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I

Juli von Chaverny war sechs Jahre verheiratet; seit ungefähr fünf und einem halben Jahre wußte sie, daß sie ihren Ehemann unmöglich lieben, kaum achten konnte. Er war kein übler Mensch, weder Ekel noch Trottel, und doch war in seinem Wesen von beiden etwas. Ehemals, so sagte ihr die Erinnerung, war er ihr liebenswert erschienen; jetzt war er ihr zuwider. Alles an ihm stieß sie ab. Seine Art, wie er aß, wie er den Kaffee schlürfte, wie er redete, reizte sie. Sie sahen und sprachen sich lediglich bei Tisch; aber zu Diners gingen sie mehrmals in der Woche zusammen, genug, um Juliens Abneigung bestehen zu lassen.

Chaverny war, wie man sagt, ein schöner Mann, ein wenig zu dick für sein Alter, mit einem frischen Gesicht, Sanguiniker; zu den ruhelosen Phantasiemenschen gehörte er nicht. Von seiner Frau glaubte er felsenfest, sie widme ihm zärtliche Freundschaft; er war weltweise genug, sich nicht geliebt zu wähnen. Ohne jene Überzeugung wäre er auch nicht unglücklich gewesen; sogar mit dem Gegenteil hätte er sich abgefunden.

Er hatte mehrere Jahre bei der Kavallerie gedient; aber als ihm eine ansehnliche Erbschaft zufiel, ward er des Garnisonlebens überdrüssig. Er reichte seinen Abschied ein und heiratete. Es war eine Ehe ohne innere Gemeinschaft. Wie sie erklären? Verwandte und die Art Freunde, die gern Ehen stiften, hatten rührig alles Geschäftliche in Ordnung gebracht. Auch gehörte Chaverny, der damals noch nicht so dick war, einer vornehmen Familie an. Er war von heiterer Gemütsart, alles in allem ein lieber Kerl. Julie sah seine Besuche gern; sie lachte über seine spaßigen Kommißgeschichten, die freilich nicht immer ganz einwandfrei waren. Sie fand ihn liebenswürdig, weil er auf allen Bällen mit ihr tanzte und nie um gute Gründe verlegen war, mit denen er ihre Mutter überredete, recht lange zu bleiben, mit ins Theater zu gehen oder auszufahren. Ja, Julie sah sogar in ihm einen Helden, denn er hatte sich ein paarmal ehrenvoll duelliert. Den Ausschlag gab indes die Schilderung eines Wagens, den er nach eigenstem Plane bauen lassen und in dem er in eigener Person Julie ausfahren wollte, wenn sie ihm ihre Hand zugesagt hatte.

Ein paar Monate nach der Hochzeit hatten Chavernys Vorzüge viel von ihrem Zauber verloren. Er tanzte nicht mehr mit seiner Frau, was sich von selbst verstand. Seine lustigen Geschichten hatte er wenigstens fünfmal erzählt. Jetzt fand er, daß die Bälle viel zu lang dauerten. Im Theater gähnte er, und das Umkleiden des Abends dünkte ihm unerträglicher Zwang. Er war maßlos bequem. Wenn er hätte gefallen wollen, wäre es ihm vielleicht gelungen. Aber wie beinahe allen dicken Menschen war ihm jeder Zwang in den Tod verhaßt. Die Gesellschaft langweilte ihn, weil sie jeden danach behandelt, wieviel Mühe er sich gibt, zu gefallen. Grobe Vergnügen lagen ihm weit mehr als feinsinnige Genüsse. In den Kreisen, die nach seinem Geschmack waren, hatte die Führung, wer die andern überschrie. Bei seiner Riesenlunge war ihm das ein leichtes. Außerdem setzte er seinen Stolz darein, mehr Sekt zu vertragen als gewöhnliche Sterbliche, und auf seinem Gaul nahm er spielend vier Fuß hohe Hindernisse. Er genoß somit ein wohlverdientes Ansehen bei den jungen Leuten, von denen es gegen fünf Uhr abends auf den Boulevards wimmelt. Auf Jagden, Landpartien, Rennen, Junggesellendiners und -soupers war er in seinem Element. Hundertmal am Tage pries er sich den glücklichsten aller Menschen, und jedesmal, wenn Julie dies hörte, schlug sie die Augen gen Himmel, und um ihren kleinen Mund zuckte ein Ausdruck tiefster Geringschätzung.

Da sie jung und schön war und obendrein ihren Mann nicht liebte, ist es zu begreifen, daß eine Schar eigennütziger Verehrer sie umflatterte. Bisher war sie aber gegen alle Verführungen standhaft geblieben; dank ihrer überaus klugen Mutter, die über sie wachte, und ihrem eigenen Stolze. Überdies hatte sie die Erfahrung ihrer mißglückten Ehe und war nicht mehr so leicht zu entflammen. Es war ihr eine Genugtuung, daß die Gesellschaft sie bemitleidete und als Vorbild der Tugend hinstellte. Im ganzen war sie beinahe glücklich: sie liebte keinen, und ihr Mann ließ sie vollkommen gewähren. Sie ließ gern durchblicken, daß er gar nicht wußte, welchen Schatz er besaß. Das war ihre Koketterie, triebmäßig wie die eines Kindes, die vortrefflich zu einer zurückhaltenden Ablehnung paßte, die aber nicht Prüderie war. Sie verstand es, mit jedermann gleich liebenswürdig zu sein, und so konnten die bösen Zungen ihr nicht das geringste nachsagen.

II

Die beiden Gatten waren bei Frau von Lussan, Juliens Mutter, die nach Nizza reisen wollte, zu Tische geladen. Chaverny langweilte sich zu Tode. Viel lieber hätte er den Abend mit seinen Boulevardfreunden verbracht, anstatt ihn bei seiner Schwiegermutter zu versitzen. Nach dem Essen machte er sich's in einer Sofaecke bequem und tat zwei Stunden lang den Mund nicht auf aus dem einfachen Grunde, weil er schlief. Mit Anstand natürlich, im Sitzen, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er andächtig der Unterhaltung. Hin und wieder erwachte er sogar und flocht ein Wort ein.

Dann mußte er mit an den Whisttisch. Er haßte dieses Spiel, weil es eine gewisse geistige Anstrengung erfordert. Über alledem war es halb zwölf geworden. Chaverny hatte keine Verabredung und wußte nicht, was er mit dem weitern Abend anfangen sollte. Er überlegte noch hin und her, als der Wagen seiner Frau gemeldet wurde. Fuhr er mit ihr nach Hause, so hatte er die Aussicht auf eine halbe Stunde des Alleinseins mit ihr; das verursachte ihm gelindes Gruseln. Weil er aber nichts zu rauchen bei sich hatte und darauf brannte, eine Kiste Zigarren anzureißen, die, als er das Haus verließ, eben aus Havre angekommen war, ergab er sich ins Unvermeidliche.

Als er seiner Frau den Abendmantel um die Schultern legte und sich dabei im hohen Spiegel sah, mußte er unwillkürlich lächeln. Wie in den Flitterwochen! Er betrachtete seine Frau, die er heute noch kaum angesehen hatte. Sie erschien ihm viel hübscher als sonst; er beeilte sich nicht in seinem Ritterdienst.

Julie war ebenso ärgerlich wie er über das bevorstehende Alleinsein mit ihm. Ihr Mund schmollte, und ihre gewölbten Brauen zogen sich unwillkürlich zusammen. Ihr Gesicht wurde dadurch so unwiderstehlich, daß selbst ein Ehemann nicht unempfindlich bleiben konnte. Ihre Augen begegneten einander im Spiegel, und beide wurden verwirrt. Er küßte, rasch gefaßt, ihr galant die Hand, die am Mantelkragen nestelte.

In der Enge des Wagens saßen die beiden anfangs stumm nebeneinander. Chaverny hatte wohl das Gefühl, daß er etwas sagen müsse. Aber es fiel ihm nichts ein, und Julie schwieg beharrlich. Er gähnte ein paarmal, so daß er sich schließlich ein wenig schämte und meinte, er müsse sich bei seiner Frau entschuldigen.

Der Abend war lang, fügte er als Milderungsgrund hinzu. Julie sah darin nur eine Kritik an den Gesellschaftsabenden ihrer Mutter und die Absicht, ihr etwas Unangenehmes zu sagen. Sie pflegte längst jedwede Auseinandersetzung mit ihm zu vermeiden; darum verharrte sie in ihrem Schweigen.

Chaverny fühlte sich ausnahmsweise zum Plaudern aufgelegt und fuhr nach einer Weile fort: Das Essen war gut, aber ich muß doch sagen, deine Mutter hat zu süßen Sekt.

Bitte? fragte Julie, als hätte sie nicht verstanden, und wandte gleichgültig den Kopf nach ihm hin.

Deine Mutter hat zu süßen Sekt. Ich vergaß es ihr zu sagen. Erstaunlich, man stellt sich vor, es sei die einfachste Sache, den richtigen Sekt zu wählen. Dabei gibt es unter zwanzig Sorten vielleicht eine wirklich gute.

So? Julie gestand der Höflichkeit dieses knappe Wort zu und schaute dann wieder auf ihrer Seite zum Fenster hinaus. Chaverny legte sich zurück und streckte die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz. Es kränkte ihn, daß seine Frau sich allen Versuchen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, so unzugänglich zeigte.

Er gähnte wieder ein paarmal. Dann rückte er ein wenig dichter an sie heran und fing von neuem an: Das Kleid steht dir ganz entzückend! Wo hast du es gekauft?

Aha! dachte Julie, er will seiner Geliebten auch eins schenken, und mit einem leichten Lächeln sagte sie: Bei Burty.

Warum lachst du? fragte Chaverny, nahm dabei die Füße vom Sitz herunter und rückte noch näher. Zugleich faßte er ihren Ärmel und betastete ihn.

Ich muß lachen, weil du plötzlich siehst, was ich anhabe. Gib acht, du verknüllst mir den Ärmel! Und sie zog den Ärmel aus Chavernys Hand.

Ich sehe stets genau, was du anhast, wirklich, und ich bewundere deinen Geschmack. Ehrenwort, ich habe erst kürzlich mit ... einer Dame davon gesprochen, die immer scheußlich angezogen ist, obwohl sie ein Heidengeld für ihre Toiletten ausgibt. Sie ruiniert ... Ich sagte ihr ... ich redete von dir ... Julie weidete sich an seiner Verwirrung. Sie machte keinen Versuch, ihm beizustehen.

Deine Pferde sind miserabel. Das reinste Schneckentempo. Ich muß sehen, daß ich ein paar andere bekomme, schwatzte Chaverny, der aus der Fassung gebracht war, weiter.

Nichts als die knappste Erwiderung von der anderen Seite. So schlich die Unterhaltung mühsam hin, bis die beiden, endlich zu Hause angelangt, einander gute Nacht wünschten.

Als Julie sich auskleidete und die Zofe eben hinausgegangen war, etwas zu holen, tat sich plötzlich die Tür ihres Schlafzimmers auf und Chaverny trat ein. Julie warf rasch einen Schal über ihre nackte Schulter.

Verzeih, sagte er, ich hätte zum Einschlafen gern den Band Scott von kürzlich ..., es war wohl der Quentin Durward?

Hier sind keine Bücher. Er muß in deinem Zimmer sein.

Chaverny fand seine Frau in dieser Halbangezogenheit, die der Schönheit so vorteilhaft ist, ›pikant‹ um einen seiner Ausdrücke zu gebrauchen, die sie abscheulich fand. Sie ist wirklich ein schönes Weib, dachte er und blieb unbeweglich und schweigend vor ihr stehen, mit seinem Leuchter in der Hand. Julie, die ihm gegenüberstand, zupfte nervös an ihrem Häubchen herum und wartete ungeduldig darauf, daß er ginge.

Du bist verdammt hübsch heute abend, rief Chaverny schließlich, stellte seinen Leuchter hin und kam näher. Frauen mit gelöstem Haar sind meine Wonne. Dabei faßte er eine der langen Flechten, die über Juliens Schulter fielen, und legte ihr beinahe zärtlich den Arm um die Hüften.

Ach Gott, rief sie, du riechst abscheulich nach Tabak, und wandte sich ab. Laß mein Haar! Sonst riecht es ebenso, und ich werde den Geruch nicht wieder los.

Geh! Das sagst du bloß so, weil ich mitunter rauche. Sei doch nicht so spröd, Kindchen! Und ehe sie es hindern konnte, hatte er sie auf die Schulter geküßt.

Nichts ist widerwärtiger für eine Frau als solche Zärtlichkeiten, bei denen ihr Widerstreben oder Geschehenlassen gleich albern erscheint. Zum Glück kam die Zofe.

Marie, sagte Frau von Chaverny, an meinem blauen Kleide ist die Taille viel zu lang. Ich habe heute Frau von Begy gesehen, die vollendeten Geschmack hat. Ihre Taille war bestimmt zwei Finger breit kürzer. Stecken Sie eine Falte ab, damit wir gleich die Wirkung sehen.

Nun entspann sich zwischen Herrin und Dienerin eine hochinteressante Verhandlung über die genauen Maße einer tadellosen Taille. Julie wußte recht gut, daß ihr Mann nichts mehr haßte als eine Unterhaltung über Modedinge, und daß sie ihn auf diese Weise in die Flucht jagte. Wirklich verschwand er nach kaum fünf Minuten, fürchterlich gähnend, mit seinem Leuchter auf Nimmerwiedersehen für diese Nacht.

III

Major Perrin saß an einem Tischchen, in ein Buch vertieft. Seine kerzengerade Haltung verriet den Soldaten. Sein Zimmer war blitzsauber und spartanisch einfach. Eine Schachtel Briefpapier, wovon mindestens seit einem Jahr kein Bogen verbraucht worden war, stand neben einem Tintenfaß und zwei frisch geschnittenen Federkielen vor ihm. Wenn der Herr Major kein großer Schreiber war, so las er dafür um so mehr. Augenblicklich las er Montesquieus Persische Briefe und rauchte dazu seine Meerschaumpfeife, und diese beiden Tätigkeiten nahmen ihn so in Anspruch, daß er zunächst das Eintreten des Majors von Châteaufort überhörte. Der Besucher gehörte zu seinem Regiment; er hatte ein hübsches Gesicht, liebenswürdiges Wesen, war ein wenig Dandy, aber gut angeschrieben beim Kriegsminister, in allem und jedem ungefähr das Gegenteil von Perrin. Trotzdem waren sie, Gott weiß warum, Freunde und sahen sich täglich.

Châteaufort klopfte Perrin auf die Schulter. Ruhig weiter qualmend drehte dieser sich um. Zuerst, als er den Freund erkannte, malte sich Freude auf seinem Gesicht, dann Bedauern (der Ehrliche!), weil es nun mit dem Lesen aus war; rasch hatte er sich in sein Schicksal gefunden und war bereit, den liebenswürdigen Wirt zu spielen. Er kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel zu dem Schrank, in dem er eine kostbare Kiste Zigarren verwahrte, die er selber nie rauchte, und von denen er eine dem Freunde darbot. Châteaufort winkte ab: Danke schön! Behalte deine Havanna. Ich habe selber welche bei mir. Einem aparten Etui aus mexikanischem Bast entnahm er eine zimtfarbene, an beiden Enden spitze Zigarre, steckte sie an, streckte sich aufs Sofa, das Perrin nie benutzte, schloß die Augen und qualmte drauf los, bis dichte Wolken ihn umhüllten. Er schien tief nachzudenken über das, was er sagen wollte. Er sah glückstrahlend aus und hielt offenbar nur mit Mühe ein Geheimnis zurück, das er überaus gern losgeworden wäre. Perrin hatte seinen Stuhl ans Sofa herangerückt und rauchte schweigend weiter. Da sich Châteaufort mit dem Reden nicht beeilte, fragte er nach einer Weile: Was macht die Ulrike? Die Ulrike war eine schwarze Stute, die Châteaufort so überanstrengt hatte, daß sie halbniedergebrochen war. Ausgezeichnet! erwiderte Châteaufort, der gar nicht auf die Frage gehört hatte. Dann streckte er ein Bein, das bisher auf der Arm lehne des Sofas gelegen hatte, gegen den Freund und rief: Perrin! Weißt du, was für ein Glückspilz du bist, mich zum Freunde zuhaben?

Der Altere sann nach, welche Vorteile ihm diese Freundschaft bisher eingetragen hatte, aber er fand nichts als ein paar Pfund Tabak und etliche Tage Stubenarrest dafür, daß er in eine Duellsache verwickelt worden war, die Châteaufort angestellt hatte. Und wo immer es ging, ließ sich der Freund im Dienst von ihm vertreten.

Jetzt ließ er ihm nicht lange Zeit zum Nachdenken, sondern reichte ihm ein Briefchen hin: Krakelfüßchen auf feinem englischen Papier. Perrin grinste, was bei ihm für ein Lächeln stand; er kannte diese Art Briefe bei seinem Freunde.

Bitte lies! befahl Châteaufort. Mir verdankst du das. Perrin las:

 

Machen Sie mir das Vergnügen, lieber Herr von Châteaufort, zu Tisch zu uns zu kommen. Mein Mann wollte Sie persönlich einladen, wurde aber durch eine Jagdpartie verhindert. Da ich Herrn Major Perrins Adresse nicht weiß, kann ich ihn leider nicht selbst bitten, Sie zu begleiten. Sie haben mich neugierig gemacht, ihn kennen zu lernen, und ich wäre Ihnen zwiefach verbunden, wenn Sie ihn mitbrächten.

Julie v. Chaverny.

P. S. Ich muß Ihnen herzlich Dank sagen für die Noten, die Sie für mich abgeschrieben haben. Die Musik ist bezaubernd. Ich bewundere Ihren Geschmack. Sie erscheinen gar nicht mehr an unsern Donnerstagen. Sie wissen doch, wie gern wir Sie bei uns sehen.

 

Hübsche Schrift, nur sehr winzig, sagte Perrin, als er gelesen hatte. Offengestanden, so ein Diner ist mir durchaus kein Vergnügen. Man muß sich in Gala werfen, und hinterher gibt es keine Pfeife.

Ist das ein Unglück um der hübschesten Frau von ganz Paris willen mal aufs Qualmen verzichten zu müssen? Du bist verflucht undankbar!

Wenn überhaupt von Dank die Rede sein kann, denn dir verdanke ich die Einladung nicht.

Wem sonst?

Chaverny. Er war Schwadronschef bei mir. Wahrscheinlich hat er zu seiner Frau gesagt: Lade den Perrin ein, das ist ein guter Kerl! Wie käme sonst eine schöne junge Frau, die ich ein einziges Mal gesehen habe, dazu, mich alten Kommißknopf einzuladen?

Châteaufort lächelte seinem Bildnis in dem sehr schmalen Spiegel zu, der des Majors Zimmer zierte. Du hast heute keine feine Nase, alter Freund. Lies noch mal; vielleicht entdeckst du doch etwas, das du übersehen hast.

Perrin drehte das Briefchen um und um; er fand nichts.

Was, du alter Krippensetzer! Du willst nicht sehen, daß sie dich nur einlädt, um mir eine Freude zu machen, um mir zu zeigen, daß meine Freunde ihre Freunde sind, um mir zu beweisen, daß ...

Na, was denn?

Daß ... du weißt doch was ...

Daß sie dich liebt? fragte Perrin skeptisch.

Der andere pfiff als Antwort.

Sie ist also in dich verliebt?

Fortgesetztes Pfeifen.

Hat sie es dir gestanden?

Na ... ich meine, das sieht man doch.

Wo ...? In dem Brief da etwa?

Zweifellos.

Jetzt war es Perrin, der pfiff, bedeutungsvoll pfiff. Was? schrie Châteaufort und riß ihm den Brief aus der Hand. Du spürst also gar nicht, wieviel Zärtlichkeit, jawohl Zärtlichkeit da drin steckt. Was sagst du denn zu: Lieber Herr von Châteaufort? Bisher hieß es immer nur: Sehr geehrter Herr! Dann: Ich wäre Ihnen zwiefach verbunden. Wenn das nicht klar ist! Und hier ist ein Wort ausgestrichen. Herzliche Grüße wollte sie schreiben, hat es aber nicht gewagt. Beste Grüße – das war nicht genug. So hat sie gar keinen Schlußsatz geschrieben. Verstanden, alter Junge? Eine Dame wirft sich einem nicht an den Hals wie ein kleines Mädchen. Ich kann dir nur sagen: der Brief ist entzückend, und wer die Liebe darin nicht sieht, ist stockblind. Am Schluß noch die Vorwürfe, weil ich einen einzigen Donnerstag versäumt habe!

Arme kleine Frau, rief Perrin aus. Verliebe dich nicht in diesen da, du bereust es nur zu bald.

Châteaufort beachtete den gefühlvollen Anruf seines Freundes nicht, sondern begann mit leiser, einschmeichelnder Stimme: Höre, du könntest mir einen großen Gefallen tun.

Nämlich?

Mir helfen. Ihr Mann paßt nicht zu ihr. Er ist ein Tier und macht sie unglücklich. Du kennst ihn von früher her. Du mußt ihr sagen, daß er ein ganz brutaler Kerl ist, überall verrufen.

Oha!

Ein Wüstling, der in seiner Dienstzeit immer Weibergeschichten hatte. Und mit was für Weibern. Das mußt du seiner Frau alles erzählen.

Das soll ich ihr sagen? Wie denn? So geradezu?

Mein Gott! Wie? Alles läßt sich sagen! ... Vor allem mußt du mich bei ihr herausstreichen!

Das geht schon eher. Immerhin ...

Nicht so einfach, wie du denkst. Loben sollst du nicht, das würde mir nur schaden. Du sollst ihr erzählen, es falle dir seit einiger Zeit auf, daß ich so niedergeschlagen sei, mit niemandem reden wolle, kaum mehr esse ...

Donnerwetter! lachte Perrin schallend auf, wobei seine Pfeife lustig hin und her hüpfte. Das soll ich Frau von Chaverny sagen? Unmöglich! Denke an das Liebesmahl gestern – wie ich dich hinterher nach Hause geschleppt habe!

Na ja, das braucht sie nicht zu erfahren. Sie muß wissen, daß ich in sie verliebt bin, und die Romanschreiber haben die Frauen glauben gemacht, ein Mann, der sich's schmecken lasse, sei niemals verliebt.

Ich wüßte nicht, was mich um den Appetit bringen könnte.

Abgemacht also! schloß Châteaufort, indem er sich die Mütze aufsetzte. Nächsten Donnerstag hole ich dich ab. Gesellschaftsanzug! Und nicht vergessen: lauter Schlechtes vom Herrn Gemahl, lauter Gutes von mir!

Sein Stöckchen elegant schwingend, schlenderte er hinaus und ließ den Major Perrin tief nachdenklich ob der Einladung zurück und etwas aus der Fassung gebracht durch den Gedanken an den Gesellschaftsanzug.

IV

Verschiedene Gäste hatten abgesagt; so verlief das Diner etwas einsilbig. Châteaufort, an der Seite der Hausfrau, war eifrigst um sie bemüht, zuvorkommend und liebenswürdig wie immer.

Chaverny hatte von seinem langen Spazierritt einen Bärenhunger mitgebracht; er aß und trank für drei. Major Perrin leistete ihm Gesellschaft. In einem fort schenkte er ein und lachte, daß die Gläser klirrten, bei jedem derben Witz, den der Hausherr riß. Im Kreise der Offiziere hatte Chaverny schnell seine gute Laune und den Kommißton wiedergefunden. Seine Frau machte ihre unnahbare Miene. Sie wandte sich zu ihrem Nachbar und begann ein Sondergespräch mit ihm, wobei sie sich den Anschein gab als höre sie ihres Mannes Reden, die ihr sehr mißfielen, nicht.

Die Unterhaltung kam auf die Oper; man sprach von den Ballettdamen und lobte besonders Fräulein N***. Châteaufort tat es allen zuvor. Er fand nicht Worte genug für ihren Liebreiz, ihre Figur, ihr gutes Benehmen. Perrin, der mit Châteaufort vor ein paar Tagen zum ersten Male in der Oper gewesen war, entsann sich der Kleinen recht gut und fragte jetzt: Ist das nicht die rosa Fee, die wie ein Füllen hopste? Du hast oft genug von ihren Beinen gesprochen, Châteaufort.

Redet lieber nicht zuviel von ihren Beinen! rief Chaverny dazwischen, sonst könnte es Verdrießlichkeiten geben mit euerm Divisionär, dem Herzog von I***. Nehmt euch in acht!

So eifersüchtig wird er nicht sein, daß er uns andern verwehrt, sie durchs Glas zu begucken.

Im Gegenteil, er ist so stolz darauf. Was sagen Sie dazu, Major Perrin?

Ach ich, ich kenne mich nur in Pferdebeinen aus, erwiderte der alte Soldat bescheiden.

Besagte Beine sind in der Tat blendend, fing Chaverny wieder an. In ganz Paris gibt es keine schöneren, ausgenommen die ... Er hielt inne, strich seinen Schnurrbart und schielte verschmitzt nach seiner Frau, die bis in den Nacken erglühte.

Der kleinen D***? fragte Châteaufort und nannte eine andere Tänzerin.

Nein, antwortete Chaverny pathetisch wie Hamlet, aber sehen Sie meine Frau an!

Julie wurde dunkelrot vor Empörung und warf ihrem Manne einen Wut und Verachtung sprühenden Blick zu. Dann wandte sie sich, mit Gewalt sich beherrschend, rasch zu Châteaufort. Wir müssen das Duett aus Maometto dann einmal üben. Es muß Ihrer Stimme ausgezeichnet liegen. Ihr Ton klang noch unsicher.

Chaverny ließ sich nicht so leicht aus dem Sattel werfen. Unbeirrt fuhr er fort: Wissen Sie, Châteaufort, ich wollte die Beine, von denen ich sprach, modellieren lassen; aber es wurde nicht gestattet.

Châteaufort war selig ob dieser frechen Enthüllung, tat aber, als hätte er kein Sterbenswörtchen gehört, und sprach mit Frau von Chaverny weiter über Maometto.

Chaverny ließ nicht locker: Die Besitzerin jener Beine tut jedesmal Gott weiß wie empört, wenn ich ihr Elogen mache, aber im Grunde ist sie gar nicht so böse!

Er mochte reden soviel er wollte, Julie war fest entschlossen nichts zu hören. Mit erkünstelter Munterkeit plauderte sie mit Châteaufort; ihr gewinnendes Lächeln sollte ihn überzeugen, daß sie nur ihn höre. Auch Châteaufort schien ganz bei Maometto zu verweilen, verlor jedoch nicht eine Silbe von Chavernys Taktlosigkeiten.

Nach Tisch wurde musiziert. Julie sang mit Châteaufort. Chaverny verschwand, sobald das Klavier geöffnet wurde. Andere Besucher kamen, aber Châteaufort ließ sich nicht abhalten, dann und wann Julie etwas zuzuflüstern.

Auf dem Heimwege erklärte er Perrin, seine Sache stehe gut; er habe den Abend ausgenützt. Perrin fand nichts dabei, daß ein Mann von den Beinen seiner Frau redete. Mit voller Überzeugung tadelte er den Kameraden: Woher nimmst du den Mut, eine so gute Ehe stören zu wollen? Er hat sie doch rührend lieb.

V

Seit einem Monat beschäftigte sich Chaverny eingehend mit dem Gedanken, Kammerherr werden zu wollen.

Es ist vielleicht verwunderlich, daß ein Mensch, der zur Fülle neigt, das Nichtstun und seine Bequemlichkeit über alles liebt, ehrgeiziger Regungen fähig sein soll. Chaverny wußte seine Ehrsucht vor seinen Freunden gut zu begründen. Erstens kosten mich die Theaterlogen für meine Freundinnen viel Geld. Bin ich bei Hofe, so habe ich Logen, so viel ich mag, und brauche keinen Pfennig dafür auszugeben. Und was kann man mit Logen nicht alles machen? Zum andern bin ich leidenschaftlicher Jäger, und die königlichen Jagden wären mir dann erschlossen; schließlich weiß ich, seitdem ich den bunten Rock an den Nagel gehängt habe, nie recht, was ich zu den Hofbällen anziehen soll. Ich kann den Marquisfrack nicht ausstehen; ein Kammerherrenfrack ist hundertmal gefälliger.

So bemühte er sich, und Julie sollte es auch tun; aber sie weigerte sich entschieden, trotz ihrer einflußreichen Freunde. Er setzte große Hoffnungen auf den Herzog von H***, der bei Hofe etwas galt, und dem er allerlei kleine Dienste erwiesen hatte. Auch Châteaufort mit seinen guten Verbindungen stand ihm zur Seite mit so viel Feuereifer und Hingabe, wie sie nur dem Gatten einer hübschen Frau zuteil werden.

Ein Umstand, der verhängnisvoll für ihn ausgehen sollte, brachte ihn bedeutend vorwärts. Seine Frau hatte sich, nicht ohne Mühe, zu einer Erstaufführung in der Großen Oper eine Loge mit sechs Plätzen verschafft. Sie wollte Châteaufort einladen. Weil sie es aber nicht für schicklich hielt, mit ihm allein zu gehen, sollte ihr Mann mitkommen. Nach langem Hin und Her erklärte er sich ausnahmsweise bereit, sie zu begleiten.

Gleich nach dem ersten Aufzug verschwand er und ließ seine Frau mit dem Freunde allein. Anfangs bewahrten beide eine etwas erkünstelte Schweigsamkeit. Julie, weil sie sich in letzter Zeit stets, sobald sie mit Châteaufort allein war, befangen fühlte, und er, weil sein Eroberungsplan ihm Ergriffenheit zu heucheln vorschrieb. Er blickte verstohlen über das volle Haus und gewahrte mit Genugtuung eine Anzahl Operngläser von Bekannten auf seine Loge gerichtet. Der Gedanke, daß seine Freunde ihm sein Glück neideten und ihn viel weiter wähnten als er war, gewährte ihm höchste Befriedigung.

Julie sog abwechselnd den Duft ihres Riechfläschchens und ihres Blumenstraußes ein; dann begann sie von der Hitze, der Vorstellung, den Toiletten zu plaudern. Châteaufort hörte zerstreut hin, seufzte, rutschte auf seinem Sessel hin und her, sah Julie an und seufzte von neuem. Julie wurde unruhig. Unvermittelt rief er: Wie schön doch die Ritterzeit war!

Die Ritterzeit? Wieso? Wohl weil Ihnen die mittelalterliche Tracht gut stände?

Sie halten mich für recht fad, erwiderte er in traurigem und bitterm Ton. Ich beneide jene Zeit ... weil damals ein herzhafter Mann ... allerlei erreichen konnte! Er brauchte beispielsweise nur einem Riesen den Schädel zu spalten, um seiner Dame zu gefallen ... Da! Sehen Sie das Ungetüm in der Balkonloge dort? Befehlen Sie mir, Ihnen seinen Bart zu bringen, und erlauben Sie mir hernach, Ihnen nur drei Worte zuzuflüstern, ohne daß Sie mir zürnen!

Torheit! rief Julie, bis zu den Haarspitzen errötend, weil sie sich die drei Worte denken konnte. Sehen Sie nur Frau von Sainte-Hermine! Ausgeschnitten in ihrem Alter. Und im Ballkleid.

Ich sehe nur eins: nämlich, daß Sie mich nicht verstehen wollen. Ich merke es schon lange. Ich soll schweigen. Ich gehorche. Aber, fügte er leise mit einem kleinen Seufzer bei, Sie haben mich verstanden.

Keineswegs, sagte sie trocken und kühl. Aber wo bleibt eigentlich mein Mann?

Ein Besucher kam ihr sehr gelegen und zog sie aus der Verlegenheit. Châteaufort tat den Mund nicht auf. Er sah blaß und sehr erregt aus. Als der Besucher hinaus war, machte er ein paar nichtssagende Bemerkungen über die Aufführung. Es entstanden lange Pausen zwischen ihnen.

Eben als der zweite Aufzug beginnen sollte, tat sich die Tür auf, und Chaverny erschien in Begleitung einer sehr hübschen und sehr auffällig gekleideten Dame mit pompösen roten Federn im Haar. Ihnen folgte der Herzog von H***.

Liebes Kind, ich fand den Herrn Herzog und die gnädige Frau in einer fürchterlichen Seitenloge, wo man nichts sieht. Sie waren so liebenswürdig, einen Platz in unsrer Loge anzunehmen.

Julie verneigte sich kühl; der Herzog mißfiel ihr. Er und die Dame mit den Federn ergossen sich in Entschuldigungen, als ob sie fürchteten, ihr lästig zu fallen. Ein großmütiger Wettstreit entspann sich um die Plätze. Während des Durcheinanders flüsterte Châteaufort Julie hastig ins Ohr: Um Gottes willen setzen Sie sich nicht vorne hin. In höchstem Maße verwundert blieb Julie auf ihrem Platze. Als alle saßen, drehte sie sich nach Châteaufort um und heischte mit einem etwas strengen Blick die Lösung des Rätsels. Er saß steif da mit zusammengekniffenen Lippen. Seine ganze Haltung verriet grimmigstes Unbehagen. Da deutete Julie seine Warnung falsch: zweifellos hatte er während der Aufführung weiter leise zu ihr sprechen, seltsame Reden führen wollen, was ihm unmöglich war, wenn sie in der vordersten Reihe saß. Sie blickte in den Saal und merkte, daß mehrere Damen durchs Glas nach ihrer Loge sahen. Aber das ist immer so, sobald ein neues Gesicht auftaucht. Es wurde getuschelt und gelächelt. Aber das war nichts Außergewöhnliches. Die reine Kleinstadt so ein Opernhaus!

Die Unbekannte beugte sich über Juliens Blumen und sagte mit schmeichlerischem Lächeln: Ihr Strauß ist wundervoll, gnädige Frau. Der muß ein schönes Geld gekostet haben in dieser Jahreszeit. Mindestens zehn Francs. Sie haben ihn natürlich geschenkt bekommen? Damen kaufen sich keine Blumen.

Julie machte große Augen: was für eine Kleinstädterin mochte das sein?

Herzog, fragte die Dame schmachtend, warum haben Sie mir keine Blumen verehrt?

Chaverny war bereits an der Tür. Der Herzog und die Fremde suchten ihn zurückzuhalten; sie hatte kein Verlangen mehr nach Blumen. Julie wechselte einen Blick mit Châteaufort; er schien sagen zu wollen: Ich danke Ihnen; es ist leider zu spät. Trotzdem hatte sie die Sachlage noch nicht durchschaut.

Während der ganzen Vorstellung schlug die merkwürdige Dame mit den Fingern den Takt auf die Brüstung und redete ins Blaue hinein über Musik. Dazwischen fragte sie Julie, was ihr Kleid, ihre Brillanten, ihre Pferde gekostet hätten. Julie war niemals ähnlichen Manieren begegnet. Sie hielt die Fremde für eine erst unlängst aus der Bretagne zugereiste Verwandte des Herzogs. Da erschien Chaverny wieder mit einem Riesenstrauß, viel schöner als der seiner Frau; es gab ein Bewundern, ein Danken, ein Entschuldigen ohne Ende.

Ich bin nicht undankbar, Herr von Chaverny, endete die mutmaßliche Provinzlerin einen ungeheuren Wortschwall. Ich werde es beweisen. Erinnern Sie mich, daß ich Ihnen etwas versprechen will. Jawohl; Sie sollen eine gestickte Börse von mir haben, wenn ich die für den Herzog fertig habe.

Endlich war, zu Juliens großer Erleichterung, die Oper aus. Sie fühlte sich höchst unbehaglich neben ihrer sonderbaren Nachbarin. Der Herzog bot ihr seinen Arm. Ihr Mann führte die Fremde. Châteaufort folgte finster und verstimmt. Unwirsch grüßte er seine Bekannten, die er auf der Treppe traf.

Ein paar Damen, die Julie von Gesicht kannte, kamen vorbei. Ein junger Mann raunte ihnen spöttisch etwas zu; sofort sahen sie sich sehr neugierig nach Chaverny und seiner Frau um, und die eine rief: Nicht möglich!

Der herzogliche Wagen fuhr vor. Der Herzog verneigte sich vor Julie, indem er ihr nochmals in den wärmsten Worten für ihre Gastfreundschaft dankte. Chaverny geleitete die Fremde an den Wagen. Julie blieb einen Augenblick mit Chateaufort allein. Sie fragte: Wer war die Dame?

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist ungeheuerlich.

Wieso?

Übrigens wissen ja alle, die Sie kennen, was davon zu halten ist. Aber Chaverny ... nein, das hätte ich ihm nicht zugetraut.

Was denn nur? Reden Sie doch endlich! Wer ist jene Person?

Chaverny erschien. Châteaufort sagte leise:

Melanie R***, die Geliebte des Herzogs.

Lieber Gott! Das ist doch unmöglich. Julie stand wie versteinert.

Châteaufort zuckte mit den Schultern. Das sagten die Damen, die wir auf der Treppe trafen, auch ... Übrigens ist sie in ihrer Art comme il faut: sie verlangt Höflichkeit, Ritterlichkeit ... Verheiratet ist sie auch.

Chaverny sah sehr vergnügt aus. Gute Nacht, liebes Kind! Du brauchst mich wohl nicht zur Heimfahrt? Ich esse beim Herzog.

Julie würdigte ihn keiner Antwort.

Châteaufort, kommen Sie mit zum Herzog? Sie sind ebenfalls eingeladen. Man hat Sie bemerkt. Sie haben Eindruck gemacht, mein Lieber.

Châteaufort lehnte frostig ab. Er verneigte sich vor Julie, die wütend an ihrem Taschentuch kaute, während sie wegfuhr.

Verehrtester, sagte Chaverny, nehmen Sie mich in Ihrem Kabriolett mit bis an der Schönsten Haus?

Gern, erwiderte Châteaufort, sind Sie sich übrigens klar, daß Ihre Frau schließlich begriffen hat, wer ihr Besuch war?

Unmöglich!

Schön war das nicht von Ihnen.

Ach was! Wer kennt sie denn? Sie versteht sich zu benehmen, und der Herzog nimmt sie überallhin mit.

VI

Julie verbrachte eine erregte Nacht. Der Skandal in der Oper setzte allem Unrecht, das ihr Mann ihr bisher angetan hatte, die Krone auf. Sofortige Trennung war der einzige Ausweg. Sie wollte am Morgen eine Aussprache mit ihm herbeiführen und ihm ihre Absicht kundtun, keinen Tag länger unter einem Dache mit ihm zu verweilen, der sie so ungeheuerlich kompromittiert hatte. Es bangte ihr vor dieser Auseinandersetzung, denn sie hatte noch nie ein ernstes Gespräch mit ihrem Gatten geführt. Bisher hatte sie immer nur geschmollt, wenn sie ihm gram war. Er hatte dem gar keine Beachtung geschenkt; er ließ ihr volle Freiheit und kam gar nicht auf den Gedanken, sie könne ihm gegenüber weniger großzügig sein. Vor allem war ihr Angst, sie könnte bei der Aussprache anfangen zu weinen, und er möchte ihre Tränen verwundeter Liebe zuschreiben. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, die ihr hätte raten können oder es übernommen hätte, die Trennungsfrage mit ihm zu erledigen. Je mehr sie grübelte, um so unsicherer wurde sie. Zuletzt faßte sie den Entschluß, eine befreundete Dame, die sie schon als Kind kannte, um Rat zu bitten. Ihrer Erfahrung wollte sie sich dann in ihrem Verhalten gegen ihren Mann fügen.

In ihrer Empörung mußte sie unwillkürlich ihren Mann mit Châteaufort vergleichen, dessen Zartgefühl des andern Taktlosigkeit noch viel deutlicher machte. Mit geheimer Freude, die sie sich indes vorwarf, erkannte sie, daß der Freund mehr auf ihren guten Ruf bedacht war als der Gatte. Dieser Vergleich im Moralischen verführte sie dazu, Châteauforts tadellose Eleganz gegen ihres Mannes Durchschnittsfigur zu stellen. Sie sah ihren Mann mit seinem Embonpoint schwerfällig bei der Geliebten des Herzogs den Liebenswürdigen spielen, während Châteaufort, ehrerbietiger als sonst, Hochachtung vor der Dame betonte, die ihr Mann in Gefahr brachte. Wie Gedanken manchmal gegen unsern Willen sich weit erspinnen, so dachte sie daran, daß sie eines Tages Witwe werden könne. Was hinderte sie, die jung und reich war, alsdann des Freundes treue Liebe legitim zu lohnen? Ein mißglückter Versuch verfemt noch nicht die Ehe überhaupt! War Châteauforts Neigung echt? Sie errötete ob solcher Gedanken, verscheuchte sie und nahm sich vor, in Zukunft zurückhaltender gegen Châteaufort zu sein.

Am Morgen erwachte sie mit starkem Kopfweh und dem Wunsche, die entscheidende Aussprache so weit wie möglich hinauszuschieben. Sie ließ sich den Tee auf ihr Zimmer bringen, um nicht mit ihrem Mann am Frühstückstisch zusammenzutreffen. Dann ließ sie anspannen, um zu Frau Lambert, der Freundin, mit der sie sich beraten wollte, auf deren Landsitz zu fahren.

Beim Frühstück faltete sie die Zeitung auseinander, und ihr erster Blick fiel auf folgende Nachricht: Vorgestern abend ist Herr Darcy, erster Sekretär der französischen Botschaft in Konstantinopel, mit Depeschen in Paris angekommen. Unmittelbar nach seiner Ankunft hatte der junge Diplomat eine lange Unterredung mit dem Herrn Minister des Äußern.

Darcy ist hier! Ich würde ihn gern wiedersehen! Ob er recht steif geworden ist, der junge Diplomat? Sie mußte in sich hineinlachen über den jungen Diplomaten.

Darcy war einst ein häufiger Gast im Hause ihrer Mutter gewesen. Er war damals Attaché im Ministerium des Äußern. Kurz vor Juliens Hochzeit hatte er Paris verlassen, und sie hatte ihn seitdem nicht wieder gesehen. Sie wußte nur, daß er viel gereist war und schnell Karriere gemacht hatte.

Sie hielt die Zeitung noch in der Hand, als ihr Mann eintrat. Er war offenbar in vorzüglicher Stimmung. Sie erhob sich, um das Zimmer zu verlassen; aber sie mußte, um in ihr Ankleidezimmer zu gehen, dicht an ihm vorbei. So blieb sie stehen, aber ihre Hand, die sich auf den Teetisch stützte, zitterte so stark, daß das Geschirr vernehmbar klirrte.

Ich möchte mich von dir verabschieden, liebes Kind. Ich gehe ein paar Tage zum Herzog v. H*** auf die Jagd. Er ist entzückt von deiner gestrigen Gastlichkeit. Meine Sache steht vortrefflich. Er hat mir versprochen, mich bei Majestät eindringlich zu empfehlen.

Julie wurde abwechselnd blaß und rot.

So viel ist der Herzog dir wohl schuldig! Es ist das Geringste, was er für einen Mann tun kann, der seine eigene Frau auf so schamlose Weise mit der Geliebten seines Gönners kompromittiert.

Alle Kraft zusammennehmend verließ sie hoheitsvollen Schrittes das Zimmer und schloß sich nebenan ein. Chaverny stand einen Augenblick betroffen. Woher zum Teufel wußte sie das? Ach was, geschehen ist geschehen! Es war nicht seine Art, lange bei Unangenehmem zu verweilen. Er drehte sich einmal auf dem Absatz herum, nahm ein Stück Zucker aus der Schale und rief der eintretenden Zofe mit vollem Munde zu: Bestellen Sie meiner Frau, ich bliebe vier bis fünf Tage bei dem Herzog v. H***. Damit ging er und dachte nur noch an Fasanen und Rotwild.

VII

Julie fuhr nach P***, erneuten Groll gegen ihren Mann im Herzen, diesmal freilich aus geringfügigerem Anlaß. Er war im neuen Wagen auf die herzogliche Besitzung gefahren und hatte ihr den alten gelassen, der, wie der Kutscher sagte, ausbesserungsbedürftig war.

Während der Fahrt legte sie sich ihre Erzählung zurecht. Trotz ihres Kummers war sie wie jeder Erzähler auf die Wirkung ihrer Darstellung bedacht; insbesondere suchte sie nach einer guten Einleitung. Das Ergebnis war, daß ihres Mannes Vergehen ihr immer ungeheuerlicher schien und ihr Groll gegen ihn sich steigerte.

Von Paris nach P*** sind es vier Wegstunden. Juliens Anklagematerial war umfangreich. Aber dem unversöhnlichsten Haß dürfte es schwer fallen, so lange immer nur denselben Gedanken zu verfolgen. Der Menschengeist hat die Fähigkeit, lichte und dunkle Bilder nebeneinander erstehen zu lassen. So tauchten in Julie süßtraurige Erinnerungen auf, neben den heftigen Empfindungen, die ihres Mannes Unrecht heraufbeschworen hatte. Die klare, frische Luft, die wundervolle Sonne und die fröhlichen Gesichter unterwegs taten ein übriges, sie aus ihrer haßerfüllten Stimmung zu reißen. Sie dachte an ihre Kindheit zurück, an die Tage, da sie mit gleichaltrigen Gespielinnen aufs Land fuhr. Ihrer Klosterfreundinnen gedachte sie, ihrer gemeinsamen Spiele, ihrer Mahlzeiten. Sie entsann sich mancher Geheimnisse, die sie bei den Großen belauscht hatte, und sie mußte lächeln beim Denken an die tausend kleinen Züge, die so früh die angeborene weibliche Eitelkeit verraten.

Dann erlebte sie im Geiste noch einmal ihren Eintritt in die Gesellschaft. Sie tanzte wieder auf all den herrlichen Bällen, die in dem Jahre nach ihrer Rückkehr aus dem Kloster stattfanden. Alle späteren Bälle hatte sie vergessen; man stumpft so schnell ab. Auf jenen ersten Bällen glänzte Chaverny. Ich Törin! Warum ahnte ich nicht auf den ersten Blick, daß er mein Unglück war? Alle Überschwenglichkeiten und Plattheiten, die er als Verlobter ihr mit so großartigem Eifer vorgesetzt hatte, waren sorgsam in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. Unwillkürlich kamen ihr auch die vielen Bewerber in den Sinn, die ihre Heirat in Verzweiflung gestürzt hatte und die trotzdem ein paar Monate später ebenfalls verheiratet waren oder sich auf andre Weise getröstet hatten. Ob ich mit einem Andern glücklicher geworden wäre? A*** ist ausgesprochen dumm, aber gutmütig, und Amalie wickelt ihn um den Finger. Mit einem Manne, der nachgibt, ist immer auszukommen. B*** hat Verhältnisse nebenher, und seine Frau kränkt sich darüber. Übrigens behandelt er sie stets ritterlich. Ich wäre damit zufrieden. Der junge Graf C***, der dauernd Pamphlete liest und durchaus Abgeordneter werden will, wäre vielleicht ein guter Ehemann? Möglich. Aber langweilig, häßlich, dumm sind sie alle miteinander.

Und zum zweiten Male heute trat Darcy vor ihr geistiges Auge.

Er spielte damals in ihrem Kreise keine Rolle, weil die Mütter wußten, daß er nicht genug Vermögen hatte, um für ihre Töchter in Betracht zu kommen. Die jungen Mädchen fanden ihn nicht zum Verlieben. Er war ein wenig Menschenfeind und Spötter, und es machte ihm Spaß, als einziger Mann in einem Kreise junger Damen über die Schwächen und die Anmaßung der jungen Herren sich lustig zu machen. Keine Mutter beunruhigte sich, wenn Darcy mit ihrer Tochter leise plauderte. Julie und Darcy hatten in vielen Dingen den gleichen Geschmack und beide eine scharfe Zunge. Das verband sie. Nach ein paar kleinen Wortgefechten schlossen sie ein Schutz- und Trutzbündnis; sie schonten einander und waren stets einig, sich auf Kosten ihrer Umgebung zu ergötzen.

Eines Abends war Julie gebeten worden zu singen. Sie hatte eine schöne Stimme, und sie wußte es. Während sie zum Klavier schritt, sah sie hochmütig, fast herausfordernd auf die anwesenden Damen. Nun machte sie gerade an diesem Abend eine leichte Erkältung oder irgendein unseliger Zufall unfähig. Gleich der erste Ton war verfehlt. Sie geriet in Verwirrung und erfuhr eine gründliche Niederlage. Verstört, dem Weinen nahe, verließ sie das Klavier. Als sie wieder auf ihren Platz ging, bemerkte sie auf den Damengesichtern schlecht verhehlte Schadenfreude über ihre Demütigung. Selbst die Männer vermochten kaum ein spöttisches Lächeln zu verbergen. Vor Scham und Zorn schlug sie die Augen nieder und wagte lange nicht, wieder aufzublicken. Dann fiel ihr erster Blick auf Darcys Gesicht; er sah bleich aus, und seine Augen schimmerten feucht. Er schien tiefer getroffen von ihrem Mißgeschick als sie selbst. Er liebt mich, dachte sie; er liebt mich wahrhaft. In der Nacht schlief sie kaum; immer hatte sie Darcys schmerzliches Gesicht vor sich. Zwei Tage lang dachte sie an nichts andres als an ihn und seine heimliche Liebe zu ihr. Sie träumte schon einen ganzen Roman, als Frau von Lussan Darcys Karte mit den drei Buchstaben p.p.c. bekam. Julie fragte einen Bekannten, wohin Darcy gehe. Das wissen Sie nicht? Nach Konstantinopel. Heute nacht reist er von Paris ab ... Er liebt mich also nicht, dachte sie, und nach einer Woche war Darcy vergessen. Darcy dachte noch fast ein Jahr lang an sie. Er lebte einsam unter einem fremden Volke, während Julie in Paris von einem Fest ins andre tanzte und überall gefeiert war.

Nun sah Julie sechs oder sieben Jahre nach der Trennung in ihrem Wagen auf dem Wege nach P*** das traurige Gesicht Darcys vor sich, als sie falsch sang, und sie dachte an seine vermutete Liebe von damals. Vielleicht liebte er sie heute noch? Das beschäftigte sie lebhaft eine Stunde lang; dann war Darcy zum drittenmal vergessen.

VIII

Julie war nicht wenig verstimmt, als sie bei ihrer Ankunft in Frau Lamberts Hof einen Wagen sah, der ausgespannt wurde. Das deutete auf Besuch, der länger blieb. Somit war es ihr nicht möglich, ihre Klagen gegen ihren Mann vorzutragen.

Sie fand Frau Lambert im Salon mit einer ihr nur oberflächlich bekannten Dame im Gespräch. Es kostete sie Mühe, ihren Unwillen über die Nutzlosigkeit ihrer Fahrt nach P*** zu verbergen.

Frau Lambert begrüßte sie herzlich. Ich freue mich, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben. Sie kommen wie gerufen. Ich erwarte eine Menge Gäste, die alle von Ihnen entzückt sind. Julie erwiderte etwas zurückhaltend, sie hätte gewünscht, Frau Lambert allein anzutreffen.

Ach, die andern werden sich sehr freuen, daß Sie hier sind. Es ist recht still bei mir seit meiner Tochter Heirat, und ich bin immer dankbar, wenn meine Freunde sich bei mir treffen. Aber, wo sind denn Ihre schönen Farben, Kindchen? Sie sehen recht blaß aus heute. Julie bog aus: die lange Fahrt, der Staub, die Hitze.

Gerade heute habe ich einen Ihrer Verehrer zu Tische: Herrn von Châteaufort. Dem werde ich eine angenehme Überraschung bereiten. Wahrscheinlich bringt er seinen getreuen Pylades mit, den Major Perrin.

Ich hatte neulich das Vergnügen, Major Perrin bei mir zu sehen. Julie errötete dabei, denn sie meinte Châteaufort.

Auch Herr von Saint-Léger kommt. Er muß unbedingt nächsten Monat Scharadenaufführungen hier arrangieren, und Sie müssen mitwirken! Vor zwei Jahren waren Sie unsre Hauptdarstellerin bei den Scharaden.

Lieber Gott, das ist so lange her, daß ich keine Übung mehr habe.

Ah, liebste Julie, raten Sie schnell, wen wir heute noch erwarten? Dazu müssen Sie aber Ihr Gedächtnis anstrengen.

Darcy, dachte Julie augenblicklich. Ich werde ihn wahrhaftig nicht wieder los. Mein Gedächtnis ist zuverlässig, gnädige Frau, sagte sie.

Ja, aber Sie müssen etwa sieben Jahre zurück. Sie waren noch ein Backfisch, mit den Zöpfen um den Kopf, da machte Ihnen der Betreffende den Hof.

Das errate ich nie und nimmer.

Aber, aber! Einen reizenden Menschen so zu vergessen, der Ihnen übrigens damals, wenn ich mich nicht sehr täusche, dermaßen gefiel, daß Ihrer lieben Mutter angst und bange wurde. Nun, meine schöne Dame, da Sie Ihre Anbeter so vergessen, muß man Sie an ihre Namen erinnern: Herrn Darcy werden Sie heute wiedersehen.

Herrn Darcy?

Ja. Er ist erst seit ein paar Tagen aus Konstantinopel zurück. Vorgestern hat er mich besucht, und da habe ich ihn eingeladen! Sie undankbares Menschenkind, wissen Sie, daß er sich sofort sehr eingehend nach Ihnen erkundigt hat?

Darcy? sagte Julie zweifelnd mit gemachter Interesselosigkeit, war er nicht ein hochgewachsener blonder Mensch? Botschaftssekretär?

Ja, Liebste, aber Sie werden ihn kaum wiedererkennen, so verändert ist er. Bleich, eigentlich olivenfarben mit tiefliegenden Augen. Das Haar ist ihm ausgegangen, durch die Hitze, wie er sagt. Wenn das so weitergeht, ist er in drei Jahren ein radikaler Kahlkopf. Dabei ist er noch keine dreißig. Die andre Dame, die dem Bericht über Darcys Mißgeschick zugehört hatte, empfahl nun eifrig den Gebrauch von Kalydor, das ihr gute Dienste geleistet habe, als sich durch eine Krankheit ihr Haar stark gelichtet hatte. Sie strich, während sie sprach, mit der Hand durch ihre dichten kastanienbraunen Locken.

Ist Herr Darcy die ganze Zeit in Konstantinopel geblieben? fragte Frau von Chaverny.

Nein, er ist viel gereist: durch Rußland, durch ganz Griechenland. Sie wissen nichts von dem Glücksfall, der ihn betroffen hat. Sein Onkel ist gestorben und hat ihm ein schönes Vermögen hinterlassen. In Kleinasien ist er auch gewesen, in ... wie heißt es gleich? ... in Karamanien. Er ist bezaubernd, Liebste. Und die entzückenden Geschichten, die er erzählt. Bei den hübschesten habe ich ihn immer wieder gebeten, er solle sie für meine Damen heute aufsparen, anstatt sie an eine Großmutter wie mich zu vergeuden.

Hat er Ihnen die Geschichte von der Türkin erzählt, der er das Leben gerettet hat? fragte Frau Dumanoir, die Protektorin des Kalydor.

Der Türkin, die er gerettet hat? Er hat eine Türkin gerettet? Kein Wort hat er mir davon gesagt.

Wie? Das war doch eine Heldentat. Der reine Roman.

Erzählen Sie. Bitte, bitte!

Nein, nein, das soll er Ihnen selbst erzählen. Ich weiß die Sache nur von meiner Schwester, deren Mann, wie Sie wissen, in Smyrna Konsul war. Sie hat die Geschichte von einem Engländer, der mit bei dem Abenteuer war. Großartig, sage ich Ihnen.

Bitte, gnädige Frau, erzählen Sie doch. Wie sollen wir noch Geduld haben bis zum Diner? Es gibt nichts Schlimmeres als von einer Geschichte sprechen hören, die man nicht kennt.

Schön! Aber ich werde sie sicherlich verderben. Also das hat man mir erzählt: Herr Darcy war in der Türkei irgendwo am Meer, um, ich weiß nicht welche, Ruinen zu besichtigen. Da sah er einen unheimlichen Zug herankommen: Stumme, die einen Sack trugen; und in diesem Sacke bewegte sich etwas.

Großer Gott! schrie Frau Lambert auf, die Lord Byrons Giaour gelesen hatte; das war eine Frau, die ertränkt werden sollte.

Stimmt! Die Erzählerin war etwas gereizt, weil sie sich hierdurch um die packendste Stelle ihrer Geschichte gebracht sah. Herr Darcy betrachtet den Sack, vernimmt ein dumpfes Stöhnen und errät sofort die furchtbare Wahrheit. Er fragt die stummen Träger, was sie vorhätten. Statt aller Antwort reißen sie ihre Dolche aus dem Gürtel. Glücklicherweise war Herr Darcy gut bewaffnet. Er jagt die Sklaven in die Flucht und zieht aus dem greulichen Sack eine wunderbar schöne, halbtote Frau, die er mit in die Stadt nimmt und in ein Haus bringt, wo sie in Sicherheit ist.

Die Ärmste! sagte Julie, der die Geschichte interessant wurde.

Sie denken, sie ist gerettet? Keineswegs. Der eifersüchtige Ehemann – es war einer da – wiegelte die Bevölkerung auf, die mit Fackeln vor Herrn Darcys Hause erschien, um ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Wie die Sache ausging, weiß ich nicht genau; nur, daß Herr Darcy eine Belagerung aushielt und die Frau schließlich in Sicherheit brachte. Es scheint sogar, fügte Frau Dumanoir in völlig anderem, salbungsvollem Ton durch die Nase hinzu, daß er sie bekehren ließ und daß sie getauft wurde.

Und hat Herr Darcy sie geheiratet? fragte Julie lächelnd.

Darüber bin ich nicht unterrichtet. Die Türkin jedenfalls ... sie hatte einen so komischen Namen, Emineh hieß sie ... liebte Herrn Darcy leidenschaftlich. Meine Schwester sagt, sie hätte ihn immer Sotir genannt; so heißt türkisch und griechisch: mein Erlöser. Sie gehört zu den schönsten Frauen, die meine Schwester je gesehen hat.

Wir ziehen ihn mit seiner Türkin auf, meine Damen. Nicht wahr, rief Frau Lambert, wir necken ihn ein bißchen. – Übrigens wundert mich das von Darcy durchaus nicht; er ist einer der edelmütigsten Menschen, die ich kenne. Ich weiß um manche Tat von ihm, die mir noch heute die Tränen in die Augen treibt. Sein Onkel hinterließ eine natürliche Tochter, die er jedoch nie anerkannt hatte. Er starb ohne Testament, und so hatte sie keinerlei Anrecht auf die Hinterlassenschaft. Darcy war Universalerbe. Er hat ihr einen Teil des Vermögens abgetreten, vermutlich viel mehr, als der Onkel ihr gegeben hätte.

War das Mädchen hübsch? fragte Frau von Chaverny etwas boshaft. Sie empfand das Bedürfnis, Häßliches von Darcy zu sagen, den sie nicht aus ihrem Sinn zu bannen vermochte.

Aber, Liebste, wie können Sie derlei argwöhnen? Darcy war noch in Konstantinopel, als sein Onkel starb. Er hat höchstwahrscheinlich die Person nie gesehen.

Die Ankunft Châteauforts, des Majors Perrin und anderer Gäste machte dem Gespräch ein Ende. Châteaufort nahm neben Julie Platz und benützte den Augenblick, als alles durcheinanderredete, zu ihr zu sagen: Sie sehen bekümmert aus, gnädige Frau. Es wäre mir schmerzlich, wenn daran Schuld trüge, was ich Ihnen gestern abend geoffenbart habe.

Frau von Chaverny hatte nicht gehört oder vielmehr nicht hören wollen. Châteaufort fühlte die Demütigung, seine Frage wiederholen zu müssen, und die weitere Demütigung einer kühlen Antwort. Dann mischte sich Julie in die allgemeine Unterhaltung und verließ bald ihren Platz neben ihrem unglücklichen Bewunderer. Er verlor den Mut nicht. Vergeblich vergeudete er eine Menge Geist; sie, der er einzig zu gefallen wünschte, hörte nur halb hin. Ihre Gedanken schwebten um Darcy, der bald erscheinen mußte. Rätselhaft, sie kam nicht los. Dabei sollte sie ihn vergessen haben, wie er gewiß sie längst vergessen hatte!

Endlich hörte man einen Wagen vorfahren. Die Tür zum Salon flog auf.

Da ist er! rief Frau Lambert. Julie wagte nicht, den Kopf zu wenden, aber sie wurde sehr bleich. Ein Kälteschauer überrieselte sie, und sie mußte sich mit aller Gewalt zusammennehmen, damit Châteaufort die Veränderung in ihrem Gesicht nicht gewahr wurde.

Darcy küßte der Hausfrau die Hand, sprach eine Weile stehend mit ihr und nahm dann neben ihr Platz. Eine große Stille trat ein. Frau Lambert wartete; sie wollte das Wiedererkennen vorbereiten.

Châteaufort und die andern Herren, der harmlose Perrin ausgenommen, beobachteten Darcy mit eifersüchtiger Neugier. Er, der aus dem Orient kam, hatte große Vorteile vor ihnen voraus. Das genügte, damit sie sich in steife Förmlichkeit hüllten, wie sie einem Fremden meist zuteil wird. Darcy gab auf niemanden weiter acht. Er brach als erster das Schweigen, sagte irgend etwas vom Wetter oder vom Weg mit weicher klangvoller Stimme. Frau von Chaverny wagte es, ihn anzuschauen; sie sah ihn von der Seite. Er erschien ihr noch schlanker und im Ausdruck verändert. Im ganzen war sie befriedigt.

Schauen Sie sich mal im Kreise um, lieber Darcy, forderte ihn Frau Lambert auf, ob Sie nicht eine alte Bekannte entdecken.

Darcy wandte den Kopf und sah Julie, die sich bis dahin unter ihrem Hut verborgen hatte. Er sprang schnell auf, mit einem Ausruf der Überraschung, und eilte mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Plötzlich blieb er stehen wie in Reue, daß er sich hatte hinreißen lassen, verneigte sich tief vor Julie und sagte ihr in artigen Worten, daß er sich freue, sie wiederzusehen. Julie stotterte ein paar Höflichkeitsphrasen und errötete heiß unter den prüfenden Blicken des vor ihr Stehenden. Doch bald gewann sie ihre Geistesgegenwart zurück und betrachtete nun ihn ihrerseits mit jenem gleichzeitig abwesenden und abwägenden Blick, über den die Weltmenschen jederzeit verfügen. Er war schlank, bleich und hatte ruhige Züge. Diese Ruhe schien indes weniger der Abglanz seines gewöhnlichen Seelenzustandes als vielmehr seiner Herrschaft über den Gesichtsausdruck. Seine Stirn war gefurcht. Die Augen lagen tief, die Mundwinkel waren heruntergezogen und an den Schläfen war das Haar dünn. Doch war er kaum dreißig Jahre alt. Seine Kleidung war schlicht, aber von jener Vornehmheit, die die gute Gesellschaft verrät und eine gewisse Geringschätzung des Übertriebenen, das die Gedanken so vieler junger Leute ausschließlich beschäftigt. Julie nahm das alles mit Vergnügen wahr. Sie sah auch auf seiner Stirn eine lange Narbe, die eine Locke nur mangelhaft verdeckte und die von einem Säbelhieb herzurühren schien.

Julie saß neben Frau Lambert. Zwischen ihr und Châteaufort war ein Stuhl frei; aber im Augenblick, als Darcy aufgesprungen war, hatte Châteaufort seine Hand auf die Lehne gelegt, den Stuhl gekippt und ließ ihn nun auf einem Beine schaukeln. Es war klar, daß er ihn nicht freigeben wollte. Frau Lambert hatte Mitleid mit Darcy, der noch immer vor Julie stand. Sie räumte ihm einen Platz neben sich auf dem Sofa ein, so daß er an Juliens Seite kam. Er nützte diesen Umstand sofort aus und knüpfte eine lebhafte Unterhaltung mit ihr an. Indessen mußte er vor Frau Lambert und den andern Damen ein regelrechtes Verhör über seine Reisen durchmachen. Er zog sich aber so lakonisch wie möglich aus der Sache und erfaßte jede Gelegenheit, seine Einzelunterhaltung mit Frau von Chaverny fortzusetzen. Die Tischglocke läutete. Frau Lambert forderte Darcy auf, Julie zu führen. Châteaufort biß sich auf die Lippen, bewerkstelligte es aber, daß er in Juliens Nähe saß und sie im Auge behalten konnte.

IX

Nach der Tafel saß man, da der Abend schön und warm war, zum Kaffee im Garten um einen ländlichen Tisch. Mit wachsendem Groll beobachtete Châteaufort Darcys Artigkeiten für Frau von Chaverny. Je mehr er der Anteilnahme inneward, die sie Darcys Worten schenkte, um so unliebenswürdiger wurde er. Seine Eifersucht bewirkte nichts, als daß sie ihn unfähig machte zu gefallen. Er konnte nicht sitzen bleiben. Ruhelos wanderte er hin und her, bald die dunkle, gewitterdrohende Wolkenwand betrachtend, die am Horizont aufwuchs, bald seinen Nebenbuhler, der leise mit seiner Dame plauderte. Jetzt sah er sie lächeln, jetzt ernst dreinschauen und jetzt scheu die Augen niederschlagen. Kein Wort, das Darcy sagte, verfehlte seine Wirkung. Juliens Antlitz war wie der Spiegel, wie der Widerschein des beweglichen Gesichtes Darcys. Das gab Châteaufort vollends den Rest. Um seiner Qual ein Ende zu machen, kam er heran, beugte sich über Juliens Stuhllehne, als Darcy gerade jemandem Aufschluß über den Bart des Sultans Mahomed erteilte, und sagte gepreßt: Herr Darcy ist wohl sehr liebenswürdig?

O ja, erwiderte Frau von Chaverny mit unverhohlener Bewunderung.

Es scheint so; denn er läßt Sie Ihre alten Freunde vergessen.

Meine alten Freunde? Ich weiß nicht, was Sie meinen, sagte sie streng, wandte ihm den Rücken und faßte Frau Lamberts Taschentuch: Welch wundervolle Stickerei! Wie schön gearbeitet!

Finden Sie, Liebste? Es ist ein Geschenk von Darcy. Er hat mir eine ganze Anzahl solcher Tücher aus Konstantinopel mitgebracht. – Sagen Sie, Darcy, hat Ihre Türkin sie gestickt?

Meine Türkin? Welche Türkin?

Nun, die wunderschöne Sultanin, der Sie das Leben gerettet haben, und die Sie dafür – oh, wir wissen alles! – ihren ... Erlöser nannte! Das türkische Wort wissen Sie besser als ich.

Ist's möglich? Erzählt man sich bereits in Paris mein Mißgeschick?

Mißgeschick? Wieso? Doch höchstens für den alten Pascha, der seine Lieblingsfrau dabei eingebüßt hat.

Ich sehe, Sie kennen nur die halbe Geschichte. Denn das Abenteuer war für mich so betrüblich wie die Geschichte mit den Windmühlenflügeln für Don Quichotte. Soll ich für die einzige Tat, die ich als fahrender Ritter verbrochen habe, auch noch in Paris an den Pranger, nachdem sie mich dort unten schon genug ausgelacht haben?

Das wissen wir ja gar nicht! Erzählen Sie. Bitte, bitte! erzählen Sie, riefen alle Damen gleichzeitig.

Ich sollte Sie bei dem lassen, was Sie schon wissen, und mir die Fortsetzung ersparen. Jene Erinnerungen sind wenig angenehm für mich. Aber ein Freund von mir, Sir John Tyrrel, der in der Tragikomödie mitwirkte ..., ich darf ihn Ihnen doch bringen, gnädige Frau? fügte er zu Frau Lambert gewendet, hinzu; er kommt demnächst nach Paris, und es wäre möglich, daß er sich das boshafte Vergnügen machte, mir in seiner Darstellung eine noch lächerlichere Rolle zuzuteilen, als ich in Wirklichkeit gespielt habe.

Die Sache war so. Als jene Unglückliche im französischen Konsulat untergebracht war ...

Ach, fangen Sie nur hübsch von vorn an! rief Frau Lambert.

Den Anfang kennen Sie doch.

Gar nichts kennen wir. Wir wollen die Geschichte von Anfang bis zum Ende von Ihnen hören.

Schön. Also, im Jahre 18** weilte ich in Larnaka. Eines Tages wollte ich vor der Stadt draußen zeichnen. Ein netter junger Engländer, Sir John Tyrrel, ging mit, ein guter Junge, der zu leben versteht, ein famoser Reisebegleiter, weil er stets rechtzeitig an die Mahlzeiten dachte, niemals den Proviant vergaß und immer guter Laune war. Er reiste viel und planlos umher und hatte gottlob keine Ahnung von Botanik und Geologie, die einen Reisegefährten so sehr langweilig machen können.

Etwa zweihundert Meter vom Meere entfernt, das an dieser Stelle von steilen Felsen überragt war, saß ich und zeichnete ganz vertieft ein altes Grabmal, während der Engländer köstlichen Tabak rauchend im Grase lag und über meine unselige Leidenschaft zur Kunst spöttelte. Neben uns kochte unser türkischer Dragoman Kaffee. Er war der trefflichste Kaffeekoch und der größte Feigling, der mir unter den Türken begegnet ist. Auf einmal rief Sir John vergnügt: Da kommen Leute mit Eis den Berg herunter!

Ich schaute auf und sah einen Esel, über dessen Rücken ein großes Paket querüber lag, das auf jeder Seite von einem Sklaven gehalten wurde. Voran ging der Eseltreiber; hinterher ritt ein ehrwürdiger alter Türke mit schlohweißem Bart. Langsam und feierlich nahte der Zug.

Unser Diener blies ins Feuer, warf einen Seitenblick auf den Esel und seine Last und sagte mit geheimnisvollem Lächeln: Das ist kein Eis. Dann wandte er sich mit gewohntem Gleichmut wieder seinem Kaffee zu.

Was denn sonst? fragte Tyrrel. Nichts zu essen?

Doch. Für die Fische.

Im selben Augenblick sprengte der Reiter im Galopp an uns vorbei dem Meere zu, nicht ohne uns einen verächtlichen Blick zuzuwerfen, wie ihn die Muselmänner so gern den Christen gönnen. Er trieb sein Pferd bis an die Felsklippen hinauf und hielt auf der steilsten an. Dort spähte er in die Tiefe und schien den geeignetsten Punkt zum Hinunterspringen zu suchen. Wir betrachteten inzwischen den Sack, den der Esel trug, genauer; seine absonderliche Form fiel uns auf. Alle Geschichten von Frauen, die von ihren eifersüchtigen Männern ertränkt worden waren, kamen uns in den Sinn. Wir teilten einander unsre Gedanken mit, und Sir John gebot unserm Türken, die Sklaven zu fragen, ob sie eine Frau brächten. Der Dragoman riß die Augen tellergroß auf, behielt aber den Mund zu. Die Frage erschien ihm allzu ungehörig.

Eben war der Sack dicht vor uns, und wir sahen deutlich, wie er sich bewegte, hörten sogar etwas wie Stöhnen oder Brummen.

Tyrrel ist, obwohl Genießer, doch überaus ritterlich. Wütend schoß er in die Höhe, auf den Eseltreiber zu und rief ihn in seiner Erregung auf englisch an, was im Sacke sei und was er damit vorhabe? Der Führer hütete sich zu antworten. Aber der Sack bewegte sich heftig und ließ Frauenschreie hören; die Sklaven schlugen mit ihren Eselstecken auf ihn ein. Tyrrel kannte sich nicht mehr. Mit einem wuchtigen geübten Faustschlag streckte er den Führer zu Boden und packte den einen Sklaven an der Gurgel. In der Hitze des Gefechts fiel der Sack schwer zur Erde.

Ich eilte hinzu, der zweite Sklave raffte Steine zusammen, und der Führer stand wieder auf. Trotz meiner Abneigung, mich in fremde Händel zu mischen, mußte ich meinem Gefährten zu Hilfe kommen. Ich riß den Pfahl, auf den ich beim Zeichnen meinen Sonnenschirm steckte, aus der Erde und schwang ihn so drohend und kriegerisch wie möglich gegen den Führer und die Sklaven. Soweit war alles gut gegangen. Da drehte sich dieser abscheuliche Türkenreiter auf den Klippen, der das Meer lange genug betrachtet hatte, um und war wie der Blitz unter uns, ehe wir uns dessen versahen. Er hielt ein scheußliches Messer in der Hand.

Ein Ataghan? fragte Châteaufort, der für Lokalfarbe war.

Ein Ataghan! Darcy lächelte beifällig. Und er fuchtelte mir damit um den Kopf, daß mir Hören und Sehen verging. Wild geworden, zehnmal wilder als mein Engländer, schlug ich den Alten mit meinem Pfahle kräftig auf die Rippen und schwang meine Waffe eifrigst im Kreise über Führer, Sklaven, Herrn und Tier. Trotzdem wäre die Sache wohl schief für uns ausgegangen. Denn unmöglich konnten wir zwei – unser Diener verhielt sich neutral – uns lange mit einem bloßen Stock gegen drei Mann Infanterie, einen Kavalleristen und einen Krummsäbel halten! Glücklich erweise entsann sich Sir John der beiden Revolver, die er mitgenommen hatte. Er warf mir einen zu, packte den andern und hob ihn gegen den Alten, der uns so bedrängte. Der Anblick der Feuerwaffen, das leise Knacken der Hähne wirkte geradezu magisch auf unsre Feinde; wie der Wind stoben sie davon und ließen uns als Herren des Schlachtfeldes, des Sackes und sogar des Esels zurück. Trotz unsrer Wut hatten wir nicht geschossen, und das war unser Glück. Denn ungestraft tötet keiner einen Muselmann; schon einen zu verprügeln, kommt teuer zu stehen.

Ich wischte mir oberflächlich das Blut ab, und dann galt unsere erste Sorge dem Sack. Wir banden ihn auf und fanden darin eine ganz hübsche, etwas dickliche Frau mit schönem schwarzem Haar. Sie trug nichts als ein blaues Hemd, das beinahe so durchsichtig war wie Frau von Chavernys Schal. Sie kroch geschmeidig aus dem Sack, durchaus nicht eingeschüchtert, und hielt uns eine zweifellos sehr rührende Rede, von der wir leider kein Wort verstanden. Zum Schluß küßte sie mir die Hand. Das einzige Mal in meinem Leben, meine Damen, daß eine Frau mir solche Ehre erwiesen hat. Inzwischen waren wir wieder vernünftig geworden. Unser Diener raufte verzweifelt seinen Bart. Ich umwickelte mir so gut es ging den Kopf mit meinem Taschentuch.

Tyrrel fragte: Was zum Teufel sollen wir mit dem Weib anfangen? Wenn wir hier bleiben, kommt der Ehemann mit Verstärkung zurück und schlägt uns tot. Und wenn wir in diesem Aufzuge mit ihr nach Larnaka zurückkehren, steinigt uns der Pöbel unfehlbar. Er hatte sein britisches Phlegma wiedergewonnen und grollte: Warum zum Henker mußten Sie auch heute zeichnen gehen?

Ich mußte lachen, und die Frau lachte mit, obgleich sie nichts verstanden hatte.

Wir mußten nun zu einem Entschluß kommen, und es schien mir das beste, daß wir uns unter den Schutz des französischen Konsuls stellten. Das Schwierigste dabei war die Rückkehr nach Larnaka. Zum Glück neigte sich der Tag. Unser Diener führte uns auf Umwegen, und wir erreichten dank seiner Vorsicht und der hereingebrochenen Nacht ohne Zwischenfall des Konsuls Haus, das außerhalb der Stadt lag. Ich vergaß zu berichten, daß wir der Frau aus dem Sack und dem Turban unsers Dragomans ein leidlich anständiges Gewand hergestellt hatten.

Der Konsul empfing uns höchst ungnädig. Er sagte, wir seien verrückt; wenn man in fremden Landen reise, habe man dessen Sitten und Gebräuche zu achten und nicht den Finger zwischen Tür und Angel zu stecken. Kurzum, er sagte uns gründlich die Meinung; und er hatte recht. Unsere Tat war danach, einen blutigen Aufstand hervorzurufen, bei dem sämtliche Franzosen auf Cypern ihr Leben eingebüßt hätten. Seine Frau urteilte menschlicher. Sie las viel Romane und fand unsere Tat sehr edelmütig. Wir hatten uns allerdings wie Romanhelden benommen.

Diese vortreffliche Dame war fromm. Sie bildete sich ein, daß sie die Heidin mit Leichtigkeit bekehren werde. Die Bekehrung käme ins Regierungsblatt, und ihr Mann würde daraufhin Generalkonsul werden. Dieser Plan entstand augenblicklich in ihrem Hirn. Sie umarmte die Türkin, gab ihr ein Kleid, kanzelte den Herrn Konsul ob seiner Grausamkeit ab und schickte ihn zum Pascha, damit er die Sache in Ordnung brächte.

Der Pascha war wütend, denn der eifersüchtige Ehemann war ein großes Tier und spie Feuer und Flamme. Es sei eine Schmach, daß gemeine Christenhunde einem Manne wie ihm verwehren wollten, seine Sklaven ins Meer zu werfen.

Der Konsul war in einer schlimmen Lage; er sprach viel von seinem Könige, noch mehr von einer Fregatte zu sechzig Geschützen, die eben vor Larnaka erschienen war. Den tiefsten Eindruck erzielte indes der Vorschlag, den er in unserem Namen machte, die Haremsdame auf Heller und Pfennig zu bezahlen. Und wissen Sie, was eine Türkin auf Heller und Pfennig kostet? In unserm Falle: Abfindung für den Ehemann, Abfindung für den Pascha, Abfindung für den Eseltreiber, dem Tyrrel zwei Zähne eingeschlagen hatte, Buße für den Skandal, Buße für alles und jedes. Wie oft hat Sir John schmerzlich gestöhnt: Wozu in drei Teufels Namen muß man am Meeresstrande zeichnen!

Das war wirklich ein Abenteuer, mein armer Darcy! rief Frau Lambert. Daher haben Sie also die fürchterliche Schmarre. Bitte heben Sie Ihr Haar etwas hoch. Das ist ja ein Wunder, daß er Ihnen nicht den Schädel gespalten hat!

Julie hatte während der ganzen Erzählung kein Auge von der Narbe verwandt. Jetzt fragte sie schüchtern: Was wurde aus der Frau?

Das ist nun der wunde Punkt, den ich nicht gern erzähle! Das Ende ist so beschämend für mich, daß ich jetzt noch wegen meiner Ritterfahrt verhöhnt werde.

War die Türkin hübsch? fragte Frau von Chaverny mit leichtem Erröten.

Wie hieß sie? wollte Frau Lambert wissen.

Sie hieß Emineh.

Hübsch?

Ziemlich. Nur zu dick und wahnsinnig geschminkt, wie das dort Sitte ist. Es braucht lange Gewöhnung, bis ein Abendländer die Reize der türkischen Frauen schätzen lernt. Emineh blieb im Hause des Konsuls. Sie war eine Mingrelierin und, wie sie der Konsulin anvertraute, eines Fürsten Tochter. Da unten ist jeder Spitzbube, der über zehn andre Spitzbuben gebietet, ein Fürst. Emineh wurde demnach als Prinzessin behandelt; sie aß mit bei Tisch, und zwar für vier. Bei den religiösen Unterweisungen schlief sie regelmäßig ein. Das ging so eine Weile. Schließlich wurde der Tauftag festgesetzt. Die Konsulin wollte Pate stehen und mich als Gevatter haben. Bonbonnieren, Geschenke und was alles dazu gehört, hatte ich zu besorgen. Offenbar stand in den Sternen geschrieben, daß die unselige Türkin mich zugrunde richten sollte! Die Konsulin behauptete, Emineh liebe mich; denn sie verschütte jedesmal, wenn sie mir den Kaffee anbiete, die Hälfte über mich! Ich bereitete mich mit vorbildlicher Frömmigkeit auf die Tauffeier vor. Am Abend vor dem Feste verschwand das schöne Taufkind. Muß ich auch das noch erzählen? Der Konsul hatte einen mingrelischen Koch, einen Erzhalunken, der aber einen tadellosen Pilaf (Reis mit Hammelfleisch) bereitete. Emineh verliebte sich in ihn; offenbar aus Heimweh. Er entführte sie und obendrein aus des Konsuls Geldschrank eine stattliche Summe, die nie wiederkehrte. So war der Konsul um sein Geld geprellt, seine Frau um die Aussteuer für den Täufling und ich um die übrigen Unkosten und Auslagen, ganz abgesehen von dem Hieb, den ich dabei abbekommen habe. Ich wurde zum Überfluß für die ganze Geschichte gewissermaßen verantwortlich gemacht als der, der die widerwärtige Person, die ich auf den tiefsten Meeresgrund verwünschte, befreit hatte. Tyrrel wußte sich aus der Schlinge zu ziehen; er galt überall als Opferlamm, während er doch das ganze Unheil heraufbeschworen hatte. Mir hingegen bleibt allezeit der Ruhm des Ritters von der traurigen Gestalt und die Schmarre, die meine Erfolge stark beeinträchtigt.

Als die Geschichte zu Ende war, ging man in den Salon zurück. Darcy plauderte noch eine Weile mit Frau von Chaverny, bis ihm ein junger Mann vorgestellt zu werden wünschte, der ungemein viel von Volkswirtschaft verstand, sich zum Abgeordneten ausbildete und just statistisches Material über das osmanische Reich sammelte.

X

Julie sah wiederholt auf die Uhr. Zerstreut hörte sie Châteaufort zu; ihre Blicke wanderten immer wieder zu Darcy, der am andern Ende des Salons plauderte. Zuweilen ruhten im Gespräch mit dem Statistiker seine Augen auf ihr, und sie vermochte seinem durchdringenden Blick nicht standzuhalten. Sie fühlte, daß er bereits außergewöhnliche Macht über sie gewonnen hatte, und sie machte keinen Versuch mehr, sich ihm zu entziehen.

Sie befahl ihren Wagen. Dabei sah sie, absichtlich oder aus Zerstreutheit, Darcy mit einem Blick an, der offenbar sagte: Sie haben eine Stunde vergeudet, die wir einander schenken konnten!

Ihr Wagen fuhr vor. Darcy redete noch immer, sah aber müde und gelangweilt aus; der andere ließ ihn nicht los. Langsam stand Julie auf. Sie drückte der Hausfrau die Hand und schritt nach der Tür, erstaunt, fast gekränkt, weil Darcy blieb, wo er war. Châteaufort folgte ihr und bot ihr seinen Arm. Sie nahm ihn mechanisch, ohne seine Worte zu hören, beinahe ohne sich seiner Nähe bewußt zu sein.

Frau Lambert und ein paar Gäste gaben ihr das Geleit durch die Halle bis an ihren Wagen. Darcy hatte den Salon nicht verlassen. Châteaufort fragte sie lächelnd, als sie im Wagen saß, ob sie sich nicht fürchte, so mutterseelenallein auf der Landstraße mitten in der Nacht? Er werde ihr in seinem Dogcart folgen, sobald der Major Perrin seine Billardpartie zu Ende gespielt habe.

Julie erwachte aus ihrer Versonnenheit durch den Klang seiner Stimme, hatte aber keine Silbe verstanden. Sie tat, was jede Frau in solchem Falle tut: sie lächelte ihn an. Dann winkte sie den Übrigen auf der Freitreppe zu; ihre Pferde zogen an und entführten sie.

Eben in dem Augenblick, als sich der Wagen in Bewegung setzte, sah sie Darcy aus dem Salon eilen, blaß, traurig, die Augen auf sie gerichtet, gleichsam einen Abschiedsgruß von ihr heischend. Sie fuhr davon, Bedauern im Herzen, daß sie ihm nicht noch hatte besonders zunicken können. Ob er ihr böse war? Schon hatte sie vergessen, daß er es einem andern überlassen hatte, sie an den Wagen zu geleiten. Alles Unrecht war nun bei ihr, und sie machte sich Vorwürfe wie über ein Verbrechen. Das Gefühl, das Darcy vor Jahren in ihr geweckt hatte, war bei weitem nicht so stark wie das, das sie heute mit sich nahm. Nicht nur hatten die Jahre den Eindruck vertieft. Der Zorn, der sich gegen ihren Mann in ihr angehäuft hatte, vielleicht auch die leise Sympathie für Châteaufort, der in diesem Augenblick völlig vergessen war, hatten einem stärkeren Gefühl für Darcy den Boden in ihr bereitet.

Darcys Gedanken waren weit ruhigerer Art. Es war ihm ein Vergnügen gewesen, einer hübschen Frau wieder zu begegnen, die liebe Erinnerungen in ihm wachrief, und deren Bekanntschaft für seinen Pariser Winter wahrscheinlich eine angenehme Zugabe war. Aber kaum war sie seinen Blicken entschwunden, so blieb ihm nur die Erinnerung an ein paar nett verplauderte Stunden, zudem getrübt durch die Aussicht, vier Wegstunden zurücklegen zu müssen, ehe er, spät genug, in sein Bett kam. Er wickelte sich sorgfältig in seinen Mantel, streckte sich behaglich in seinem Mietswagen aus und ließ im Fahren seine Gedanken von Frau Lamberts Salon nach Konstantinopel, von Konstantinopel nach Korfu, und von Korfu in einen Halbschlummer gleiten.

XI

Als Frau von Chaverny das Lambertsche Schloß verließ, war es stockfinstere Nacht, die Luft schwer und schwül. Hin und wieder erhellten Blitze die Landschaft und zeichneten schwarze Baumlinien auf schwefelgelben Grund. Nach jedem Blitz erschien die Finsternis undurchdringlicher. Der Kutscher vermochte die Pferdeköpfe kaum zu unterscheiden. Bald brach ein heftiges Gewitter los. Zuerst fiel der Regen nur in einzelnen großen Tropfen. Dann wurde er zur wahrhaften Sintflut. Ringsum war der Himmel ein Flammenmeer, und der Donner rollte ohrenbetäubend. Erschreckt keuchten die Tiere und wollten nicht weiter. Der Kutscher hatte vortrefflich gegessen. Sein dicker Mantel und noch mehr der viele Wein, den er getrunken hatte, machten ihn unempfindlich gegen Regen und schlechte Straßen. Kräftig peitschte er auf die armen Tiere ein, unerschrocken wie weiland Cäsar im Sturm, als er den Fährmann beschwichtigte: Du trägst Cäsar und sein Glück!

Frau von Chaverny fürchtete sich nicht bei Gewitter; sie gab kaum auf das Unwetter acht. Sie rief sich jedes einzelne Wort zurück, das Darcy zu ihr gesprochen hatte, und dachte sich zu spät hundert Dinge aus, die sie ihm hätte sagen können. Ein heftiger Stoß riß sie jählings aus ihren Träumen. Die Scheiben zersplitterten und ein unheimliches Krachen verkündete Unheil. Der Wagen hing im Straßengraben, mit zerbrochenem Rade. Julie kam mit dem Schrecken davon. Die Laternen waren erloschen. Der Regen strömte. Nirgends war ein Haus zu erblicken, wo sie Unterkunft gefunden hätte. Der Kutscher fluchte. Der Diener verwünschte den Kutscher und sein Ungeschick.

Julie blieb im Wagen sitzen und fragte, wie sie nach P** zurück könne oder was zu tun sei. Auf jede Frage bekam sie dieselbe vernichtende Auskunft: Unmöglich!

Da hörte man in der Ferne Wagenrollen, und zu seiner Befriedigung erkannte der Kutscher auf dem herangekommenen Gefährt einen Kollegen, mit dem er in Frau Lamberts Bedientenstube Brüderschaft getrunken hatte. Er rief ihn an. Der Wagen hielt. Kaum war der Name der Frau von Chaverny erklungen, als ein Herr aus dem Kabriolett sprang und alsbald neben der verunglückten Kutsche stand.

Julie erkannte Darcy; sie hatte ihn erwartet. Beider Hände begegneten sich im Dunkeln, und Darcy meinte zu spüren, daß Julie die seine drückte. Offenbar eine Wirkung der ausgestandenen Angst.

Nach den ersten Fragen bot ihr Darcy einen Sitz in seinem Wagen an. Julie zögerte. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Fuhr sie in Darcys Wagen weiter nach Paris, so war sie ziemlich zwei Stunden lang ganz allein mit ihm. Kehrte sie nach P** zurück und bat Frau Lambert um Gastfreundschaft, so mußte sie das ganze Abenteuer von dem verunglückten Wagen und Darcys Hilfe haarklein erzählen. Mitten in die Whistpartie hinein wieder im Salon zu erscheinen, von Darcy gerettet wie jene Türkin, nein, das war undenkbar.

In ihrer Unentschlossenheit stotterte sie ziemlich unbeholfen ein paar nichtssagende Redensarten über die Ungelegenheit, die sie verursache. Darcy, der so tat, als nehme er ihre Worte für echt, erklärte kühl: Sie nehmen meinen Wagen, gnädige Frau, und ich bleibe in dem Ihren sitzen, bis jemand kommt, der mich mitnehmen kann.

Um nicht überempfindsam zu erscheinen, nahm Julie schnell das erste Anerbieten an, nicht aber das zweite. Ihr rascher Entschluß ließ ihr keine Zeit, sich über die wesentliche Frage, ob sie nach Paris oder nach P** wolle, klar zu werden. Sie saß in Darcys Wagen, in seinen Mantel eingehüllt, und munter trabten die Gäule gen Paris, noch ehe sie daran denken konnte, ihr Ziel zu nennen. Ihr Diener hatte für sie entschieden, indem er dem Kutscher ihre Wohnung nannte.

Auf beiden Seiten begann die Unterhaltung etwas befangen. Darcys Ton war kurz, fast etwas verärgert. Julie fürchtete, ihre Unschlüssigkeit habe ihn verstimmt; er halte sie für lächerliche Zimperlichkeit. So sehr war sie bereits in seinem Bann, daß sie sich die Schuld an seiner Verstimmung vorwarf und sie um jeden Preis zu verscheuchen wünschte. Sie gewahrte, daß sein Anzug regennaß war. Sofort nahm sie seinen Mantel von ihrer Schulter und verlangte, daß er sich hineinhülle. Ein edelmütiger Kampf entspann sich, der damit endete, daß jeder eine Hälfte bekam. Eine große Unklugheit, die Julie ohne jenes Zaudern, das sie in Vergessenheit bringen wollte, nicht begangen hätte. Sie saßen so nah nebeneinander, daß sie auf ihrer Wange seinen Atem verspürte. Das Rütteln des Wagens näherte sie einander gelegentlich noch mehr.

Dieser Mantel, der uns beide umschmiegt, erinnert mich an unsre Scharaden von ehemals, sagte Darcy. Erinnern Sie sich, wie Sie damals meine Virginie waren? Wir steckten beide unter dem Mantel Ihrer Großmutter.

O ja. Und wie sie mir nachher die Leviten las!

Ach, war das eine selige Zeit! Wie oft habe ich schmerzlich-glücklich unsrer himmlischen Abende in der Rue Belle-chasse gedacht. Erinnern Sie sich noch an die prächtigen Geierflügel, die Ihnen mit rosa Bändern an die Schultern gebunden wurden. Und den Schnabel aus Goldpapier, den ich Ihnen so kunstvoll geklebt hatte?

Ach ja, Sie waren Prometheus und ich der Geier. Was für ein gutes Gedächtnis Sie haben! Wie konnten Sie alle jene Torheiten behalten? Es ist ja so lange her, daß wir uns nicht gesehen haben.

Sie wollen eine Schmeichelei? fragte Darcy lächelnd, und beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen. Ernster fügte er hinzu: Es ist wahrhaftig ganz natürlich, daß ich das Gedenken an meine schönsten Stunden bewahrt habe!

Sie waren wirklich begabt für die Scharaden, lenkte Julie ab; sie fürchtete, die Unterhaltung könnte allzusehr ins Gefühlvolle geraten.

Wollen Sie noch einen Beweis für mein Gedächtnis? fragte Darcy. Erinnern Sie sich unsers Vertrages bei Frau Lambert? Wir hatten einander versprochen, die ganze Welt schlecht zu machen, aber uns gegenseitig bei jedermann in Schutz zu nehmen. Unser Vertrag hat leider das Schicksal der meisten Verträge geteilt: er ist nie in Kraft getreten.

Was wissen Sie davon?

Nun, Sie werden nicht allzu oft Gelegenheit gehabt haben, mich zu verteidigen. Denn wer hat wohl noch nach mir gefragt, sobald ich einmal Paris fern war?

Sie zu verteidigen? Nein. Aber von Ihnen mit Ihren Freunden zu plaudern.

Ach, meine Freunde! Er lächelte trüb. Hatte ich damals überhaupt welche? Zum mindesten keine, die Sie gekannt haben. Die jungen Männer, die bei Ihrer Frau Mutter verkehrten, haßten mich. Warum, weiß ich nicht. Und die jungen Damen dachten kaum an den Attaché im Ministerium des Äußern.

Weil Sie sich nicht um sie bemüht haben.

Stimmt. Das habe ich nie gekonnt, den Liebenswürdigen da zu spielen, wo ich keine Liebe empfand.

Ohne die Dunkelheit hätte er das tiefe Rot sehen können, das über ihre Wangen flog bei diesen Worten, denen sie einen Sinn verlieh, den er wohl kaum hineingelegt hatte. Sie wollte dem Auffrischen dieser allzu gut bewahrten Vergangenheit ein Ende machen und ihn auf seine Reisen bringen, weil sie hoffte, dann selbst nichts sagen zu müssen. Dies Mittel wirkt beinahe immer bei Leuten, die gereist sind, zumal bei solchen, die in fernen Ländern waren.

Sie haben eine herrliche Zeit hinter sich! So möchte ich auch einmal reisen können.

Aber Darcy war nicht zum Erzählen aufgelegt. Unvermittelt fragte er: Wer war der Herr mit dem Schnurrbart, der bei Frau Lambert mit Ihnen sprach?

Nun errötete Julie noch tiefer: Ein Freund meines Mannes. Ein Offizier aus seinem Regiment. Und nicht gesonnen, sich das Thema Orient nehmen zu lassen, fuhr sie fort: Es heißt, daß alle, die den stets blauen Himmel des Südens gesehen haben, nirgendwo anders mehr leben mögen.

Mir hat er gründlich mißfallen, ich weiß nicht warum ... Ich meine den Freund Ihres Mannes, nicht den blauen Himmel. Übrigens bewahre Sie der Herrgott vor jenem blauen Himmel, gnädige Frau! Er wird einem zu guter Letzt so zum Überdruß, weil er sich immer und ewig gleich bleibt, daß man das schmutzigste Pariser Nebelwetter als den wundervollsten Anblick genießen würde. Glauben Sie mir, nichts greift die Nerven mehr an als dieser blaue Himmel, der gestern blau war und morgen wieder blau sein wird. Wenn Sie ahnten, mit welcher Ungeduld und welcher immer neuen Enttäuschung man eine Wolke erwartet, ersehnt.

Sie haben trotz alledem ziemlich lange unter jenem blauen Himmel ausgehalten!

Wie hätte ich es ändern können? Hätte ich meinen Wünschen folgen dürfen, so wäre ich rasch genug in die Nähe der Rue Belle-chasse zurückgekehrt, nachdem ich das bißchen Neugier, das die Wunder des Ostens nun einmal erregen, befriedigt hatte.

Mancher Reisende würde vielleicht dasselbe sagen, wenn er es wagte so offen zu sein wie Sie ... Wie verbringt man eigentlich seine Tage in Konstantinopel und den anderen Städten dort unten?

Es gibt dort, wie anderswo auch, verschiedene Arten, die Zeit totzuschlagen. Der Engländer trinkt, der Franzose spielt, der Deutsche raucht, und besonders muntere Leute bringen etwas Abwechslung in ihre Vergnügungen, indem sie auf die Dächer steigen, um sich die Schönen des Landes näher anzuschauen und dafür gelegentlich eine Flintenkugel in die Rippen zu bekommen.

Dieser Beschäftigung haben wohl auch Sie Ihre meiste Zeit gewidmet?

Keineswegs. Ich habe Griechisch und Türkisch gelernt und mich dadurch lächerlich gemacht. Wenn ich meine Depeschen auf der Gesandtschaft erledigt hatte, habe ich gezeichnet, oder ich bin an die Süßen Wasser geritten, oder an den Strand gewandert und habe ausgeschaut, ob nicht ein angenehmes Menschenangesicht aus Frankreich oder sonstwoher auftauchen wollte.

Ich denke mir das eine große Freude, so fern der Heimat Landsleuten zu begegnen.

Gewiß. Aber wie viele Krämerseelen kommen auf einen einzigen brauchbaren Menschen, oder was noch schlimmer ist: junge Dichter erscheinen und rufen, sobald sie einen von der Gesandtschaft erspähen: Zeigen Sie uns die Ruinen! Führen Sie mich in die Sophienmoschee, auf die Berge, an das azurne Meer; ich muß die Stelle schauen, wo Hero wehklagte. Wenn sie dann ihren Sonnenstich weg haben, riegeln sie sich in ihr Zimmer ein und wollen nichts andres mehr sehen als die neuste Nummer des Constitutionnel.

Sie sehen überall nur das Schlimmste. Nicht ein bißchen gebessert haben Sie sich! Sie sind immer noch der alte Spötter!

Nun sagen Sie selbst, Gnädigste: soll es einem armen Teufel, der im Höllenfeuer schmort, auch nicht einmal vergönnt sein, sich über seine Leidensgenossen ein bißchen lustig zu machen? Im Ernst: Sie haben keine Ahnung, was für ein gottverlassenes Dasein wir dahinten in der Türkei führen. Wir Gesandtschaftssekretäre gleichen den Schwalben, die nirgends Ruh' noch Rast finden. Für uns gibt es keine traute Freundschaft, die doch das Schönste im Leben ist ... (Seine Stimme hatte seltsamen Klang; er rückte näher an Julie heran.) Alle die Jahre habe ich keine Menschenseele gefunden, der ich meine Gedanken hätte sagen können.

Hatten Sie denn gar keine Freunde dort?

Ich sagte Ihnen, daß es das im Auslande nicht gibt. Zwei hatte ich in Frankreich zurückgelassen; der eine ist tot, der andre in Amerika, von wo er erst in Jahren zurückkommt, wenn ihn das gelbe Fieber nicht festhält.

So sind Sie einsam?

Ganz einsam.

Hat Ihnen die Gesellschaft von Frauen im Osten nicht einigen Ersatz geboten?

Die ist das Schlimmste von allen. An die Türkinnen ist gar nicht zu denken. Von den Griechinnen und Armenierinnen kann man als einziges Lob sagen, daß sie bildhübsch sind. Von den Damen der Gesandtschaft und der Konsulate erlauben Sie mir zu schweigen. Das ist Staatsgeheimnis. Wollte ich meine Meinung sagen, so würde ich mir schön schaden beim Auswärtigen Amt.

Mich dünkt, Ihr Beruf ist Ihnen nicht allzusehr ans Herz gewachsen. Und ehedem ersehnten Sie sich doch nichts glühender als die Diplomatenlaufbahn!

Damals kannte ich das Handwerk noch nicht. Heute möchte ich viel lieber Pariser Straßenkehrer sein.

Mein Gott, wie können Sie so etwas sagen! Paris ist das ödeste Nest auf Gottes Erdboden!

Nicht lästern! Ich möchte Ihr Klagelied hören, wenn Sie zwei Jahre in Neapel gelebt hätten.

Ach Neapel, brennend gern möchte ich das sehen. Natürlich gemeinsam mit meinen Freunden!

Ja, unter dieser Bedingung machte ich die Reise um die Welt! Das wäre gerade, als bliebe man in seinem Salon, und die Welt zöge an den Fenstern vorbei wie in einem Panorama.

Und wenn das zuviel verlangt ist, würde ich mich auch mit einem ... mit zwei Freunden begnügen.

Und was mich anbelangt, ich wäre noch bescheidener. Ich möchte nur einen einzigen – oder eine einzige, fügte er lächelnd hinzu. Aber ein solches Glück ist mir nie widerfahren und wird mir auch nie begegnen. Er seufzte dabei, fuhr aber heiterer fort: Ich habe wahrhaftig immer Pech gehabt. Zweierlei habe ich mir in meinem Leben von Herzen gewünscht und bis heute nicht erreicht.

Nämlich?

Nichts so Besonderes. Ich war leidenschaftlich darauf erpicht, mit jemandem Walzer zu tanzen. Ich habe diesen Tanz gründlichst studiert und monatelang geübt, allein, mit einem Stuhl, um das Schwindelgefühl zu überwinden, das mich jedesmal ergriff. Und als es mir gelungen war ...

Mit wem wollten Sie denn so gern tanzen?

Wenn ich Ihnen nun verriete, daß Sie es waren? Und als ich endlich mit viel Mühe ein untadeliger Walzertänzer geworden war, da verbot Ihre Großmutter, deren neuer Beichtvater ein Jansenist war, den Tanz in einem Tagesbefehl, der mir noch heute im Magen liegt!

Und Ihr andrer Wunsch? fragte Julie in tiefer Verwirrung.

Der zweite? Ich gebe ihn preis. Ich wünschte mir, das war zuviel verlangt vom Schicksal, ich wünschte mir, geliebt zu werden, geliebt ... Das war vor dem Walzertraum. Sie sehen, ich bin nicht chronologisch ... Ich wünschte mir, von einer Frau geliebt zu werden, die mich einem Balle vorgezogen hätte. Sie wissen, das ist der gefährlichste Nebenbuhler! Also von einer Frau, vor der ich in schmutzigen Stiefeln hätte erscheinen dürfen, im Augenblick, als sie in ihren Wagen steigen will, um auf den Ball zu fahren. Und sie, in ihrem Ballstaate, hätte ganz schlicht gesagt: Wir bleiben zu Haus! So etwas ist natürlich verrückt! Man muß nicht Unmögliches fordern.

Sie Böser. Immer Ihre spöttischen Glossen. Nichts findet Gnade vor Ihren Augen. Sie unerbittlicher Frauenverächter.

Ich? Gott soll mich bewahren! Über mich selber ziehe ich doch her. Heißt das die Frauen verunglimpfen, wenn ich feststelle, daß sie einen angenehmen Ballabend einem Alleinsein mit mir vorziehen?

Bälle und Ballstaat? Lieber Gott, wer macht sich heutzutage etwas daraus?

Sie hatte kaum im Sinne, ihr Geschlecht insgesamt zu rechtfertigen. Sie wähnte, Darcys Gedanken verstanden zu haben, und sie vernahm doch nur ihr eignes armes Herz.

Jammerschade, daß der Karneval vorüber ist! Ich habe ein allerliebstes griechisches Kostüm mitgebracht, das Ihnen entzückend stehen müßte.

Sie zeichnen es mir in mein Album!

Von Herzen gern. Sie werden staunen, was für Fortschritte ich gemacht habe, seit ich auf Ihrer Frau Mutter Teetisch Männchen malte ... Ich gratuliere Ihnen übrigens, gnädige Frau. Heute morgen habe ich im Ministerium erfahren, daß Ihr Herr Gemahl demnächst zum Kammerherrn ernannt wird. Es hat mich sehr gefreut.

Unwillkürlich erbebte Julie. Darcy bemerkte es nicht und fuhr fort: Erlauben Sie mir, daß ich mir sofort Ihre Protektion erbitte. Im Grunde beglückt mich indes Ihre neue Würde nicht allzusehr. Sie werden den ganzen Sommer in Saint-Cloud verweilen müssen, und so werde ich nicht allzu oft die Ehre haben, Sie zu sehen.

Ich gehe nicht nach Saint-Cloud, nie und nimmer! rief Julie in tiefster Erregung.

Um so besser! Denn Paris ist das Eden, das man niemals verlassen sollte, außer um eines Diners bei Frau Lambert willen, hin und wieder, aber immer unter der Bedingung, daß man abends zurückkehrt. Sie Glückliche, daß Sie in Paris leben dürfen! Ich bin vielleicht nur kurze Zeit hier, aber Sie stellen sich nicht vor, wie glücklich ich mich in der kleinen Wohnung fühle, die meine Tante mir überlassen hat. Und Sie, Sie wohnen, wie ich höre, im Faubourg Saint-Honoré. Man hat mir Ihr Haus bezeichnet. Ihr Park muß köstlich sein, vorausgesetzt, daß die Bauwut seine Alleen nicht schon in Mietskasernen umgewandelt hat.

Nein, der Park ist gottlob noch unberührt.

An welchem Tage empfangen Sie, gnädige Frau?

Ich bin beinahe jeden Abend zu Haus, und ich werde mich herzlich freuen, wenn Sie dann und wann kommen wollen.

Wie Sie sehen, tue ich, als ob unser altes Bündnis noch bestände; ohne jedwede gesellschaftliche Form lade ich mich selbst zu Gaste. Sie verzeihen mir, gnädige Frau? Außer Ihnen und Frau Lambert kenne ich keine Seele mehr in Paris. Alle haben mich vergessen. Ihre beiden Häuser sind die einzigen, nach denen ich mich in meiner Verbannung gesehnt habe. Bei Ihnen muß es reizend sein, Sie verstanden es vortrefflich, Ihre Freunde zu wählen. Entsinnen Sie sich der Pläne, die Sie für die Zeit machten, wo Sie selbst Hausherrin sein würden? Ihr Salon sollte allen Langweiligen verschlossen sein. Zuweilen sollte musiziert werden, immer aber geplaudert, bis spät in die Nacht. Eingebildete Leute sollten verpönt sein. Nur ein paar Menschen wollten Sie um sich sammeln, die einander vollkommen kannten und infolgedessen nicht danach trachteten, voreinander zu lügen und etwas zu scheinen. Dazu ein paar geistvolle Frauen – wie könnten Ihre Freundinnen anders sein? – und so sollte Ihr Haus das alleranziehendste von ganz Paris werden. Sie Glücklichste der Frauen! Sie machen jeden glücklich, der in Ihre Nähe kommt.

Julie dachte, daß das Glück, das er so farbenfroh ausmalte, ihr eigen hätte sein können, wenn sie einen Andern geheiratet hätte, Darcy beispielsweise. Nur langweilige Menschen hatte ihr Mann ihr zugeführt. Anstatt anregender Plauderstunden gab es Reibereien zwischen den Ehegatten, wie jener Auftritt, der sie zu Frau Lambert getrieben hatte. Sie fühlte sich schließlich todunglücklich auf ewige Zeiten, bis an ihr Lebensende an das Schicksal eines Mannes gekettet, den sie haßte, den sie verachtete. Und er, der ihr als der liebenswürdigste erschien, in dessen Hände sie ihr Glück hätte legen mögen, er mußte immerdar ein Fremder für sie bleiben. Es war ihre Pflicht, ihn zu meiden, ihn zu fliehen ... und er saß so dicht neben ihr, daß er sie berührte.

Darcy malte noch eine geraume Weile die Freuden des Pariser Lebens aus mit dem ganzen Feuer eines Menschen, der sie lange hatte entbehren müssen. Julie liefen die Tränen über die Wangen. In ihrer Angst, Darcy möchte sie gewahren, suchte sie sich gewaltsam zu bezwingen und verschlimmerte dadurch nur ihre Aufregung. Sie wagte nicht sich zu rühren und war dem Ersticken nahe. Da entrang sich ihr ein Schluchzen, und nun war alles verloren. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte, halbtot vor Scham.

Darcy, der auf so etwas nicht im mindesten vorbereitet war, verstummte erschrocken. Aber als das Weinen stärker wurde, fühlte er sich verpflichtet, etwas zu sagen, nach der Ursache ihres Kummers zu fragen.

Was ist Ihnen, gnädige Frau? Um Himmels willen, liebe gnädige Frau, sagen Sie mir, was Ihnen fehlt!

Da die Ärmste statt aller Antwort ihr Taschentuch nur fester an ihre Augen preßte, faßte er ihre Hand und entwand ihr sanft das Tuch.

Ich bitte Sie, meine liebe gnädige Frau, ich flehe Sie an: was haben Sie? Bin ich schuld an Ihrem Kummer? Ihr Schweigen bringt mich in Verzweiflung.

Seine Stimme klang verändert. Der Ton drang Julie tief ins Herz. Sie vermochte sich nicht mehr zu halten. Ach, ich bin so furchtbar unglücklich, schluchzte sie fassungslos.

Unglücklich? Warum? Wer kann Sie unglücklich machen? Antworten Sie mir!

Dabei drückte er ihre Hände und neigte sich zu ihr nieder, so daß sein Gesicht beinahe das ihre berührte. Sie weinte fort, ohne zu antworten. Darcy wußte nicht, was er denken sollte, aber ihre Tränen rührten ihn. Er fühlte sich sechs Jahre jünger, und vor ihm schwebte ein Zukunftsbild, das er sich bis dahin nicht ausgemalt hatte: vom Vertrauten konnte er vielleicht eines Tages zu Höherem aufsteigen. Weil Julie so gar nicht antwortete, fürchtete er zuletzt, sie fühle sich nicht wohl. Er ließ ein Wagenfenster herunter, löste ihre Hutbänder und wickelte sie aus Mantel und Schal. Männer sind linkisch in solchen Dingen. Er rief dem Kutscher zu, im nahen Dorfe zu halten. Da faßte Julie seinen Arm und bat, weiterfahren zu lassen. Ihr sei bedeutend wohler. Der Kutscher hatte gottlob nichts gehört und lenkte seine Pferde weiter auf Paris zu.

Aber ich bitte Sie inständig, meine liebste gnädige Frau, sagte Darcy, indem er ihre Hand wieder faßte, die er einen Augenblick freigegeben, ich beschwöre Sie: vertrauen Sie mir an, was Ihnen fehlt. Ich fürchte ... Ich kann nicht begreifen, wie ich so ungeschickt habe sein können, Ihnen weh zu tun!

Ach, Sie doch nicht! Julie drückte leise seine Hand.

Dann sagen Sie mir, wer Sie so zum Weinen bringt. Haben Sie Vertrauen zu mir. Bin ich nicht Ihr alter Freund? Dies letzte sagte er mit einem Lächeln und einem Händedruck.

Sie sprachen von dem Glück, in dem Sie mich wähnen. Und dieses Glück ist so fern von mir.

Wie? Haben Sie nicht alles, was zum Glück gehört? Sie sind jung, reich, schön. Ihr Gemahl nimmt in der Gesellschaft einen hervorragenden Rang ein.

Er ist mir zuwider! rief Julie wie von Sinnen. Ich verachte ihn! Und sie barg ihr Gesicht in ihrem Taschentuch und schluchzte rückhaltlos.

Aha, dachte Darcy, die Geschichte wird ernst.

Geschickt benützte er jeden Stoß des Wagens, um der Weinenden näher zu rücken. In zartem, zärtlichem Tone tröstete er: Warum sich so betrüben? Darf jemand, den Sie verachten, soviel Macht über Ihr Leben haben? Warum lassen Sie es zu, daß er Sie um Ihr Glück betrügt? Warum suchen Sie es nur bei ihm?

Und er küßte ihr die Fingerspitzen. Entsetzt entzog sie ihm die Hand. War er zu weit gegangen? Gleichviel, er wollte wissen, woran er war, und mit einem Seufzer sagte er heuchlerisch: Wie habe ich mich geirrt. Als ich von Ihrer Heirat hörte, dachte ich, Herr von Chaverny habe Ihnen ernstlich gefallen.

Ach, Herr Darcy, Sie haben mich nie gekannt.

Ihr Ton sagte deutlich: ich habe Sie immer geliebt. Sie haben es nur nicht merken wollen! Die Ärmste war im Augenblick des festen Glaubens, sie habe Darcy in den entschwundenen sechs Jahren immer geliebt wie in diesem Augenblick.

Und Sie, meine teure Freundin, haben Sie jemals mich gekannt? Haben Sie je geahnt, wie es in meinem Innern aussah? Wenn Sie mehr von mir gewußt hätten, wären wir heute beide glücklich.

Wie bin ich unglücklich! wiederholte Julie unter heißen Tränen und preßte seine Hand.

Auch wenn Sie mich verstanden hätten, gnädige Frau, führ Darcy mit seiner gewohnten schmerzlichen Ironie fort, was hätte es geholfen? Ich war arm, Sie waren vermögend. Ihre Frau Mutter hätte mich entrüstet abgewiesen. Ich war von vorneherein verdammt. Und Sie selbst, Julie? Eine trübe Erfahrung hat Ihnen jetzt gezeigt, wo das echte Glück liegt. Aber damals hätten Sie mich ganz sicher für meine Anmaßung ausgelacht. Damals ließen Sie sich von einem vornehmen lackierten Coupé mit der Grafenkrone blenden.

Ach Himmel, auch Sie? Keiner hat Mitleid mit mir.

Vergebung, liebste Julie, rief er nun selber sehr bewegt, Vergebung! Ich bitte Sie, vergessen Sie meine häßlichen Worte! Ich habe gewiß kein Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen. Ich nicht. Ich bin schuldiger als Sie; ich habe Sie nicht richtig eingeschätzt. Ich hielt Sie für ebenso feige wie die Frauen Ihrer Welt. Ich bin grausam dafür gestraft, Sie Liebe!

Feurig küßte er ihre Hände. Sie ließ sie ihm. Er zog sie an sich, aber sie stieß ihn heftig erschrocken zurück und rückte so weit wie möglich von ihm ab. Mit so schwermütiger Stimme, daß der Sinn seiner Worte noch bitterer wurde, sagte er Verzeihung, meine Gnädigste; ich vergaß, daß wir in Paris sind. Ich erkenne meinen Irrtum: hier wird geheiratet, aber nicht geliebt.

O doch! flüsterte sie schluchzend. Ich habe Sie lieb. Und sie ließ ihren Kopf auf des Mannes Schulter sinken.

Entzückt nahm Darcy sie in die Arme. Zärtlich küßte er ihr die Tränen weg. Sie machte noch einen Versuch, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Es war und blieb der letzte.

XII

Darcy hatte sich über das Wesen seiner Erregung betrogen; er war eigentlich nicht verliebt. Er hatte eine Gelegenheit genützt, die sich ihm anbot, und die es verdiente, daß man sie nicht ausließ. Übrigens war er wie alle Männer bedeutend beredter, wenn es galt zu bitten, als zu danken. Er war überaus höflich; und Höflichkeit täuscht oft tiefere Empfindungen vor. Als der Rausch verflogen war, überschüttete er Julie mit zärtlichen Redensarten, wie sie ihm geläufig waren. Und dazu küßte er ihr immer wieder die Hände, was ihm Worte ersparte. Er sah ohne Bedauern, daß der Wagen in Paris einfuhr und daß er sich in kurzem von der eroberten Frau zu verabschieden hatte. Julie verharrte bei all seinen Beteuerungen in tiefstem Schweigen. Sie erschien gänzlich teilnahmlos. Er fand seine Lage schwierig, unangenehm. Julie lehnte reglos in ihrer Ecke und zog mechanisch ihren Schal fest um sich. Sie weinte nicht mehr. Sie starrte geradeaus. Und wenn Darcy ihre Hand hob und küßte, fiel sie, sobald er sie frei gab, wie leblos in ihren Schoß zurück. Sie redete kein Wort, hörte kaum mehr. Nur eine Flut schmerzlichster Gedanken drängte in ihr. Wollte sie einen aussprechen, so schloß ihr der nächste bereits den Mund. Wie die Schläge ihres Herzens, so jagten sich die Bilder in ihr; ein unentwirrbares Chaos. Worte ohne Zusammenhang surrten in ihren Ohren, aber alle schienen sie den gleichen gräßlichen Sinn zu haben. Am Morgen hatte sie ihren Mann beschuldigt; er war gemein in ihren Augen. Jetzt war sie tausendmal niedriger. Ihr war, als müsse ihre Schmach überall bekannt sein. Die ausgehaltene Freundin des Herzogs von H*** würde sie belächeln. Frau Lambert, alle ihre Freunde würden sich von ihr lossagen. Und Darcy? Hatte er sie lieb? Er kannte sie ja kaum. Er hatte in der Ferne nie an sie gedacht, sie gar nicht sofort wiedererkannt. Sie war ihm vielleicht sehr verändert vorgekommen. Er war kühl; das war der Gnadenstoß für sie. Wie konnte sie sich so hinreißen lassen vor einem Manne, der sie kaum kannte, ihr keine Liebe, nur Höflichkeit gezeigt hatte. Unmöglich konnte er sie lieben! Liebte sie denn ihn? Nein. Sonst hätte sie sich nicht gleich nach seiner Abreise verheiraten können.

Die Turmuhren schlugen ein Uhr, als der Wagen in Paris einfuhr. Um vier Uhr hatte sie Darcy zum erstenmal gesehen. Jawohl: gesehen, nicht wiedergesehen, denn sie hatte ihn vergessen gehabt. Er war ihr ein Fremder gewesen. Neun Stunden später war sie seine Geliebte. Neun Stunden hatten genügt zu dieser rätselhaften Bezauberung, hatten genügt, sie zu entehren vor sich selber, vor Darcy. Denn was konnte er denken von einer Frau, die so wenig widerstand? Er mußte sie ja verachten.

Zuweilen überließ sie sich etwas der weichen Stimme und den zärtlichen Worten ihres Gefährten. Dann mühte sie sich zu glauben, daß er wirklich die Liebe empfand, die er beteuerte. Und sie redete sich ein, daß sie ihm seinen Sieg nicht leicht gemacht hätte; daß ihre Liebe schon seit ehedem bestand; daß Darcy wisse, sie habe den Andern nur aus Trotz über sein Fortgehen geheiratet. Alles Unrecht war bei ihm. Allerdings hatte er sie während seiner langen Abwesenheit immer geliebt. Und war bei seiner Rückkehr glücklich, sie so treu zu finden. Ihr offnes Geständnis, ja ihre Schwachheit mußten ihn, der Verstellung haßte, über alles erfreuen.

Die Unhaltbarkeit solcher Überlegungen blieb ihr indes nicht lange verborgen. Alle tröstlichen Vorstellungen schwanden. Scham und Verzweiflung überfielen sie wieder.

Einmal faßte sie den Mut, ihm ihr Herz zu öffnen; sie sah sich von der Gesellschaft verfemt, von ihrer Familie verstoßen. Ihr Stolz ließ es nicht zu, daß sie ihren Mann, dem sie so schweres Unrecht angetan hatte, wiedersah. Darcy liebte sie, so redete sie sich ein. Sie konnte nur ihn allein lieben, ohne ihn nicht glücklich sein, mit ihm überall. Sie wollte ihm vorschlagen, er solle mit ihr an einen Ort gehen, wo keine Gefahr bestand, daß sie vor Bekannten zu erröten brauchte. Er solle sie mit nach Konstantinopel nehmen.

Darcy war meilenweit entfernt zu ahnen, was in ihrem Herzen vor sich ging. Er bemerkte, daß der Wagen in die Straße einbog, wo Julie wohnte. Gelassen streifte er seine Lederhandschuhe über.

Ich muß natürlich deinem Manne offiziell vorgestellt werden, sagte er. Ich denke, wir werden bald gute Freunde sein. Darf ich dich inzwischen, während er noch auf der Jagd ist, besuchen?

Julien erstarb das Wort auf den Lippen. Jede Silbe war ein Dolchstoß für sie. Wie sollte sie von Entführung und Flucht reden zu diesem Menschen, der so kühl und klar nur daran dachte, sein Verhältnis für die Sommermonate auf die beste Art in Ordnung zu bringen? In ihrer Empörung zerriß sie ihr goldnes Halskettchen und knetete die Glieder in ihren Fingern.

Da hielt der Wagen vor ihrem Portal. Darcy war eifrig bemüht, ihren Schal um ihre Schultern zu ordnen, ihren Hut zurechtzurücken. Er stand am Wagenschlag und bot ihr ehrerbietig die Hand beim Aussteigen. Aber Julie sprang zur Erde, ohne seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Gnädige Frau, ich erbitte mir die Erlaubnis, mich morgen nach Ihrem Befinden erkundigen zu dürfen, sagte er mit tiefer Verbeugung.

Leben Sie wohl! erwiderte Julie tonlos.

Darcy stieg wieder in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Er pfiff dabei vor sich hin wie einer, der mit sich und dem Tage zufrieden ist.

XIII

In seiner Junggesellenwohnung angelangt, zog Darcy seinen türkischen Schlafrock und seine Hausschuhe an und stopfte sich mit feinstem türkischen Tabak eine lange Pfeife, deren Rohr aus bosnischem Kirschholz bestand und ein Bernsteinmundstück hatte. Man mag sich über diese alltägliche Beschäftigung wundern in einem Augenblick, wo er sich poetischeren Träumen hätte hingeben sollen. Aber eine gute Pfeife ist nützlich, sogar notwendig zum Träumen, und ein Glück wird erst richtig genossen, wenn man ihm ein andres Glück gesellt. Ein sehr gefühlvoller Freund Darcys öffnete keinen Brief seiner Geliebten, ohne vorher seine Krawatte abgelegt, ein Feuer im Kamin angefacht und sich selber auf einem bequemen Diwan ausgestreckt zu haben.

Ich wäre ein schöner Narr gewesen, sagte sich Darcy, wenn ich, wie Tyrrel mir riet, eine griechische Sklavin gekauft und mit nach Paris gebracht hätte. Das wäre, weiß Gott, nichts andres gewesen als Eulen nach Athen tragen. Zum Glück hat die Zivilisation in meiner Abwesenheit Fortschritte gemacht. Unnahbarkeit ist altmodisch geworden. Der arme Chaverny! Aber, wäre ich vor Jahren reich gewesen, so hätte ich Julie geheiratet, und heute abend wäre es vielleicht Chaverny gewesen, der sie nach Hause brachte. Wenn ich jemals heirate, so lasse ich den Wagen meiner Frau des öfteren nachsehen, damit sie nicht auf fahrende Ritter angewiesen ist, die sie aus dem Straßengraben ziehen. Also gut! Alles in allem ist Julie ein schönes Weib und hat auch Geist. Wenn ich nicht schon betagt wäre, könnte ich denken, daß sie mich um meiner selbst willen ... Unsinn! In etwa vier Wochen sind meine Vorzüge in ihren Augen kaum mehr wert als die von wer weiß wem ... Du lieber Gott, warum konnte die kleine Nastasia, die ich so geliebt habe, nicht lesen und schreiben und eine Unterhaltung mit anständigen Leuten führen. Ich glaube, sie ist das einzige Weib, das mich geliebt hat. Armes Ding!

Seine Pfeife war ausgebrannt, und alsbald schlief er ein.

XIV

Als Julie in ihrem Zimmer war, mußte sie ihre ganze Kraft aufbieten, um mit natürlicher Stimme der Zofe sagen zu können, sie bedürfe ihrer nicht, sie wünsche allein gelassen zu werden. Sobald das Mädchen hinaus war, warf sich Julie auf ihr Bett und weinte noch viel schmerzlicher, jetzt da sie allein war, da Darcys Gegenwart sie nicht mehr zu einiger Beherrschung zwang.

Unleugbar übt die Nacht einen starken Einfluß auf seelisches wie körperliches Leiden aus. Sie taucht alles in dunklere Farben, und die Dinge, die am Tage nicht so schlimm, vielleicht sogar freundlich scheinen, beunruhigen und quälen den Menschen des Nachts wie böse Geister, die nur im Dunkeln Macht haben. Die Gedanken arbeiten mit gesteigerter Lebhaftigkeit, während die vernünftige Überlegung zurücktritt. Ein Gaukelspiel im Gehirn verwirrt und schreckt einen, aber man bringt nicht die Kraft auf, die Ursache dieser Schrecknisse zu beseitigen oder kaltblütig zu erforschen.

Julie lag halb entkleidet auf ihrem Bett und warf sich ruhelos hin und her. Bald glühte sie im Fieber, bald ward sie von eisigen Frostschauern geschüttelt; beim leisesten Knacken im Holzwerk erbebte sie, und deutlich vernahm sie jeden Schlag ihres Herzens. In ihr war nichts als dumpfe Angst, über deren Ursache sie vergeblich nachsann, bis urplötzlich die einzelnen Szenen dieses verhängnisvollen Abends, eine nach der andern, vor ihrem inneren Auge wieder auftauchten. Zugleich erwachte bohrend, glühend, wie heißes Eisen in einer vernarbenden Wunde, der Schmerz von neuem in ihr. Sie sah die Lampe an und starrte blicklos in die flackernde Flamme, bis Tränen ihr das Licht verschleierten, die, sie wußte nicht warum, in ihren Augen aufquollen.

Weshalb weine ich eigentlich? fragte sie sich. Ach, meine Frauenehre ist dahin!

Dann wieder zählte sie mechanisch die Fransen an ihren Bettvorhängen; aber immer vergaß sie die Zahl.

Bin ich von Sinnen? Ja, wahnsinnig bin ich, dachte sie. Hätte ich mich sonst vor einer Stunde einem wildfremden Manne hingegeben wie eine Straßendirne? Nun schaute sie stumpfen Blicks dem Zeiger der Standuhr zu, voller Bange wie ein Verbrecher, der die Todesstunde erwartet. Da schlug die Uhr. Julie schrak zusammen.

Vor drei Stunden war ich die Seine, ich Ehrlose!

Sie brachte die ganze Nacht in dieser fieberhaften Erregung zu. Als der Morgen graute, öffnete sie das Fenster, und die frische, prickelnde Morgenluft brachte ihr etwas Erleichterung. Das Fenster ging nach dem Garten. Sie bog sich hinaus und sog wollüstig die kalte Luft ein. Allmählich kam etwas Ordnung in ihre Gedanken. Den Qualen des Fieberrausches folgte tiefe Niedergeschlagenheit, die fast ein Ausruhen war.

Sie mußte zu einem Entschlusse kommen, und sie überlegte, was sie tun solle. Nicht einen Augenblick dachte sie daran, Darcy wiedersehen zu wollen. Das kam ihr unmöglich vor; sie wäre vor Scham vergangen. Weg von Paris, wo man übermorgen schon mit Fingern auf sie weisen würde! Ihre Mutter war in Nizza; zu ihr mußte sie, ihr alles gestehen. Dann, wenn sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, blieb ihr nur noch eines: irgendwo in Italien einen gottverlassenen Winkel suchen, wo kein Fremder hinkam, wo sie einsam leben und bald sterben würde.

Dieser Entschluß machte sie ruhiger. Sie setzte sich an ein Tischchen ans Fenster, legte den Kopf in die Hände und weinte, doch diesmal ohne Bitternis. Schließlich überwältigten sie Müdigkeit und Erschöpfung; sie schlummerte ein, oder vielmehr sie hörte eine Stunde lang auf zu denken.

Fiebernd erwachte sie. Das Wetter war umgeschlagen; eisiger Sprühregen kündigte Nässe und Kälte für den ganzen Tag an. Julie schellte der Zofe.

Meine Mutter ist krank, sagte sie zu ihr. Ich muß sofort nach Nizza. Packen Sie meinen Koffer! In einer Stunde reise ich.

Aber gnädige Frau, was ist Ihnen? Sind Sie nicht selber krank? Gnädige Frau haben sich ja gar nicht niedergelegt, rief die Zofe verwundert und erschrocken über die Veränderung in den Zügen ihrer Herrin.

Ich will reisen; ich muß reisen; unbedingt. Packen Sie den Koffer! herrschte Julie sie ungeduldig an. In ihrer Unrast wollte Julie alle nötigen Vorbereitungen möglichst beschleunigen. Sie lief von Zimmer zu Zimmer, half beim Einpacken und stopfte Kleider und Hüte, die eine sorglichere Hand gewohnt waren, wahllos aufeinander. Ihre Hast hemmte ihre Dienerschaft mehr, als daß sie nützte.

Die gnädige Frau hat den gnädigen Herrn benachrichtigt? fragte die Zofe schüchtern. Ohne zu antworten schrieb Julie auf ein Blatt Papier: Mutter ist krank. Ich gehe zu ihr nach Nizza. Dann faltete sie das Papier zusammen, konnte sich aber nicht entschließen, die Adresse darauf zu setzen. Mitten in die Reisevorbereitungen kam ein Diener mit der Meldung, Herr von Châteaufort lasse fragen, ob die gnädige Frau zu sprechen sei. Ein anderer Herr, den er nicht kenne, sei gleichzeitig gekommen und habe seine Karte abgegeben.

Julie las:

E. Darcy
Gesandtschaftssekretär

Kaum vermochte sie einen Aufschrei zu unterdrücken.

Ich bin für niemanden zu sprechen, rief sie. Sagen Sie, ich sei krank! Sagen Sie nichts von meiner Reise!

Sie begriff nicht, daß Châteaufort und Darcy gleichzeitig vorsprachen. In ihrer Verwirrung argwöhnte sie, Darcy habe Châteaufort zu seinem Vertrauten gemacht.

Dabei war dies gleichzeitige Erscheinen die einfachste Sache von der Welt. Der gleiche Beweggrund hatte Châteaufort und Darcy hergeführt. Sie waren an der Haustüre zusammengetroffen, hatten einander kühl gegrüßt, und innerlich hatte einer den andern zu allen Teufeln gewünscht. Auf des Dieners Bescheid hin stiegen sie zusammen die Treppe hinab, grüßten einander noch kühler und entfernten sich jeder in andrer Richtung.

Châteaufort war die unverhohlene Aufmerksamkeit, die Julie Darcy gewidmet hatte, nicht entgangen, und von Stund an hatte er ihn gehaßt. Darcy seinerseits, der sich einbildete, ein Menschenkenner zu sein, schloß aus Châteauforts verlegener, ärgerlicher Miene, daß er Julie liebe; und weil er als Diplomat geneigt war, das Böse a priori vorauszusetzen, folgerte er leichtsinnig weiter, Julie sei nicht spröd gegen jenen.

Wunderliche Heilige! dachte Darcy im Hinausgehen. Sie hat uns nicht zusammen empfangen aus Angst vor einer Auseinandersetzung wie in Molières Menschenfeind. Dumm von mir, daß ich nicht schnell einen Vorwand zum Bleiben erfand und den faden Kerl nicht allein gehen ließ. Hätte ich einen Augenblick gewartet, bis er fort war, so wäre ich natürlich vorgelassen worden, denn unbedingt habe ich vor ihm den Reiz der Neuheit voraus. Während er so überlegte, war er stehengeblieben, umgekehrt und wieder vor Juliens Haus erschienen. Châteaufort, der sich ein paarmal umgedreht hatte, um ihn im Auge zu behalten, kam gleichfalls zurück und kreuzte in der Nähe, um ihn zu beobachten.

Darcy sagte dem verwunderten Diener, er habe vergessen, ihm eine Botschaft an seine Herrin aufzutragen. Es handle sich um eine eilige Sache, den Auftrag einer Dame für Frau von Chaverny. Und auf Englisch, das Julie, wie er wußte, verstand, schrieb er auf eine Besuchskarte: bittet anfragen zu dürfen, wann er Frau von Chaverny sein türkisches Album zeigen kann. Er gab dem Diener die Karte und sagte, er werde auf Antwort warten. Er mußte lange warten. Als der Diener nach einer Viertelstunde zurückkam, war er sichtlich bestürzt: Die gnädige Frau ist ohnmächtig geworden. Sie ist noch viel zu leidend, um Ihnen eine Antwort zu geben.

Darcy glaubte nicht an die Ohnmacht. Aber es war klar, daß man ihn nicht zu sehen wünschte. Als Philosoph fand er sich in sein Geschick. Es fiel ihm ein, daß er noch andre Besuche in der Gegend zu erledigen hatte. So ging er, ohne sich über den Fehlschlag weiter aufzuregen.

Châteaufort hatte in Angst und Wut gewartet. Als er Darcy vorbeigehen sah, zweifelte er nicht, seinen glücklichen Nebenbuhler zu erblicken, und er schwor, sich bei erster Gelegenheit an der Ungetreuen und ihrem Mitschuldigen zu rächen. Er vertraute sich Perrin an, der ihm zufällig in den Weg lief; der tröstete ihn, so gut er konnte, und stellte ihm die Unwahrscheinlichkeit seines Argwohns vor.

XV

Julie war tatsächlich ohnmächtig geworden, als sie Darcys zweite Karte erhielt. Der Ohnmacht folgte ein Blutsturz, der sie außerordentlich schwächte. Die Zofe hatte nach dem Arzt geschickt, aber Julie weigerte sich hartnäckig, ihn vorzulassen.

Gegen vier Uhr standen die Postpferde bereit; die Koffer wurden aufgeschnallt; alles war zur Abreise fertig. Julie stieg in den Wagen, obgleich sie heftig hustete und in erbarmungswürdigem Zustande war. Den Abend und die ganze Nacht hindurch richtete sie nur hin und wieder ein paar Worte an den Diener, der auf dem Kutschbock saß, und immer nur, er solle den Postillon zur Eile antreiben. Sie hustete unaufhörlich und hatte sichtlich heftige Schmerzen in der Brust, war aber so schwach, daß sie ohnmächtig ward, als die Wagentüre geöffnet ward. Man brachte sie in einem elenden Gasthaus zu Bett und rief den Dorfarzt. Er stellte hohes Fieber fest und verbot die Weiterreise. Trotzdem verlangte sie immerzu weiterzufahren. Gegen Abend fing sie an zu phantasieren; ihr Zustand verschlimmerte sich zusehends. Sie redete in einemfort ohne Zusammenhang vor sich hin, mit einer solchen Schnelligkeit, daß sie kaum zu verstehen war. Die Namen Darcy, Châteaufort und Frau Lambert kamen immer wieder vor. Die Zofe schrieb an Herrn von Chaverny über die Erkrankung seiner Frau; aber Julie lag dreißig Meilen von Paris entfernt; Chaverny war zur Jagd bei dem Herzog von H***, und die Krankheit nahm ständig zu; so war es fraglich, ob er noch zu rechter Zeit eintreffen konnte.

Der Kammerdiener ritt nach der nächsten Stadt und holte einen zweiten Arzt. Dieser tadelte die Verordnungen seines Kollegen und erklärte, der Fall sei ernst; man hätte ihn früher rufen sollen.

Mit dem Morgengrauen schwanden die Fieberphantasien, und Julie schlummerte ein. Als sie drei Tage später erwachte, konnte sie sich nur mühsam darauf besinnen, durch welche Kette von Unfällen sie in dieses unsaubere Gasthauszimmer gekommen war. Indes kehrte die Erinnerung bald zurück, und sie erklärte, sie fühle sich wohler und sie wolle am nächsten Morgen ihre Reise fortsetzen. Dann lag sie lange nachdenklich, die Hand auf die Stirn gepreßt; schließlich bat sie um Feder, Tinte und Papier und wollte schreiben. Die Zofe sah, wie sie einen Brief mehrfach begann und ihn nach den ersten Worten immer wieder zerriß. Julie befahl ihr, die Fetzen sofort zu verbrennen. Dabei bemerkte die Zofe auf mehreren Blättern die Worte: Sehr geehrter Herr, was ihr sonderbar vorkam, wie sie nachher sagte, denn sie hatte gemeint, die gnädige Frau schreibe an ihre Mutter oder an ihren Mann. Auf einem andern Fetzen hatte sie gelesen: Sie werden mich verachten ...

Eine halbe Stunde lang quälte sich die Kranke, diesen Brief zu schreiben, der ihr sehr am Herzen zu liegen schien. Dann mußte sie ermattet den Versuch aufgeben. Sie stieß das Schreibpult zurück, das man ihr aufs Bett gesetzt hatte, und befahl halb irr der Zofe: Schreiben Sie an Herrn Darcy! – Was soll ich schreiben, gnädige Frau? fragte das Mädchen, überzeugt, die Kranke rede wieder im Fieber.

Schreiben Sie ihm, daß er mich nicht kennt ... daß ich ihn nicht kenne ...

Erschöpft sank sie in die Kissen zurück. Es waren ihre letzten klaren Worte. Das Fieber kam wieder und blieb. Am nächsten Morgen starb sie, offenbar ohne mehr viel zu leiden.

XVI

Chaverny kam drei Tage nach der Beerdigung. Sein Schmerz war wohl echt. Die Dorfleute wischten sich die Augen, als sie ihn vor dem frischen Grabhügel stehen sahen. Sein erster Gedanke war, die Tote ausgraben und nach Paris überführen zu lassen. Aber der Bürgermeister war dagegen, und der Notar stellte ihm die endlosen Formalitäten vor, die dazu nötig wären. Da begnügte er sich damit, ein schlichtes, aber würdiges Grabmal aus Marmor zu bestellen.

Châteaufort traf Juliens plötzlicher Tod tief. Er schlug mehrere Balleinladungen aus, und lange Zeit sah man ihn ganz in Schwarz.

XVII

In der Gesellschaft wurde Frau von Chavernys Tod in verschiedener Form erzählt. Nach der einen Lesart hatte sie einen Traum gehabt oder vielleicht mehr eine Vorahnung, die ihr eine schwere Erkrankung ihrer Mutter ankündigte. Das hatte sie so betroffen, daß sie trotz der starken Erkältung, die sie sich auf der Heimfahrt vom Schlosse Lambert zugezogen hatte, auf der Stelle nach Nizza abgereist war. Die Erkältung hatte sich zur Lungenentzündung entwickelt.

Andre meinten hellsichtiger, Frau von Chaverny habe sich ihre Neigung zu Herrn von Châteaufort nicht mehr verhehlen können und zu ihrer Mutter eilen wollen, um bei ihr Kraft zum Widerstande zu finden. Erkältung und Lungenentzündung seien eine Folge der überstürzten Reise gewesen. In diesem Punkte war man sich einig.

Darcy sprach niemals von Julie. Ein Vierteljahr nach ihrem Tode schloß er eine vorteilhafte Heirat. Als er Frau Lambert seine Vermählung anzeigte, beglückwünschte sie ihn mit den Worten: Ihre Frau ist wirklich reizend. Nur meine arme Julie hätte ebensogut zu Ihnen gepaßt. Schade, daß Sie damals nicht reich genug waren, als sie heiratete.

Darcy lächelte sein gewöhnliches ironisches Lächeln. Aber er sagte kein Wort.

Vielleicht waren die beiden Herzen, die einander nicht erkannt haben, doch für einander geschaffen.

 

Ende

 


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