchtsamkeit entspricht in der Regel das Talent der Selbstquälerei. Wenn aber phantasiebegabte Menschen sich eine Zeitlang über sich selbst täuschen können, so öffnen ihnen gewisse Erfahrungen um so grausamer die Augen, und es beginnt die Schmerzensepoche der Selbsterkenntnis. – Dies bewahrheitete sich nun auch in unserem Burschen.

Nachdem derselbe die Nacht in dumpfer Verzweiflung und kurzem Schlummer voll quälender Träume zugebracht hatte, zerfleischten ihn am folgenden Tage die Furien der Selbstanklage, daß es eine teilnehmende Seele erbarmen mußte. Er konnte nicht begreifen, wie es möglich war, so jämmerlich zu handeln, wie er gehandelt hatte. Und doch war's geschehen – nicht zu leugnen und nicht mehr zu ändern. Er war der erbärmlichste Gesell, der auf der Erde herumwandelte – daran war gar kein Zweifel! Konnte es noch einen Menschen geben, der, anstatt das Maul aufzutun und zu reden, wie sich's gehörte und wie er noch im Augenblick vorher versprochen hatte, schmählich durchging und seinen Schatz verließ, wo man ihr den ärgsten Schimpf antun konnte? Es war unmöglich, – so einen gab's nicht mehr. Wenn er früher geglaubt hatte, er sei auch etwas und er bedeute etwas, so war er nur ein Esel und ein eingebildeter Narr!

Die Bäbe mußte ihn verachten von Grund ihres Herzens; wenn sie es tat und wenn sie ihn jetzt mit keinem Aug' mehr anschaute, so hatte sie vollkommen recht. Und wenn der Vater ihn behandelte wie einen Buben, so hatte er auch recht. Denn so einem Menschen, wie er einer war, mußte man's so machen; je ärger, je besser!

Die Wut über seine Feigheit, die ihn um alles brachte, steigerte sich eines Abends, wo er allein in der Kammer war, zu einer solchen Höhe, daß er auf sich selber losschlug. Er fühlte aber bald, daß er damit nichts besser machen konnte, und hörte auf, mit schmerzlichem Lächeln über seine Tollheit.

Einen Menschen, der nach dem Rieser Wort »aussah, als ob ihn die Hexen geritten hätten«, konnten Blutsverwandte, wie sehr sie gegen ihn eingenommen waren, nicht mehr höhnen. Man behandelte ihn als einen Kranken, wofür ihn der Vater gegen andere, um seine Blässe und seine Zurückgezogenheit zu erklären, auch ausgab. Sogar Kasper trug Scheu, eine gewisse Schadenfreude, die er doch noch empfand, merken zu lassen; die Walpurg gab ihr Mitgefühl in Blick und Ton unverhohlen kund, wenn sie auch nicht wagte, die verfängliche Sache zu bereden. Sie, die Erfahrene, begriff, daß ihm die Pfarrmagd lieber war als die Sibylle; sie begriff auch, wie der plötzlich vor ihm stehende Vater mit seinem »fürchterlichen Gesicht« ihn erschrecken konnte, daß er in der Angst fortlief und an das Mädchen nicht mehr dachte, obwohl er sie gern hatte. Was der Tobias sich selbst nicht denken konnte, das konnte sie, das gute Weib sich denken; aber sie konnte ihm leider nicht helfen.

Die Hoffnungen, die der Alte auf die letzten Reden der Pfarrmagd setzte, gingen übrigens nur zum Teil in Erfüllung. Tobias sah dadurch bestätigt, was er schon vorher wußte: daß das Band der Liebe zerrissen sei und daß er nicht wagen könne, in dieser Beziehung noch irgend etwas zu unternehmen. Allein der Geliebten die Schmähworte übel zu nehmen und ihr böse zu werden, wie sie ihm, das verhinderte seine Denkweise. Im Gegenteil, er gab ihr auch bei ruhiger Überlegung durchaus recht und schätzte sie nur um so mehr, weil sie auch bei dieser Gelegenheit tat, was ihr zukam. – Die Bäbe hatte in allen Stücken gehandelt wie ein rechtes Mädchen, er dagegen hatte miserabel gehandelt über alle Begriffe, und wenn sie ihm nun die Titel gab, die ihm gebührten, und nichts mehr von ihm wissen wollte, so machte ihr das nur Ehre.

Nach Verfluß einiger Tage wurden die Angriffe, womit unser Schneider sich selbst befehdete, weniger heftig und kehrten seltener wieder. Der Zorn, den er über sein Betragen empfand, und die Qualen seines Bewußtseins legten sich und eine stille Niedergeschlagenheit, die Trauer der Entsagung trat an ihre Stelle. Seine Arbeiten im Haus und Feld tat er nachgerade wie sonst, sprach mit den Leuten und beantwortete ihre Fragen wegen seiner Gesundheit schicklich, indem er ihnen versicherte, daß es jetzt besser ginge und er von dem Fieber, welches er gehabt habe, wenig mehr verspüre, so daß er hoffe, es werde bald alles vergangen sein.

In der Verfassung, die er erlangt hatte, kam ihm seine Schuld, auch wenn er sie genau betrachtete, doch nicht mehr so ganz unverzeihlich vor. Was konnte er dafür, daß er so ein Mensch war? Er hatte sich diese Gemütsart nicht gegeben; wenn er vorher gefragt worden wäre, hätte er sich schon eine bessere bestellt! Er war eben, wie ihn Gott geschaffen hatte, und konnte sich so wenig anders machen, wie andere Leute. – Wenn solche Gedanken dazu dienten, ihn ruhiger zu stimmen, so bewirkten sie doch nicht, daß er neue Forderungen erhob. Er konnte nicht dafür, daß er so war, aber weil er so war, so hatte er auch kein Recht auf Ehre und Glück in der Welt; er mußte darauf gefaßt sein, zu nichts zu kommen, weil er eben nicht der Mann war, sich etwas zu verschaffen.

Die Ergebung ist jedoch in der Regel auf dem Weg zur Besserung. In ihrem Frieden kommt über die Seele, wenn nicht das Licht der Sonne, doch der Schein des Mondes, jene sanfte, melancholische Klarheit, die gleichwohl etwas Tröstliches hat, und wenigstens das allgemeine Gedeihen wieder fördert. Tobias bekam seine Farbe wieder; der Ausdruck der Entsagung ließ ihm gut, und wenn er nicht mehr so frisch und munter aussah, wie vor dem Ereignis, so war er doch in seinem stillen Wesen ebenso hübsch und – interessanter als vorher.

Der alte Schneider sah diesen Fortschritt mit Befriedigung. Da er den Burschen jetzt in der Hand hatte, so wollte er ihn noch nicht drängen, die Sache mit der Sibylle richtig zu machen. Für einen Freier ließ er noch immer zu sehr den Kopf hängen. Aber das mußte in wenigen Tagen aufhören, und dann sollte der Handel rasch abgemacht sein.

Zehn Tage waren verflossen seit jenem tragischen Auseinanderkommen, und Tobias und die Bäbe hatten sich auch nicht aus der Ferne gesehen. Endlich geschah doch, was auf dem Dorf unvermeidlich ist, – sie begegneten sich; und zwar in dem Gäßchen zwischen Hecken, das sie früher so liebend und glücklich gesehen. Wie der Bursche das Mädchen von fern erblickte, gab es ihm einen Stich ins Herz; aber er faßte sich und ging mit dem Ausdruck ernster Entsagung an ihr vorüber. Nur von weitem hatte er ihr Gesicht so rot wie früher, aber stolz und gleichgültig gesehen; als sie ihm näher kam, lenkte er den Schritt etwas auf die Seite und sah gerade vor sich hin. Die Gelegenheit, ihn ungehindert zu betrachten, blieb von dem Mädchen nicht unbenutzt. Sie glaubte in seinem Gesicht Reue zu erkennen und fand es gut und lobenswert, daß er wenigstens einsah, wie er sich gegen sie verfehlt hatte!

Zwei Tage darauf begegneten sie sich wieder – in der Hauptgasse des Dorfs – in schöner, milder Abendstunde, die das Herz unseres vereinsamten Burschen weich gestimmt hatte. Das erstemal war ihm das fremde Wesen des Mädchens natürlich und in der Ordnung erschienen; als er sie aber jetzt mit seinem guten Auge wieder so gegen ihn herankommen und dadurch ihre Unversöhnlichkeit an den Tag legen sah, tat es ihm doch weh. Ihm hatte sein Fehler so leid getan, er hatte so viel ausgestanden, er hatte sie so gern und schätzte sie so hoch – und sie tat, als ob sie ihn nie gekannt hätte, und er gar nicht in der Welt wäre. Die Augen wurden ihm feucht, als sie mit unveränderter Miene näher kam; und als sie an ihm vorübergegangen war, hatte er Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Das hieß einen Menschen, wie er war, doch gar zu sehr verachten! Daß sie ihn nicht grüßte, war natürlich; aber daß in ihrem Gesicht gar nichts zu sehen war von der alten Liebe, gar keine Spur, daß sie miteinander bekannt gewesen, das war nicht schön, – und er hätte gedacht, daß sie ein besseres Herz hätte!

Würde der Bursche in dieses Herz gesehen haben, so wäre sein Schmerz um ein Gutes linder worden. Ein Blick auf ihn hatte das Mädchen erkennen lassen, was in ihm vorging; er dauerte sie, seine Traurigkeit rührte sie, und als sie einige Schritte weiter gegangen war, sagte sie leise für sich: »Es ist schade!«

Zu Hause bei einer einsamen Arbeit hing sie den in ihr rege gewordenen Gedanken weiter nach. Er hatte sie wirklich geliebt, der gute Tobias, und liebte sie noch – das war augenscheinlich. Wenn er ein rechtes Mannsbild wäre, ja nur ein bißchen mehr Courage hätte, einen besseren, was die Gutmütigkeit und Anhänglichkeit betrifft, könnte sie nicht leicht bekommen. Daß er gar so wenig Schneid' hatte, war doch recht ärgerlich! Sie würde ihm ja den Fehler von jenem Sonntag verzeihen, wenn sie nur sähe, daß er ihn wieder gutmachen könnte. Manchmal geht's einem freilich sehr kurios; es ist einem wie angetan und man macht eine Dummheit, die man gar nicht für möglich gehalten hätte; aber dann handelt man das nächste Mal mit Fleiß gescheiter und arbeitet sich wieder heraus. Dem Tobias ist aber das nicht zuzutrauen! Er hätte ein Mädchen werden sollen, so schön und so gutmütig, wie er war. – Sie lächelte über den Gang, den ihre Gedanken nahmen, und ein Ruf der Pfarrerin schnitt ihn vorläufig ab.

Ein paar Tage später traf sie mit einem Dorfmädchen zusammen, die mit ihr bekannt geworden war und sich vertraulich an sie angeschlossen hatte. Auf die Frage, was es Neues gebe, versetzte die rüstige Dirne mit einer Art von Duckmäuserei: »Nicht viel! Beim Schneider hat's was gegeben; der Alte und der Junge haben Streit gehabt miteinander.« – Die Bäbe war betroffen und erwiderte, ohne einen gewissen schlauen Zug um den Mund der Freundin zu bemerken, hastiger als gewöhnlich: »Streit? Und wann denn?« – »Heut früh.« – »Und warum denn?« – »Der Alte will haben, daß der Tobias des Bach-Webers Sibylle heirate, aber der Bursch mag sie nicht und tuf's nicht.« – Die Bäbe hatte eine sonderbar angenehme Empfindung. »Er tut's nicht?« rief sie, indem sie unvorsichtig ihre Freude blicken ließ. Nach einem Moment setzte sie gleichgültig hinzu: »Wenn aber sein Vater durchaus will, dann wird er doch daran müssen. Das soll einer sein, der seinen Kopf hat!« – »Ja,« sagte die andere, »dasmal richtet er aber doch nichts aus, wie's scheint. Meine Schwester ist grad' im Hof gewesen, wie sie aneinander geraten sind, und hat das meiste mit angehört.« Diese bedenkliche Nachricht setzte die Bäbe einigermaßen in Verlegenheit, sie mußte sich zusammennehmen, um mit dem Ton einer Unbeteiligten zu sagen: »Der Tobias ist nicht gescheit; die Sibylle hat Geld und kriegt vielleicht das Haus; warum will er denn nicht?« – »Ja,« erwiderte die Kamerädin, »er soll eben eine andere im Sinn haben, eine Schönere, Geschicktere, Feinere.« – Dabei schaute sie die Bäbe schelmisch lächelnd an. Diese erkannte, daß in der Stube des Schneiders ihr Name genannt worden und das Geheimnis verraten sei; sie errötete und schaute einen Moment verwirrt für sich hin. Aber eine sehr wohltuende Empfindung durchdrang sie; und schnell gefaßt und lächelnd wendete sie sich zu dem Mädchen und sprach: »Nun, ich weiß jetzt genug von der Geschichte. Aber ich glaube, dem Tobias und der, welche er im Sinn haben soll, geschähe ein Gefallen, wenn du dafür sorgen würdest, daß die Sache nicht weiter auskäme.« Und mit ihrem holdesten Schmeichelton setzte sie hinzu: »Willst du das? Bist du so gut? Gib mir deine Hand!« – »Nun,« versetzte die andere, indem sie einschlug, »weil du so ehrlich bist und bekennst – da hast du meine Hand darauf.«

Die Freundin wünschte nun ihrerseits zu erfahren, wie die Bäbe mit dem Tobias denn eigentlich stände. Aber darauf entgegnete diese: »Das kann ich dir nicht sagen, lieb's Mädchen. Wir stehen eigentlich gar nicht miteinander, und weiß Gott, was noch geschieht. Wenn die Sache ein Gesicht bekommt, sollst du's erfahren.«

Die Nachricht der Kamerädin war gegründet. Der alte Schneider hatte von einem Bekannten gehört, ihm scheine es, als ob der junge Schuster ein Aug' auf die Sibylle habe; dies hatte ihn aufgeregt und bestimmt, den Angriff auf Tobias früher zu unternehmen, als er im Sinn gehabt. Zu seinem Erstaunen fand er den Burschen widerspenstig. Er sei jetzt nicht in der Laune, um ein Mädchen anzuhalten; wenn der Schuster sein Glück versuchen wolle, könne er ihn nicht hindern, und wenn er sie kriege, werde er sich darum auch keinen Tod antun. – Der Alte machte Vorstellungen, er ereiferte sich, er drohte – Tobias blieb bei seinem: »Es geht nicht, ich kann nicht.« Nun fing der Gewaltige an zu schmähen und stellte ihm nicht undeutlich Schläge in Aussicht. Der Sohn, mit dem Duldermute der Resignation, erwiderte: »Das wird die Sach' auch nicht anders machen.« – Der Alte stand ratlos da; er fühlte, daß er jetzt doch nicht gleich zur Tat schreiten könne, und nachdem er ihn einen Moment angesehen, sagte er: »Was ist denn nun mit dir auf einmal? – Ist am Ende die Pfarrmagd wieder an dich gekommen, trotz ihrer Reden?« – Daraus aber versetzte Tobias mit Würde: »Zu so etwas hat die Bäbe viel zu viel Charakter! Du weißt recht gut, wie ich und das Mädchen miteinander stehen und daß ich sie gar nicht wert bin. Sie hält mich für einen elenden Menschen, und sie hat recht und ich geb' ihr recht.« – »Und denkst am End' doch noch an sie, du Dummkopf!« rief der Alte. – »An sie denken tu' ich,« bemerkte Tobias mit Ruhe; »aber weiter auch nichts.« – Der Alte, der nicht mehr wußte, was er entgegnen sollte, verstummte, und nur ein gewisses Schnaufen ließ ahnen, was in ihm vorging. Unter diesen Umständen fand es der Sohn für geraten, den Auftritt zu beendigen; er sagte: »Plag' mich jetzt nicht, Vater; denn jetzt geht's einmal nicht. Es kann wohl sein, daß es mir in kurzem anders ist, und dann will ich dir nicht entgegen sein. Der Schuster wird mir die Sibylle so schnell nicht wegnehmen.« – Der Alte fand nun auch für gut, abzubrechen und mit einer Art von Knurren die Frist zu gewähren. Ein Trost war es für ihn, daß der Schuster zwar ein derber Bursche war, aber lange nicht so schön wie sein Tobias; daher es allerdings keine Wahrscheinlichkeit hatte, daß er diesen bei ihr, die ihn liebte, so geschwind ausstechen werde.

Dieser erste Beweis von Selbständigkeit gegenüber seinem Vater, die Ermannung wenigstens zu »passivem Widerstand«, trug unserem Burschen sehr gute Früchte. Die Bäbe kam verwandelt nach Hause: sie sah plötzlich alles umgekehrt. Der gute Tobias! So brav war er, so treu hing er ihr an, obwohl sie ihn gekränkt und sich angestellt hatte, als kennte sie ihn nicht! Er stemmte sich gegen den Vater und riskierte seinen Zorn um ihretwillen! Und was hatte sie getan? Sie hatte ihn verachtet und verlassen, weil ihm einmal in seinem Leben etwas begegnet war, das ihr nicht gefiel. Kann das nicht auch anderen Leuten geschehen, wenn sie plötzlich erschreckt werden? Hat noch niemand den Kopf verloren? Ist es noch keinem passiert, daß er sich nicht mehr »verwißt« und eine Dummheit gemacht hat, daß es eine Schande war? – Sie hatte wenig Liebe bewiesen bei dieser Gelegenheit, und wenig Geduld! Sie hatte dem braven Menschen unrecht getan, großes Unrecht! Aber sie wollt' es auch wieder gutmachen, – sobald als möglich!

Am anderen Morgen erhielt der junge Schneider einen Brief durch die Kameradin zugesteckt, folgenden Inhalts: »Liebster Tobias! Du wirst Dich wundern, daß ich an Dich schreibe, wo ich doch gesagt hab', ich wolle nichts mehr von Dir wissen, und zweimal an Dir vorbeigegangen bin, ohne Dich anzusehen und zu grüßen. Aber da hab' ich eben unrecht gegen Dich gehandelt, und ich schäme mich, daß ich's getan hab'. Wie mir gesagt worden ist, hast Du mit Deinem Vater Streit gehabt, weil Du die Sibylle nicht willst und mir treu bist trotz meines schlechten Benehmens gegen Dich. O liebster Tobias, Du bist besser als ich! Was Du gefehlt hast, das ist geschehen ohne alle Überlegung; aber ich hab's überlegt, was ich getan hab', und das ist eben das Schlechte. Du hast den Schwur der Liebe gehalten, und ich hab' ihn gebrochen, weil ich Dir nicht verziehen hab', sondern gleich bös geworden und bös geblieben bin! Aber wenn Du wüßtest, wie leid es mir tut und wie ich mir jetzt Vorwürfe mache, Du würdest mir gewiß vergeben und mich wieder gern haben! – Vergib mir, Tobias – mein Auserwählter! Vergib Deiner Dich ewig liebenden Bäbe!

»Wenn Du das Geschehene vergessen kannst, und wenn Du noch immer der Alte bist gegen mich, so komm' heut' abend eine halbe Stunde nach Betläuten in die Nähe des Pfarrhofs; ich hab' mir was ausgedacht, wie wir ungestört miteinander reden können, trau mir's aber nicht aufs Papier herzuschreiben und will Dir's lieber sagen. Ich hoff', wir können dann in aller Ruhe überlegen, was wir anfangen sollen. Dein Vater läßt uns in Güte nicht zusammen, das seh' ich nun schon auch ein, wir müssen an etwas anderes denken, und wir wollen über etwas einen Rat halten, woran ich schon früher gedacht hab'. Ich will nach Betläuten an den Zaun kommen bei unserem Stadel. Man kann uns da vom Pfarrhaus aus nicht sehen, wegen des Holderbaums, der davor steht und dessen Äste fast bis an den Boden gehen. Auf dem Wege draußen wird um die Zeit wohl auch niemand sein; Du mußt Dich eben umsehen!

»Auf Wiedersehen, liebster, bester Tobias! – Ich mein' halt, es kann nicht anders sein und Du wirst mir doch wieder gut und kommst zu mir. Du wirst Dich dann überzeugen, wie ich bin und wie ernst es mir ist mit meiner Lieb' zu Dir, und was ich für Dich tun kann, weil ich Dich liebe! –

Liebe fürchtet keine Not,
Scheut auch nicht den bittern Tod.
Wahrer Lieb' ist nichts zu viel,
Denn ihr winkt das höchste Ziel!

»Auch wir werden zusammenkommen, gewiß, und es wird uns noch wohl gehen in diesem Leben! – Ich verbleibe Deine bis in den Tod getreue Bäbe

Die Wirkung dieses Briefs auf Tobias ist schwer zu beschreiben. Er fühlte ein Entzücken, wie er nicht geglaubt hätte, daß es menschenmöglich wäre. Die Bäbe bat ihn um Verzeihung! Die Bäbe schrieb, er habe den Schwur der Liebe gehalten, und sei besser als sie! Die Bäbe liebte ihn ewig und war ihm treu bis in den Tod – ihm, der geglaubt hatte, er sei ein Mensch, von dem ein rechtes Mädchen gar nichts mehr halten könne! – Die wiedergewonnene Liebe, die wiedergewonnene Ehre – es war zu viel auf einmal! – Wie schön, wie herrlich war es, daß sie ihm nun den anderen Vorschlag machen wollte, auf den er schon so viel Vertrauen gesetzt hatte, bevor er ihn nur kannte! Nun gab es gewiß etwas ganz Besonderes zu wagen, etwas gegen den Vater, ohne daß er ahnen konnte, was! Und das geschah ihm recht, dem gewalttätigen, »zähbästigen« Mann, der ihm immer wieder mit dieser Sibylle daherkam und ihm keine Ruhe gab, und dem man zeigen mußte, daß solche Leute auch noch ihren Meister finden!

Liebe fürchtet keine Not,
Scheut auch nicht den bittern Tod!

Das läßt sich hören! Das kann man sich gefallen lassen! – Er fühlte Mut für Zehne, der Glückliche, von der Geliebten Gepriesene! Er wollte mit dem Teufel »reißen« (raufen), wenn's drauf ankam – um ein Mädchen wie die Bäbe!

Diesen Gedanken, stillen wie lautwerdenden, gab sich unser Schneider nur in gesicherter Einsamkeit hin. Vor seinen Leuten mäßigte er seine Freude zu dem Ausdruck heiterer Zufriedenheit; und in dieser, die man so lange nicht an ihm gesehen hatte, gefiel er dem Vater, und der Walpurg und erweckte neue Hoffnungen für die Zukunft.

Abends, zu der bestimmten Zeit näherte sich Tobias umsichtig dem Zaun des Pfarrhofs. Nicht lange, so kam die Geliebte angewandelt. Mit leiser Stimme, in der aber doch die innigste Freude sehr merkbar sich kundgab, sagte sie: »Guten Abend, Tobias! Ich dank' dir für dein Kommen!« – »Und erst ich dir!« rief der Gute, ordentlich zerknirscht von seinem Glück. »O Bäbe, wie gut bist du! Was tust du alles für mich, für einen Menschen, der dich –.« – »Still,« entgegnete das Mädchen, »dazu ist jetzt keine Zeit! – Du willst also etwas wagen um meinetwillen, Tobias? Du bist entschlossen?« – »Zu allem, Bäbe! Sag's, und auf der Stell' –.« – »Für's erste handelt es sich um was anderes. Wenn ich dir meinen Plan auseinandersetzen soll, müssen wir Zeit dazu haben und Ruhe, und die haben wir jetzt nur an einem Ort. – Wirst du aber auch kommen, wann ich dir ihn sage?« – »In die Hölle geh' ich für dich,« rief Tobias. »In die Hölle – zum Teufel selber, wenn's sein muß! – Nur heraus damit!« – Die Bäbe lächelte. »In die Hölle sollst du nicht, im Gegenteil, du sollst an einen ganz anderen Ort!« – »Also ins Paradies!« versetzte der Schneider mit Feinheit. – »Wenn du's dafür nehmen willst!« entgegnete das Mädchen erheitert. »Kurz von der Sach: ins Pfarrhaus sollst du kommen, wann alles schläft – zu mir – in meine Kammer!«

Diese Worte trafen den Burschen wie ein Donnerschlag. Das Entgegenkommen war so über alle Erwartung, daß es ihn förmlich blendete. Zu gleicher Zeit fühlte er aber auch unwiderstehlich, was er dabei riskierte und – verübte. Die Wohnung des Geistlichen war für den wohlgezogenen Burschen ein Ort, vor dem er eine heilige Scheu trug. Er hatte ein dumpfes Gefühl von etwas Verbotenem, Nichtseinsollendem, ja Frevelhaftem, was er begehen sollte, um dafür die grausamste Strafe zu empfangen. Von entgegengesetzten Gefühlen bewegt, erwiderte er erst nach merklicher Pause und das Wort hinausdehnend: »Ins – Pfarrhaus?« – »Nun ja,« versetzte die Bäbe. »Um elf Uhr schlafen sie fest. Dann kommst du, ich lass dich ins Haus, wir gehen sachte in meine Kammer, und ich sage dir in aller Ruhe, was wir tun müssen um zusammenzukommen und glücklich zu werden.« – »Bäbe,« rief der geängstigte Schneider, dessen Phantasie bei den Worten des Mädchens lebhaft gearbeitet hatte, »ich muß dir gestehen – wenn du einen anderen Ort wüßtest –.« – »Nun,« fragte die Bäbe, »schreckt dich denn der? Du wolltest ja vorhin in die Hölle gehen, wenn's darauf ankam!« – »Ja,« meinte der Tobias, »in die Hölle lieber als ins Pfarrhaus!« – »Aber warum denn?« fragte das Mädchen, indem sie ihre Ungeduld zu bemeistern suchte. – »Wenn man was hörte, wenn man uns beisammen träfe – der Teufel hat sein Spiel! – Die Schande! – im Pfarrhaus!«

Die Bäbe mußte ihr von Unmut gedrücktes Herz durch einen Seufzer erleichtern. »Aber sag' mir doch,« erwiderte sie mit dem Ton des Vorwurfs und der Klage, »wie du zu diesen Einbildungen kommst? Wollen wir denn zusammenkommen, um was Unrechts zu tun? Wir wollen ja miteinander ausmachen, wie wir's anfangen sollen, damit wir Mann und Frau werden; und eine andere Gelegenheit gibt's nun einmal hier nicht!« – »Das wohl,« versetzte Tobias; »aber –.« – »Aber?« wiederholte das Mädchen. »Nun, ich seh' schon, wieviel die Glocke geschlagen hat. Du traust dir wieder nichts und hast mir wieder nur was vorgeprahlt! In Gott's Namen! Ich hab' das Meine getan; wenn du nicht willst, ist's deine Sach'! – Gut' Nacht!« – Sie drehte sich um und wollte gehen; aber ein leidenschaftlich geflüstertes »Halt« hemmte ihren Schritt. »Halt!« wiederholte Tobias; »ich komm', ohne weiteres – und wenn der Teufel alles holt!« – Das Mädchen hatte sich ihm wieder zugewendet und konnte nicht umhin zu lächeln. »Wann soll ich kommen?« fuhr der Bursche fort. – »Morgen nacht; die Hoftür' wird auf sein, und nach elf Uhr schließ' ich die Haustür auf.« – »Gut, ich komme,« rief der durch die zweite Furcht von der ersten befreite und zum Heroismus aufgestachelte Schneider. »Kreuzschwerenot! Du hast recht, ich bin ein Narr, daß ich mir solche Skrupel mach', wo wir doch gar nichts Unrechtes im Sinn haben!« – »Du guter Tobias,« erwiderte die Bäbe mit einem Lächeln, halb mitleidig, halb schalkhaft. – Dieser fuhr fort: »Es ist ja wahr! Soll ich mich genieren, wo sich's um unser Glück handelt? Das wär' ja der größte Unsinn! Genieren sich denn ander' Leut'?« – »Seiner Lebtag nicht,« versetzte die Bäbe. »Jeder braucht halt das Mittel, das ihn zu seinem Zweck führt, und wenn er's dann hinausgeführt hat, lobt ihn alle Welt. – Aber jetzt muß ich fort. Gut' Nacht, schlaf wohl!« – »Du auch,« rief Tobias, ihr nachsehend. Langsam ging er in die Gasse zurück, entschlossen trat er den Rückweg nach Hause an.

Der Gesichtspunkt, den er in bezug auf sein neues Unternehmen gewonnen hatte, bewährte sich nicht nur am selben Abend noch, sondern auch am anderen Tage. Er war heiter erwacht und machte sich im Laufe des Vormittags die schönsten Vorstellungen von der Zusammenkunft und ihrem Ergebnis. Infolge davon erlangte er eine Munterkeit, die endlich zum förmlichen Übermut gedieh. Beim Mittagessen blieb er keine Rede schuldig und hatte Einfälle, worauf die anderen entweder lachen oder schweigen mußten. »Wie schnell sich doch jung' Leut' wieder trösten!« sagte die Walpurg in der Küche für sich, als sie das Geschirre spülte.

Der Alte hatte einen ähnlichen Gedanken, knüpfte aber einen Vorsatz daran. Er schickte den Kasper in den Hof und sagte dann zu Tobias: »Nun, du scheinst dein trauriges Wesen jetzt ganz ausgeschwitzt zu haben. – Ist endlich die Zeit gekommen, wo du dein Versprechen halten kannst?« – Diese Frage hätte den Tobias zu einer anderen Zeit in Verlegenheit gebracht. Jetzt, im Vorausbesitz eines Rettungsmittels, das die Bäbe ihm heut nacht an die Hand geben mußte, fragte er ruhig: »Was denn für ein Versprechen?« – »Nun, daß du mit der Sibylle reden willst!« – »Ja so,« erwiderte der Bursche. Und in diesem Augenblick stieg ein Gedanke in ihm auf, ein vortrefflicher Gedanke. Er konnte nachts fortgehen, und braucht' es nicht zu verbergen; er konnte ausbleiben, solang' er wollte; er ersparte sich einen Streit, der üble Folgen haben konnte, und machte den Vater gläubig und sorglos – wenn er jetzt zum Schein auf seine Ansichten einging. – Mit einem Lächeln, dessen Schlauheit einem feineren Beobachter, als der alte Schneider war, verdächtig vorgekommen wäre, fuhr der zum Schelm gewordene Bursche fort: »Nun am End', ein Weib muß ich doch haben! – In Gott's Namen – heut nacht will ich mein Glück einmal versuchen.«

»Heut nacht?« fragte der Alte, indem er das letzte Wort betonte. – »Ja wohl,« erwiderte der Sohn; »bei den Mädchen richtet man da am meisten aus. Ich will's frisch angreifen und der Sach' mit einemmal ein End' machen.« – »Ei,« rief der Alte, indem ein Schmunzeln über seinen Ernst siegte, »du hast dich aber gebessert! Seht, seht! Am End' erleb' ich noch meine Freud' an dir!« – »Ich hoff's,« versetzte Tobias. »An mir soll's wenigstens nicht fehlen!«

Diese schöne, mutige Stimmung währte mit leichten Schwankungen den ganzen Tag. Als es zu dunkeln begann, trat der Bursche vor seinen Vater und sagte: »So, ich geh' jetzt ins Wirtshaus.« – Der Alte schmunzelte wohlwollend und sagte: »Willst du dir Courage trinken?« – Dann setzte er hinzu: »Halt nach ein wenig, ich geh' auch mit!« – Während er die Juppe anzog und die Pelzkappe aufsetzte, lächelte Tobias für sich hin, und beide wandelten dann in einer Eintracht, wie man sie nie bei ihnen gesehen hatte, der Schenke zu. Dort angekommen, Letzte sich der Sohn zu einigen Ledigen, der Vater zu älteren Männern, und beide Tische unterhielten sich gemütlich über das Wetter, die zu erwartende Ernte und andere ländliche Gesprächs-Gegenstände. Als der Zeiger der Wirtsuhr zehn und ein Viertel wies, leerte Tobias den Rest seines »Krügle's«, trat zu seinem Vater und sagte mit einem Blick, der seine Worte Lügen strafte: »Ich bin müd' und will einstweilen heimgehen. Du scheinst dich hier so gut zu unterhalten –.« – »Geh nur zu,« fiel der Alte in behaglichem Brummton ein, »ich brauch' dich nicht zum Heimgehen!« – Tobias wünschte allerseits Gutnacht und verließ die Stube.

Er schlug den Weg zum Hause der Sibylle ein. Diese Vorsicht war sehr nötig. Der Alte, plötzlich von einem Gedanken beunruhigt, verließ bald nach seinem Abgang die Stube, um vom Hof die Gasse hinabzusehen, die zum Weber führte. Als er den Sohn langsam darauf hinschlendern sah, freute sich seine Seele; er ging ins Wirtshaus zurück, bestellte noch eine Maß Braunes und pflanzte sich in die Ecke mit einem Behagen hin, als ob er heute die Polizeistunde nicht zu beachten gedächte.

Tobias ging bis zum Hause des Webers. Die Fenster waren dunkel – die Leute zu Bette. Da er noch Zeit herumzubringen hatte, so folgte er einem Gelüsten, das plötzlich in ihm aufgestiegen war. Er ging ums Haus und stieg über den niederen Zaun in den Garten, auf welchen das Kammerfenster der Sibylle hinausging. Hier war noch Licht. Der Bursche näherte sich demselben bis auf einige Schritte, blieb dann stehen, und weidete sich an der Möglichkeit etwas tun zu können, was er zu unterlassen entschlossen war. »Du gute Sibylle,« dachte er: »dir könnt' ich eine Freude machen – wenn ich möcht'! – Aber jeder ist sich selbst der Nächste.« – Das Licht erlosch. »Sie geht zu Bett,« sagte er zu sich. »Nun, sie mag schlafen!« – Er ging vorsichtig zurück, stieg auf den Wasen hinaus und schlug den Weg ein, der zum Pfarrhaus führte.

Auf dem Gang zur Sibylle war er ruhig; als er aber langsam dem Ziel des Abends entgegenwandelte, fing sein Herz an zu schlagen. Er verwunderte sich über die erneuerte Bangigkeit, wo er doch ganz entschlossen gewesen war, und ärgerte sich darüber; aber das bewirkte nicht, daß sie nachließ. Das Herzklopfen und Beben dauerte fort und geriet in einen Gang, als ob es heute nicht leicht mehr aufhören wollte. Am Zaun des Pfarrhofes angekommen, machte er Halt und verlor sich wartend in dumpfes Sinnen. Auf einmal schlug die Glocke auf dem nahen Kirchturm so stark, wie er nie geglaubt hätte, daß es möglich wäre. Nach leichtem Schreck sich fassend, zählte er die Schläge. Es waren elf. – Die Zeit war gekommen – es mußte gewagt sein!

Indem er sich vorsichtig umschaute und zu seinem Troste niemand gewahrte, schlich er zu der Hoftüre, öffnete sie, lehnte sie wieder an und zog sich hinter den Holderbaum zurück. Hier konnte er nicht gesehen werden, aber auf den Ruf der Geliebten gleich erscheinen.

Die Stille des Grabes umgab ihn. Die dunkle Nacht, die nur von einzelnen, zwischen Wolken vorblickenden Sternen erhellt war, der heilige Bezirk, in dem er sich befand, und der ganze feierliche Umkreis stimmten ihn ernst und ernster. Er begann zu überlegen, was er eigentlich im Sinn habe, und wie es ausfallen könnte. Bei tieferregter Empfindung, bei einem Geist, der durch Furcht und Sorge geschärft und zu lebhaften Vorstellungen befähigt war, sah er die Größe seines Wagnisses in hellem Licht, und wurde besonders durch diejenige Seite des Unternehmens getroffen, wonach es als eine Entweihung des Pfarrhauses angesehen werden konnte. Zur Nachtzeit, heimlich wie ein Dieb, drang er in die Wohnung des Geistlichen! – Wenn es nun unglücklich ablief? Wenn die Pfarrleute erwachten und ihn bei dem Mädchen trafen, was dachten sich diese von ihm? – Daß er der unverschämteste und gottloseste Mensch sei auf der ganzen Welt! Und sie behandelten ihn, wie er's nach ihrer Meinung verdiente – die Sache kam auf, kam im Dorf herum – und sein Vater, den er auf alle Weise angelogen hatte, schlug ihn zum Krüppel! Die Bäbe verlor den Dienst und mußte aus dem Dorf – alles war aus und alles verloren! – Wer konnte gutstehen, daß es nicht so ging? Alte Leute haben keinen festen Schlaf; – und es gibt Dinge, wo der Teufel Heu 'runterwirft und alle Vorsicht zuschanden macht, weil's eben nicht sein soll, daß sie durchgehen.

Diese Gedanken und Vorstellungen erzeugten sich unaufhaltsam nacheinander in ihm und versetzten ihn in eine Besorgnis, eine Angst, daß er unwillkürlich hinter dem Baume vortrat und seinen Blick nach der Hoftüre richtete. Es war der böse Feind, der die Bäbe bewogen hatte, ihm diesen Vorschlag zu machen, und ihn und sie zugrunde zu richten! Das war ja gerade das Allerschlimmste und Allergefährlichste, was sie unternehmen konnten! – Und mußte er ihr nun folgen, bloß weil er's versprochen hatte? War es nicht vielmehr seine Pflicht, für sie gescheit zu sein und sich in die Gefahr, worin sie umkommen würden, gar nicht zu begeben? War es nicht jetzt, wo es noch Zeit war, das allerbeste für beide, wenn er den Pfarrhof sachte verließ und ruhig nach Hause ging?

In dem Augenblick, wo er diese Erwägung machte, drehte sich ein Schlüssel im Schloß der Haustüre, und wie von selber trug ihn sein Fuß hinter den Baum. Die Türe ging auf, die Bäbe trat auf die Schwelle und sah umher. Wie sie den Erwarteten nicht erblickte, entschlüpfte ein aus der tiefsten Brust kommendes »Ah« ihrem Mund. In diesem »Ah« lag so viel Bedauern, so viel getäuschte Hoffnung, so viel Gekränktheit, daß es den Burschen in die Seele traf. Er ging vor, und richtete seine Schritte nach der Türe. Und nun folgte ein anderes »Ah«, das Freude, Liebe, Beifall ausdrückte und auf seine Seele noch ergreifender wirkte. An dem Auftritt angekommen, bot er ihr leise guten Abend; die Bäbe rief in kräftigem Flüsterton: »Komm!« und winkte ihm energisch. In demselben Moment glaubte er von der Gasse die Schritte eines Vorübergehenden zu vernehmen – hastig stieg er hinan und trat über die Schwelle.

Es war geschehen. Der Pfad war ihm gewiesen, er konnte nicht mehr zurück und mußte vorwärts – zum Heil oder zum Verderben. Aber wie sollte er vorwärts? Die Bäbe hatte die Tür wieder zugemacht und eingeklinkt – tiefes Dunkel umfing sie. In der schauerlichen Finsternis wurde ihm das Schwarze seiner Tat wieder recht fühlbar und das Herzklopfen begann aufs neue. Er ergriff die Hand der Bäbe mit dem Instinkt der Furcht, die nach der Verbindung mit dem Mute trachtet, und drückte sie – die gute Bäbe meinte, aus Liebe! Aber gleich sollte sie enttäuscht werden. »Bäbe,« flüsterte der Schneider, »eh' wir weiter gehen, laß uns überlegen! In dem Haus ist's fürchterlich dunkel, ich seh' nicht einen Stich und bin nicht so bekannt hier, daß ich blind hin und her gehen könnt'. Wenn ich falsch treten und an etwas anstoßen tät und die Pfarrleut' würden aufwachen –.« Ein Beben seiner Hand ergänzte den Satz. – Das Mädchen hatte überlegt. Um in ihre Kammer zu gelangen, mußte man die Stiege hinauf und oben im Gang an der Schlafstube der Herrschaft vorbei. Eben im Gang standen aber zwei Kästen, an die ein Unkundiger sich wohl stoßen konnte. Tobias war in einer Gemütsverfassung, in der man nicht sicher zu gehen pflegt – er hatte Angst, der gute Bursch, und ein Fehltritt war möglich, auch wenn sie ihn führte. Sie mußte ein übriges tun, das sah sie schon, und er, der ungeachtet seiner Furchtsamkeit gekommen war, um von ihr einen kühnen Vorschlag zu hören, verdiente es auch.

Mit dem Wohlwollen halb einer Liebenden, halb einer Mutter, sagte sie: »Du hast recht. – Weißt was? Ich kenn' mich um so besser aus hier und ich »gock« dich hinauf (trage dich Huckepack).« – »Ah,« entgegnete der Schneider, durch diesen Vorschlag höchlich überrascht, »Gocken! – was fällt dir ein!« – »Nun,« versetzte die Bäbe mit einem Lächeln, das Tobias nicht sah, wohl aber aus dem Ton entnehmen konnte, – »glaubst etwa, du bist mir zu schwer?« – In dieser Frage und in der munteren Art, womit sie gestellt war, schien dem Burschen ein Stich auf die Schmächtigkeit seiner Figur zu liegen; ein gewisser Schneiderstolz rührte sich in ihm und gesellte sich zu der Furcht, und mit dem abweisenden Ton eines Verletzten erwiderte er: »Geh doch! Gocken! Mich! Wie ein kleines Kind!« – »O,« versetzte die Bäbe mit Heiterkeit, »das wär' nicht das erste Mal, daß man ein Mannsbild gockt! In der Not greift man eben zu dem, was hilft!« Und ernster setzte sie hinzu: »Was bleibt uns sonst übrig! Die Leut' aufwecken wollen wir nicht, und hier stehen bleiben können wir auch nicht. Also?« – »Wir könnten aber doch noch was anderes tun,« meinte Tobias zögernd. – »Nun?« – »Wir könnten's uns gesagt sein lassen, daß es nicht sein soll, was wir vorhaben, und –«, er hielt inne. – »Und du,« ergänzte das Mädchen, »könntest wieder gehen, meinst du? – Allerdings, das könntest du; und du kannst es auch wirklich. Gesehen und gehört hat dich bis jetzt noch niemand, und die Tür ist gleich wieder aufgemacht; ich für meine Person will dich aber durchaus nicht aufhalten!« – Tobias, der aus dem Ton, in dem sie diese Worte sprach, die Gesinnung des Mädchens erraten hatte, sagte: »Wir könnten ja ein anderes Mal zusammenkommen, an einem Ort, wo –.« – »Nein,« versetzte die Bäbe mit Ernst und Entschiedenheit, »dafür bedank' ich mich! Mit uns zweien ist's dann aus für immer! So einen »Ich möcht' gern und trau' mir nicht« kann ich nicht brauchen – da käm' ich nie zu etwas! – Ich hab' dir bis jetzt vieles nachgesehen, Tobias; aber zuletzt hat alles ein End'. Was zu miserabel ist, das ist zu miserabel!«

Der Unmut hatte sie die letzten Worte etwas kräftiger betonen lassen, als es ursprünglich ihre Absicht gewesen. Tobias sah sie erschreckt an und flüsterte: »Nur nicht so laut! Du bist immer gleich so hitzig! – Mir ist's mehr um dich gewesen, als um mich, wenn ich gemeint hab', ich könnt' wieder gehen! Am Ende, was frag' ich darnach? Aber du bist hier im Dienst –.« – »Ich fürcht' mich aber nicht, mein lieber Tobias,« entgegnete die Bäbe. – »Nun,« versetzte der Bursche, aus der Not eine Tugend machend, nach einer kleinen Pause, »wenn du dich nicht fürchtest, dann fürcht' ich mich auch nicht. – Ins Teufels Namen – so gock mich!« – Das Mädchen, welche die Zeit verstreichen sah, stellte sich zurecht, rief mit einem gewissen Kommandoton: »Mach!« – und nach einer Sekunde saß Tobias wie Eginhard oder wie die Männer von Weinsberg, seine glücklichen Vorgänger.

Die rüstige Bäbe trug den ebenso geliebten wie leichten Schneider ohne Schwierigkeit die Stiege hinan. Da sie in Strümpfen ging, so war ihr Tritt fast unhörbar, und mit Sicherheit wurde eine Stufe um die andere überschritten. Tobias hatte die seltsamsten Gefühle. Ihm war's, als ob er träumte – und doch war's keine Einbildung, was ihm widerfuhr. Er hielt mit seinen Armen den Hals der Geliebten umschlungen und fühlte an seinen Händen den Hauch ihres Mundes. – Wie mußte sie ihn lieben, die gute Bäbe, daß sie das für ihn tat und für ihn riskierte! Ja, sie hatte ihn wirklich gern! Sie war brav, sie war herzhaft und entschlossen, – sie war das beste Weib, das er finden konnte!

Die letzte Stufe war überschritten. Oben auf dem Gang war es heller, als sie hätten erwarten können. Der abnehmende Mond war aufgegangen, die Wolken im Osten hatten sich verzogen, und der Schein fiel durch das hintere Fenster. Mit um so größerer Sicherheit getraute sich die Bäbe geräuschlos an der Türe des Schlafzimmers vorbeizukommen, das auf der Gartenseite lag. Sie wendete sich und ging vorwärts. Als sie aber noch zwei Schritte von der Türe entfernt war, fing es drinnen an zu husten. Es war der geistliche Herr, der an solchen Anfällen zu leiden pflegte. Er hustete stark, nachhaltig, und mußte völlig wach sein. Die Möglichkeit, gehört und entdeckt zu werden, schreckte einen Moment auch das Herz des Mädchens.

Den Schneider überkam eine unaussprechliche Angst. Bei dem ersten Laut in der Kammer hatte er mit seinen Händen instinktmäßig den Kopf der Bäbe zurückgezogen, wie ein Reiter die Zügel anzieht, und sein Herzklopfen war so stark geworden, daß es die Trägerin an ihrer Schulter spürte. Schnell ergriff sie seine rechte Hand und gab ihr einen Druck, der die Bedeutung hatte: »Um Gottes willen, sei ruhig!« – und stand. Und Tobias ermannte sich; er ließ ihren Kopf und Hals in Frieden, hielt sich gelassen fest und blieb stumm. Das Schlagen seines Herzens und das Atmen der Angst zu verhindern, ging natürlich über seine Kräfte.

Nach zwei peinlichen Minuten wurde das Husten schwächer und endlich hörte es ganz auf. Die Bäbe setzte sich wieder in Marsch. Sie schritt beherzt an der Tür vorüber und unaufhaltsam weiter in dem Gang, bis sie an das entgegengesetzte Fenster kam. Dann öffnete sie links an der Wand eine Türe, die geräuschlos aufging, weil die Kluge sie vorher geölt hatte, bückte sich, trat ein und ließ den Schneider vorsichtig herunter. Unverweilt machte sie die Türe wieder zu, und schob sachte ein kleines Riegelchen vor. Ein wenig Quieken des Eisens bei dieser Gelegenheit ging dem Burschen noch durch die Seele. Doch – der Hafen war erreicht, die Fracht geborgen.

Die Kammer der Bäbe machte auch bei der gegenwärtigen Beleuchtung den Eindruck der Sauberkeit und Nettigkeit. Auf der Seite gegenüber der Türe stand das Bett, das schön gemacht war, und davor ein Stuhl, auf welchem ein Oberkleid lag. Hinter dem Bett erhob sich ein Tisch mit Leuchter, Wasch- und Trinkgefäß. An der Türseite lag ein Schrein, der die Habseligkeiten des Mädchens enthielt, und die Wand zierte ein Spiegel mit einem kleinen Bild, dem Präsent einer Ulmer Freundin. Das alles war sehr einfach, aber ansprechend verteilt und ein Beweis für die Ordnungsliebe des Mädchens.

Tobias, der sich nach dem Vorschieben des Riegels von seiner Bangigkeit erholt hatte, sah beim Schein der Sterne, die zum offenen Fenster hereinblickten, umher und sog die erquickende sommerliche Nachtluft ein. Der Zauber, mit der Geliebten in gesichertem Raum allein zu sein, ergriff ihn und tilgte den letzten Rest der Furcht und Sorge aus seinem Herzen. Er faßte die Hand des Mädchens und drückte sie wiederholt; er sah ihr ins Gesicht und sein Herz begann wieder zu klopfen, aber diesmal aus schöneren Gründen. Beide setzten sich auf den Schrein.

Mit den Armen sich umfassend und Wang' an Wange gelehnt saßen sie ein Weilchen, ohne zu sprechen. Es dünkte den Burschen hier so schön und so reizend, daß er sein Sträuben, heraufzukommen, schwer begreiflich fand. In dem Glück, das ihn erfüllte, wurde sein Herz gerührt durch die Liebe und den Mut, welchen die Bäbe bewiesen hatte, damit sie so weit kamen, wie sie waren. Er fühlte, daß er ihr alles zu danken hatte, daß sie ihn glücklich gemacht habe trotz seines Widerstrebens, und indem sie für ihre Person alles aufs Spiel setzte. Sein Herz zerschmolz in Dankgefühl und der Strom desselben stieg endlich empor und öffnete ihm unwiderstehlich die Lippen.

»O Bäbe,« rief er mit der Innigkeit eines bewegten Herzens, »o Bäbe, was bist du für ein Mädchen! Du unternimmst so viel und riskierst so viel für mich, als ob ich der Fürnehmst' wär' in der Welt! Und weiß Gott, ich bin's nicht! Wenn ich noch so gute Vorsätz' fass', immer gerat' ich wieder in meine Dummheiten und benehme mich – nein, ich bin's nicht wert, was für mich geschieht!« – Der Bäbe war der Ton, den der Bursch anschlug, zu ernsthaft; sie erwiderte munter und wohlwollend: »Lassen wir jetzt die Dummheiten Dummheiten sein! Ich hab' dich nun einmal gern mit samt deinen Dummheiten!« – Dem Burschen gefiel diese Entgegnung ungemein; aber seine im Glück bereuende und nach Absolution strebende Seele ging unwillkürlich weiter, »'s ist merkwürdig,« fuhr er fort, »daß man so sein kann, wie ich bin! Einmal ist's mir, als könnt' ich alles tun und es müßt' mir alles durchgehen! Und wenn's nun drum und dran kommt, läuft mir plötzlich alles davon und es ist mir, als ob ich gar nichts könnt'! – Er hatte bei dieser Selbstbeurteilung den Arm von dem Mädchen niedersinken lassen auf den Schrein und schüttelte seinen Kopf so bedenklich, daß die Heitere fast gelacht hätte. Sie fand es auch jetzt »merkwürdig, daß man so sein konnte, wie er war«, und versetzte mit freundlicher Ungeduld: »Mach dir doch keinen Kummer! Das sind menschliche Dinge, die du schon ablegen wirst.« – »Ich hoff's,« erwiderte Tobias; »und Mühe will ich mir geben. Aber ich sag' dir's voraus, Bäbe, so schnell wird das nicht anders werden. Es kommt über mich wie ein großes Wasser, auf einmal, so daß alles ersäuft wird.« – »Übertreib's doch nicht,« entgegnete die Bäbe. »So etwas steckt in jedem Menschen, und es kommt nur darauf an –.« – »Ja,« fiel der unbeugsame Tobias ein, »in mir steckt aber mehr davon als in anderen Menschen. Red' mir's nicht aus und mach' mich nicht besser als ich bin! Es ist einmal so, und ich will nicht haben, daß man sagt, ich sei anders als ich bin. – 's ist mir halt angeboren,« fuhr er mit einem Seufzer fort, »und von Jugend auf hat man auch so gegen mich gehandelt, daß ich eben geworden bin, wie ich bin! Ganz wird das nie aus mir herauskommen!«

Das Mädchen, dessen Ungeduld bei diesen Reden begreiflich gewachsen war, erkannte, daß sie einen anderen Ton anschlagen mußte; sie erwiderte resolut: »Nun, so mag's drin bleiben in dir! Wenn wir einmal Mann und Frau sind, dann stehen wir zusammen, und wenn's bei dir fehlt, dann bin ich da!« – »Ja,« rief Tobias, »das ist auch mein Trost! du bist für mich geboren, und wenn ich dich hab', dann trau' ich mir selber etwas zu. Daß du mich nur magst, das ist das Wunderbare! Aber du bist halt ein gutes, liebes Mädchen, – und hast das beste Herz in der ganzen Welt!«

Während dieser Erwiderung hatte er den Arm um sie geschlungen, und streichelte mit der anderen Hand das Haar und die Wange der Geliebten so zärtlich als nur möglich. »Gott sei Dank,« sagte sich diese erfreut, »er wird wieder vernünftig!« Und liebevoll entgegnete sie: »Warum soll das ein Wunder sein, daß ich dich mag? Du bist der beste Mensch, der mir in meinem Leben vorgekommen ist, und hast mich so lieb und hältst so viel auf mich – wo könnt' ich denn einen besseren Mann finden als dich? Und was du auch an dir haben magst, sieh, wenn ich jetzt die Wahl hätt' unter allen Burschen, die ich kenn', hier und anderwärts – ich würde nie und zu keiner Zeit einen anderen wählen als dich!«

Das war zu viel für den Schneider. Von einem Wonneblitz durchzuckt stand er auf, zog die Bäbe mit empor, und die Liebenden, füreinander Geborenen, fielen sich in überquellender Zärtlichkeit in die Arme und küßten sich nach dem Bedürfnis ihres Herzens. Der Kopf des Tobias fing an zu wirbeln; im Rausche der Glückseligkeit ward jeder Blutstropf in ihm ein Mann; er fühlte sich von einer Kraft und einem Mute durchgossen, daß es ihm eine Kleinigkeit gedünkt hätte, nun seinerseits die Geliebte zu tragen, wohin sie wollte. Mit einer gewaltigen Stärke preßte er sie an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen; die Bäbe hauchte bittend: »Tobias!« und suchte seine Glut zu mäßigen.

In demselben Moment pochte es an die Türe. Das Liebespaar fuhr zusammen, stand und horchte atemlos. »Bäbe,« rief es draußen. Das Mädchen, unwissend, was sie antworten sollte, schwieg. »Bäbe!« wiederholte es stärker. – Es war die Pfarrerin. – Hatte sie etwas gehört? – bedürfte sie ihrer sonst? – Was es sein mochte: die Bäbe hatte ihre ganze Geistesgegenwart wieder. Nach einem schläfriggedehnten »Ah«, als ob sie eben erwachte, fragte sie: »Wer – ruft?« – »Ich, die Pfarrerin,« – erwiderte es draußen. »Kennst du meine Stimme nicht mehr, oder bist du noch im Schlaf?« – Der Ton dieser Worte hatte etwas Eigentümliches, was der zur Bildsäule gewordene Tobias nicht herausfühlte, wohl aber das Mädchen. Es lag etwas Spottendes darin, was der Frau sonst nicht eigen war, und die Bäbe fühlte sich bei dem Gedanken durchschauert, daß sie wissen oder ahnen könnte, wer bei ihr war. Trotzdem spielte sie ihre Rolle beherzt fort. »Ah so,« rief sie, indem sie die Decke von dem Bette zurückschlug, vor dem sie stand, »Sie sind's! Befehlen Sie was? Soll ich aufstehen?« – »Allerdings,« war die Antwort, »ich muß dich schon bitten! Der Herr hat einen Anfall von Husten und kann nicht mehr einschlafen. Geh hinunter und mach ihm den Tee!« – »Im Augenblick, Frau Pfarrerin.« – »In zehn Minuten komm' ich und hol' ihn! Sorg', daß alles in Ordnung ist bis dahin!« – »'S wird alles recht werden!« – »Soll mich freuen,« versetzte die Pfarrerin und ging festen Schritts zurück in die Schlafstube.

Die Bäbe stand mit wogendem Busen und glühenden Wangen da. Die Stimme der Frau hatte denselben Klang behalten – sie konnte fast nicht mehr zweifeln, daß die Schlaue gesehen oder gehört hatte, was geschehen war. Möglich, daß sie sich doch irrte, und daß nur das böse Gewissen sie den Spott heraushören ließ! – Möglich, aber nicht wahrscheinlich! – Nach einem Moment der Überlegung faßte sie einen Entschluß nach dem Gebot ihres Argwohns – und sie tat wohl daran.

Die Pfarrerin wußte allerdings, wer im Hause war. Die gereizten Worte der Bäbe, mit denen sie im Haustennen dem Burschen seine Zaghaftigkeit verwiesen hatte, waren in ihr Ohr gedrungen und hatten sie aus leichtem Schlummer erweckt. Sie besaß ein feines Ohr, die kluge Pfarrerin, und indem sie es anstrengte, vernahm sie ein Gewisper, das sie die Sachlage augenblicklich erraten ließ. Sie stand auf, ging im Nachtkleid sachte zur Tür und hörte, wie's die Stiege heraufkam und in den Gang einbog. Sie legte das Aug' ans Schlüsselloch, wartend der Dinge, die da kommen sollten, ungestört sogar durch das Husten des Gemahls. Und es setzte sich wieder in Bewegung, und sie sah die seltsamste aller Kavalkaden an sich vorüberziehen!

Im ersten Moment konnte sie sich nicht enthalten, das eigentümlich Lächerliche derselben und eine gewisse Freude über die Entdeckung zu empfinden. Aber diese Regung wich alsbald der Entrüstung über die Dreistigkeit des Mädchens und über den ihrem Haus angetanen Schimpf. – Was sollte sie beginnen? Wenn sie die Tür öffnete und das Paar überraschte, versuchte der Bursche zu entspringen, es gab Lärm, und der Herr, den sie sich mindestens halb wach denken mußte, vernahm den Skandal! Er, der solchen Unfug gar nicht für möglich hielt, geriet außer sich, kam in Amtseifer – und der Skandal wurde öffentlich. Konnte sie sich aber ruhig verhalten und dem Leichtsinn, der Frechheit das Feld überlassen? Unmöglich! – Das Husten des Gatten, das sich endlich, wenn auch minder stark, erneuerte, gab ihr eine Idee. Sie trat an sein Bett und sagte: »Du hast's heut wieder stark, lieber Mann; ich will dir deinen Tee machen lassen!« – Der Pfarrer, durch die Anrede völlig munter geworden, glaubte, es wäre nicht mehr nötig, weil es sich schon gemindert habe. Die Frau drang aber so zärtlich in ihn, sie hielt ihm die Notwendigkeit, einem möglichen heftigeren Ausbruch durch das erprobte Mittel zuvorzukommen, so lebhaft vor, daß er sich fügte. Sachte verließ die Kluge das Schlafzimmer, über ihr Verfahren mit sich einig. Sie wollte durch den Ton ihrer Stimme dem Mädchen zu verstehen geben, daß sie alles mit angesehen, und ihr eine Frist bestimmen, damit sie in derselben den Liebhaber aus dem Hause schaffte. Wurde sie nicht verstanden und blieb der Bursche, so wollte sie ein anderes Mittel ausdenken, das Ärgernis nicht weitergehen zu lassen. – Wir haben gesehen, daß sie verstanden wurde.

Nach gefaßtem Entschluß wandte sich die Bäbe zu dem Burschen. – Dieser hatte in der kurzen Zeit die seltsamste Reihe von Gefühlen durchlaufen. Als er in dem ersten Zuruf die Stimme der Pfarrerin erkannte, wirkte dieselbe, namentlich in der verstärkten Wiederholung, wie ein Posaunenstoß des jüngsten Gerichts. Die Blutstropfen in seinen Adern, die noch eben krafterfüllt und angriffsmutig wie Löwen sich erhoben hatten, rannten und taumelten durcheinander, wie eine vom Wolf angefallene Schafherde; mit Mühe hielt er sich aufrecht. Die Geistesgegenwart des Mädchens, das täuschende Spiel des Aufwachens und Aufstehens erfüllte ihn mit Staunen über solch unbegreifliche Geschicklichkeit; er traute seinen Augen und Ohren kaum; aber seine Seele wurde erhellt durch einen Schimmer von Hoffnung, aus der schrecklichen Falle zu kommen, in der er sich gefangen hatte, und seine Gefühle nahmen in diesem Schein eine ruhigere Bewegung an. Es. war möglich, daß er nicht als frecher Entweiher des Pfarrhauses entlarvt und gebrandmarkt wurde! Es war möglich, daß er mit der Angst davonkam, daß ihm die ärgste Strafe erlassen wurde! Hatte er ungesehen die Kammer erreicht, so konnte er auch ungesehen den Hof und die Gasse erreichen!« Der Abgang der Pfarrerin stärkte diese Hoffnung bedeutend. Um so inniger trachtete seine Seele nun, aus dem Hause zu kommen, und er war eben im Begriff, der Bäbe einen Vorschlag zu machen, als diese zu ihm sprach: »Tobias, wir können nicht länger beisammen bleiben, du mußt fort! – Sag nichts dagegen,« setzte sie hinzu, als dieser sich anschickte, seine vollkommenste Beistimmung zudrücken, »es geht nicht anders, du mußt aus dem Hause!« – »Ich hab' ja gar nichts dagegen,« erwiderte der Schneider lebhaft; »ich seh's ein, es geht nicht anders!« – »Das ist mir lieb,« versetzte das Mädchen. Nach einer kleinen Pause fuhr sie mit weicher, trauriger Stimme fort, indem sie die Hand liebevoll auf seine Schulter legte: »O Tobias, es ist recht schade, daß wir nicht beisammen bleiben können! Wir haben bis jetzt wenig Glück miteinander gehabt; aber ich hoff', es wird sich eine andere Gelegenheit finden.« – »Sie wird sich finden,« entgegnete Tobias. »Aber jetzt –.« – »Du hast recht,« versetzte die Bäbe, zog leise den Riegel zurück, öffnete die Türe und sagte mit einem Lächeln, das aber nicht umhin konnte eine gewisse Schelmerei auszudrücken: »So, jetzt nimm deinen alten Platz wieder ein, weil's doch nicht anders hat sein wollen!« – Tobias faßte mit einer Art von Gewandtheit Posto, das Mädchen trat hinaus und ging vorwärts im Gang, leise, aufs leiseste. Und der getragene Schneider geriet zwar aufs neue in Aufregung, wie sie gegen die Türe der Schlafstube kamen, aber doch in eine gelindere, als beim Hinaufgehen. Als es die Stiege hinab ging, wurde es ihm leichter und freier mit jeder Stufe.

An der Haustüre machte das Mädchen Halt, ließ ihre Bürde langsam auf den Boden gleiten und öffnete die Türe. Ihrer Meinung nach hatte sich der Liebhaber in der zweiten Hälfte des Unternehmens doch ganz wohl benommen und seine anfängliche Zaghaftigkeit wieder gutgemacht. Als sie ihn nun wiederum entlassen sollte, ohne mit ihm zur Sache gekommen zu sein und seine Seele durch Mitteilung ihres Plans beruhigt zu haben, fühlte sie einen Antrieb ihn zu entschädigen; sie umfaßte ihn, und gab ihm einen Kuß voll inniger Zärtlichkeit, machte sich auch nichts daraus, daß er ein wenig hörbar endete – was fragte sie nach den Leuten? Dem Schneider hätte dieser Kuß bei anderer Gelegenheit wundersam gemundet; jetzt würdigte er seine Süßigkeit nur halb, denn noch immer waltete in ihm der Drang, hinauszukommen in die Freiheit! – Er gab der Geliebten rasch die Hand, sagte Gut' Nacht und schritt vorsichtig über die Stufen in den Hof.

Die Bäbe schloß die Türe, ging in die zu ebener Erde befindliche Küche, machte Feuer, und bei der Ankunft der Pfarrerin war der Tee fertig. Als sie derselben die Gefäße überreichte, glaubte sie durch den Ernst ihres Gesichts eine gewisse Schadenfreude durchblicken zu sehen. Dies bestärkte sie in ihrem Argwohn und sie machte sich auf eine bezügliche Anrede gefaßt. Die Pfarrerin sagte indes nichts als: »Gut, nun kannst du wieder zu Bett gehen,« und entfernte sich. Während der alte Herr trank, wandelte die Bäbe still in ihre Kammer zurück; und nach Verfluß einer halben Stunde herrschte die vollkommenste Ruhe im Hause. Dem Pfarrer hatte der Tee die Wohltat des Schlummers verschafft, der Pfarrerin die gelungene Verhinderung des Ärgernisses, der Bäbe ihre gesunde Natur und der Entschluß, mutig allem zu begegnen, was das Geschick gegen sie im Schilde führen mochte.

Anders endete das Abenteuer für den Schneider. – Als dieser durch das Hoftor unangefochten auf die Gasse gelangt war, atmete er tief auf und kostete von Grund aus das Glück der Rettung. Daß das Ärgernis seines Betroffenwerdens bei der Pfarrmagd vermieden worden war, konnte er nicht dankbar genug bewundern und preisen. Er ging vorwärts und sog in durstigen Zügen die frische Luft ein. Mit jedem Schritte fühlte er sich ruhiger, gesicherter, glücklicher. Der abnehmende Mond schien ihm ins Gesicht; aber das unter gewissen Umständen so seltsam wirkende, tiefromantische Gefühle ins Innere schauernde Licht machte auf den Erlösten nur einen erfreulichen Eindruck.

In die Hauptgasse einbiegend und im Schatten der Gebäude hinschlendernd ward er frei von den letzten Spuren der Erregtheit, und seine Seele ging zurück in die Erlebnisse des Abends. Er vergegenwärtigte sich diese so deutlich, daß er sie ordentlich wiedererlebte. Er kam an im Hof und im Pfarrhaus; er ward in die Kammer getragen; er saß neben der Geliebten auf dem Schrein! – Hier blieb die Phantasie haften. Es war doch schön, als er so neben ihr saß! – und daß sie so gestört wurden, fatal, über alle Maßen fatal! – Am Ende – was hatten sie denn vor? – Sie wollten sich heiraten; und weil man sie nicht zusammenließ, wollten sie beraten, was sie zu tun hätten, um doch ans Ziel zu gelangen! – Kann man etwas Besseres tun, als sich heiraten? – Wenn man sich aber heiraten will, dann muß man doch notwendig vorher ein paarmal zusammenkommen und miteinander reden, und zwar allein und ungestört miteinander reden!

Als seine Gedanken diesen Lauf genommen hatten, fand es Tobias schwer begreiflich, daß die Menschen zweien Liebenden aus ihrem heimlichen Zusammensein ein Verbrechen machen wollten. Ja, er fand es impertinent und lächerlich. Daß man sich heirate, und zwar aus Liebe heirate, das verlangt man! Wenn aber dann zwei, die sich gern haben, das tun, was notwendig geschehen muß, damit das Heiraten vor sich gehen kann, dann soll das eine Missetat sein, als ob man einen hätte umbringen wollen! – Ein offenbarer Unsinn!«

Unser Bursche, auf dieser Höhe der Betrachtung angelangt, empfand die von den Liebenden aller Zeiten beklagte Anmaßung der Welt so tief – er war von der Wahrheit, daß andere Leute hier eigentlich gar nichts dreinzureden haben, so gänzlich überzeugt, er war so voll von seinem Recht, die Bäbe zu lieben, und zu ihr zu gehen und glücklich zu sein, daß er sich nicht mehr begnügen konnte, bloß stille Gedanken zu bilden, sondern laut und mit kräftiger Betonung ausrief: »Donnerwetter! ich möcht' wirklich wissen, wen das was anging'!«

Auf einmal bekam er von hinten eine Ohrfeige, daß ihm für den Moment Hören und Sehen verging. Rasch folgten zwei andere nach und eine Stimme voll Wut und Hohn rief: »Da, du Racker! Ich will dir zeigen, wen das was angeht!« – Es war der alte Schneider.

Tobias, durch die Stimme wieder zu sich gebracht, fühlte über die erlittene Beschimpfung einen Zorn, der sogar über seinen Schrecken Herr wurde; sich schnell umdrehend streckte er dem Alten, der die Hand wieder erhob, den Arm entgegen, stieß ihn seinerseits unter das Kinn und rief ergrimmt: »Ich bin kein Bub' mehr! Ich lass' mich nicht schlagen!« – »So,« rief der Alte, durch diese Abwehr völlig rasend gemacht, »du läßt dich nicht schlagen? Das wollen wir sehen!« – Und, seinem tiefsten Gefühl nach doppelt und dreifach zu einer exemplarischen Abstrafung berechtigt, fiel er über den rebellischen Sohn her, faßte ihn, warf ihn zu Boden und zerdrosch ihn aufs jämmerlichste. Tobias, von der ungeheuren Übermacht bewältigt, konnte nichts tun, als in ohnmächtigem Grimm und Schmerz dumpf stöhnen – und leiden als der ärmste aller Menschen.

Der alte Schneider hatte in der Freude seines Herzens im Wirtshaus fortgetrunken und war bis nach elf Uhr geblieben. Als er gemütlich heimging, begegnete ihm ein junger Mensch, der mit ihm verwandt war und den er in seinem Behagen scherzend fragte: »Nun Hans, was streichst denn du noch auf der Gass' herum? Kriegt etwa die Ev' noch eine Visit'?« – »Das könnt' ich nicht sagen, Vetter,« entgegnete der Bursch, indem er ihm spöttisch lächelnd ins Gesicht sah; »es sind nicht alle Leut' so keck wie Euer Tobias! – Wißt Ihr, wo der ist?« – »Nun,« versetzte der Schneider, »ich kann mir's denken. Er macht's halt wie die anderen!« – »So?« erwiderte der Bursch, »es ist Euch also recht, Vetter, daß er zu der Pfarrmagd geht?«

»Was,« rief der Schneider auffahrend, »bei der Pfarrmagd ist er?« – »Allerdings; ich hab's mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie ihn zur Haustür hineingelassen hat!« – »'s kann nicht sein,« schrie der Alte. »Du hast dich versehen!« – »Nun,« entgegnete der Bursche ruhig, »Ihr könnt ja passen, bis er wieder herauskommt – wenn's Euch nicht zu lang' dauert. – Gut' Nacht, Vetter!« Er ging behaglich weiter. Der Alte war durch den Gedanken, von dem Sohn aufs neue und mit so ausstudierter Tücke genarrt zu sein, fast bis zur Sinnlosigkeit aufgebracht. Er faßte den Entschluß, auf den Schändlichen zu warten, wenn er auch bis zum lichten Morgen warten und dastehen sollte, und ihm dann das Bad ordentlich zu gesegnen.

Doch es ging besser als er dachte. Überraschend bald sah er von der Ecke der Haupt- und der Quergasse, wo er sich aufgestellt hatte, Tobias aus dem Pfarrhof schleichen, wodurch seine Wut freilich nicht gemindert wurde. Er eilte voraus, stellte sich in einem Winkel hinter seinem Nachbarhaus auf und lauerte mit geballten Fäusten, um auf sein Schlachtopfer hervorzustürzen.

Er schlug, bis der Zorn in ihm völlig satt war – mehr als genug für Tobias. Als er endlich nachließ, erhob sich der Gezüchtigte mit Mühe, und stieß, vor Wut und Scham heulend, die Worte aus: »Das ist schändlich! Ich geh' nie mehr in dein Haus! Fort! Laß mich fort!« – »Du gehst mit mir,« versetzte der Alte mit dem Tone der Allgewalt, faßte ihn mit seiner Rechten, wie mit einem eisernen Haken, und zog ihn mit sich. Anfangs stemmte sich der Arme, dann ließ er sich zerren und endlich ging er wie ein Lamm ins Haus. Todmüde, in jedem Betracht gemartert und zerschlagen, hatte er kein anderes Verlangen mehr, als zu Bette zu gehen, und tappte und taumelte in seine Kammer. Nachdem er noch eine Weile schmerzlich atmend sein ganzes Elend empfunden hatte, erbarmte sich der Schlaf über ihn, und tauchte ihn und sein Leid ins Meer der Bewußtlosigkeit.


4.

Es gibt Menschen, denen alles hingeht; sie wagen unbedenklich das Keckste, und es gelingt ihnen; sie greifen rücksichtslos durch, ohne sich im geringsten um die Ansprüche anderer zu kümmern, und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Während ihre Überschreitungen ohne Ahndung bleiben, ist ihre Kühnheit zuletzt mit Genuß und Ruhm gekrönt. Müßten sie Strafe leiden, sie würden sich nichts daraus machen – aber sie werden nicht gestraft; es ist, als ob sie einen Freibrief erhalten hätten oder die ausübende Macht der Gerechtigkeit Scheu trüge, sich mit ihnen einzulassen.

Andere dagegen verfolgt die Nemesis unerbittlich. Die geringste Abweichung von der Linie des Gesetzes wird gerächt; eine kleine Schelmerei wird als Vergehen, ja als Verbrechen behandelt; erdreisten sie sich aber einmal eines kühneren Wagnisses, dann wirft die Göttin, gleichsam empört über solche Anmaßung, ihre schärfsten Geschosse gegen sie und stürzt sie erbarmungslos in den Abgrund der Schmach und der Schmerzen. Und sie begnügt sich nicht mit der einmal verübten Rache; sie läßt aus dem Leid sich Leid erzeugen, sie werdet sich an dem Opfer und scheint der Verfolgung gar nicht satt werden zu können.

Tobias schlief ununterbrochen bis zum hellen Morgen. Als er erwachte, hatte er ein dumpfes Gefühl von körperlichem und geistigem Weh. Er erinnerte sich, die Erlebnisse der vergangenen Nacht traten vor seine Seele bis zum letzten, und die erlittene Schmach ging ihm siedendheiß durch den Leib. Er atmete schwer und sah, aufs tiefste gekränkt und gequält, vor sich hin.

Von den Empfindungen, die in schmerzender Verwirrung durch seine Seele gingen, blieb zuletzt eine stehen. Er hatte etwas erfahren, das sich niemand gefallen lassen darf, wenn noch ein Funke von Ehrgefühl in ihm ist. Eine solche Behandlung durfte nicht mehr vorkommen, er durfte sie nicht dulden – und wenn alles zugrunde ging! – Aus der Pein und der Entrüstung erhob sich ein Geist des Trotzes in ihm; ein Durst nach Rache erfaßte ihn, und er befriedigte sein Gemüt nur durch den festen Entschluß: nun auf keinen Fall nachzugeben, sondern der Bäbe treu zu bleiben, und wenn sich die ganze Welt darüber zu Tod ärgerte!«

Das Ärgste war geschehen. Der Vater hatte ihn gezüchtigt wie einen Buben, hatte ihn über alle Begriffe schmählich traktiert. Was konnte ihm jetzt noch widerfahren? Was hatte er noch zu verlieren? – Jetzt ging's in einem hin, was noch geschah. Auf etwas mehr oder weniger Schande und auf etwas mehr oder weniger Schläge kam's jetzt nicht mehr an.

Die Wahrheit war an den Tag gekommen und nicht mehr zu vertuschen. Keine Ausrede, keine Lüge half mehr. Jetzt galt es, bei der Wahrheit zu bleiben und auszuhalten und gradaus vorwärts zu gehen.

Für ihn gab es jetzt nur noch eine Pflicht in der Welt. Die Leute hatten ihren Spott mit ihm und ärgerten ihn; der Vater und der Bruder verachteten ihn und taten ihm Böses an, soviel sie konnten; nur die Bäbe hatte ihn gern – sie hielt alles auf ihn und schätzte ihn so hoch mit allen seinen Fehlern. Sie war die einzige Seele, die's wirklich gut mit ihm meinte – die einzige auf der ganzen Welt! Von ihr nicht zu lassen, ihr anzuhangen, und ihr alles Liebes und Gutes zu tun, was er nur vermochte, das war das einzige, was er jetzt noch zu tun hatte.

Tränen füllten die Augen des guten Burschen, als er in der Hülle und Fülle seiner Schmach an die Liebe der Bäbe dachte, an die Freundschaft und die Güte, die sie ihm bis jetzt bewiesen hatte. In der Rührung seines Herzens erneuerte er das Gelöbnis der Treue mit feierlichen Beteuerungen und faßte wiederholt den Entschluß, um ihretwillen alles zu dulden, was der Teufel ihm auch noch antun mochte! – Und nun, in dieser Verfassung schämte er sich nur der Scham und der Furcht vor den Leuten. Daß er im Pfarrhaus solche Angst hatte und daß er so froh war, es im Rücken zu haben, – das war elend von ihm! Die Bäbe riskierte so viel für ihn, und er selbst wollte nur immer gut wegkommen und trachtete, wenn's gefährlich wurde, nur immer darnach, weit davon zu sein! Nicht dafür, daß er den Vater angelogen, wohl aber für dieses schlechte Benehmen hatte er die Schläge gar wohl verdient.

Solche Gedanken und Empfindungen übten schließlich auf den Burschen eine tröstende, stärkende Wirkung. Der Vorsatz, unbedingt alles auszuhalten um der Geliebten willen, und das Gefühl, ihrer dadurch immer würdiger zu werden, warfen einen veredelnden Schein auch auf die bisher erduldete Schmach; sie beruhigten ihn und gaben ihm Haltung, sogar eine Art von Würde. – Er kleidete sich an und ging hinunter in die Stube.

Bei dem Vater, der auf der Bank saß, stand die Walpurg; Tobias konnte, ohne sich etwas zu vergeben, Guten Morgen sagen, und er tat es mit ruhigem Ernst, und möglichst in der hergebrachten Weise. Die Haushälterin dankte freundlich, und sogar der Alte gab mit geschlossenen Lippen eine Art Laut von sich, der als eine Erwiderung gelten konnte. Man rief den Kasper von der Kammer und aß die Morgensuppe. – Der alte Schneider, als er frühmorgens neben dem schnarchenden Kasper erwachte, hatte doch eine gemischte Empfindung. Der Sohn hatte eine Züchtigung verdient, das war augenscheinlich; aber die Art, wie er sie ihm angedeihen ließ, war doch sehr stark. Er hätte ihm ein Glied abschlagen können und mußte jetzt nur froh sein, daß es nicht geschehen war. Ein verwünschter Handel, und ein Elend, so einen Menschen zum Sohn zu haben! – In den Tiefen seiner Seele über den Ungehorsam und den Betrug entrüstet, andererseits aber von der Tatsache erfüllt, daß er's ihm doch infam eingetränkt habe, wußte er jetzt nicht recht, was er tun sollte, und griff auch seinerseits zu dem Auskunftsmittel, seine Gefühle hinter tiefernsten Mienen zu verbergen.

Daß der Alte und Tobias »solche Gesichter machten«, fiel der Walpurg auf; allein sie hatte, im ersten Schlafe liegend, von dem Auftritt auf der Gasse so wenig vernommen wie der Kasper, und wenn sie nun auch denken mußte, daß die beiden wieder einen »Stuß« miteinander gehabt, so war ihre Seele doch weit entfernt, die Wahrheit zu erraten.

Nachdem die Löffel am Tischtuch abgewischt und in die Tischlade gelegt waren, ordnete der Vater die Arbeiten des Tages an und die ganze Familie begab sich aus die Wiese. Hier führte Tobias seinen Teil regelmäßig aus, indem er den Ernst und die würdige Ruhe, die er angenommen hatte, zu behaupten wußte. Der Alte, nachdem er ihn einmal prüfend von der Seite angesehen, schüttelte den Kopf. Er begriff nicht, wie der Bursch zu einem Gesicht kam, das mit sich und seinem Schicksal zufrieden schien. Er hatte gemeint, er würde heut noch viel schlimmer aussehen, als nach dem Auftritt im Garten; und jetzt schien er völlig getröstet zu sein! Sogar eine gesunde Farbe hatte er, und bewegte seine Glieder ganz leicht – an nichts konnte man sehen, was ihm gestern passiert war. – Nach dem letzten Gedanken erhellte sich übrigens das Gesicht des Alten in einem eigenen Lächeln. Es war ihm eingefallen, daß er nach den ersten Ohrfeigen dem zu Boden Geworfenen hauptsächlich die Schultern und den Rücken der ganzen Länge nach bearbeitet hatte und demgemäß die Folgen der Züchtigung von den Kleidern bedeckt sein mußten.

Während in der Schneiderfamilie die Beziehungen so hinliefen, hatte im Pfarrhaus eine entscheidende Szene statt.

Die Bäbe war früh aufgestanden und zur Bereitung des Frühstücks in die Küche gegangen. Das Bewußtsein, sich etwas Ungewöhnliches herausgenommen zu haben und deswegen zur Rede gestellt werden zu können, äußerte sich in einer eigenen Mischung von Ergebung und Gefaßtheit. In ihrem Bette erwachend, hatte sie die Vorgänge der gestrigen Nacht erwogen, und es war ihr möglich, ja wahrscheinlich vorgekommen, daß die Pfarrerin nichts Bestimmtes wußte, sie nicht wirklich gesehen, sondern nur etwas gehört und etwas geargwöhnt hatte. In diesem Falle war ihr nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um des Geliebten willen ein bestimmtes Benehmen vorgezeichnet, und sie beschloß es genau einzuhalten.

Wie sie dem geistlichen Ehepaar den Kaffee in die Stube brachte, grüßte sie wie sonst, und nur die Pfarrerin, deren Augen durch Einsicht geschärft waren, bemerkte im Ton eine größere Weichheit und im Gesicht einen Schein von Wehmut. Der alte Herr war aufgeräumt. Er befand sich körperlich wohl, und in diesem Zustand war er nicht nur munterer, sondern auch noch gutmütiger als gewöhnlich, namentlich aufgelegt, andere durch Lob zu erfreuen. Mit der würdigen Freundlichkeit eines Herrn und Seelenhirten begann er: »Der Tee ist dir gestern geraten, Bäbe; er ist mir ganz gut bekommen; ich habe vortrefflich darauf geschlafen und vom Husten ist keine Spur mehr da.« – Mit einem Erröten, das der Geistliche für die Wirkung seiner Anerkennung nahm, erwiderte das Mädchen: »Das freut mich, Herr Pfarrer! – Mühe hab' ich mir gegeben!« – »Hast aber auch aufstehen müssen,« fuhr der alte Herr fort, »aus dem ersten Schlaf!« – »O,« versetzte die Bäbe, »das ist meine Schuldigkeit. Und für den Herrn Pfarrer würd' ich mit Freuden ganze Nächte durch wachen, wenn's sein müßt'!« – Durch diese Huldigung befriedigt, nickte der Geistliche, während die Pfarrerin mit sonderbaren Augen vor sich hinsah.

Nach dem Frühstück begab sich der Herr in seine Studierstube, recht erheitert durch den Gedanken, daß es eben doch noch gute, wackere, aufmerksame Leute und treue Dienstboten gebe. – Die Pfarrerin dagegen sagte zu der Gerühmten, als sie das Geschirr hinaustragen wollte: »Ich hab' mit dir etwas zu reden, Bäbe.« – Das Mädchen stellte das Kaffeebrett wieder auf den Tisch, und bot alles auf, den Effekt dieser Worte auf ihr Gemüt nicht sichtbar werden zu lassen. Die Frau stellte sich vor sie hin, sah sie an und begann: »Nun, sagt dir dein Gewissen nichts?« – »Mein Gewissen?« entgegnete die Bäbe mit großer Verwunderung. – »Ich sollt's meinen,« versetzte die Frau. Und mit strengem Ausdruck fuhr sie fort: »Du hast gestern nacht einen Burschen ins Pfarrhaus gelassen!« Das Mädchen zuckte unmerklich, faßte sich aber im Moment und schien höchlich überrascht und schmerzlich befremdet zu sein. Mit der Miene einer unbegreiflich Angeklagten erwiderte sie: »Frau Pfarrerin, wie können Sie denken –.« – »Leugn' es nicht,« unterbrach sie die Frau; »ich weiß es!« – Noch hielt die Bäbe stand. Die Sorge für den Geliebten und für ihr Verhältnis schien ihr eine viel höhere Pflicht zu sein, als Aufrichtigkeit, und mutig antwortete sie: »Ach, Frau Pfarrerin, das muß Ihnen geträumt haben! So wahr ich –.« – »Schweig,« sprach diese mit heftigerem Ton, »und lüg' nicht! Ich habe es durchs Schlüsselloch mit meinen eigenen Augen gesehen, wen du in deine Kammer getragen hast.« – Das machte freilich dem Leugnen und zunächst auch dem Reden ein Ende. Von Röte übergossen, mit atmendem Busen, aber trotzdem noch mit einer gewissen Haltung stand die Entlarvte da und schwieg. »Bekenn' es,« rief die Pfarrerin gebieterisch, mit leuchtenden Augen, – »oder du mußt mir im Augenblick aus dem Haus!«

Nun sah die Bäbe den Moment gekommen, wo die Versicherung der Unschuld nicht mehr am Ort, vielmehr ein offenes Bekenntnis in jeder Hinsicht erfordert war. Mit reuigem Gesicht, mit feuchten Augen und weichem Ton begann sie: »Frau Pfarrerin, ich will's Ihnen gestehen, ich hab' mich vergangen, und bitte Sie um Verzeihung! Aber mein Fehler ist nicht so groß, wie Sie vielleicht denken. Der Tobias hat mich gern in allen Ehren, er will mich heiraten, aber sein Vater will's nicht leiden, und wir haben eben keine andere Gelegenheit gewußt, wo wir uns ruhig über diese Sache beraten können. Sie dürfen mir's glauben, Frau Pfarrerin, es ist nichts geschehen –.« – »Ich glaub' dir's schon,« fiel die Frau ein, indem ein kaum bemerkbares Lächeln um ihre Lippen spielte. Mit erneuter Strenge fuhr sie dann aber fort: »Was du getan hast, ist unrecht genug. – Wenn es nun der Herr gesehen hätte? Du kennst ihn. Dieser Unfug in seinem Haus wäre für ihn die größte Kränkung gewesen – er hätte vor Zorn und Kummer gar nicht gewußt, was er anfangen sollte. Und wenn's nun jemand anderes gesehen hätte, und es würde bekannt, daß die Pfarrmagd des Nachts Liebhaber zu sich einläßt – was würde man im Dorf sagen, und was würde man von uns denken?« – Das Mädchen war durch diese Worte ernstlich getroffen, und mit aufrichtiger Bewegung erwiderte sie: »Ach ja, Frau Pfarrerin, ich seh's ein, ich hab' recht gefehlt! Aber man überlegt halt nicht alles!« – »Das seh' ich,« entgegnete die Frau. Nach kurzem Bedenken sagte sie: »Nun horch! Ich will kein Aussehen machen und kein Gerede veranlassen. Du bleibst bis zum Ziel und suchst dir unterdessen einen anderen Dienst – in einem anderen Ort.« Die Bäbe sah wehmütig ergeben vor sich hin. »Ich seh's ein, daß Bitten mir jetzt nicht mehr helfen würden. – Es soll geschehen.« – »Bis dahin,« fuhr die Pfarrerin fort, »kommt so etwas in meinem Haus nicht mehr vor.« – »O Frau Pfarrerin,« rief das Mädchen, »ich versprech' Ihnen –.« – »Ich will schon auch selber sorgen,« versetzte die Frau. »Der Hausschlüssel bleibt künftig in meiner Verwahrung.« – Ein leichtes schmerzliches Lächeln flog über die Züge der Magd, die aber alsbald ruhige Fassung zeigten.

Die Pfarrerin fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Es ist mir sehr unlieb, daß ein Mädchen, die durch mich ins Dorf gekommen ist, einen jungen Burschen verlockt und Unfrieden in eine Haushaltung gebracht hat Der alte Schneider will seinen Sohn mit der Tochter des Bachwebers verheiraten – ich weiß es von guter Hand. Und nun kommst du und machst den Sohn ungehorsam gegen den Vater und stiftest Händel an zwischen ihnen! – Du würdest wohl daran tun, diesen Liebeshandel ganz und gar aufzugeben. Der Eber ist nicht der Mann, dem Tobias seinen Willen zu lassen, und der, obwohl er gestern gezeigt hat, daß er auch frech sein kann, wird nicht imstande sein, etwas gegen ihn durchzusetzen. Du solltest das einsehen und den jungen Menschen überhaupt gehen lassen, nicht nur solang' du noch bei mir bist, wo sich's von selber versteht!« – »Frau Pfarrerin,« erwiderte die Bäbe mit bescheidenem Ernst, »nehmen Sie mir's nicht übel – aber das kann ich Ihnen nicht versprechen. Ich will alles tun, was Sie verlangen. Ich will dem Tobias nicht nachgehen, und in das Pfarrhaus und in den Pfarrhof soll er um meinetwillen nicht mehr kommen. Aber wenn er mich zum Weib haben will, dann kann ich nicht zu ihm sagen: geh und heirate die Weberstochter, weil's dein Vater verlangt! Der Vater meint, weil die andere mehr Geld hat, darum wär' sie besser. Aber ich kann etwas, das auch Geld wert ist, und es ist sehr die Frag', ob er mit mir nicht weiter kommt als mit der anderen, – von der Lieb', die er nun einmal zu mir hat, gar nicht zu reden. – Ich muß mir jetzt alles gefallen lassen, was mir geschehen ist; aber was mein Verhältnis zum Tobias angeht, Frau Pfarrerin, da will ich nichts dran ändern, weder so noch so. Vielleicht geht's doch noch anders, als man jetzt denkt!« – Die Frau versetzte: »Ich kann dich nicht zwingen, meinen Rat anzunehmen, und will mich in deine Angelegenheiten nicht mischen. Handle, wie du's' vor deinem Gewissen glaubst verantworten zu können. Aber solang' du bei mir bist, kommst du mit dem Burschen nicht mehr zusammen, weder im Pfarrhaus noch anderswo. Das verlang' ich von dir. – Später kannst du's halten, wie dir's beliebt.« – Nach einem Moment setzte sie hinzu: »Trag' das Geschirr jetzt hinaus – die Sache ist abgemacht.«

Die Bäbe ergriff das Kaffeebrett und wollte die Stube verlassen. »Noch eins!« rief die Frau. »Ich brauch' dir nicht erst zu sagen, daß von dem, was passiert ist, nichts bekannt werden darf!« – »O,« antwortete das Mädchen, »ich habe keine Ursach', davon zu reden!« – »Aber der Bursch?« – »Der wird nicht davon schnaufen,« erwiderte die Bäbe mit halbem Lächeln; »dafür steh' ich gut.« – »Um so besser,« versetzte die Frau. »Dann können wir hoffen, daß es für jetzt aus ist.«

Der alte und der junge Schneider gingen den ganzen Tag umeinander herum, indem sie nur das Nötigste miteinander sprachen und dabei möglichst vermieden, sich ins Gesicht zu sehen. Beim Abendessen war die Familie stumm; jedes machte sich seine Gedanken. Das Gesicht des Alten drückte Unschlüssigkeit und Unzufriedenheit aus; man sah, daß ihn etwas plagte. Nach dem Tischgebet ging er in den Hof, Kasper folgte, die Walpurg begab sich in die Küche und Tobias war allein. Von der Arbeit müde, lehnte er sich in eine Ecke und gab sich seinen Gedanken hin. Er hatte eine Empfindung, die fast ans Angenehme streifte. Mit seinem Verhalten den Tag über konnte er nur zufrieden sein. Er war nicht davongelaufen – was er schon der Bäbe wegen nicht durfte! – aber er hatte sich nicht schwach gezeigt, und es war ihm, als ob jetzt der Alte sich schämte und sich vor ihm scheute. Die Sache konnte nun von selber eine ganz andere Gestalt bekommen. Und wenn das geschah, war ihm doch eigentlich aus den Schlägen das Heil erwachsen! – Allerdings war die Lage, in der er sich befand, noch ungewiß und dunkel; aber in das Dunkel fiel der Schein begründeter Hoffnung, und darum füllte sein Herz ein düsterwohles Gefühl, dem er sich in der Dämmerung gern hingab.

Aus dem traumhaften Zustand weckte ihn der alte Schneider, der allein zurückkam. Diesem war es schon seit einigen Stunden im Kopf herumgegangen, daß die Sache so nicht bleiben könne und daß er mit dem Burschen reden müsse, um zu sehen, wie sie nun eigentlich miteinander ständen. Einen Teil des Tages hatte er wirklich Scheu getragen, den wunden Punkt zu berühren; aber nach und nach war ihm das Gefühl der väterlichen Gewalt wiedergekommen; er sagte sich, daß dem Burschen gestern nur recht geschehen sei und daß er das begonnene Werk, wenn auch mit anderen Mitteln, heute fortsetzen müsse.

Als er den Sohn in der dunkelnden Stube sah, schien ihm der rechte Moment gekommen. Durch keine Erinnerung mehr befangen, trat er gegen ihn vor und sagte: »Es ist gut, daß ich dich allein treff'. Wir zwei haben noch was miteinander auszumachen.« – Tobias erhob etwas betroffen den Kopf; aber die Wirkung der Anrede war nicht, wie sie der Vater erwartete. Mit einem gewissen Humor erwiderte der Bursche: »So? – Noch was?« – Der Alte, die Entgegnung verstehend, lächelte spöttisch. »Du meinst,« versetzte er auf ihn herabsehend, »ich wär' schon fertig mit dir?« – »Allerdings!« antwortete der Sohn. »Vorderhand hätt' ich gemeint –.« – »Weder vorderhand noch nachderhand,« unterbrach ihn der Alte mit Schärfe. »Was dir gestern passiert ist, das ist nur die Strafe gewesen für deine unverschämte Heimtücke. Hat man je so was gesehen? Mir sagen, daß es mit der Person aus sei, zum Schein folgen, zur Sibylle gehen und ums Haus herum zur Pfarrmagd schleichen – ist das nicht schändlich?« – »Du willst's ja nicht anders haben,« entgegnete Tobias seinerseits anklagend. »Du weißt, daß ich die Sibylle nicht mag, und doch nötigst du mich zu ihr hin und willst mich fressen, wenn ich nicht gleich geh'! Was bleibt mir da anderes übrig, als dir was vorzumachen?« – »Sauber, das muß ich sagen!« erwiderte der Alte. »Also wenn der Vater nicht gleich tut, was der Sohn in seiner Dummheit verlangt, dann darf ihn der für'n Narrn halten und an der Nase herumführen?« – »Er kann eben dann nicht anders,« versetzte Tobias, »und es geschieht eben!« – »Halt's Maul,« rief der Alte entrüstet, »und laß das einfältige Geschwätz!« – Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich habe aber doch recht gehabt neulich? Die Person ist doch wieder an dich gekommen, trotz ihrem Schimpfen? Der »miserable Kerl« ist ihr nun wieder gut genug? – Das ist die rechte War'!« – »Die Bäbe,« entgegnete Tobias mit dem Ernst eines verletzten Gemüts, »hat gehandelt wie ein braves Mädchen. Sie hat mir verziehen, weil sie erfahren hat, daß ich ihr im Herzen doch treu geblieben bin, wie's auch wahr ist. Die Bäbe ist das beste Mädchen von der Welt, sie hat mich lieb, sie tut alles für mich – sie allein meint's gut mit mir, sonst niemand. Und das Mädchen lass' ich nicht, die muß mein Weib werden, und wenn die ganze Welt des Teufels wird. Ich lass' mir's nun einmal nicht nehmen, ich tu's nicht anders – und damit Punktum!«

Der Alte hatte diese Rede, in welcher sich Tobias zum Gipfel des Mutes und Trotzes hinaufsteigerte, mit einer Anwandlung von Schrecken gehört, wie man ihn empfindet, wenn man jemand plötzlich gegen alle bisherige Gewohnheit und Natur handeln sieht. Er betrachtete ihn mit immer größer werdenden Augen von oben bis unten und nur durch Schnaufen erleichterte er sein Herz. Endlich fand er Worte und rief: »Dahin ist's gekommen! – Ich hab' dir also die Narrheit noch nicht ausgetrieben?« – »Im Gegenteil,« erwiderte der jetzt im Zuge befindliche und von der Wirksamkeit seines Verfahrens überzeugte Bursch; »hineingetrieben hast du's in mich, nicht ausgetrieben!« – Das war zuviel – es war nicht nur Trotz, sondern Hohn! Bebend vor Zorn stellte sich der Alte vor den Rebellen hin und rief: »Jetzt horch, ich will dir was sagen! Ich hab' dir gestern gezeigt, wie man's mit ungeratenen Buben macht, auch wenn sie so alt sind, wie du bist. Aber das ist noch nicht das Beste gewesen, ich kann's noch ganz anders! Und wenn du mich erzürnst –!« Seine rechte Hand ballte sich und seine Augen sprühten Feuer, als ob er den Burschen verbrennen wollte. Dieser, der sich erhoben hatte, entgegnete jedoch fest und nachdrücklich: »Du bist mein Vater, du bist stärker als ich, und du kannst mich schlagen. Ich kann nichts dagegen, tun und muß es mir gefallen lassen. Aber das sag' ich dir: wenn du mich totschlägst, lass' ich die Bäbe nicht. Dann erst recht nicht!« – Dies war mit einem Ausdruck von Märtyrer-Entschlossenheit gesprochen, daß der Alte erstarrte und verstummte. Er sah ihn an wie einen, mit dem's nicht richtig ist, gegen den man aber ebendeswegen vorderhand nichts machen kann, und erwiderte nur: »Gut, das wollen wir sehen!« – Und Tobias versetzte keck: »Ja, das wollen wir sehen!«

Die Walpurg erschien mit der brennenden Ampel – eine Unterbrechung, die dem Alten lieber war als dem Sohn. Das Weib machte ein sonderbares Gesicht. Sie hatte die zankenden Stimmen gehört und war halb aus Neugierde, halb um einen schrecklichen Auftritt zu verhindern, in die Stube gegangen, stellte sich aber nun, als ob sie von nichts wüßte. Sie suchte den Alten durch häusliche Fragen auf andere Gedanken zu bringen, verlor die Geduld nicht, als dieser sie anschnauzte, und erlangte es endlich, daß er ihr Gehör gab. Nach einer Weile erhob sich Tobias, der sich wieder gesetzt hatte, wünschte gelassen und wohlwollend Gute Nacht und ging in seine Kammer.

Ein erhebendes Gefühl durchdrang ihn. Er hatte mit seinem Vater gekämpft und – gesiegt. Er hatte nichts mehr verheimlicht, ihm nichts vorgespiegelt, sondern ganz ehrlich alles gesagt, wie's war – und der Alte hatte nichts darauf machen können! – Sinnend stand er da, plötzlich glänzte er in einem Lächeln wie ein Mensch, der aufs angenehmste überrascht ist. Was die Bäbe von ihm verlangt, und er für ganz und gar untunlich gehalten, das war ja nun doch geschehen – und ohne daß er's drauf angelegt hatte! Er hatte dem Vater gesagt: die Sibylle mag ich nicht, ich will die Bäbe – und der Vater hatte zwar getan, als ob er ihn fressen wollte, aber es zuletzt doch schön bleiben lassen! – Ja, die Bäbe hatte recht, die war gescheit und kannte die Menschen! Aber er hatte sich auch viel besser benommen, als er sich's zugetraut: er war denn doch der armselige Kerl nicht, für den er sich selber gehalten, sondern es steckte noch was ganz anderes in ihm! – Der Anfang war gemacht, er war auf dem rechten Weg, und nun ging's weiter ans Ziel – da war kein Zweifel mehr.

Er legte sich vergnügt zu Bette und schlief bis zum lichten Morgen.

Als er erwachte, hatte sich die Sonne, durch dünne Wolken scheinend, bereits eine ziemliche Strecke über den Horizont erhoben. Es war indes Feiertag, er konnte sich noch im Bette dehnen, und er tat es. Seine Glieder waren von Schmerzen beinahe ganz frei, und ein Lächeln entlockte es ihm, als er zwei Mäler an seinem Oberarm, die gestern noch blau gewesen waren, heute schon ins Grünliche übergehen sah. Er wußte aus Erfahrung, daß sie dann bald ganz verschwinden und nichts mehr übrig bleiben würde, als die guten Folgen.

Während er sich anzog, kam ihm der Gedanke, ob er nicht seine günstige Stellung benutzen und dem Alten sogleich die Einwilligung zur Heirat mit der Geliebten abnötigen solle. Es kam ihm nicht ganz unmöglich vor, daß er am Ende nachgab, wenn er sah, wieviel bei ihm die Glocke geschlagen hatte. – Mit Entschlossenheit ging er hinunter in die Stube.

Der Alte saß allein hinter dem Ofen, und das war günstig. Tobias sagte Guten Morgen und trat näher. Wie er ihm aber in das erhobene Gesicht sah, fühlte er gleich, daß die rechte Zeit für sein Unternehmen noch nicht gekommen sei. Der Alte sah gefährlich aus. Die Schlappe, die er gestern erlitten hatte, nagte an ihm, er war in tiefen Unmut versunken. Ruhig saß er da; aber es war eine Ruhe, die ein einziges schiefes Wort in den wildesten Sturm verwandeln konnte. – Nachdem der Sohn dies erkannt, wandte er sich, stimmte sein Triumphgefühl herab und ging still mit ehrbarer Miene hin und her, indem seine Stimmung wieder eine bedrückte zu werden begann.

Die Glocken erschollen vom Turm. Er zog seinen Tuchrock an und setzte seinen Schaufelhut auf, um in die Kirche zu gehen. Sein Inneres erfüllte sich mit resigniertem Ernst, und er war sehr geneigt, andächtig zu sein, wie irgend einer der ledigen Bursche. Auf dem Wege begegnete ihm jedoch ein Bekannter, der auf seinen Gruß mit auffälliger Miene dankte. Es war ein guter Mensch, aber jetzt lächelte er fast so, als ob er ihn auslachte. – Nicht lange, so ging einer seiner früheren Widersacher an ihm vorüber. Dieser zeigte ein Gesicht, aus welchem die Schadenfreude ordentlich leuchtete, und Tobias sagte sich augenblicklich: man weiß es!

Darauf war er nicht vorbereitet. Sein Herz fing an zu pochen, Schamröte übergoß ihn. Wenn es die zwei wußten, dann wußte es das ganze Dorf – und dann war Spott und Schande nicht zu vermeiden. – Es half nichts, daß er sich die Möglichkeit vorhielt, seine Vermutung könnte doch irrig sein. Ein drittes Gesicht von einem älteren Verwandten sprach viel zu deutlich. Er täuschte sich nicht. Es war ausgekommen – Gott weiß wie! – Die Leute wußten, daß er Schläge bekommen und warum, so sahen sie aus!

Mit Gefühlen, die wenig Kirchliches hatten, trat er in das Gotteshaus ein, und ging auf die »Borkirche« (Emporkirche) an seinen Platz unter den Ledigen. Er fürchtete, aller Augen würden sich auf ihn richten, sah daher grad vor sich hin und gab sich die größte Mühe, seine Verlegenheit hinter einer feierlichen Miene zu verbergen. Mit dieser seiner Furcht ging er indes zu weit; denn so wichtig erschien er im gegenwärtigen Augenblick der Gemeinde doch nicht, daß sie nur Augen für ihn haben sollte. Einige mitleidige Blicke von seiten junger Bursche – das war alles, was er erreichte; und das dauerte nur einen Moment. Als das Lied begann, dachte niemand mehr an den Schneider.

Er fing an sich zu gewöhnen, und sang kräftig mit. Plötzlich traf ihn ein anderer Gedanke. Wenn der Pfarrer selbst etwas wußte und von der Kanzel her seinen Blick auf ihn richtete – oder gar in der Predigt eine Anspielung auf ihn machte, wie das schon vorgekommen war? Und wenn dann erst recht alles auf ihn sah und er dastand wie ein Gerichteter? – Ängstlich und bekümmert folgte er dem Gange des Gottesdienstes. Bei Lesung des Textes ging ihm ein Stich durchs Herz: es war die Parabel vom verlorenen Schaf! Wie leicht war da eine Hindeutung auf ihn! – Er bebte merkbar, und nur mit der größten Anstrengung gelang es ihm, die Empfindungen, die ihn in Bewegung setzten, nicht ganz deutlich werden zu lassen. – Die zweite Sorge war indessen noch unnützer als die erste. Der Pfarrer hielt eine warme, herzliche Rede, die sich durchaus im allgemeinen bewegte, und Tobias fing an zu begreifen, daß, wenn seiner darin gedacht worden wäre, dies für ihn nur ehrenvoll hätte sein können.

Viel ruhiger, als er sie betreten, verließ er die Kirche. Auf dem Heimweg sah er zwar noch einige lächelnde Gesichter, aber die Heiterkeit derselben schien ihm doch viel weniger boshaft zu sein, und er empfand sie denn auch viel weniger peinlich. – In einer mittleren Stimmung kam er nach Hause und behauptete dieselbe während des Mittagessens. Später lockte ihn das schöne Wetter in den Garten. Er ging hin und her, setzte sich auf eine Bank unter den dicksten Baum, und in der frischen Luft, unter dem freundlichen Himmel wurde er ruhiger und heiterer. Die Geschichte konnte auch leichter vorübergehen, als er sich dachte; ja, sie konnte sogar zu seinem Nutzen ausschlagen – wer wußte das!

Eine geraume Zeit verging. Als es vier Uhr schlug, erhob sich in ihm die Frage, ob er ganz zu Hause bleiben oder noch unter die Leute gehen sollte. Das erste war gefahrlos, aber auf die Dauer langweilig; das zweite gewagt, aber ehrenvoller und so oder so unterhaltender. Nach kurzem Besinnen rief er: »Was da! – ich geh' ins Wirtshaus!«

In dunkelblauer Joppe, die Pelzkappe ein wenig aufs rechte Ohr gesetzt, ging er mutig die Gasse hinab. Er suchte munter auszusehen und grüßte ein paar Mädchen, die am Wege standen, lustig, so daß sie ihm verwundert dankten. Als er das Wirtshaus erblickte, wurde er ernster. Die Gefahr, der er entgegenging, kam ihm zum Bewußtsein und er waffnete sich darauf.

Im Tennen traf er das Wirtsmädchen. Diese sah ihn gemütlich an und sagte: »Die ledigen ›Burscht‹ sind im Garten.« Tobias überlegte einen Moment, ob er nicht lieber in die Stube gehen sollte; aber der Mut siegte und er ging durch die Hintertüre zu seinesgleichen.

Eine frische, heitere Szene bot sich ihm dar. Rechter Hand vor einem Kegelplatz standen junge Leute und versuchten auf der unbedeckten, von den Wirtsleuten stiefmütterlich behandelten Bahn mehr ihr Glück als ihre Kunst, vollführten aber dabei nur einen um so fröhlicheren Lärm. Links an einer Tafel saßen ältere Bursche, die sich mehr ans Trinken des kräftigen braunen Biers und an ergötzliches Gespräch hielten. Die Sonne war über die zarten Wolken, die sie vormittags schleierartig umzogen hatten, völlig Herr geworden, der Garten stand im herrlichsten Frühsommerglanz, Laub und Gras leuchteten, in den warmen Strahlen erlustigten sich Käfer und Fliegen und oben in der Luft weißbauchige Schwalben, die zwitschernd hin und her flogen und auf und ab tauchten wie in einem Bade. Die Natur war glücklich, und die Menschen so vergnügt, wie es Bauern am Sonntag nur irgend sein können.

In der Unterhaltung der Trinker war eine kleine Ebbe eingetreten; aber im Schweigen saßen die tüchtigen Bursche so behaglich da, wie vorher im Diskurs. Als sie des Tobias ansichtig wurden, belebten sich die braunen Gesichter plötzlich und mehrere Stimmen riefen wie aus einem Mund: »Ah, der Schneider!« – Es war eine eigene Mischung von Bosheit und Wohlwollen, womit sie den Ankömmling betrachteten; man konnte sagen: sie empfanden Wohlwollen gegen den, der ihrer Bosheit als Opfer entgegenkam! – Als Tobias die Mienen sah, erkannte er sein Schicksal und lenkte seinen Schritt gegen die Kegelbahn. Da öffnete ein breitköpfiger, urgesunder, grundvergnügter Kerl an der Schmalseite der Tafel eine Art Wolfsrachen und rief so gutmütig als möglich: »Schneider, Bruderherz! Da komm her und setz dich zu uns!« – Tobias zauderte, denn der Bursch, namens »Leard« (Leonhard), war ein bekannter »Uzer«; aber dieser fuhr fort: »Laß die Buben kegeln und setz dich zu deinen Kameraden. Komm, da neben mir ist noch Platz!« – Tobias, in Ermangelung einer Ausrede, folgte willenlos und setzte sich.

Aller Augen wandten sich nun auf Tobias und Leard. Dieser hatte dem Schneider mit seinem Krug aufgewartet und sah, während er trank, vor sich hin. Dann begann er: »Nun sag mir, Schneider, wie geht's allweil? Ich hab' dich lang' nicht gesehen!« Und indem er ihn betrachtete, fuhr er teilnehmend fort: »Du bist ein wenig bleicher als sonst; – ist dir vielleicht etwas zugestoßen?« – Tobias, der allerdings etwas bleicher war als sonst, aber nur, weil er merkte, was der Leard mit ihm vorhatte, versetzte trotzig: »Bah, was sollt' mir zugestoßen sein? Ich wüßt' nicht was!« – Dieser Antwort folgte ein Ausbruch von Heiterkeit, der den Humor des Burschen nicht heben konnte. Leard versetzte: »Nun, nun, zustoßen .kann einem immer etwas – für Unglück kann kein Mensch. Man kann verschreckt werden, man kann hinfallen, gefährlich hinfallen –.« – »Besonders bei der Nacht,« warf ein feiner junger Bursch ein, »wenn's finster ist.« – »Jawohl,« fuhr Leard fort; »bei der Nacht ist viel möglich, da hat der Teufel sein Spiel, namentlich wenn man auf Wegen geht, die man noch nicht recht gewohnt ist.« Und den Tobias betrachtend, der nun in der Tat wie ein armer Sünder dasaß, rief er plötzlich: »Schneider, Schneider, ich hab's getroffen! Dir ist etwas passiert, und das was recht Widerwärtigs! – Sag's, Tobias! Sag's deinen Kameraden!« – Diese Aufforderung war mit aller Teilnahme eines echten Freundes gesprochen, und Tobias, der vergebens nach einer passenden Entgegnung suchte, fühlte sich in der unbehaglichsten Lage. Da es mit seinem Humor gänzlich vorbei war, legte er sich auf den Ärger und rief: »Was habt ihr denn aber heut? Ich weiß ja gar nicht, was ihr wollt! – Laßt mich gehen – oder ich geh'!« – »Ah,« entgegnete Leard mit vorwurfsvoller Miene, »das wirst du uns doch nicht tun? Fortgehen von deinen besten Kameraden?« Und zu den anderen gewendet, rief er: »Haben wir uns nicht alle gefreut, wie er gekommen ist?« – »Jawohl! Freilich!« war die Antwort. – »Siehst du?« fuhr Leard fort. »Und da kommt ohnehin dein Bier!«

Das Wirtsmädchen kam übers Gras gegangen mit einem Maßkrug und setzte ihn vor Tobias. Sie trat einen Schritt zurück und blieb stehen; denn sie wollte auch ihren Anteil am Vergnügen haben.

Leard nahm seinen Krug, stieß an den des Tobias und rief munter: »Sauf, Bruder, und sag uns dann, was dir passiert ist!« – Tobias trank und verlängerte den Zug soviel er konnte, in der Hoffnung, dadurch der Antwort überhoben zu werden. Aber sein Quälgeist war nicht gemeint, ihn in Ruhe zu lassen. Nachdem er selber einen tüchtigen Schluck zu sich genommen, begann er: »Nun also – was ist dir geschehen? – Sag's!« – Jetzt verlor Tobias die Geduld. »So sei doch gescheit,« rief er mit hohem Verdruß, »und laß mich gehen mit deinen einfältigen Fragen! – Nichts ist mir geschehen!«

Leard schüttelte den Kopf und versetzte: »Du bist nicht höflich, Tobias, und vergiltst mir meine Freundschaft schlecht.« Ein vierschrötiger Bursch ergriff jetzt das Wort und sagte: »Ich hab' bis jetzt geschwiegen; aber weil der Schneider gar nicht bekennen will, so muß ich doch reden. Gestern in der Früh' bin ich in meinem Garten gewesen und hab' ihn sechs Schritt hinter seinem Vater nach der Wiese gehen sehen. Das Gesicht, das er da gemacht hat, wird mir im Gedächtnis bleiben. Wie soll ich nur gleich sagen? Er hat ausgesehen, als ob ihn die »Wura'moesa'« (Ameisen) auf'm Brachacker 'rumg'schleift hätten!« – »Da haben wir's,« rief Leard. »Also gestern? Dann muß ihm das Unglück am Freitag nachts zugestoßen sein!« Und vor sich hinsehend, fragte er sich: »Was ist's jetzt wohl gewesen?« – Der feine junge Bursch sagte lachend: »Ich glaub', er ist auf'm Geißbock spazieren geritten und der hat ihn 'runtergeworfen!« – Leard entgegnete: »Nichts da! Das ist eine alte Sag'! Heutzutag reiten die Schneider nicht mehr auf Geißböcken, sie sind auch aufgeklärter geworden und suchen sich jetzt schon andere Rößlein!« – Heiteres Lachen erscholl um die Tafel, und ein entfernter Schein von Lächeln flog sogar über das verlegene Gesicht des Gehöhnten. »Das mag sein,« erwiderte der Feine; »wie ist er dann aber zu dem Gesicht von gestern gekommen?« – »Nun, wie geht's nicht?« versetzte Leard gemütlich. »Wenn einem ein rechtes Glück angestanden ist, dann wirft der Teufel immer Heu 'runter! Ist's etwa das erste Mal, daß einer, der just von seinem Schatz herkommt, tüchtige Prügel kriegt?« Und den Schneider betrachtend, setzte er hinzu: »Nun, nun, du brauchst dich nicht zu schämen, Tobias. Von seinem Vater kann man am End' noch Schläg' annehmen, und daß dich der Alte gezwungen hat, das nimmt dir kein Mensch übel.«

Der Schneider saß da mit den peinlichsten Empfindungen. Alles war heraus, alles – sogar die Art, wie er in die Kammer der Bäbe befördert worden! – Wie konnte man das wissen? Hatte das Mädchen geschwätzt? Hatte man sie im Pfarrhaus gesehen? – Er wußte nicht, was er denken sollte; ratlos sah er auf den Tisch, der Schweiß ging ihm aus. – Wenn er noch einige Hoffnung gehabt hätte, die geheimsten der gestrigen Vorgänge könnten doch noch unbekannt sein und er möchte nur falsch geraten haben, so wäre er gleich enttäuscht worden.

Der Feine richtete seinen Blick auf ihn und sagte: »Freund Tobias, du nimmst dir die Geschichte mehr zu Herzen, als nötig ist. Geh, sei gescheit! Ein Glied hat er dir nicht abgeschlagen, und für so einen Schatz, wie die ist, kann man schon was aushalten!« – »Das mein' ich auch!« rief Leard. »Das schönste Mädchen im Dorf – sogar die meine nicht ausgenommen! – Und solch ein Einfall! Gocken! – So gescheit sind sie nur im Kesseltal – bei uns tät' keine draufkommen!« Und zu der Kellnerin gewendet, rief er: »Nicht wahr, Mädle?« – »O wahrlich nein,« entgegnete diese mit einem Gesicht, das vor Vergnügen leuchtete. »Im Ries sind wir nicht so g'studiert!« – Leard ergriff den Maßkrug und rief: »Nun, so stoß an, Schneider! Sie soll leben!« – Tobias versuchte noch auszuweichen und entgegnete mit der wankenden Stimme eines schlechten Gewissens: »Aber was willst du denn? Ich weiß ja gar nicht, wen du meinst?« – In das neue Gelächter hinein redete aber Leard: »Nun, wir wissen's schon. Komm, stoß an!« – Tobias, gedrängt und in Ermangelung einer besseren Auskunft, nahm den Krug, ließ den anderen anstoßen und tat einen großen, weit hinausgedehnten Zug. – Leard, nachdem er ebenfalls keinen schlechten getan, rief: »Bravo! Nun hast du gehandelt wie ein rechter Bursch! Seinen Schatz muß man nicht verleugnen, am wenigsten, wenn man so einen hat wie du!« – Tobias erwiderte hierauf nichts, und auch die anderen, die einigermaßen genug zu haben schienen, ließen ihre Zungen in Ruhe. Der Geplagte hoffte es überstanden zu haben.

Diese Hoffnung hätte sich vielleicht erfüllt und die Bursche beliebt, einen anderen Gegenstand vorzunehmen und den Schneider für heute in Ruhe zu lassen. Aber nun fuhr der böse Feind in ihn selber und bewog ihn, sich ein unbefangenes Ansehen gebend zu fragen: »Gibt's nichts Neues?« – Das Gelächter, das auf diesen schwachen Versuch, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, sich hören ließ, war nicht das schlechteste, und Leard rief mit angenehmer Verwunderung: »Wie, hast du noch nicht genug an dem, was geschehen ist? Kott's Tausend, bei uns kann nicht jeden Tag so was passieren! Seit gestern spricht man von nichts anderem im ganzen Dorf, und in vier Wochen haben wir noch genug daran!« – Der Feine bemerkte: »Das Neueste, Tobias, mußt du machen! Du bist jetzt im Schuß – mach vorwärts und sorg dafür, daß wir dir bald auf die Hochzeit gehen können! Wenn auch der Alte nochmal wild wird und die »Ehlamäß« (das Ellenmaß) nimmt! Das kommt jetzt auf eins heraus!« – »Ja freilich,« rief Leard. »Etliche Schlägt mehr oder weniger, das bedeutet nichts; aber seinen Schatz heimführen, das muß ein rechter Kerl, bieg's oder brech's! Wenn ich die Kesseltalerin kriegen könnt', hol mich der Teufel, ich ließ mir eine Woch' lang jeden Tag aufmessen! So ein Mädchen bekommt man nicht umsonst! Eine »Langrockete« und rund wie ein Apfel! Ein Kreuz und ein paar Schultern, die noch einen ganz anderen tragen könnten als einen Schneider, und die geschicktesten Manieren, und einen Gang, den sich jede im Dorf zum Muster nehmen könnt'. – Tobias, Tobias, du hast doch den besten gezogen und lachst uns noch alle aus!« – »Ja, ja,« warf der Vierschrötige ein, »wenn er sich nicht abschrecken läßt, dann glaub' ich's selber!« – »Abschrecken?« rief Leard. »Der Tobias? Die Schneider sind von je die bockbeinigsten Kerle gewesen, und das ist natürlich! Der führt die Sach' 'naus, das werdet ihr sehen!« Und mit aller Teilnahme, welche die lachende Bosheit aufkommen ließ, fragte er: »Wann wirst du Hochzeit machen, Tobias? Fällt's noch in den nächsten Monat?«

Tobias zitterte vor Verdruß. Er hatte das Gefühl eines angespannten Rosses, das von Bremsen bedeckt und umflogen ist und, trotz alles Schüttelns, des Geplagtwerdens von seiten des blutgierigen Ungeziefers kein Ende sieht. Seine Seele trachtete hinwegzukommen; er nahm seinen Krug, setzte an und leerte den Rest auf einen Zug. Der Uzer hatte ihn beobachtet; seine Absicht erratend faßte er schnell den Krug und rief: »Mädle, da ist's leer!« – Der Schneider ergriff den Krug ebenfalls und schrie: »Nichts da! Ich muß fort!« – »Wie,« entgegnete Leard, »du willst fort, jetzt, wo wir in der besten Unterhaltung sind? – Laß mit dir handeln! Eine Halbe!« – Er lenkte den Krug nach der Kellnerin und rief: »Geschwind, Mädle! Nimm und lauf!« – »Nein,« rief Tobias ergrimmt, indem er sich nun mit dieser um den Krug stritt; »ich trink' nichts mehr, Kott's Himmelsakerment!« Er war aufgestanden, setzte die Pelzkappe fest auf den Kopf und sagte: »Ich bin nicht hergekommen, um mich von euch für'n Narrn halten zu lassen, das könnt ihr mir glauben!« – »Wir glauben's auch,« versetzte Leard, »und drum fällt's uns gar nicht ein. Bleib da!« – »Ja, bleib da!« riefen mehrere Bursche. – Das Mädchen, die nun im unbestrittenen Besitz des Kruges war, fragte: »Wie ist's, soll ich einschenken? Das Bier ist fürnehm, grad hat man angestochen!« – »Nein,« entgegnete der Schneider energisch, »ich mag nichts!« – »Komm,« rief Leard, seine Hand fassend, »gib nach! – – Setz dich wieder! Wir haben dich so gern!« – »Ihr könnt mich auch gern haben!« rief der Schneider, seine Hand losreißend, »alle miteinander!« – Und unter allgemeinem Gelächter schritt er von dannen.

Bevor wir ihn weiter begleiten, müssen wir auf eine Frage antworten, die auch der Leser aufgeworfen haben wird. Daß der nächtliche Besuch im Pfarrhaus und die darauf erfolgte Szene durch jenen Vetter Hans, der die letztere mit angesehen haben konnte, verraten worden sei, wird man sich selbst gesagt haben. Es war auch in der Tat so. Wie konnte aber auch der eigentliche Liebesdienst bekannt geworden sein, den die Bäbe dem Schneider erwiesen hatte? Dieser, wie sein Staunen gezeigt, hatte ihn keiner Seele mitgeteilt. Außer ihm war aber die Tatsache nur der Bäbe und der Pfarrerin bekannt – der Pfarrerin, welche die Geheimhaltung befohlen, der Bäbe, die sie zugesagt hatte!

Der Autor muß bekennen, daß er eine bestimmte Erklärung in dieser Frage selbst nicht abzugeben vermag. Er kann nur auf Möglichkeiten hinweisen, und bittet den Leser, seine Entscheidung selber zu treffen.

Die Bäbe hatte eine Kamerädin, und diese eine Schwester. Es ist denkbar, daß sie der Getreuen, die ohnehin schon Mitwisserin geworden in der Bedrängnis ihres Herzens, nach dem abgenommenen Versprechen einer vollständigen Geheimhaltung natürlich, den Handel erzählt, und diese wirklich keiner Seele davon gesagt, ausgenommen ihrer Schwester, die dann, durch ihre gleichfalls erteilte Zusage schon weniger beengt, das weitere sich erlaubt hatte. Auf der anderen Seite stand aber die Frau Pfarrerin in einem Verhältnis wechselseitiger Mitteilungen mit der Frau Lehrerin, und diese hatte wieder eine Beziehung zur Frau Wirtin. Es ist möglich, daß die gute und im Grund ihres Wesens heitere Dame dem Reiz nicht widerstehen konnte, die ihr noch nie vorgekommene und darum höchst pikante Tatsache unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit der Vertrauten zu schildern, da nach der strengen Justiz, die sie gegen die Übeltäterin geübt hatte, doch auch die komische Seite derselben ausgebeutet sein wollte. Daß dann die Frau Lehrerin die prächtige Geschichte nicht ganz und gar für sich behalten, sondern sie unter der nämlichen sichernden Bedingung der Wirtin vertraut, wäre ihr kaum zu verdenken gewesen. Um so weniger aber der Wirtin die Mitteilung an irgend einen ihrer Gäste, für deren Unterhaltung zu sorgen ja zu ihren Pflichten gehörte! – Genug, die Sache war ausgekommen, ging wie ein Lauffeuer im Dorf herum und der Schneider hatte die Folgen zu dulden.

Mit welchen Empfindungen dieser den Wirtsgarten verließ, kann man sich denken. Das ihm angeborene Ehrgefühl, durch die übelsten Erfahrungen nicht unterdrückt, war nach dem gestrigen Sieg über seinen Vater mächtig emporgelodert; seine Ansprüche auf Achtung hatten sich erneuert, und er glaubte sich durch die Erreichung seines Zweckes, die er für gewiß annahm, allgemein in Ansehen bringen zu können. – Nun war alles wieder zu Wasser geworden. Das heutige Gesicht des Alten hatte ihn belehrt, daß er seine Einwilligung in die Heirat mit der Bäbe weniger als jemals hoffen könne – daß er die Schläge fruchtlos erduldet hatte! Und zu alledem war seine Schmach öffentlich geworden – er, der Geschädigte war dem Spott und der Mißhandlung preisgegeben, wer weiß auf wie lange! – Der Boden brannte unter ihm, er fürchtete sich unendlich, jemand zu begegnen, und eilte auf dem kürzesten Weg aus dem Dorf ins Feld, wo er den am wenigsten betretenen Fußpfad aufsuchte.

Als er hier weitherum niemand gewahrte, entlastete er das gepreßte Herz und brach in laute Verwünschungen aus. Er sagte sich in wilder Leidenschaft vor, was er erduldet, schmähte, daß ihm – grad ihm das begegnen sollte, malte sich aus, was er ferner werde zu leiden haben, und wühlte sich immer tiefer in sein Elend hinein. Die Worte gingen ihm endlich aus, aber nicht das Wallen und Sieden des Herzens, dem sie entstiegen waren. Er lief zwischen herrlichen Saatfeldern hin, aber er nahm sie nicht wahr, so wenig als er die Lerchen hörte, die nach und nach die Luft zu beleben anfingen. Sein Geist war der Außenwelt entnommen, seine Füße trugen ihn nur mechanisch weiter.

Ein Markstein, an den er stieß, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah auf und bemerkte, daß er in die Feldung des Nachbardorfes eingetreten und diesem näher war, als dem seinen. Das stimmte ihn ruhiger. Es war sicherer hier und darum für ihn heimlicher. Einen Seitenpfad einschlagend ging er langsamer, aber um vieles gemütlicher vorwärts. Nach und nach legte sich der innere Aufruhr ganz, der Mut kam ihm wieder und die Kraft der Verteidigung regte sich in ihm. Die Phantasie, die größte Trösterin, erhob sich, fühlte sich und begann ihr Geschäft, die erlebten Unbilden umzubilden und das, was geschehen war, so darzustellen, wie es hätte geschehen sollen.

Er dachte sich die Kerle im Garten, wie sie an der Tafel saßen und von ihm sprachen. Es gab ein Gerede hin und her und mancher dumme Spaß wurde über ihn gemacht. »Wenn er jetzt käme,« rief einer der Lümmel, »dem sollt' es gut gehen!« – Und siehe da, er kam, er setzte sich zu ihnen – aber die Sache ging anders, als sie gedachten! – Das Trätzen fing an, einer half dem anderen. Eine Zeitlang hörte er es ruhig an, indem er nur diesem und jenem eine Red' hinschmiß, daß er daran zu schlucken hatte. Endlich kriegte er's genug, und er rief zum Leard: »Halt 's Maul jetzt! Ich hab' das dumme Gered' satt!« Der Leard gab nicht nach. Nochmal rief er ihm zu: »Halt 's Maul, oder es reut dich!« Der Leard lachte laut und fing wieder an. Da war's mit seiner Geduld zu Ende; um nicht lange herumzufackeln, ergriff er den Maßkrug, holte aus und schlug den Kerl auf den Kopf, daß er ins Gras hinpurzelte. – Alle sprangen auf und schrien: »Auf ihn! – Er hat den Leard totgeschlagen! Haut ihn nieder!« – Aber solch Geplärr könnt' ihn nicht aus der Fassung bringen; er trat zurück, schwang den Krug und rief: »Drei Schritt vom Leib! Wer mich anrührt, ist des Todes!« – Die Bosheit und die Wut trieben doch ein paar Bursche vorwärts, obwohl ihnen der Schrecken aus dem Gesichte sah: grimmig gingen sie auf ihn los, der Kampf begann – und ihm gelangen die größten Taten seines Lebens.

Den ersten schlug er ins Gesicht, daß er rückwärts auf die anderen stürzte und das Blut ihm aus der Nase lief. Dem anderen gab er eins hinter die Ohren, daß er taumelte, mit dem Gesicht auf den Boden fiel und Ach und Weh schrie. Nun wurden die übrigen rasend, einer hetzte den anderen, und auf einmal stürzten sie alle zugleich gegen ihn. Da half kein Feiern! Er setzte mit der Schnelligkeit des Blitzes und mit ungeheurer Kraft den Krug in Schwung, daß er umging wie ein Triebrad und es ganz unmöglich war, ihm anzukommen. Wer am weitesten vorkam, der kriegt' es mit fürchterlicher Gewalt an den Kopf, an die Arme, daß er beiseite geschleudert um und um torkelte. So ging's fort, bis sie alle zu Boden lagen und stöhnten, sogar flennten, ausgenommen die zwei jüngsten, die sich hinten gehalten hatten und ihn zitternd baten, ihnen nichts zu tun! – Während dies geschah, waren die übrigen Gäste herbeigekommen, hatten zugesehen und ihm Lob zugerufen. Er setzte den blutigen Krug auf den Tisch, schnaufte ein paarmal und rief: »So geht's den Kerlen, die mich für'n Narrn haben wollen! Wem ich gut zum Rat bin, der läßt's bleiben!« Die Umstehenden schauten sich an und sagten: »Wer hätt' dem Schneider das zugetraut? Das ist ja ein Herrgottsakerment!« Er aber griff in die Tasche, warf dem Wirtsmädchen einen Zwölfer hin und schritt triumphierend durch die Leute, die ihm rechts und links Platz machten!

Als er mit diesem idealen Gebilde so weit gekommen war, hörte er Fußtritte. Ungern wendete er den Blick von der schönen Szene auf die gemeine Wirklichkeit, und vorwärtsblickend erkannte er einen Bauern vom Nachbardorf, der in Begleitung eines Buben gegen ihn herankam. Schon von weitem nahm er in dem Gesicht des Alten das unangenehme Lächeln der Schadenfreude wahr und eine Ahnung erregte sein Herz. Der Bauer grüßte schmunzelnd und sagte: »Nun, Tobias, hast du's zu Hause nicht mehr aushalten können? Es geht dir wohl recht schlecht jetzt bei euch, daß du zu uns herüber kommst?«

Er hatte recht geraten – der alte Esel wußte die Geschichte auch schon – der Teufel hatte in dieser Sache noch ein übriges getan. Allein jetzt war er im Zug, und schnell gefaßt erwiderte er: »Bei euch, wenn ich deswegen gekommen wär', tät' ich auch nicht viel profitieren; denn da gibt's so große Narren, wie ich seh', als bei uns!« Und rüstig schritt er vorüber, während der Alte und der Bube zusammen lachten. – Seine Wanderung hatte indessen ihr Ziel erreicht. Wenn es so stand, dann war's hier nicht besser als bei ihm, und er konnte wieder nach Hause gehen. Die Sonne neigte sich schon gegen Nordwesten – er drehte sich und ging langsam heimwärts. Gehend und zeitweise stehend und umherschauend, wußte er es so einzurichten, daß er just zur Dämmerzeit ins Dorf kam.

Auf dem Rückweg hatten sich Wolken erhoben, die den Schein der untergegangenen Sonne verdeckten – es war ziemlich dunkel, als er die Hauptgasse entlang ging. Dennoch erkannte er sogleich eine Gestalt, die langsam gegen ihn herwandelte und die ihm Gott entgegensandte – die Bäbe. Nach gewechselten Grüßen begann das Mädchen in melancholischem Ton: »Es ist gut, daß ich dich treff': uns ist das Ärgste passiert, was hat passieren können!« – »Was?« rief Tobias auffahrend, »geht das so fort? – Nun?« – Die Bäbe versetzte: »Wie ich dich im Pfarrhaus den Gang hintergetragen hab', sind wir gesehen worden – von der Pfarrerin.« – »Von der Pfarrerin!« wiederholte Tobias. »Also daher kommt's!« Und mit dem Humor der Verzweiflung setzte er hinzu: »Nun – und was weiter?« – »Den anderen Morgen hat sie mir's vorgehalten und mir den Dienst gekündigt.« – »So!« erwiderte der Schneider. »Und mich hat mein Vater aus dem Pfarrhaus kommen sehen, hat mir aufgepaßt und mich geschlagen, bis er genug gehabt hat!« – »Ach du armer Tobias!« rief die Bäbe und faßte ihn mitleidig bei der Hand. – »Und die Leute wissen alles, die Ledigen haben heut ihren Spott mit mir gehabt im Wirtshaus und haben mich beinah' aus der Haut heraus geärgert – in drei Tagen wird man im ganzen Ries davon reden!« – »Da haben wir's,« versetzte die Bäbe. – »Wer hätte gedacht, daß es uns so unglücklich ginge!« – Im Tone seines desperaten Humors fuhr der Schneider fort: »Was kann uns denn jetzt eigentlich noch passieren?« – »Nicht viel mehr,« antwortete die Bäbe. – »Das mein' ich auch,« sagte der Bursche.

Schweigend sah er vor sich hin. Nach einer Weile richtete er seinen Kopf empor, seine Augen erweiterten sich und er rief: »Nun paß auf, was ich dir sag'! Ich hab' um dich Angst ausgestanden; ich hab' Schläg' ausgehalten und Schande verschluckt an allen Ecken und Enden. Jetzt bin ich fertig mit der Welt – und jetzt sag' ich dir: du, die Bäbe, die hier vor mir steht – du wirst mein Weib und keine andere!« – »O du guter Tobias,« rief die Bäbe, halb anerkennend, halb nicht zu glauben wagend. – »Bäbe,« rief der Schneider, »ich verlang', daß du mir glaubst! Meine Geduld ist am End' – kein Mensch geht mich jetzt mehr was an als du, und um keinen Menschen kümmer' ich mich jetzt mehr was! – Ich bin vierundzwanzig Jahr alt, ich hab' mein eigenes Vermögen, wenn's auch wenig ist, und kann tun, was ich will. Und ich sag' dem Alten auf, ich verlang' mein Geld heraus und wir gehen miteinander fort in die weite Welt!«

Die Augen des Mädchens richteten sich freudig und liebend auf den Schneider. »Wenn du das könntest,« entgegnete sie, »dann wär' noch nichts verloren. – Du weißt, daß ich mir noch was ausgedacht hab', was ich dir noch immer nicht hab' sagen können. Wenn du wirklich so denkst, dann können wir's miteinander tun und die Leut' hier auslachen.« – »Bravo,« rief Tobias. »Hier meine Hand! Was ich gesagt hab', geschieht!« – Die Bäbe drückte seine Hand und rief: »Ich dank' dir! – Aber dort kommen Leute, und ich soll noch Milch holen. – Gutnacht! Für heut ist's genug!«


5.

Die Wolken, die sich erhoben und das kurze Gespräch unseres Liebespaars begünstigt hatten, brachten ein nächtliches Gewitter, und dieses hatte eine Reihe von Regentagen zur Folge. Die Bauernfamilien sahen sich auf Arbeiten in Stube und Stadel angewiesen und lebten jede möglichst für sich. In solcher Zeit bietet das Dorf einen öden, ungeselligen Anblick. Man sieht nur selten Leute über die Gasse gehen, und diese nicht im vorteilhaftesten Aufzug; Weiber, die den veralteten Oberrock wie eine Kapuze über den Kopf gezogen haben, Männer in abgebleichtem Zwilchkittel und bräunlich gewordenem Schaufelhut. Die grauschmutzigen Wege und Plätze mit größeren und kleineren Regenlachen gewähren kein erfreuliches Bild und das regelmäßige Prasseln und »Pflatschen« macht auf die Dauer einen kaum anders als langweilig zu nennenden Eindruck. Glücklich diejenigen, die ihr Vergnügen nicht außen zu suchen haben, sondern in sich selbst und bei den Ihrigen finden! Solchen freilich klingt der fallende Regen wie Musik, und das bescheiden graue Tageslicht tut ihren Augen wohl; denn wer bei sich selbst daheim ist, dem wird alles heimlich.

Unser Bursche saß am Schneidertisch und nähte. Er war nicht glücklich; aber infolge des gefaßten Entschlusses und des Abschlusses mit der Welt hatte doch eine gewisse Zufriedenheit in ihm Platz genommen. Der dunkle Himmel und das eintönige Geprassel harmonierten mit seiner Stimmung und schufen ihm ein düsteres Behagen. Ergebung und Hoffnung erfüllten sein Herz; er wußte, was er zu tun hatte, und brauchte sich darum auch nicht zu eilen, sondern konnte sich vorderhand noch ganz ruhig gehen lassen. Zuweilen sah er von seiner Arbeit auf und betrachtete gedankenvoll die herabstürzenden Tropfen, die ihn wie ein bewegtes Gitter von der Außenwelt schieden und einfriedigten.

Wenn er die Ausführung seines Entschlusses vertagte, hatte er nicht ganz unrecht. Einen Bruch mit seinem Vater gab's zwar immer; aber es war doch nicht einerlei, ob er unter gelinderen oder heftigeren Formen statthatte. Dermalen war für die Antragstellung in der Tat die ungelegenste Zeit. Der Alte zeigte sich in den tiefsten Unmut versunken und ging mit einem Gesicht herum, das auch einem anderen scheugebietend vorgekommen wäre. Er hatte seinerseits erfahren, daß man die Streiche des Burschen und seine Abstrafung kannte und daß sie beide in den Mäulern der Leute herumgetragen würden. Er mußte sich denken, daß auch die Sibylle unterrichtet sei und daß die Hoffnung, den Burschen mit ihr zu verheiraten, auf den schwächsten Füßen stehe. Die Schande der Familie war dem Mann, der nach außen eine Art von Würde behauptet hatte, ebenso empfindlich, wie der mögliche Verlust eines schon besessenen Vorteils ärgerlich und die Ungewißheit der Lage peinlich. Wer hätte an eine solche Person Worte richten mögen, welche die gärenden Stoffe zur Eruption bringen mußten? Tobias konnte froh sein, daß der Alte nicht anfing; und er war es auch. Mit der Zeit wurde der Erboste ja doch anders – dann konnte man »in der Art« mit ihm reden und er nahm Raison an.

Vater und Sohn bedienten sich im unumgänglichen Verkehr der äußersten Einsilbigkeit und saßen meist beisammen oder liefen umeinander herum, als ob sie sich gar nichts angingen. Tobias nähte mit immer größerem Eifer und schien an nichts anderes zu denken als an die Stoffe, die unter seiner Künstlerhand Form gewinnen und Leute machen sollten. Auch durch Anreden von den übrigen Hausgenossen wurde er nur wenig gestört.

Kasper, in alle Vorgänge und üblen Erfahrungen des Tobias eingeweiht, fühlte ein entschiedenes stiefbrüderliches Vergnügen, das er nicht umhin konnte auf seinem Gesicht merken zu lassen. Die gute Walpurg dagegen empfand Mitleid, herzliches Mitleid. Der Streich, den Tobias gewagt, der Betrug, den er dem Vater gespielt hatte, schadete dem Burschen bei ihr nicht, sondern nötigte ihr im geheimen ein beifälliges Lächeln ab. Nach ihrer Meinung war er völlig im Recht; und wenn sie die Härte des Alten auch begriff, so wünschte sie doch lebhaft, der Streit möchte damit enden, daß der Tobias seinen Willen durchsetzte und die schöne Pfarrmagd kriegte. Zunächst suchte sie ihn durch die Teilnahme ihres Blicks, die Sanftheit ihres Tons beim Morgen- und Abendgruß und, wenn sie mit ihm allein war, durch Anspielungen zu trösten, die ihn das Beste hoffen ließen.

Dem Regenwetter folgte ein »Saumwetter«, d. h. eines, das vorbereitende Arbeiten auf der Wiese gestattete, aber mit der Einheimsung der Frucht zu säumen gebot, weil kleinere Regenschauer die völlige Trocknung verhinderten. Die Notwendigkeit, das schon ziemlich verdorbene Heu noch ein paarmal umzukehren, war nicht geeignet, den Humor des Alten zu verbessern und sein Gesicht aufzuklären; der Sohn fand für gut, das entscheidende Gespräch noch weiter zu vertagen und in jeder Beziehung erst gutes Wetter eintreten zu lassen.

So verging beinah' eine Woche, in der unsere Geschichte um keinen Schritt vorwärts rückte. Tobias sah weder die Bäbe noch die Sibylle, und Bekannte, die ihm begegneten, verrieten lange nicht mehr das Interesse der sonntäglichen Schadenfreude, sondern gingen meist teilnahmlos an ihm vorüber. Die Ruhe seines resignierten Herzens wurde durch nichts gestört, als an einem der letzten Tage durch eine Begegnung der Pfarrleute. Diese kamen miteinander, ohne daß seine Seele daran dachte, hinter einer Hausecke hervor, und der überraschende Anblick versetzte den Unvorbereiteten in eine Aufregung, die ihn fast ganz aus der Fassung brachte. Auszuweichen und zu tun, als ob er sie nicht sähe, war unmöglich; er mußte ihnen entgegen- und an ihnen vorübergehen. Nach einem flüchtigen Blick in das Gesicht der Pfarrerin, dessen Ernst ihm nichts Gutes anzukündigen schien, zog er die Kappe, und legte in Ton und Gebärde des Grußes die demütigste Verehrung zur Schau, während der Tumult seines Herzens den höchsten Grad erreichte. – Zehn Schritte weiter erkannte er, was ihm trotz aller Vorsätze wieder begegnet war. Er sagte zu sich: »Hilft also gar nichts an mir?« Traurig schüttelte er den Kopf.

Am Samstag, bei lebhaftem Nordost, trennten sich die Wolken in weißliche Haufen und der kundige Bauer hoffte auf schöne Tage. Als die Schneiderfamilie beim Mittagessen saß, begann der Alte zur Walpurg: »Ich sollt' eigentlich heut noch in die Stadt (d. h. nach Nördlingen); ich brauch' allerhand Sachen; aber ich hab' keine rechte Lust dazu.« Die Meinung war, daß die Haushälterin statt seiner die Einkäufe machen sollte. Tobias bemerkte ruhig und bescheiden: er wolle hineingehen, denn er habe auch für sich etwas anzuschaffen. Nach kurzem Besinnen erwiderte der Alte: »Meinetwegen.« Er nannte ihm die Bedürfnisse für Handwerk und Landwirtschaft, zählte ihm Geld vor, und Tobias machte sich auf den Weg.

Auf dem hübschen Fußpfad, der schon wieder trocken war, durch Wiesen und durch Felder, auf denen das üppige Getreide, durch den Regen gebeugt, streckenweise am Boden lag, wanderte der junge Schneider der Zierde des Rieses, dem großen, schönen, grauen Turm der Hauptkirche von Nördlingen entgegen, jetzt still gedankenlos, dann wieder »sinnierend«. Den Gegenstand seiner Erwägung bildete der Vorsatz und dessen mögliche Folgen. Wenn er seinem Vater aufsagte und sein Vermögen herausbekam, brachten sie wenig zusammen – sehr wenig, zum Hausen fast zu wenig; denn die Bäbe hatte bis jetzt nur etwas über hundertundfünfzig Gulden erspart. Freilich war sie geschickt, arbeitsam und brauchte wenig; aber mit dem gemeinsamen Vermögen konnten sie auch nicht eine mittelmäßige Sölde kaufen, ohne bedeutende Schulden zu machen; und wenn dann Kinder kämen –! – In seinem Innern stieg der lebhafte Wunsch auf: er möchte mit dem Vater gütlich auseinanderkommen und ihn bewegen, ein übriges zu tun; denn das konnte der Alte, wenn er wollte. – Die Notwendigkeit, mehr Geld zusammenzubringen, erschien ihm so dringend, daß er bei sich ausmachte, sein Gesuch bescheiden vorzutragen, etwaige harte Reden sich gefallen zu lassen und alles zu versuchen, um das väterliche Herz zu erweichen. Es handelte sich um das Glück der Bäbe, und da war es keine Schande, zu tun, was die Klugheit gebot! Der Auftritt konnte arg, sehr arg werden – der Alte konnte sich lange »spreißen«; aber Aussicht auf endlichen Erfolg gab unstreitig auch der Umstand, daß der Plan mit der Sibylle durch das Bekanntwerden seiner Geschichten doch gewiß einen bedeutenden Riß erhalten hatte.

Die Stadt lag vor ihm. Der Gang durch die auch nachmittags noch immer belebten Straßen und der Besuch der verschiedenen Kaufläden, nebst Fragen, Sehen und Feilschen zog ihn von den bisherigen Gedanken ab und machte ihn ganz zum praktischen, seinen Vorteil erwägenden Bauer. Nachdem er alles möglichst wohlfeil eingekauft hatte, schlenderte er zufrieden durch die Straßen, grüßte und wurde gegrüßt und freute sich der Stadtleute wie der Bauern, die ein gemütliches Wort für ihn hatten. Endlich empfand er einen soliden Durst, und da er erfragt hatte, daß gegenwärtig das beste Bier der Lammwirt schenke, kehrte er bei diesem ein.

Er setzte sich in eine Ecke und bemerkte mit Vergnügen, daß kein Mensch aus seinem Dorf in der Stube war, den die Langeweile vielleicht getrieben hätte, ihn durch Aufziehen aus seiner Ruhe zu stören. Das Bier war vortrefflich, ebenso stark als angenehm schmeckend, und er leerte ziemlich schnell seinen Maßkrug. Während des Laufens hatte sich auch das Mittagessen wieder in ihm »gesetzt«, er fühlte nach Stillung des Durstes Appetit, aß zwei Groschenwürste und einen »Kemmicher« (Weißbrot mit Kümmel bestreut), ließ sich noch eine Maß geben, und hatte ein Wohlgefühl wie seit langer Zeit nicht.

Als er so dasaß, kam eine Person aus seinem Dorf, aber eine ungefährliche – ein gutes altes Weiblein. Tobias rief ihr gleich freundlich zu, sie möge sich zu ihm setzen. Die Alte zeigte sich von einem ungewöhnlichen Vergnügen belebt, und wie sie am Tisch ankam, rief sie: »Ach Tobias, es ist gut, daß ich dich treff'! – Aber ich hab' eine Freud'!« – »Nun,« fragte der Schneider die Witwe, die sich neben ihn setzte und ihre Röcke auf der Bank zurechtzog, »was ist denn gut's angekommen?« – Die Alte langte in ihre Seitentasche, zog ein zerknittertes Papier heraus und sagte: »Was meinst jetzt, daß ich da hab'?« – »Einen Brief,« erwiderte Tobias. – »Ja, aber von wem und woher?« – »Nun, vielleicht von Eurer Rebeck' aus Augsburg?« – »Nein, von meinem Andres aus Amerika!« – »Was nicht noch!« rief Tobias. »Und der schreibt also gut!« – »O ganz gut,« versetzte die Alte; »er verdient sich ein schönes Geld und lebt wie ein Graf. Da, lies selber!« – Der Schneider, teilnehmend und neugierig, nahm, entfaltete bedachtsam und fing an zu lesen, und zwar, für sich und das Weib, mit halblauter Stimme.

Der Brief war aus einem kleinen Ort in Michigan. Der Schreiber, der im Ries Bauernknecht gewesene Andreas Holl, meldet, daß er endlich einen Platz gefunden habe ganz nach Wunsch, und gibt zunächst eine Schilderung der Überfahrt. Für den Sohn des Rieses, wo auch die geringeren Leute verhältnismäßig nicht schlecht leben und insbesondere auch die Ehehalten ihre Anforderungen zu steigern beginnen, ist es charakteristisch, daß er sich über die Schiffskost aufhält und von Erbsen und Bohnen sagt, man hätte mit ihnen schießen können! Die Fahrt, ohne besondere Abenteuer, währte lang'. »Sechsundsiebzig Tage mußten wir auf dem Wasser herumschwimmen, aber dann kamen wir nach Quebec in der Früh', wo die Sonne aufging; das schaute uns herrlich entgegen, da war Freude auf dem ganzen Schiff!« Nach einer Schilderung seiner weiteren Erlebnisse, woraus hervorgeht, daß er erst nach Versuchung mehrerer den ihm entsprechenden Dienstherrn gefunden hat, fährt er fort: »Nun geht's mir so gut, daß ich's fürs erste gar nicht besser wünsche. Aber in Amerika denkt man nicht dran, immer zu bleiben, wo man ist; denn da kann's einem immer besser gehen, und Gott weiß, wie weit man's noch bringen, und was man da am Ende noch werden kann. Denn da ist kein solches Lumpenleben wie bei Euch in Deutschland!«

Als Tobias so weit gekommen war, hielt er inne. Der Andres war in der Schule einer der besten gewesen, obwohl nicht so fleißig wie er – ein gescheiter, lustiger, später indes zum Leichtsinn, zum »Prangen« (Prahlen) und Rechthaben geneigter Bursch, der nicht überall guttat und schon im Ries mehrfach die Plätze gewechselt hatte. Daß er nun so schreiben konnte, war doch auffallend! Das hatte alles Händ' und Füß' und klang so vornehm! Der Stolz namentlich in der letzten Zeile flößte ihm Respekt ein und erregte sein ganzes Wesen. Er sah mit Ernst auf den Tisch. Die Alte, die aus dem Bisherigen nur das Geschick und Glück ihres Sohnes herausgehört hatte, war erfreut, gerührt, und ermunterte, noch mehr begierig, zum Weiterlesen.

Tobias las eine Schilderung des Dienstes. Wie er an die Summe kam, welche der Andres täglich erhielt, entfuhr ihm ein Schrei der Überraschung – es war viermal so viel, als er im besten Fall mit der Nadel verdiente! »Was muß das für ein Land sein!« murmelte er und las weiter. »Das Leben ist freilich auch teurer als bei Euch; aber man lebt besser und kann sich doch noch etwas ersparen. Wer etwas gelernt hat und brav arbeitet, der muß hier vorwärts kommen, es kann sich gar nicht fehlen – besonders, wenn einer ein Handwerk versteht und die Landwirtschaft dazu! Dann ist sein Glück so gut wie gewiß!«

Der Schneider hielt wieder inne. Die letzten Zeilen waren ihm wunderbar durch die Seele gegangen – er verstand ja ein Handwerk und die Landwirtschaft dazu! Er war ja derjenige, dessen Glück in dem Lande gewiß war; denn fleißig und arbeitsam war er ja auch! – Sein Gesicht erhielt einen mutigen Ausdruck, er erhob den Kopf und zu der Alten gewendet rief er nachdrücklich: »Euer Andres hat den Gescheiten gemacht – das sag' ich Euch!« – »Ja du lieb's Gottele,« erwiderte das Weib, »wenn's nur alles so ist, wie er schreibt! Nun, wir wollen das best' hoffen!«

Tobias, den Umstand benutzend, daß sie an ihrem Tisch allein saßen und auch der benachbarte leer geworden war, las den Schluß des Briefes mit erhöhtem Ton und einem Ausdruck, der dem Inhalt entsprach. Er lautete:

»Ja, ein anderes Leben hat man schon hier wie bei den Bauern in Deutschland. Wie sich mancher Dienstbote von frühmorgens bis in die Nacht plagen muß, um seine etliche Kreuzer, wo er verdient, es ist wirklich bedauernswert, wenn man zurückdenkt. Dem Pfarrer und Beamten muß der Bauersmann das Geld hintragen, wo er das ganze Jahr mit seinem Schweiß verdienen muß. Das ist in Amerika nicht; da leben wir so gut jede Mahlzeit wie die Herren Beamten in Deutschland. Solang' der Bauer bei Euch noch einen Kreuzer im Beutel hat, solang' ist er immer zufrieden und gibt her, was er hat; da kann man freilich dem Dienstboten nicht so viel Lohn geben. Bei uns, was einer sich mit Rechtem erworben hat, das gehört ihm, und er läßt dann seinen Dienstboten so viel zukommen, daß sie mit der Zeit auch Herren werden können. Wo will bei Euch daheim einer weiterkommen? Wenn einer ein armer Teufel ist, dann bleibt er es eben sein Lebtag! – Hier ist auch keine Polizei und kein Gendarm; wenn wir gerade beisammensitzen des Nachts, gehen wir heim, wenn es uns freut, manchmal spät, auch manchmal früh. Hier gibt's keinen Unterschied unter den Menschen, einer ist so gut wie der andere. Mein Herr muß mir die Ehr' antun, wie ich ihm; er zahlt mir den Lohn, ich tu' ihm die Arbeit, und im übrigen sind wir gleich, wie's auch recht ist. Der Beamte ist hier unser Beamte, und muß tun, was uns zum Nutzen ist und was wir gerne sehen; und grad so der Pfarrer auch. In Amerika hat man keinen Respekt vor so einem, als ob's unser Herrgott selber, wär'! Man läßt sich von ihm unterrichten, aber nichts dreinreden und befehlen. Wenn der Bauer in Deutschland zum gnädigen Herrn aufs Gericht muß, da schlottern ihm die Knie; und wenn ihn der Pfarrer einmal krumm ansieht, da meint er, er hätt' ein Verbrechen begangen und er wär' ein schlechter Kerl. Wie können die Menschen nur so einfältig sein! Ist nicht einer den anderen wert, und muß sich nun einer fürchten vor dem anderen und sich abängstigen aus lautet Dummheit? Solch elende Leut' sollte man nach Amerika schicken, da würden sie bald anders werden! Ich hab' die Herren grad nicht so arg gefürchtet, wie mancher andere, aber doch noch viel zu viel, und ich kann jetzt gar nicht begreifen, wie ich so ein Narr hab' sein können! Was der Mensch aus sich macht, das ist er! Wer seinen Charakter nicht behauptet, ist ein Tropf und an seinem Elend nur selber schuld! – Liebe Mutter und Geschwister, ich zweifle daran, Deutschland noch einmal zu sehen; ich wüßte nicht, was ich draußen tun sollte. Den Herren einen Sklaven machen? – Nein, das tu' ich nicht, und ich danke Gott, daß er mir dies eingeprägt hat. Lebt alle wohl und gesund; mit dem nächsten Brief will ich Euch ein Päckchen Taler schicken, und lang' wird's nimmer dauern, so kann ich Euch auf mein Gut nach Amerika einladen!«

Dieser im ersten Amerika-Stolz geschriebene und schon eine gewisse Journalbildung verratende Brief übte auf unseren Schneider die tiefste Wirkung. Das Selbstgefühl des Andres erhob seine Seele, die verachtungsvollen Ausdrücke über die Furchtsamen trafen ihn ins Herz; aber er las sie nicht kleinlaut, sondern mit Kraft, denn er wollte sich ja strafen durch die Wahrheit! Indem er die Schwäche seines Wesens mit dem neuen Amerikaner verdammte, tilgte er sie weg und konnte völlig eins werden mit ihm. Die letzten Sätze las er mit einer Miene, als ob er der Andres selber wäre und als ob sich die Herren im Ries nun vor ihm zu verkriechen hätten. Nachdem er eine Minute bedeutsam geschwiegen, gab er der Witwe den Brief zurück und sagte: »Der Andres ist ein Mann, vor dem man Respekt haben muß. So ist's, wie er sagt, und nicht anders!« – »Nicht wahr?« versetzte die geschmeichelte Mutter; »er schreibt beinah' so schön wie ein Pfarrer!« – »Bah,« entgegnete Tobias verächtlich, »wie ein Pfarrer! Die wann so schreiben könnten, ja, dann wär's gut! Aber so kann man nur in Amerika schreiben, sonst nirgends in der ganzen Welt!« – Er ergriff den Krug, dem er schon während des Lesens zugesprochen hatte, und leerte ihn mit einem Zug, heroisch wie seine Empfindungen. Dann zahlte er und fragte die Alte, ob sie mit ihm nach Hause gehen wolle. Diese war mit der Halben, die sie sich hatte bringen lassen, gleichfalls zu Ende und freute sich, auf dem Heimweg »einen Unterhalt« zu haben.

Wie sie hintereinander den Fußweg hingingen, der sie nach Hause führte, war die Unterhaltung doch nicht so groß, wie das Weib gehofft haben mochte. Den Geist des Schneiders beschäftigte das Gelesene. Er sah mit rotem Gesicht schweigend vor sich hin; zuweilen erhob er den Kopf, blickte stolz und wild in die blaue Luft und nickte gewichtig. Schon hatten sie die Hälfte des Weges hinter sich, als er endlich den Mund öffnete und seine Gedanken verratend sagte: »Das muß ein merkwürdiges Land sein, das Amerika! Euer Andres hat mit der Sprach' gut fort gekonnt, schon wie er noch hier gewesen ist; aber so einen Brief schreiben! – solche Dinge sagen! Das muß ja eine Luft dort sein, wo einem die Dummheit von selber vergeht und wo man gescheit und couragiert wird im Schlaf!« – »Ja, ja, 's ist wahrhaftig wahr,« erwiderte die Alte; »wer hätte das geglaubt?« – Tobias fuhr fort: »Und Geld verdient man sich auch mehr, als der Brauch ist? Kreuzsakerment – da begreift man ja gar nicht, warum noch ein Mensch bleiben mag in dem Deutschland da? – »'s ist schier so,« versetzte das Weib; »aber es kann halt auch nicht gleich jedes so fort, wie's will.« – »So ist's,« bemerkte der Schneider. »Mancher könnt' aber wohl fort und ging auch fort, wenn er wüßt', wie's wär'! – Ich glaub', es werden noch viele hineingehen von unserer Gegend.« – »'s kann wohl sein,« versetzte die Alte. – Tobias verstummte wieder und verharrte in seinem Schweigen, bis sie ans Dorf kamen.

Als sie in die Gasse einbogen, kam ihnen der geistliche Herr entgegen, der den schönen Abend zu einem Spaziergang benutzen wollte. Tobias beschloß sogleich zu handeln, wie es seinen jetzigen Ansichten entsprach; vorübergehend rückte er nur ganz leicht den Hut und sagte: »Guten Abend, Herr Pfarrer,« in einem Ton, als ob er einen Kameraden grüßte. Der alte Herr war zufällig in Gedanken und konnte also die Großtat gar nicht würdigen; den Burschen laufen lassend, dankte er der Witwe, die sich vor ihn hingestellt und ihn mit einem förmlichen tiefen Knix geehrt hatte, freundlich und richtete, bevor er weiter ging, einige wohlwollende Fragen an sie, die sie demütig beantwortete. Tobias wartete und sah die Nachkommende mit einem Blick an, als wollte er sagen: »O du gute Alte – wie wenig hast du den Brief deines Sohnes begriffen!« – Auf dem Weg, den sie noch miteinander zu machen hatten, fand er seinen ruhigen Ernst wieder, gab dem Weibe zum Abschied die Hand und sagte: »Ich dank' Euch, daß Ihr mich den Brief habt lesen lassen. Ihr habt mir einen Gefallen getan, wie mir kein Mensch einen größeren hätte tun können!«

In seine Stube eintretend, fand er den Vater allein. Er grüßte ihn leicht, zeigte ihm die gekauften Sachen und empfing dafür seine Anerkennung, denn sie waren gut und billig erworben. Nachdem der Alte das Lob gespendet, verriet er eine eigentümliche Unruhe und eine Verlegenheit, als ob er nicht recht wüßte, was er nun tun, ja nicht einmal, was für ein Gesicht er machen sollte. Er rückte mehrmals an der alten Pelzkappe, die er im Hause trug, stellte sich dann zum Fenster und sah durch zwei Geranienstöcke, womit »der Sims« geziert war, auf die Gasse hinaus. Tobias betrachtete ihn und schüttelte den Kopf; er war seinerseits mit einem Vorsatz gekommen, überlegte nun, wie er die Sache einleiten sollte, und war eben daran, das Wort zu ergreifen, als der Alte sich umdrehte und entschlossen begann: »Hör', wir müssen heut noch ein ernsthaftes Wort miteinander reden. – Ich hoff, du kannst etwas Vernünftiges anhören?« – »Das schon,« erwiderte Tobias verwundert. »Grad heut!« – »Das ist gut,« versetzte der alte Schneider. »Also kurz von der Sach' g'red't! – Der junge Schuster hat heut vormittag um die Sibylle anhalten lassen, die hat aber nicht ja gesagt, sondern sich drei Tage Bedenkzeit ausgebeten, weil sie dich immer noch lieber hat und hofft, daß du jetzt, wenn du den Ernst siehst, deinen dummen Handel mit der Pfarrmagd lassen und zu ihr kommen wirst. Das hat mir einer gesagt, der von dem Weber dazu den Auftrag gehabt bat. Der Weber gibt auch das Haus ab, und noch dazu weit billiger, als ich gedacht hab'. Also entschließ dich kurz, zieh dich an und wir machen den Handel heut noch richtig.« – Tobias hatte mit steigender Verwunderung gehorcht; jetzt verzog er den Mund zu einem spöttischen Lächeln und erwiderte spielend: »Ich glaub's nicht! Das machst du mir nur vor!« – »Ich mach' dir nichts vor,« entgegnete der Vater streng. »Was ich sag', ist die lautere Wahrheit!«

In der Tat verhielt es sich so. Die Sibylle, die von dem Verhältnis des jungen Schneiders zur Bäbe keine Ahnung gehabt und immer hoffend gewartet hatte, war freilich tief beleidigt durch die Streiche, die sie von ihm erfuhr, und verachtete ihn drei Tage lang von ganzem Herzen. Nach und nach trat aber doch die alte Neigung wieder hervor, sie dachte sich das Zusammenleben mit dem hübschen, bösen Menschen angenehmer als jemals und freute sich, daß die Anfrage des jungen Schusters ihr Gelegenheit gab, gegen die hergelaufene Person noch mit allen ihren Vorteilen ins Feld zu rücken. Sie sprach kräftig mit dem Vater, hielt ihm namentlich den wichtigen Umstand vor, daß Tobias wenigstens zweihundert Gulden mehr Heiratsgut bekommen werde als der Schuster, daß die Geschichte mit der Pfarrmagd eine Dummheit sei, wie sie der Schuster wohl auch schon gemacht haben werde, daß man solche Sachen verzeihen müsse, besonders weil der gute Mensch gewiß nur von der Person verführt worden sei, und daß Tobias, wenn man ihn wieder ins rechte Geleis bringe, der beste Ehemann sein werde. Sie überredete den Weber, das Haus abzugeben, wie sie's für billig fand, indem sie die schönsten Versprechungen machte – kurz, sie lenkte den Handel so praktisch, wie man es von einem Dorfmädchen gewöhnlichen Schlags nur immer erwarten konnte. Den Unterhändler, der zum Schneider gehen sollte, belehrte sie selbst, und hoffte um so mehr auf einen guten Ausgang, als sie doch glauben mußte, daß es am Ende Vater und Sohn lieb sein würde, auf diese Art mit einem Mal aus dem wüsten Gerede und aus der Schande zu kommen. – Bei dem Alten traf sie es. Dieser atmete auf, als er die Kunde vernahm, die der Mittelsmann natürlich nur als von ihm ausgehend brachte, ohne indes dem Schneider die Wahrheit verbergen zu können. Er sprach mit würdigem Ernst seinen Dank aus und beschloß augenblicklich, zur Erreichung dieses guten Zwecks von allen Mitteln seines väterlichen Ansehens Gebrauch zu machen. Wie gewalttätige Menschen sich an eine beinahe schon verlorene Sache um so hartnäckiger anklammern und meinen, gerade jetzt müsse sie noch gewendet und gerettet werden können, so empfand der alte Schneider eine förmliche Wut, seinen Willen durchzusetzen und sich durch den Sieg über den Burschen für allen Verdruß der letzten Zeit schadlos zu halten.

Als Tobias auf die erste Erklärung nicht gleich antwortete, fragte der Alte: »Nun, werd' ich was hören?« – Der Sohn zuckte die Achseln und erwiderte lächelnd: »Vater, du hast's heut schlecht getroffen!« – »Wieso?« rief der Alte, indem er ihn staunend ansah, »schlecht getroffen?« – »Ja,« versetzte Tobias; »weil du mich heute weniger als jemals dazu bringen wirst, diese einfältige Person zu heiraten.« Der Vater betrachtete ihn von oben bis unten, trat dann einen Schritt näher und sagte mit tiefem Ernst: »Tobias, ich rat' dir's in Gutem, mach mich nicht zornig. Ich versteh' heut gar keinen Spaß, und du hast mich noch lange nicht kennen lernen, wie ich eigentlich bin! Das kann ich dir sagen!« – Tobias, der seinen Kopf erhoben, entgegnete: »Und du hast mich auch noch nicht kennen lernen, wie ich eigentlich bin!« – Der Alte machte ein Gesicht wie einer, den seine bisherigen Begriffe zu verlassen anfangen. »Was ist denn aber das?« rief er endlich. »Wo nimmt denn der Mensch auf einmal die Unverschämtheit her?« – »Ja,« erwiderte Tobias mit halbem Lachen, »das glaub' ich schon, daß du dich darüber wunderst!« Ernster setzte er hinzu: »Ich hätt' mich eben früher schon so benehmen sollen gegen dich. Es ist eine Dummheit gewesen, daß ich mich vor dir gefürchtet hab', ein reiner Unsinn! – Das hat aber jetzt ein Ende!« – Das Staunen und die Entrüstung des Alten erreichten den höchsten Grad. Auf einmal ihn von der Seite betrachtend, rief er verächtlich: »Hast du ein Glas Bier zu viel getrunken und spielst jetzt den großen Hansen? – Dem will ich abhelfen!« Mit heftig strengem Ton und den Arm gebieterisch ausstreckend, rief er: »Zieh dich an! Es ist die höchste Zeit, daß wir hingehen! – Schnell! Auf der Stell'!« – Tobias erwiderte ruhig und bestimmt: »Ich mag nicht!«

Jetzt verließ den Alten die bisher mühsam behauptete Geduld. »Wie,« rief er mit Wut und mit aller Verachtung der Wut, »wie, du willst dich gegen deinen Vater stemmen? Du elender Mensch! Du erbärmlicher Kerl! Du Tropf! Du Garnichts! Du willst –.« – Tobias war einen Schritt zurückgetreten und blaß geworden wie die Wand. Die so unsägliche Geringschätzung ausdrückenden Schmähreden waren wie vergiftete Pfeile in sein Herz gedrungen; bebend vor Entrüstung sah er den Alten an und rief: »Schimpf nicht so! Es ist eine Schand', wenn ein Vater so zu seinem Sohn red't! Pfui, was ist das für ein Benehmen! Was sind das für gemeine Manieren! Da sieht man schon –!«

Weiter konnte er nicht reden. Der Alte, aufs höchste erzürnt über die Widersetzlichkeit und über die Vorwürfe, die er von »seinem Buben« zu hören bekam, ging auf ihn los, um die ultima ratio der Despoten gegen ihn anzuwenden; aber Tobias trat rasch weiter zurück, ergriff schnell wie der Blitz die auf dem Tisch liegende große Tuchschere, erhob sie und schrie mit flammenden Augen: »Schlag mich nicht – oder es gibt ein Unglück!«

Der Alte hielt inne und starrte ihn an. Er war erschreckt – nicht von der Schere, obwohl die an rechter Stelle sehr gut treffen konnte – sondern von dem Anblick des Tobias. Bleich bis in die Lippen, schnaubend und zitternd stand er vor ihm. Aus den Augen blitzte rasender Grimm und aus dem Gesicht ging der tiefunheimliche Glanz eines bis zum Wahnsinn gereizten und rachewütigen Menschen. Der Vater, obwohl erzürnt, war doch nüchtern und sonst bei gesunden Sinnen – er trat zurück, wie der Vernünftige vor dem Tollen, indem er nur mit gedämpfter Stimme gleichsam für sich ausrief: »Das muß ich sagen!« – Mit ordentlicher Spannung sah er den Burschen an, mit dumpfer Neugier, was er nun beginnen werde.

Tobias ließ den mit der Schere bewaffneten Arm sinken, aber nur so weit, daß er gegen einen erneuerten Angriff immer gerüstet war, und mit einem Ton, der halb wütend, halb klagend und weinend klang, begann er: »Nein, es ist zu arg – es ist eine Sünd' und eine Schand', wie man mit mir umgeht! Von Jugend auf hat man mich verspottet, geärgert und geschlagen und alle sind zusammengestanden gegen mich! Daheim, wo man eine Hilf haben sollte, macht man mir's ärger als draußen – mein leiblicher Vater verachtet mich und schimpft und schlägt und stößt mich, wenn's ihm einfällt. Und ich bin der gute Esel und lass mir's gefallen und geb' nach, und was ist der Dank? Daß man ein Recht draus macht, daß man mich kommandiert wie einen Hund und traktiert wie einen Hund und auf mir herumtrampelt, als ob ich von unserem Herrgott extra dazu geschaffen worden wär'! Wenn ich alles tu', dann hab' ich nichts getan; und wenn ich einmal mucke, dann ist's ein Verbrechen, daß ich augenblicklich totgeschlagen werden muß! Jetzt, wo ich ins fünfundzwanzigste Jahr gehe, soll ich ein Mädchen heiraten, das ich nicht leiden kann, wegen seinem Bettelgeld, bloß weil's ein anderer haben will! Ich werd' gar nicht drum gefragt, ob ich sie auch mag oder nicht, ich bin der Garnichts und muß! Jeder hat ein Recht und eine Ehr' und einen Willen in der Welt, nur ich allein nicht! Ich bin also wirklich die erbärmlichste Kreatur auf Gottes Erdboden? Ein Kerl, der nichts kann und nichts darf, der nur zu tun hat, was andere haben wollen, und dafür Schläg' und Verachtung annehmen muß? Ein elender Mensch – ein Tropf? Ei, da soll ja gleich das Donner und d's Wetter alles zusammenschlagen! Kreuz Herrgott Millionen!«

Mit einem bis zur Sinnlosigkeit gesteigerten Grimm und einem Rachegefühl, das sich nur durch Vertilgung genügen konnte, sah er um sich und hieb mit der Schere in den Spiegel an der Wand, daß er in tausend Trümmer zersprang. Heiser schrie er: »Alles muß hin sein!« – ging über das benachbarte »Kantenbrett« her, und die Scherben von Krügen, Tellern und Schüsseln flogen klirrend auf den Boden. Er war förmlich rasend geworden. In einer Erregtheit, als ob alle Furien in ihm tobten, Schaum auf der Lippe, die Augen rollend, fuchtelte er mit seinem Instrument, schlug blind um sich, schlug die Hand in einen Splitter, daß das Blut heruntertroff, schimpfte und fluchte. – Die Maßlosigkeit des Gebarens, der giftige Blick, das Schäumen des Mundes und das Zucken der Glieder machte förmlich den Eindruck des Gräßlichen.

Der Alte hatte während der Rede nichts einzuwenden gefunden – er war von der Wahrheit, die in den Vorwürfen lag, getroffen. Als Tobias immer leidenschaftlicher wurde und endlich um sich schlug wie ein Besessener, erschrak er zu Tode, – er hielt ihn für wirklich verrückt und ging, kein Auge von ihm verwendend, rückwärts und rückwärts. Der Bursche drang nach und fuchtelte wild – der Alte sprang hinter den Ofen, ergriff einen Stuhl und hielt ihn als Schild vor.

So hatte sich denn das Blatt unerwartet, aber begreiflich gewendet. In dem entsetzten Alten waren Stolz und Zorn so ganz und gar der Angst gewichen, daß er nicht dazu kam, den Sohn in seinem Vertilgungswerke zu stören, obwohl der dadurch angerichtete Schaden ihm sehr empfindlich sein mußte. Nur als Tobias endlich auch die in der Nähe des Ofens aufgestellten »Milchscherben« (Töpfe) zerschlug, daß die »gestockte« Milch in der ganzen Stube herumflog, da rief er dringend, ja flehentlich: »Um Gottes willen, Tobias! Hör' auf! Bist du denn ganz rasend? Hör' doch auf! Ich bitte dich!«

Dieser Zuruf brachte den Fürchterlichen wieder zu einiger Besinnung. Durch die letzten Taten gekühlt, mit gestilltem Vernichtungsdurst, hielt er inne. Die Zornwogen sanken und Vernunft kehrte wieder in sein Haupt zurück. Als er nun aber umherschauend die Splitter und die Milchflocken auf dem Boden und den Vater seinen Stuhl vorhaltend hinter dem Ofen erblickte, da empfand er nicht Scham und Reue, vielleicht gar Schreck über das verübte Werk, nein, Stolz, höchsten Stolz – und die Süßigkeit der vollgesättigten Rache. Endlich hatte er seine Rede wahr gemacht und seinen Willen behauptet, nicht wie ein Esel, der sich schlagen ließ, sondern wie ein Löwe, der auf seine Gegner losgeht und alles in die Flucht jagt! Ein Gefühl durchdrang ihn, so herrlich wie niemals in seinem Leben – die Seligkeit eines durch Mut und Schlagkraft errungenen vollständigen Sieges! Und in dem Bewußtsein des Geleisteten erhellte ein Genius seinen Geist und gab ihm die Fähigkeit, den Sieg auch zu benutzen. Hatte die Springflut des Zornes ihm vorhin den Sitz des Verstandes überschwemmt, weggeflößt hatte sie diesen nicht; und als die Wellen sich verliefen, erhob er sich, wie von dem Bade gestärkt, mit erneuter Kraft, um das, was er seit Jahren versäumt, mit einem Schlage wieder gut zu machen.

Auf den nochmaligen Zuruf des Alten: »Hör' auf, ich bitte dich!« trat er, die Schere in der blutenden Rechten, zum Ofen und versetzte: »Ich will aufhören – weil du mich drum bittest! – Aber die Bäbe muß ich heiraten dürfen! – Mein Geld muß ich herauskriegen – was ich von der Mutter hab' und was mir von dir gehört! – Und tun muß ich dürfen, was ich will, nicht was andere Leut' wollen! – Kreuz Herrgott!« – Der Alte, der ihn bei diesen Worten aufs neue die Augen verdrehen sah und immer noch nicht sicher war, daß er's nicht mit einem wirklich Tollen zu tun hatte, entgegnete: »Alles, alles! Heirat' wen du magst, nimm, was dir gehört, und tu, was du willst!« – »Schwörst du mir's?« rief Tobias. – »Ich schwör' dir's,« erwiderte der Alte. – »Nun, dann ist's gut,« versetzte der Bursch und ließ den Arm mit der Schere niedersinken. Mit Stolz fügte er hinzu: »Ich bin alt genug, um selber einen Mann zu machen; ich hab' meinen Verstand (daß Gott erbarm'! dachte der Alte) und werde dir beweisen, was ich für ein Kerl geworden bin!« – Indem er ihn dabei ansah, fuhr er lächelnd fort: »So, geh jetzt nur wieder vor – ich tu' dir nichts!«

Der Alte, der den Stuhl in die Ecke gesetzt, ging langsam vor, indem er ihn scharf im Auge behielt; denn die Veränderung an dem Burschen war so vollständig, daß er noch immer nicht wußte, was er von ihm denken sollte. Tobias, mit einer Sicherheit, als ob er unnahbar geworden und ihm keine Gewalt der Erde mehr was anhaben könnte, legte die Schere weg. Seine Gesichtszüge milderten sich, seine Augen blickten in schönem Glanze immer verständiger, und das angenehmste Selbstbewußtsein sprach aus dem hübschen Gesicht. Ruhig ging er in die Küche, brachte eine Schüssel mit Wasser zurück, wusch sich die Rechte, nahm aus dem Wandschränkchen ein Pflaster heraus und beklebte die Wunde. Dann ergriff er die Schere, betrachtete die Waffe, mit der er so große Dinge getan hatte, einen Moment wohlgefällig, wusch auch sie und legte sie sorgfältig getrocknet auf den Tisch. Der Alte sah ihm schweigend zu; er sah das Vernünftige, Bedachtsame seines Tuns, er sah, daß er nickt nur nicht verrückt, sondern mehr als jemals bei gesundem Verstande sei. – Er hatte verspielt.

Wer das menschliche Herz kennt, weiß, daß der Streit damit in der Tat aus war. Der Alte hatte ein Versprechen gegeben, einen Schwur getan. Durch die Klagrede des Sohnes über sein eigenes Unrecht aufgeklärt, fühlte er zugleich, daß ein Mensch, der sich so benahm, ihm in dieser Sache nicht mehr nachgeben, und daß die Erneuerung seiner Gewaltsamkeit ihn zu nichts führen würde, als allenfalls zu häuslichem Unglück. Was aber die Hauptsache war – der Bursch hatte ihm Respekt eingeflößt; er hatte gezeigt, daß er sich auch rühren konnte, wenn man's ihm zu arg machte – daß er doch nicht bloß der Mutter nachschlug, sondern auch was von ihm hatte. Dieser Gedanke schmeichelte dem Vater und er konnte nicht umhin, gegen den »verfluchten Kerl« sogar eine gewisse Neigung zu empfinden. Zu alledem kam noch die Anmut des Sohnes, die Folge der wiedereroberten Ehre – die schöne Sicherheit, der kindliche Glaube, der aus ihm sprach, daß er sein Glück ein für allemal geschmiedet und von jetzt an nur gute Tage möglich seien. Wer hätte so brutal sein können gegen den Unbewaffneten der physischen Übermacht zu gebrauchen und ihn aus dem Himmel so schöner Freude wieder herabzustürzen? Ein normaler Rieser wenigstens nicht! In einem solchen stieg jetzt der Humor auf, der zu denken vermochte: Hol' die ganze Geschichte der Teufel!

Während Tobias die abgetrocknete Schere weglegte, sah der Alte mit tragikomischem Lächeln in der Stube umher. Aus die Splitter und Scherben deutend, sagte er: »Da kann ich mir jetzt eine neue Einrichtung kaufen!« – Der Sohn entgegnete mit Würde: »Das geht dich nichts an, Vater! Ich hab' die Sachen zerschlagen und ich schaff' sie auch wieder an – von meinem Geld!« – »So so,« versetzte der Alte. »Nun, du kannst freilich zahlen – du bist jetzt ein Kapitalist!« – Tobias sah ihn auf diese Rede zugleich schelmisch und gutmütig an und sagte: »Vater, nimm die Sach', wie sie ist. Du hast deinen Willen oft genug durchgesetzt, die Reih' hat auch einmal an mich kommen müssen. Bedenk, daß ich vierundzwanzig Jahr' alt bin, und daß es für dich eine größere Ehr' ist, wenn dein Sohn Haar' auf den Zähnen hat, als wenn er ein Tropf wär' und sich alles gefallen ließe. Beim Teufel! Courage muß man haben, dann setzt man seine Sachen durch! Du sollst sehen, wie's mit mir nun vorwärts gehen wird, und nicht reuen, sondern freuen wird es dich, daß du mir nachgegeben hast!« – Der Vater zuckte die Achseln und sagte: »Wir wollen sehen!«

Die beiden Schneider waren so ausschließlich mit sich beschäftigt, daß sie einen Trupp Menschen, der sich auf der Gasse angesammelt hatte, durch die freilich kleinen, etwas trüben, und überdies von Geranien verdunkelten Fenster entweder nicht wahrnahmen, oder wenigstens nichts darauf gaben. Jetzt aber mußten sie emporsehen – die Tür ging auf und die Walpurg trat ein, mit allen Zeichen des Schreckens in ihrem Gesicht.

Die Haushälterin war bei dem Krämer des Ortes, der am anderen Ende des Dorfes sein Haus hatte. Wie sie eben nach abgeschlossenem Kauf mit dem Weib desselben noch eine gemütliche Plauderei begann, ging ein Bauer vorbei, sah die unter der Tür Stehenden und rief: »Walpurg, macht, daß Ihr nach Haus kommt, sonst schlägt Euer Alter den Tobias noch gar tot! Es geht fürchterlich zu bei euch!« – »Um Gottes Himmelswillen,« rief das gute Weib und eilte, was sie eilen konnte. Wie sie den Haufen Menschen vor ihrem Hause sah, erschrak sie dermaßen, daß sie beinahe nicht mehr gehen konnte. »Nun,« rief sie einer Alten zu, »was ist's denn?« – »Jetzt ist's wieder ruhig,« sagte diese; »aber,« fügte sie mit einem Schauerton hinzu, »da ist's arg hergegangen! Weiß Gott, was du sehen wirst da drinnen!« – Die Walpurg bebte am ganzen Leibe; aber Pflichtgefühl und Neugier siegten über ihre Furcht und sie ging ins Haus.

Wie sie den Tobias dastehen sah, atmete sie auf: es war wenigstens nicht zum Totschlag gekommen! Aber sie sah die Zerstörung in der Stube, sie sah Milch und Blut auf dem Boden, sah das Pflaster an der Hand des Tobias – das Verbrechen des Alten war klar! Und nun mochte es gehen, wie es wollte – sie mußte reden und dem Alten sagen, was er für ein Mensch sei. Indem sie die tiefste Mißbilligung auf ihrem Gesicht ausdrückte, rief sie: »Ist jetzt das auch recht, sein eigenes Kind so zu behandeln – einen Menschen in dem Alter so zu schlagen, daß das Blut in der Stube herumläuft? Das ist gottvergessen! Und wenn Ihr mich gleich aus dem Haus jagt, so muß ich Euch sagen –« – Das Angesicht des Tobias hatte sich bei diesen Worten erheitert, und der Alte fiel mit humoristischem Unmut ein: »Sei ruhig mit deinem dummen Geschwätz! Ich bin froh, daß er mich nicht totgeschlagen hat, der Blitzkerl!« – »Ja, ja, Bas,« fügte Tobias lächelnd hinzu, »dasmal ist's anders gegangen, als Ihr meint. Ich hab' den Spieß umgedreht!« – »Ach, das ist nicht möglich!« rief sie. – »Nicht möglich?« fragte Tobias, indem er die Stirn runzelte. »Warum nicht möglich?« – »Nun weil –« entgegnete das Weib, indem sie lächelnd ihren Blick von ihm zum Vater gleiten ließ. – »So,« versetzte Tobias, »Ihr glaubt, daß ich nichts durchsetzen kann? Ihr haltet mich für einen elenden Kerl?« – »Gib dich drein, Walpurg,« rief der Vater, »und mach' ihn nicht bös, sonst geht es über dich her!« – »Ja, du lieber Himmel,« versetzte das Weib immer noch zweifelnd, »da muß sich ja dann die ganze Welt verwandelt haben!« – »Die ganze Welt nicht,« bemerkte der Sieger wieder freundlich, »aber ich hab' mich verwandelt, Bas! Ich hab' endlich getan, was ich schon lang' hätte tun sollen!« – »So?« versetzte die Walpurg, indem sie den Blick auf die Verwüstung richtete; »das muß ich sagen!« – Tobias, ihre Gedanken erratend, entgegnete: »Darauf kommt nichts an. Mit einer Karlin ist der Schaden wieder gut gemacht; was es mir aber genutzt hat, das würd' ich nicht um tausend Karlin hingeben! – So, klaubt die Scherben zusammen und macht dann, daß wir eine Suppe kriegen!«

Während das Weib die Trümmer auflas, öffnete die Türe sich wieder und Kasper trat ein – von einem Gang herkommend, den ihm der Vater aufgetragen. Auch er hatte die Leute vor dem Hause gefragt, aber schon eine weniger tragische Antwort erhalten, und er ging in die Stube mit der Aussicht auf die gänzliche Demütigung des Bruders. Als er diesen stolz und zufrieden neben dem Vater stehen sah, gaffte er ihn an. Tobias rief: »Ah, du kommst grad recht!« Und mit dem Blick eines Gebieters fügte er hinzu: »Hilf der Bas die Sachen zusammenklauben. Mach!« – Der Bube, mit entrüstet trotziger Miene, sagte: »Klaub du nur selber zusammen!« – Da ging Tobias auf ihn zu, erhob die Rechte und rief: »Willst du gleich helfen, dummer Bub', oder ich geb' dir eine Ohrfeig', daß du den Himmel für eine Baßgeig' ansiehst!« – Kasper, der den Bruder entschlossen, den Vater unbeweglich sah, bekam eine Ahnung von dem Stand der Dinge, ging knurrend beiseite und gehorchte. Nachdem so ziemlich aufgeräumt war, eilte die Walpurg aus der Stube. Bald ließ sich auf der Gasse ein Gemurmel hören nebst Ausrufungen der Verwunderung, und der Haufe zerstreute sich. Die Alte kam dann mit einem Kübel voll Wasser und einem Waschlappen zurück und begann die völlige Reinigung der Stube.

Nach einer guten halben Stunde saß die ganze Familie friedlich beim Abendessen. Alle Spuren der Zerstörung waren verwischt – die Stube frischer als vorher und so heimlich als jemals. Tobias hatte die Zeit zu seiner Exekution insofern gut gewählt, als am Samstag Boden, Tisch und Bänke ohnehin geputzt werden mußten; es machte kaum besondere Arbeit nötig und die Haushälterin konnte noch am Tag die Suppe auftragen. Die gute Alte war nach ihm am vergnügtesten. Über die Ereignisse des Abends in der Hauptsache unterrichtet, freute sie sich herzinniglich, daß ihr geheimer Liebling den bösen Alten so »gekriegt« hatte und seinen lieben Schatz zum Weib haben sollte. Einen ganz besonderen Spaß machte es ihr, daß der Kasper, der auch sie durch grobe Reden schon öfters geärgert hatte, lächerlich verdutzt dreinschaute und nicht »Mau'« zu sagen wagte. Sie betrachtete ihn und den Vater, und eine Schadenfreude umspielte ihre Lippen, so tief und frisch und doch so gutmütig, daß sie dem alten Gesicht ordentlich etwas Anmutiges gab.

Gegen das Ende des Essens veränderte sich die Miene des Alten und er machte ein seltsames Gesicht. Nachdem der Auftritt in jedem Betracht geendigt war, hatte er ihn doch wieder überdenken müssen, und staunte nun hinterdrein über seine Möglichkeit. Das Ganze erschien ihm wie ein toller Traum, lächerlich und dessenungeachtet über die Maßen ernsthaft. Soll ich dem Burschen jetzt wirklich nachgeben müssen? Soll ich verloren haben? Diese Frage erhob sich noch einmal in ihm und er überlegte. Aber alle besseren Gründe sprachen fürs Nachgeben – die Quelle gewaltsamer Taten sprudelte nicht mehr in ihm – er beschloß mit guter Manier sich zu fügen.

Tobias erhielt eine Ahnung von diesen inneren Vorgängen und fühlte sich durch Gutmütigkeit und Klugheit getrieben, den Überwundenen durch freundliche Reden munterer zu machen und ihm namentlich durch kindliche Bescheidenheit wohlzutun. Er war, wie gesagt, erleuchtet – und hatte noch einen Zweck; er wollte, das Eisen schmiedend, so lange es warm war, heute noch die Geldfrage erledigen.

Als die Walpurg in die Küche, Kasper aus der für ihn höchst unheimlichen Atmosphäre in den Hof abgegangen war, sagte er: »Vater, ich glaub', es ist das beste, wenn wir heut auch gleich ausmachen, was ich von dir zum Heiratsgut bekomme.« – Der Alte, das Praktische dieses Antrags erkennend, erwiderte mit kuriosem Lächeln: »Ja, das glaub' ich schon auch, das dies das beste ist!« – »Nun,« rief unser Bursche treuherzig, »so sag' mir gleich, was du über das mütterliche Vermögen von dir noch geben willst!« – Der Alte besann sich und nannte ihm endlich eine Summe, die nach Verhältnis seines von Tobias nicht ganz gekannten Vermögens gering war, so daß der geliebtere Kasper immer noch um ein gutes besser bedacht werden konnte. Der Sohn erkannte wohl, daß der Vater ihn keineswegs begünstigte, aber er war in höherem Schwung der Seele – nebenbei gesagt auch um dieses froh! – und versetzte: »Damit bin ich zufrieden und dank' dir schön!« – Er reichte dem Alten die Hand, und dieser, von solcher Bescheidenheit und Bravheit beinahe gerührt, drückte sie ihm väterlich.

Nach einer Pause begann derselbe mit teilnehmend zweifelndem Ausdruck: »Was willst du denn aber jetzt eigentlich tun? – Wenn das Mädchen hundert Gulden hat, wird's alles sein; oder hat sie mehr?« – Tobias erwiderte groß: »Darnach frag' ich gar nicht.« – »So!« meinte der Alte mit ironischer Bewunderung. »Aber auf die Art bringt ihr nicht viel über tausend Gulden zusammen, und du bist das notige Leben nicht gewohnt.« – »Not werden wir nicht leiden,« warf Tobias bestimmt ein. – »Wo wollt ihr denn aber hin?« fragte der Alte. »Im Dorf ist nichts frei. Und als dritter könntest du von der bloßen Schneiderei ohne ein ordentliches Anwesen hier gar nicht leben.« – »Im Dorf will ich auch nicht bleiben,« versetzte der Sohn. – »Wo denn?« fuhr der Alte fort. »Weißt du etwas in der Nachbarschaft? Oder,« setzte er etwas spöttisch hinzu, »im Kesseltal?«

Tobias zeigte ein Gesicht wie einer, der seiner Sache gewiß ist, und erwiderte: »Vater, ich mein', wir haben heut' genug miteinander ausgemacht. Lassen wir's dabei bewendet sein, morgen ist auch noch ein Tag. Ich weiß, wo ich hingehör' und wo ich mein Glück machen muß – und wenn ich das sag', dann ist's genug.« – Der Alte schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Darf's der Vater nicht wissen?« – »Jetzt noch nicht,« versetzte der Bursche, und da er im Gesicht des mitten tiefen Unglauben erkannte, stand er auf und sagte: »Vater, vertrau' mir! Ich hab' dir heut' gezeigt, daß ich etwas kann, was du mir vorher nicht zugetraut hättest (»Unverschämter Mensch!« dachte der Alte) – und jetzt soll's immer so fortgehen (»Gute Aussichten!«). Vom heutigen Tag hebt für mich ein neues Leben an. Ich werde glücklich, ich werde, und das in nicht gar zu langer Zeit, ein reicher und angesehener Mann sein – und du wirst deine Freude an mir haben.« – Der Alte war versucht, ihm ins Gesicht zu lachen; er begnügte sich indessen mit einer Gebärde, die ungefähr sagte: »Ich muß dich jetzt gehen lassen! Wenn du ein Narr und Bettler wirst, ist's deine Sache.«

Tobias beachtete diese Bewegung um so weniger, als es unterdessen dunkel geworden war und die Glocke »bedächtig« neun Uhr schlug. Der Glückliche hätte nun zur Bäbe gehen und der Guten, Lieben und Treuen den Erfolg mitteilen können; aber er hatte sich etwas anderes ausgedacht, was ihm schöner dünkte; und da ihn die Ereignisse des Tages doch ermüdet hatten, sagte er dem Vater herzlich gute Nacht und ging zu Bette.


6.

Am andern Morgen war unser Schneider der Löwe des Tages. Der Abend des Samstags ist auch für den Bauer eine Ferienzeit; man besucht sich mehr als sonst in der Woche, das Wirtshaus hat größeren Zuspruch und man überläßt sich mit reinerem Behagen der Lust des Gesprächs. Daß nun ein Auftritt, wie der zwischen Tobias und seinem Vater, mit der größten Schnelligkeit im ganzen Dorf herumkam, ist bei dem Interesse, das die Familie schon auf sich gezogen hatte, nicht zu verwundern. Aus den Vermutungen des Trupps, der vor dem Hause stand, aus der Nachricht der Walpurg, die den Streit als nicht der Rede wert darstellte, und endlich aus den Zusätzen phantasiebegabter Erzähler bildeten sich verschiedene Lesarten, die sich zum Teil stark widersprachen. Nach den Ansichten der meisten gab es in dem Schneiderhaus eine »schreckliche Geschichte«; denn die Walpurg mochte sagen, was sie wollte – daß weder der alte, noch der junge Schneider ins Wirtshaus kamen, was sie sonst an diesem Tag nie versäumten, das war deutlich genug. Nach den einen jedoch hatte der Vater den Sohn halb totgeschlagen, nach den andern der Sohn den Alten mit einem Hammer oder Beil auf den Kopf getroffen, daß das Blut in der Stube herumlief – daß er einen »Treff« hatte auf sein Lebtag und am Ende noch das Gericht einschreiten mußte. – Sonntags in der Früh klärten sich die Meinungen. Die Ansicht vieler kam der Wahrheit ziemlich nahe; nur blieb das letzte Ergebnis des Streites unbekannt. Daß der junge Schneider diesmal über den alten Herr geworden, das stellte sich eine halbe Stunde vor der Kirche bei den meisten als gewiß heraus. Und diese Tatsache erschien allen ungemein spaßhaft, wenn man auch noch nicht wußte, was nun daraus werden sollte.

Als zur Kirche geläutet wurde, sah man den alten Schneider allein aus dem Hof treten und still und ernst dem Gotteshaus zugehen. Weder auf dem Weg noch in der Kirche selbst konnte man an seinem Kopf die geringste Spur einer Verletzung wahrnehmen; diejenigen, die noch daran gehalten hatten, mußten ihre Meinung verbessern. Von der Kirche ging er erbaut und, soweit es die andächtige Stimmung zuließ, heiter nach Hause. Er war aber zugleich so in sich gekehrt, daß ihn auch nähere Bekannte nur grüßten und nicht zu fragen den Mut hatten.

Im Pfarrhaus war das Ereignis erst kurze Zeit vor dem Beginn des Gottesdienstes bekannt geworden. Der Grund war, daß sich die Frau Lehrerin am Samstag unpäßlich fühlte, abends nicht mehr ausging und auch am Sonntag erst spät sich erheben konnte. Die Lesart, die durch ein Bauernweib an die Pfarrerin kam, meldete arge Händel zwischen Vater und Sohn, wobei sie sich wechselseitig beschädigten und viele Geschirre zugrunde gingen. »Also wieder!« sagte sich die Frau mit Ernst und Unmut, wie sie allein war. »Nun wird's bald unmöglich, den Skandal vor meinem Mann länger zu verbergen! – Daß er von der letzten Geschichte nichts erfahren hat, ist schon ein Wunder« – (übrigens aus dem Charakter des Geistlichen und aus ihren eigenen Vorkehrungen zu erklären!) »Aber jetzt, wo die Sache wieder aufgerührt ist, wird am Ende doch etwas an ihn kommen und es wird vielleicht notwendig werden, ihm alles zu sagen. Wollte Gott, das Mädchen hätte mein Haus nie betreten!« – Das Zusammenschlagen der Glocken mahnte sie, die sonntägliche Toilette zu vollenden und sich ins Gotteshaus zu begeben. Hier konnte sie von ihrem Stuhl den alten Schneider nicht sehen und auf dem Heimweg fragen wollte sie nicht; ihre bedenkliche Stimmung erfuhr daher keine Milderung.

Sie war in der unteren Stube allein – der Geistliche erquickte sich in der Gartenlaube, – als die Bäbe von der Küche hereinkam, um eine Frage wegen des Mittagessens an sie zu richten. Das Mädchen zeigte das gefaßte, stillhoffende, sanft melancholische Gesicht, das man seit dem entscheidenden Gespräch im Haus an ihr gewohnt war. Die Frau gab ihre Anweisung und fuhr dann mit der Miene des Bedauerns, ja der Anklage fort: »Bei dem Schneider hat's gestern wieder Streit gegeben! Hast du schon was davon gehört?« – »Ja,« versetzte die Bäbe mit dem Ton der Ergebung; »aber nichts Genaueres. Man hat mir nur gesagt, daß Vater und Sohn hintereinander gekommen sind.« – Die Pfarrerin fuhr fort: »Mir ist dieser ewige Unfriede fatal, sehr fatal! Ich wüßte nicht, was ich drum gäbe, wenn ich nichts mehr davon hörte!« – »Ich bedaur' es auch,« erwiderte die Bäbe, »aber ich kann nichts dafür.« – »Wirklich nicht?« versetzte die Frau. »Hast du dir keinen Vorwurf zu machen? Hast du das Wort, das du mir gegeben, nicht gebrochen?« – »Nein, Frau Pfarrerin,« entgegnete das Mädchen. »Einmal, vor acht Tagen, abends gegen neun Uhr, sind wir uns zufällig auf der Gasse begegnet; aber wir haben kaum eine Minute miteinander gesprochen und uns nur unser Leid geklagt.« – »Und du hast nicht an ihn geschrieben? Hast ihn nicht durch Klagen dazu gebracht, daß er seinen Vater mit Zumutungen erzürnte?« – »Nein,« war die entschiedene Antwort. »So wahr ich vor Ihnen stehe!«

Die Frau schwieg. Nach einer Pause begann sie: »Der Handel ist um so unangenehmer, als man in dem Fall, daß Tobias auf seinem Kopf bleibt, kein Ende davon absehen kann. Den alten Eber bringt ihr nicht dazu, daß er euch nachgibt. Den kenn' ich besser!« – »Es mag sein,« versetzte die Bäbe. »Ich muß es eben annehmen, wie's kommt.« – Das Gesicht der Pfarrerin erhellte sich, wie durch eine Anwandlung von Laune, und sie sagte: »Das Gescheiteste wär', wenn für dich jetzt eine gute Partie auskäm'! So ein reicher Witwer etwa, der oft froh ist, wenn er ein tüchtiges Hausweib kriegt zu seinem Geld und seinen Kindern. Und das würdest du abgeben, dafür könnt' ich einstehen!« – Die Bäbe schüttelte unwillkürlich den Kopf und sah zu Boden. – »Wie,« rief die Pfarrerin, »du würdest so einen Antrag ausschlagen?« – »Ja, Frau Pfarrerin,« erwiderte das Mädchen. »Solang' der Tobias keine andere heiratet, heirat' ich auch nicht!« – »Das ist ja ernsthafter als ich gedacht hab',« rief die Frau. »Aber«, setzte sie nach einer Weile hinzu, »was findest du denn nur so Besonderes an dem Menschen? Ein nettes Bürschchen ist er; aber solang' ich ihn kenne, der Spott des Dorfes, furchtsam wie ein Hase und doch wieder eitel und prahlerisch – kurz, ein Schneider, wie's nur einen geben kann! – Hast du denn das nicht auch gehört und gesehen?« – »Allerdings, Frau Pfarrerin,« entgegnete die Bäbe mit Ernst; »aber das macht mir nichts, seitdem ich ihn besser kennen gelernt hab' und weiß, wie er's in seinem Herzen meint. Seine Fehler sind Kleinigkeiten, die er ablegen wird mit der Zeit. Und wenn ihm auch was davon bliebe – meinen Sie, Frau Pfarrerin, daß ich nicht imstande wär', mich seiner anzunehmen? In meinem Beisein würd' ihm niemand etwas tun – dafür ständ' ich gut!«

Die Wangen des Mädchens hatten sich höher gefärbt und ihre Augen einen so mutigen Schein bekommen, daß die Frau sich nicht enthalten konnte, sie beifällig anzusehen und zu nicken, als ob sie sagen wollte: »Du wärst's imstande!« – Die Bäbe fuhr fort: »Der neue Streit zwischen Vater und Sohn ist zu bedauern; und ich kann ganz ehrlich sagen, daß er mir so unlieb ist wie Ihnen. Aber was wird dran schuld sein? Daß der Vater ihn wieder hat zwingen wollen, die andere zu nehmen, und daß er sich nicht dazu hat bringen lassen. Und das muß mir doch auch wieder gefallen an ihm, und ich muß denken: wenn ihm auch manches fehlt zu einem rechten Mann – die Hauptsach' hat er doch! Wenn er so furchtsam gewesen ist von jeher und sich nichts getraut hat und nun einem so starken und gewalttätigen Mann, wie sein Vater ist, doch nicht nachgibt, sondern sich gegen ihn stellt und lieber alles aushält, als von mir läßt – muß ich ihm nicht auch lieber sein als alles? Und so einen Menschen sollt' ich lassen? Lieber sterben, Frau Pfarrerin, – gleich auf der Stell'!«

In die Augen des Mädchens waren Tränen gekommen, die sie nicht zu verbergen bemüht war. Die Pfarrerin schwieg, denn hierauf war nichts mehr zu sagen. Zu rechter Zeit ließ sich aus der Küche ein Geprassel hören, wie von einem überlaufenden Hafen. Die Bäbe wischte sich die Augen mit ihrer Schürze und eilte hinweg.

Das Mittagessen verlief ruhig; für den Geistlichen, der auf den Ruf der Bäbe schon sehr vergnügt vom Garten gekommen war, ungemein heiter. Der würdige Herr befand sich dermalen ganz und gar wohl und damit fähig, sich an allem aufs innigste zu freuen. Die Blumen im Garten hatten ihn nie so glücklich gemacht wie heute, und an dem Schatten in der Laube hatte er sich noch nie so wundersam gelabt, wie bis zu dem Augenblick, wo man ihn zum Essen rief. Ein frischgedeckter Tisch am Sonntag, mit blankem Tischtuch, blanken Servietten, Reinheit und Reinlichkeit strahlend und duftend, und dazu die sichere Aussicht auf ungewöhnlich gute Speisen, können die Laune eines Mannes nicht niederschlagen, der sich bei höherem Wohlsein auch eines stärkeren Appetits erfreut. Unser Geistlicher, liebevoll, wie er war, unterhielt das Gespräch wieder mit Loben; nach den Blumen und der Laube pries er die Suppe, das Rindfleisch und den Braten – und schwer war es zu sagen, welche Anerkennung gefühlter klang. Er nickte dankbar der Gattin zu, und ein paar freundliche Blicke fielen auch auf das Werkzeug, das die Gebote der Anordnerin vollstreckend den zweiten Preis errungen – auf die ab und zu gehende Bäbe. Nach Tisch zog er ein Zigarrentäschchen, das er für seltene Gelegenheiten bei sich führte, aus der Tasche des Ausgehrocks – er wollte heute sogar rauchen! Die Frage der Pfarrerin: »Wird es dir nicht schaden, liebes Männchen?« mit einer Hinweisung auf seine völlige hustenfreie Kehle beantwortend, zündete er an und war mitten im behaglichsten Dampfen, als die Bäbe den Kaffee brachte.

Auf einmal, wie sich auf etwas besinnend, rief er: »Mein, Frau, wie ich aus der Kirche gegangen bin, ist mir's gewesen, als hätt' ich hinter mir sagen hören, beim Schneider Eber hätt's Händel gegeben zwischen Vater und Sohn. Hast du was erfahren?« – Das Mädchen konnte, wenn auch jede sonstige Bewegung, doch ihr Erröten nicht verhindern; die Frau bemerkte: »Jawohl, unsere Nachbarin hat mir dasselbe gesagt.« – »Was haben denn aber die auf einmal miteinander?« fragte der Pfarrer ernsthafter. »Sie sind doch immer ganz gut ausgekommen?« – »Man sagt allerhand,« versetzte die Gattin. »Der Vater will, daß Tobias die älteste Tochter des Bachwebers heirate –« – »Und der mag sie nicht?« fiel der alte Herr ein. – »So scheint's,« bemerkte die Frau. – »Hm, hm,« versetzte der Pfarrer. »Das Mädchen ist nicht die schönste, aber ordentlich und fleißig, und der Weber ist ein Mann, der gut steht. Ist er wirklich so heikel, der junge Bursch – oder hat er sein Aug' auf eine andere geworfen?«

Die Pfarrerin schwieg hierauf, weil ihr nicht gleich eine in ihren Sinn passende Antwort einfiel; die Bäbe fühlte, daß ihr Gesicht hochrot war, und wendete sich ab, um in die Küche zu gehen. Die Verlegenheit dauerte indes nur einen Moment; denn nach kurzer Pause klopfte es stark an die Türe, wie »Herren« nicht zu klopfen pflegen, und auf das »Herein« des Geistlichen traten durch die geöffnete Tür der alte Schneider und Tobias.

Beide waren in ihrem besten Staat; ihre Mienen ernst, feierlich, namentlich die des Alten. Etwas ungelenk, aber doch mit jener Würde, die der Bauer bei Gelegenheit anzunehmen pflegt, verneigte sich dieser und sagte: »Guten Tag, Herr Pfarrer! Guten Tag, Frau Pfarrerin!« – »Guten Tag, Eber,« erwiderte der überraschte Herr, indem er die beiden verwundert betrachtete. »Was führt Euch zu mir?« – Der Alte trat einen Schritt näher und sprach: »Eine eigene Sach', Herr Pfarrer – mein Sohn will heiraten.« Tobias ergriff jetzt seinerseits das Wort und sagte mit einigem Erröten: »Ja, Herr Pfarrer, das will ich.«

Die Pfarrerin sah staunend auf die zwei Leute, die offenbar einig waren, und wußte nicht, was sie denken sollte. Die Bäbe stand an der Seite wie angewurzelt, ihr Gesicht brannte und ihre Brust bebte. Tobias hatte ihr keinen Blick zugeworfen – der Vater war zufrieden, durchaus zufrieden – der Sohn hatte sich ihm gefügt – sie war aufgeopfert!

Mit dem reinsten Vergnügen erwiderte der alte Herr: »Also der Tobias hat nachgegeben und heiratet die Tochter des Bachwebers? – Ihr seht, ich weiß schon alles!« – Der alte Schneider zauderte zu reden, indem er bescheiden für sich hinlächelte. Der Pfarrer erinnerte sich, daß die Magd in der Stube war, und in der Meinung, daß der Vater vor dieser nicht mit der Sprache herauswolle, winkte er ihr und sagte: »Bäbe, geh in die Küche!«

Das Mädchen hatte gesehen, wie Tobias aus die Rede des Pfarrers höher gerötet vor sich hinschaute, just wie einer, der sich schämt! Mit dem schwersten Herzen von der Welt, mit unendlicher Bitterkeit und kaum ihre Tränen zurückzuhalten vermögend, schickte sie sich an, die Stube zu verlassen. Da rief aber der alte Schneider: »Ja, Herr Pfarrer, »die darf nicht fort – die gehört zur Sach'!« – »Die Bäbe?« rief der alte Herr verwundert. – »Ja, Herr Pfarrer,« versetzte der Schneider. »Die ist's ja grad, die mein Sohn heiraten will!« – »Jawohl, Herr Pfarrer,« rief Tobias, »die will ich heiraten!«

Nun war die Reihe zu staunen und nicht begreifen zu können an dem alten Herrn. Die Pfarrerin hatte ein »Ah« ausgestoßen, in welchem ebensoviel Vergnügen als Überraschung lag; denn sie war gut und freute sich des Ausgangs nicht um ihret-, sondern um der Bäbe willen. Dieser hatte sich im eigentlichen Verstande das Herz im Leibe umgedreht. Die plötzliche Versetzung aus dem Abgrund der Pein in den Himmel des Glücks wirkte auf sie wie ein Schreck; aber schnell erholte sie sich und strahlte nach der ersten Verwirrung die Seligkeit ihres Innern um so schöner aus den schwarzbraunen Augen, in die jetzt zum Überfluß noch ein liebevoller und stolzer Blick des Burschen fiel.

Der alte Herr, alles dies nicht gewahrend, weil er nur auf den alten Schneider sah, rief endlich mit der herzlichsten Verwunderung: »Die Bäbe? – Ja, wie kommt er denn auf die?« – Die vollkommene Unschuld dieser Frage hätte die Pfarrerin beinahe lachen gemacht. Wenn sie aber die Verlautbarung ihrer Heiterkeit unterdrückte, so konnte und wollte sie doch den Schein auf ihrem Gesicht nicht zurückhalten; sie sah mit wahrem Vergnügen, mit der angenehmsten Frauenschelmerei vor sich hin.

Der alte Schneider antwortete: »Du lieber Gott, – wie geht's nicht in solchen Sachen? Sie gefällt ihm halt, und er meint eben, nur die könnt' sein Glück machen!« – »Ja,« fügte Tobias hinzu, »das ist auch wirklich meine Meinung, Herr Pfarrer. 's ist nicht nur darum, weil sie mir von Person am besten gefällt, sondern weil sie so geschickt ist und so fleißig und alle Arbeit so gut kann, wie ich gesehen hab'; deswegen hab' ich sie gewählt!«

Über den Vater kam jetzt der Schalk. Überzeugt, daß der alte Herr von dem Vorgang in seinem Haus keine Ahnung hatte, und verlangend, der so sehr gerühmten Bäbe, allenfalls auch der Frau Pfarrerin, etwas hinauszugeben, fuhr er fort: »Und dann, Herr Pfarrer, denkt man eben auch: im Pfarrhaus lernt man gute Sitten und einen frommen Lebenswandel – und das ist am End' doch die Hauptsach'!« – Die Pfarrerin warf einen Blick auf ihn, als ob sie sagen wollte: »Du impertinenter Spitzbube!« während das Mädchen ein wenig betroffen zu Boden sah. Der alte Herr dagegen nickte, wie zu einem Ausspruch, mit dem er aufs innigste übereinstimmte. »Ja, ja, Eber,« versetzte er würdig, »da habt Ihr recht! – Und es ist wahr, die Bäbe hat bei uns etwas gelernt, so kurze Zeit sie da ist, und macht jetzt dem Pfarrhaus Ehre. Sie ist brav, tätig, gehorsam, gutwillig – und hat sich immer musterhaft aufgeführt.«

Das war der Pfarrerin denn doch zu bunt; unfähig ihr Gerechtigkeitsgefühl länger zurückzuhalten, bemerkte sie: »Nun, nun, so ganz ohne Geschichten, die man gern anders gewünscht hätte, ist's doch nicht abgegangen! Fehler hat sie schon auch gemacht und ein ganzer Engel ist sie grad' nicht!« – Der alte Herr mit dem wohlwollend satirischen Lächeln eines Mannes, der seine Hälfte necken will, entgegnete: »Ja, freilich, ihr Frauen wißt immer was und habt immer was zu klagen. Euch kann man nie genug tun! – Aber,« setzte er gegen die beiden Schneider gewendet hinzu, »gegen mich ist sie immer gut und dienstwillig gewesen, und ich hab' nie was Unrechtes von ihr gesehen. – Was wahr ist, muß man sagen.«

Tobias und die Bäbe hatten sich während dieser Reden unbemerkt vergnügte Blicke zugeworfen, womit sie sich wechselseitig erklärten: »Wir bedauern's doch nicht!« Nach den letzten Worten trat das Mädchen ein wenig vor und sagte, das Haupt senkend mit einer reizenden Mischung von Ernst und Scheinheiligkeit: »Ach Herr Pfarrer, die Frau Pfarrerin haben die Wahrheit gesprochen! Es ist allerlei geschehen, was nicht hätte geschehen sollen, und ich hab' mich gar mancher Fehler anzuklagen! Ich bin lange nicht so gut, wie Sie meinen, Herr Pfarrer, – nein, ich hab' meinen Teil Sünden trotz der Mühe, die ich mir gebe, besser zu werden. Aber Sie halten eben andere Leute für gut, weil Sie selber so gut sind, Herr Pfarrer, und in Ihrer Güte nur das Schöne an anderen sehen und Tugenden, die Sie am Ende nur selber haben. Ich dank' Ihnen für Ihre Meinung von ganzem Herzen; aber leider, ich verdiene sie nicht!«

Der geistliche Herr war im Innersten befriedigt. Diese Gesinnung machte dem Mädchen ebensoviel Ehre, wie ihre Art, sich auszudrücken, und er konnte nicht umhin, sie aufs freundlichste dafür anzusehen. Dann wendete er sich zu den Brautwerbern und sagte mit heiterer Würde: »Ja nun – ich hab' durchaus nichts gegen diese Heirat, obwohl ich nicht so leicht wieder ein Mädchen ins Haus bekommen werde wie die Bäbe. – Wenn Vater und Sohn einig sind –«. – »Das sind wir, Herr Pfarrer,« fiel Tobias ein, und der alte Eber stimmte mit Nicken zu. – »Dann fehlt nichts mehr als die Einwilligung der Erwählten und ihrer Eltern! – Nun,« fragte er das Mädchen, deren Miene die Antwort schon gegeben hatte, mit freundlichem Lächeln, – »nun, Bäbe, sagst du ja dazu?« – »Mit Freuden, mit Dank und Freuden, Herr Pfarrer,« rief die Glückliche. – »Dann,« fuhr der Geistliche mit beinahe väterlichem Wohlwollen fort, welches das Mädchen nach seiner Ansicht durch ihr Benehmen verdient hatte, – »dann reicht einander die Hände!«

Die Liebenden, durch diesen Zuruf von den Rücksichten, die sie bisher gebunden hatten, befreit, gingen aufeinander zu, gaben sich die Hände und drückten sie wiederholt mit größter Zärtlichkeit. Sie sahen sich dabei so gerührt und doch so verständnisinnig an, daß auch dem Geistlichen, der sich die Freude des Mädchens bis jetzt aus der angetragenen guten Partie erklärt hatte, der Gedanke kam, es möchten zwischen beiden doch schon intimere Beziehungen obgewaltet haben.

Die Bäbe ging von Tobias zu seinem Vater, reichte ihm die Hand und sagte: »Herr Eber, ich dank' Euch! Ich weiß nicht, wie ich zu dem Glück komme, daß Ihr so gut gegen mich seid und mich zur Schwiegertochter wollt; aber ich nehm's in Demut an, und ich versprech' Euch, es soll Euch nicht reuen!« – Der Alte betrachtete sie mit Wohlwollen, erwiderte indessen nicht ohne merkbare Schalkheit: »Es ist mir eine Freud' und eine Ehr', ein Mädchen zur Schwiegertochter zu bekommen, die von dem Herrn Pfarrer wegen ihrer Tugenden so gerühmt worden ist!« – Ein Druck seiner Hand und ein Blick seines Auges gaben dafür eine um so ernstere Antwort.

Das Mädchen, die ihren Takt auch in der Fülle des Glücks nicht verleugnete, trat wieder zurück und nahm die Haltung einer Magd an, indem sie nur ihre Augen die einer Braut sein ließ. Die Pfarrerin, dies bemerkend, gab um so eher den Regungen ihres guten Herzens nach. Frauen pflegen gewisse Vergehungen bekanntlich nachsichtiger zu beurteilen, wenn sie in die Vergangenheit gerückt sind; der Ehebund, der nachfolgt, hat eine sanktionierende Macht, und es heißt auch hier: Ende gut, alles gut! Mit wahrhaft froher Teilnahme gratulierte die Frau der Bäbe, indem sie hinzufügte: »Das Glück ist bis jetzt mit dir gewesen, Mädchen, es wird auch ferner mit dir sein!«

Tobias hatte währenddessen nachdenklich dagestanden. Jetzt wendete er sich zu dem Geistlichen und sagte: »Herr Pfarrer, ich bitt' um Verzeihung, aber ich muß noch etwas zur Sprach' bringen, denn es gehört notwendig zur Sach'. Ich will eine Frau, nicht um mit ihr hier im Dorf zu bleiben, auch nicht in der Nachbarschaft –.« – »Willst du aus dem Land?« fiel der alte Herr verwundert ein. »Ins Württembergische?« – »Nein, Herr Pfarrer,« erwiderte Tobias, indem er mit Selbstgefühl den Kopf schüttelte; ich will weiter.« Und entschlossen setzte er hinzu: »Ich geh' nach Amerika!« – »Nach Amerika?« rief der Pfarrer, indem er ihn überrascht und befremdet ansah. – »Nach Amerika!« setzte die Pfarrerin etwas gedämpfter hinzu, während die Bäbe mit der seltsamsten Miene von der Welt vor sich hinsah.

»Ja, Herr Pfarrer!« wiederholte Tobias mit Nachdruck, »nach Amerika! – Wir bringen nicht so viel zusammen, daß wir hier gut fortkommen könnten; aber dazu reicht's, daß wir miteinander hinüberfahren und auch für den Anfang dort etwas haben. – Es ist mir berichtet worden von einem alten Bekannten, daß es mir in Amerika besonders gut gehen muß, weil ich nicht nur ein Metier gelernt hab', sondern auch das Bauernhandwerk verstehe. Was ich nicht kann, das kann meine Braut; und da hab' ich keine Sorg', daß es mit uns nicht vorwärts geht. Und alle Achtung vor unserem Ries, Herr Pfarrer; aber wenn man von Haus aus nicht viel hat, dann kommt man hier nicht gar weit; da drüben aber, da läßt sich noch ein Glück machen, wenn man seine Sachen versteht und Courage hat! Da kann man reich werden – Gott weiß, wie!« – »Aber auch um alles kommen, wenn man Unglück hat,« bemerkte der Geistliche warnend. – »Ich hab' was Gut's im Sinn,« versetzte Tobias mit Ernst, »und ich vertrau' auf Gott! – Meinem Vater habe ich die Sache ausgelegt; er hat zugeben müssen, daß ich recht hab', und willigt ein.« – »Das tu' ich, Herr Pfarrer,« bekräftigte der Schneider mit dem Ernst eines Überzeugten. – »Nun,« rief der gute alte Herr, »dann in Gottes Namen! – Aber,« setzte er halb lächelnd hinzu, »was wird die Jungfer Braut dazu sagen? – »Das möcht' ich sie eben fragen,« erwiderte Tobias, »mit Ihrer Erlaubnis! – Nun Bäbe,« rief er zu dieser gewendet, mit herzlichem Ton, aber schon mit zärtlicher Gewißheit im Auge, »gehst du mit hinüber?«

Das Mädchen war mit hochrotem Gesicht dagestanden und aus ihrer Miene sprach eine Freude, die noch auf etwas ganz Besonderes deutete. »Ich geh' mit dir, wohin du willst,« antwortete sie, »und wenn's ans Ende der Welt wäre; am liebsten aber da hinüber! Ich hab' ja zwei genaue Freunde dort, meines Vaters Bruder und seinen Schwager, und hab' selber schon daran gedacht, wenn es hierzulande nicht mehr ginge, dort mein Glück zu versuchen.« Und indem sie den Geliebten mit feuchten, aber schelmischen Augen ansah, fügte sie leiser hinzu: »Das ist's ja eben, was ich gemeint hab' –.« Sie hielt inne, um sich vor dem Geistlichen nicht zu verraten. Aber Tobias brauchte nicht mehr: er hatte im Nu den vielberührten, aber stets ein Mysterium gebliebenen zweiten Plan erkannt! Dieses Zusammentreffen erfüllte sein Herz mit der feinsten Lust, die nicht umhin konnte sich in einem tiefempfundenen »Ah« auszusprechen. Das Mädchen teilte dieses Gefühl und rief: »Nun muß es uns gut gehen da drüben!« – »Ja,« entgegnete der Bursche, »das muß es und das wird es auch!«

Mit Selbstgefühl, aber zugleich mit dankbar gerührter Seele stellte er sich vor den Geistlichen. Der blinde Amerikahochmut von gestern war aus dem guten und im Grunde seines Wesens rechtlich denkenden Burschen gewichen. Er fühlte die ganze Liebenswürdigkeit des ehrwürdigen Herrn, und in diesem Gefühl sprach er: »Herr Pfarrer, ich dank' Ihnen für Ihre Güte. Wir lassen uns hier noch zusammengeben – von Ihnen, Herr Pfarrer – anders würd' ich's nicht tun. Und wenn ich hinübergehe, werd' ich den Unterricht, den ich von Ihnen erhalten habe, nie vergessen und immer bedacht sein, ihm Ehre zu machen.« – »Brav, mein Sohn,« rief der alte Herr. »Mit dieser Gesinnung wirst du überall glücklich sein, wohin du auch kommen magst.« – »Auch Ihnen, Frau Pfarrerin, dank' ich – für alles!« Den Ton, womit der Bursche die zwei letzten Worte sprach, würdigend und den kleinen Stich erkennend, versetzte die Frau mit Lächeln: »Nichts zu danken! – es ist alles gern geschehen!« – Vater und Sohn verabschiedeten sich.

Auf dem Heimweg dachte der in den Tiefen seiner Seele befriedigte junge Schneider, daß der Andres in seinem Brief wegen der geistlichen Herren doch sehr übertrieben habe. Denn wenn es auch welche gäbe, die ungefähr so wären, wie er meine, so gäb's doch auch wieder andere, die nicht wackerer sein könnten. Und daß die gleichsam gar nicht nötig wären und ihr Brot umsonst verdienten, das war doch, genau genommen, eine Dummheit. Der gute Tobias hätte diese gerechte Unterscheidung vielleicht auch in bezug auf die übrigen »Herren« gemacht, wenn nicht plötzlich eine bekannte Stimme in sein Ohr gedrungen wäre, die nicht ohne den Akzent der Verwunderung den Gruß der Tageszeit rief.

Es war der »Leard«, der mit jenem feinen Burschen, den wir auch vom Wirtsgarten her kennen, aus einer Seitengasse kam. »Nun,« begann der erstere nach erhaltenem Dank, indem er Vater und Sohn mit den Augen maß, »ihr geht ja miteinander so einträchtig, als ob ihr ein Herz und eine Seele wärt?« – »Das sind wir auch,« versetzte Tobias mit Selbstgefühl. »Wir sind eben beim Pfarrer gewesen und haben um die Bäbe angehalten, die jetzt meine Hochzeiterin ist.« – »Ah! Wahrhaftig?« riefen die beiden Bursche wie aus einem Munde. – »Allerdings,« erwiderte der Alte mit Ernst, »so ist's.«

Das breite Gesicht des »Uzers«, der nur zum Spaß ein böser, sonst aber ein guter Kerl war, erhellte sich in wahrer Teilnahme, die aber natürlich durch einen Schein von Satire belebt blieb. »Das freut mich,« rief er, »und ich wünsche von Herzen Glück!« Dann des jungen Schneiders Hand schüttelnd, setzte er lächelnd hinzu: »Nun, was hab' ich gesagt? Gelt, ich hab' dich besser gekannt als du selber? Ich hab' dir angesehen, was du für ein Teufelskerl bist, wenn du einmal anfängst!« Zum Alten gewendet, sagte er schon mehr in seiner bekannten Art: »Schneider, Ihr seht, man muß nur warten können! Mit der Zeit kommt alles. Aus Kindern werden Leute, und aus einem jungen Schneider kann immer noch ein Mordkerl werden – wenn er einen Vater hat, wie Ihr seid!« – Während der Alte hierauf mit halbem Lächeln antwortete, begann der Feine: »Nun gibt's gleich zwei Paare. Soeben hat der Schuster das Jawort von der Sibylle davongetragen, und die beiden Leute sehen aus, als ob jedes das Fürnehmste gekriegt hätte im ganzen Dorf!« – »So!« versetzte Tobias erheitert. Und indem er auf seinen Vater einen bedeutsamen Blick warf, setzte er hinzu: »Lassen wir ihnen ihr Vergnügen!«

Als sie wieder allein waren, begann der Sohn, um einem allenfallsigen Gedanken des Alten zu begegnen: »Nun Vater, hast du dir heut die Bäbe recht betrachtet? Wie meinst du? Ist das Mädchen nicht wert, daß man ihretwegen einige hundert Gulden mehr oder weniger nicht ansieht?« – Der Alte, von der Schönheit der Erwählten, die heute freilich im höchsten Glanze geleuchtet hatte, selber eingenommen – denn er war ein Kenner und seinerzeit ein Verehrer des Geschlechts! – durch die guten Aussichten in Amerika nicht nur beruhigt, sondern gehoben, versetzte lächelnd: »Mensch, du hast mehr Glück gehabt, als du verdienst! Meiner Lebtag hätt' ich nicht geglaubt, daß du so ein Weib zu kriegen verständest!« – »Nicht nachgeben, lieber Vater,« erwiderte Tobias heiter, »nicht nachgeben! Das ist's!«

* * *

Wenn der Erzähler ein Liebespaar im Ries zur Hochzeit befördert und auf einem Bauerngut oder einem Söldgut untergebracht hat, dann kann er mit gutem Gewissen schließen. Für das Wohlsein der Geprüften ist gesorgt und ihr Leben, sofern nicht außerordentliche Zufälle eintreten, nimmt den gewöhnlichen, dorfmäßigen Verlauf, den sich Teilnehmende beliebig ausmalen können. Ist aber ein Paar in dem Fall, sein äußeres Glück, das unter Umständen zu dem inneren so wesentlich gehört – in fernem Lande erst solchen zu müssen, dann hat die Erzählung kein Ende, wenn nicht gezeigt wird, daß sie es auch gefunden, wenigstens den Grund dazu gelegt haben.

Schreiber dieses ist glücklicherweise in dem Fall, seiner Geschichte, nachdem seit der letzten Szene im Pfarrhaus Jahre verflossen sind, durch den Hinweis auf Tatsachen das erforderliche Ende geben zu können.

Tobias und die Bäbe machten sobald als möglich Hochzeit, verlebten die Honigwochen unter Zurüstungen auf die große Wanderung, und traten diese, versehen mit Geld und Segenswünschen, noch im Laufe des Sommers an. Ohne besondere Erlebnisse in der neuen Heimat angekommen, suchten sie die Verwandten der Bäbe in Wisconsin auf, trafen glücklich dort ein und nahmen Dienst bei einer englischen Familie. Dies meldete Tobias dem Vater, indem er allerlei Tröstliches und Hoffnungsreiches beifügte, ohne indes, ähnlich dem Andres, in Lobeserhebungen über das neue Land auszubrechen. Nach dem ersten Schreiben kam lange kein zweites, und der Vater mußte den Freunden und Dorfgenossen, die sich nach dem Paare erkundigten, besorgte Antworten geben. Endlich langte ein großer Brief an von der Bäbe. Er enthielt Aufklärung und Nachrichten, die den alten Schneider um so mehr erfreuten, als die Schwiegertochter noch während ihres Hierseins durch ihr liebenswürdiges Benehmen ihn ganz einzunehmen gewußt und er sie förmlich in sein Herz geschlossen hatte. Die Hauptstellen sind folgende:

»Ich hab' Euch beim Abschied versprochen, keine Lüge zu melden, und so dachte ich, ich wollte mit dem Schreiben warten, bis es uns besser hier gefiele. Mir hat es im Anfang sehr ›ant getan‹, und meinem Mann auch. Es ist hart für eines, wenn es gleich zu englischen Leuten kommt und versteht ihre Sprache nicht; wenn man aber sprechen kann mit ihnen, dann hat man es gut, und als wir dieses lernten, befanden wir uns gleich viel besser. Jetzt brauch' ich niemand mehr zu fragen, was das Englische bedeutet; ich kann so gut Englisch wie eines von den Deutschen hier, und jetzt gefällt es mir und meinem Mann ganz gut, und es geht uns auch gut, besser als wir denken konnten.

»Wir sind nämlich jetzt nicht mehr in Diensten, sondern haben eine Farm angenommen. Wir haben uns Vieh angeschafft und Samenkorn, auch einen Wagen um fünfzig Dollars, und unser Herr, der kein Kind und zusammen über dreihundert Acker Land hat, läßt uns machen, was wir wollen; er nimmt nur einen Teil, und zwei Teile von allem, was wir bauen, gehören uns.

»Es ist noch nicht lange her, da überfiel den Herrn plötzlich eine Krankheit; der Tobias mußte einen Arzt holen und ich war allein bei ihm; ich machte ihm warmes Wasser für seine Füße und Pflegte ihn, und er wurde besser. Nun sagte er, ich hätte ihm sein Leben errettet und er habe mich in seinem Testament bedacht mit eintausend Dollars, macht nach bayerischem Geld 2500 Gulden; das bekomme ich, wenn er stirbt.

»Aber nun muß ich Euch doch das Beste schreiben! Ich bin schon vor einem halben Jahr niedergekommen mit einem Buben, der dem Tobias gleichsieht, aber nach meiner Ansicht »stockhafter« wird. Nach seinem Großvater hab' ich ihn Balthasar taufen lassen. Mein Mann hat eine außerordentliche Freude an ihm, und seit wir das Kind haben, ist es uns erst, als ob wir hier daheim wären. Wir sind jetzt vollkommen zufrieden. Tobias ist gut gegen mich und ich gegen ihn, und wenn man gesund ist und ein gesundes Kind hat und vorwärts kommt, was kann man sonst noch verlangen? Unser Herrgott ist gnädig gegen uns gewesen, das müssen wir anerkennen, und wir tun's auch. Wir haben jetzt ein paar Ochsen, drei Kühe, ein Joch Stiere, ein Kalb und ein Pferd. Wir werden aber bald mehr bekommen. Unser alter Herr mag noch lange leben, wir erwerben uns jetzt schon selber immer mehr. »Wenn Ihr Euern Tobias jetzt sehen würdet, tätet Ihr Euch gewiß verwundern. Er hat seinen Bart stehen lassen und sein Kopf ist röter und runder als sonst. Gedanken macht er sich nicht mehr so viel wie sonst, und die Schneiderei treibt er nur soviel wir's für uns nötig haben; er geht seinen Gang fort und ist ein ganzer Bauer geworden. Zuweilen, des Abends oder auch des Nachts, reden wir von den alten Zeiten und freuen uns über die närrischen Sachen, die uns begegnet sind, und lachen laut miteinander.

»Wenn ich manchmal wünsche, noch einmal nach Deutschland zu kommen, ist's nur, weil ich Euch nochmal sehen möchte, lieber Schwäher. Ihr habt mich so gut leiden können in der letzten Zeit und habt mich so freundlich behandelt, wie wir's beide nicht geglaubt hätten nach dem ersten Diskurs, den wir miteinander gehabt haben in Eurem Garten – wißt Ihr's noch? Es ist alles viel besser gegangen, als wir gedacht haben! – Nun lebet wohl und gebt uns Nachricht von Euch und grüßet unsere ganze Freundschaft von uns und auch den Herrn Pfarrer und die Frau Pfarrerin. Sie sind doch recht gut gewesen gegen mich, und ich werd' es ihnen mein Lebtag nicht vergessen.«

Daß diese Meldungen dem alten Eber in der Seele wohltaten, kann man sich vorstellen. Aber es kam noch besser. Der letzte Brief, von Tobias geschrieben, berichtet, daß der alte Herr gleichwohl, gestorben, daß sie das Ausgemachte bekommen haben – daß er Eigentümer des Gutes und überdies Vater eines Mädchens geworden sei, »so schön, wie er noch kein Kind gesehen habe!« Nach diesen ausgezeichneten Neuigkeiten folgt das Geständnis, daß er sich zuerst freilich über die Maßen nach Deutschland heimgesehnt und weiß nicht was darum gegeben hätte, wenn er nur eine Stunde bei den Seinigen oder im Wirtshaus bei seinen Kameraden hätte zubringen können! Denn es sei ihm in Amerika eben gar nicht heimlich vorgekommen, und wenn er die Bäbe nicht gehabt hätte, wäre er verzweifelt. Nun sei's aber grad' umgekehrt und es gefalle ihm jeden Tag besser. – Eine eigene Notiz in dem Briefe war: daß der Andres bei ihnen sei und ihnen als Knecht diene!

Diesem scheint die Gesinnung, die ihn in dem Schreiben an die Seinigen Amerika unbedingt erheben und Deutschland heruntersetzen ließ, in Amerika selber Schwierigkeiten bereitet zu haben. Er wechselte mehrmals die Herren, ohne sich zu verbessern, ersparte nichts und ist jetzt froh, bei seinem Schulkameraden ein Unterkommen gefunden zu haben. Tobias, in dankbarer Erinnerung an die Anregung, die er durch seinen Brief empfangen, hält ihn wie einen Freund, gibt sich Mühe, ihm sein prangendes, mehr aufs Wort als auf die Tat gerichtetes Wesen abzugewöhnen und »hofft noch einen rechten Mann aus ihm machen zu können!« – »Ja, lieber Vater,« heißt es zum Schluß, »ich tausche jetzt nicht mit dem reichsten Bauern im Ries. Vergessen kann ich die Heimat und die guten Leute darin freilich nicht. Wir reden hier oft miteinander davon, und wenn wir vergnügt sind, sagen wir zu einander: wenn jetzt nur der und der auch dabei wär'! – Ich hab' auch einen Garten angelegt mit einer Laube, grad' wie der unsere; und wenn auch die Bäume noch nicht so groß sind, so ist's doch in der Laube schon recht pläsierlich. In Amerika ist einmal jetzt meine Heimat, und daß ich wieder nach Deutschland komme, daran ist vorderhand nicht zu denken. Nun will ich Euch desto mehr im Gedächtnis behalten, von Zeit zu Zeit Nachricht hinüberschicken und mich hier so betragen, daß die Leute in Amerika Respekt kriegen vor den Riesern.«

 

Druck von Hesse & Becker in Leipzig.

 


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