Prosper Mérimée
Arsène Guillot
Prosper Mérimée

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II.

Als Frau von Piennes eines Morgens beim Anzuge beschäftigt war, pochte ein Diener bescheiden an die Türe des Sanktuariums und händigte Fräulein Josephine eine Karte ein, die ein junger Mann eben abgegeben hatte.

»Max ist in Paris!« rief Frau von Piennes, einen Blick auf die Karte werfend; »gehn Sie schnell, mein Kind, und sagen Sie Herrn von Salligny, er möchte mich im Salon erwarten.«

»Einen Moment später hörte man im Salon Gelächter, unterdrückte kleine Juchzer, und Fräulein Josephine kam sehr rot und mit gänzlich auf ein Ohr gerutschtem Häubchen zurück.

»Was gibt's denn, mein Kind?« fragte Frau von Piennes.

»Nichts, gnädige Frau; Herr von Salligny sagte nur, ich sei so dick geworden!«

Tatsächlich konnte Fräulein Josephines Fülle Herrn von Salligny, der seit mehr denn zwei Jahren auf Reisen war, in Erstaunen setzen. Früher war er einer von Fräulein Josephines Lieblingen und einer der Verehrer ihrer Herrin. Als Neffe einer von Frau von Piennes intimen Freundinnen sah man ihn an seiner Tante Seite früher unaufhörlich bei ihr. Übrigens war es fast das einzige vornehme Haus, wo er erschien. Max von Salligny stand im Rufe, ein ziemlicher Taugenichts, ein Spieler, Streithammel, Lebemann, im übrigen aber der beste Junge auf der Welt zu sein. Er bildete die Verzweiflung seiner Tante, der Frau Aubrée, die ihn indessen vergötterte. Manchmal hatte sie versucht, ihn von dem Leben, das er führte, abzubringen, stets aber hatten seine üblen Angewohnheiten über ihre weisen Lehren den Sieg davon getragen. Max war zwei Jahre älter als Frau von Piennes; sie hatten sich seit ihrer Kinderzeit gekannt, und ehe sie verheiratet wurde, schien er sehr mit ihr zu liebäugeln. – »Meine liebe Kleine, »sagte Frau Aubrée, »wenn Sie wollten, würden Sie, das weiß ich gewiß, den Charakter da zähmen.« – Frau von Piennes – sie hieß damals Elise von Guiscard – würde vielleicht den Mut in sich gefunden haben, das Unternehmen zu wagen, denn Max war so lustig, so drollig und in einem Schlosse so unterhaltsam, auf einem Balle so unermüdlich, daß er sicherlich einen guten Ehemann abgeben mußte; Elisas Eltern aber sahen weiter. Frau Aubrée selber stand nicht allzu fest für ihren Neffen ein. Es wurde festgestellt, daß er Schulden und eine Geliebte hatte; hinzu kam ein aufsehnerregendes Duell, dessen wenig unschuldige Ursache eine Schauspielerin vom Gymnase war. Die Heirat, welche Frau Aubrée niemals recht ernstlich in Aussicht genommen hatte, wurde für unmöglich erklärt. Dann stellte sich Herr von Piennes ein, ein ernster und moralischer, überdies reicher Edelmann aus guter Familie. Wenig kann ich Ihnen über, ihn sagen, nur daß er im Rufe eines Ehrenmannes stand, und daß er ihn verdiente. Er sprach wenig, wenn er aber den Mund auftat, geschah es, um irgend eine unbestreitbare, ausgezeichnete Wahrheit zu sagen. Bei zweifelhaften Fragen ahmte er »Contarts kluges Schweigen« nach. Wenn er den Gesellschaften, wo er war, keinen großen Reiz weiter verlieh, so war er doch nirgendwo nicht am Platze. Überall hatte man ihn seiner Frau wegen recht gern; doch wenn er abwesend war – auf seinen Besitzungen, wie es neun Monate des Jahres der Fall war, und namentlich im Augenblicke, wo meine Geschichte anfängt, – merkte es kein Mensch. Seine Frau selber bemerkte es nicht gerade sehr.

Nachdem Frau von Piennes ihren Anzug in fünf Minuten vollendet hatte, ging sie etwas bewegt aus ihrem Zimmer, denn Max von Sallignys Ankunft erinnerte sie an den kürzlichen Todesfall des Wesens, das sie am meisten geliebt hatte. Diesem galt, glaube ich, die einzige Erinnerung, die sich in ihrem Gedächtnisse einstellte, und solche Erinnerung war lebhaft genug, um alle lächerlichen Mutmaßungen hintanzusetzen, die ein weniger vernünftiges Wesen über Fräulein Josephines schiefsitzendes Häubchen hätte anstellen können. Als sie sich dem Salon näherte, war sie etwas verletzt, eine schöne Baßstimme zu hören, die, sich selbst auf dem Piano begleitend, fröhlich folgende neapolitanische Barcarole sang:

So leb' wohl denn, Theresa,
Theresa, leb' wohl
Und komm ich zurück dann
Soll die Hochzeit gleich sein.

Sie öffnete die Tür und unterbrach den Sänger, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte:

»Mein armer Herr Max, wie freue ich mich, Sie wiederzusehn!«

Max sprang schnell auf und drückte ihr die Hand, sie bestürzt anschauend, ohne ein Wort finden zu können.

»Recht bedauert habe ich's,« fuhr Frau von Piennes fort, »nicht nach Rom haben reisen zu können, als Ihre gute Tante krank wurde. Ich weiß, wie Sie sie umsorgt haben, und danke Ihnen herzlich für die letzte Erinnerung, die Sie mir geschickt!«

Max' von Natur aus heiteres, um nicht zu sagen, strahlendes Gesicht nahm plötzlich einen traurigen Ausdruck an.

»Sie hat mir viel von Ihnen erzählt,« sagte er, »und bis zum letzten Augenblicke ... Sie haben ihren Ring, wie ich sehe, bekommen, und das Buch, das sie noch am Morgen ...«

»Ja, Max, ich danke Ihnen dafür. Als Sie mir dies traurige Geschenk sandten, teilten Sie mir mit, daß Sie Rom verließen, gaben mir aber Ihre Adresse nicht an; ich wußte nicht, wohin ich Ihnen schreiben sollte. Arme Freundin! So fern von der Heimat zu sterben! Glücklicherweise sind Sie sofort hingeeilt ... Sie sind besser, als Sie scheinen wollen, Max ... ich kenne Sie genau.«

»Meine Tante sagte mir während ihres Krankseins: »Wenn ich nicht mehr auf der Welt bin, ist nur noch Frau von Piennes da, um Dich auszuschelten ... (Und er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.) Sieh zu, daß sie es nicht allzu oft nötig hat.« wie Sie sehn, gnädige Frau, kommen Sie Ihren Pflichten sehr schlecht nach.«

»Hoffentlich werd' ich jetzt eine Sinekure haben. Man sagt mir, Sie hätten sich gebessert, wären ordentlich geworden und vollständig vernünftig?«

»Und Sie täuschen sich nicht, gnädige Frau; ich habe meiner armen Tante versprochen, ein braver Junge zu werden, und ...«

»Und Sie werden Wort halten, des bin ich sicher.«

»Wills versuchen. Auf Reisen ist das leichter als in Paris; indessen ... Aber, gnädige Frau, ich bin erst seit einigen Stunden hier, und schon hab' ich Versuchungen widerstanden. Als ich zu Ihnen kam, bin ich einem meiner alten Freunde begegnet, der mich eingeladen hat, mit einer Schar Taugenichtse bei ihm zu essen, und – ich hab's abgelehnt.«

»Da haben Sie recht getan.«

»Ja, doch muß ich's gestehen? Weil ich hoffte, daß Sie mich einladen würden.«

»Welch Unglück! Ich speise auswärts. Morgen aber ...«

»In dem Falle steh' ich nicht für mich ein. Für das Diner, das ich mitmachen werde, sind Sie verantwortlich.«

»Hören Sie, Max: das Wichtigste ist, einen guten Anfang zu machen. Gehen Sie nicht zu solchen Junggesellendiners. Ich speise bei Frau Darsenay; kommen Sie abends dorthin und wir wollen plaudern.«

»Ja, aber Frau Darsenay ist ein bischen zu langweilig; sie würde hundert Fragen an mich richten. Nicht ein Wort könnt' ich Ihnen widmen; ich werde Ungeschicklichkeiten vorbringen; und dann hat sie eine Tochter, ein langes Knochengerüst, die ist vielleicht noch nicht verheiratet ...«

»Ein reizendes Wesen ... Und was Unschicklichkeiten anlangt, so ist das eine, was Sie da über sie sprechen.«

»Wahrlich, ich habe Unrecht; doch ... heute angekommen, würde es nicht arg aufdringlich aussehn? ...«

»Nun, tun Sie, was Sie wollen; aber sehn Sie, Max, – als Ihrer Tante Freundin, habe ich das Recht, freiweg zu sprechen – gehn Sie Ihren früheren Bekanntschaften aus dem Wege. Ganz natürlich hat die Zeit alle Verbindungen abbrechen müssen, die nichts für Sie taugten, knüpfen Sie sie nicht wieder an. Solange Sie nicht ins Schlepptau genommen werden, bin ich Ihrer sicher ... In Ihrem Alter,... unserem Alter muß man vernünftig sein. Lassen wir jedoch Ratschläge und Predigten und erzählen Sie mir lieber, was Sie getan haben, seit wir uns nicht mehr, gesehn. Sie sind in Deutschland, dann in Italien gewesen, das ist alles, was ich weiß. Zweimal haben Sie mir geschrieben, mehr nicht, wenn Sie sich entsinnen können. Zwei Briefe in zwei Jahren, Sie begreifen, daß ich da nicht gerade viel von Ihnen weiß.«

»Mein Gott! gnädige Frau, ich fühle mich recht schuldig ... aber ich bin so ... ich muß es schon sagen ... faul! ... Zwanzig Briefe an Sie hab' ich angefangen; doch was konnte ich Ihnen sagen, das Sie interessierte? ... Ich kann keine Briefe schreiben, ich ... Wenn ich jedesmal, wo ich an Sie gedacht habe, geschrieben hätte, würde alles Papier Italiens nicht gelangt haben.«

»Nun, was haben Sie getan? Wie haben Sie Ihre Zeit ausgefüllt? Daß Sie sie nicht verschrieben haben, weiß ich bereits.«

»Ausgefüllt! ... Sie wissen ja schon, daß ich leider keine Zeit nutzbringend ausfüllen kann. – Ich hab' die Augen aufgemacht, bin herumgelaufen. Ich hatte Malabsichten, doch der Anblick so vieler schöner Gemälde hat mich gänzlich von meiner unglücklichen Leidenschaft befreit. – Ach! ... und dann hat der alte Nibby fast einen Archäologen aus mir gemacht. Ja, auf seine Überredung hin, hab' ich eine Ausgrabung vornehmen lassen. Ein zerbrochenes Faß und ich weiß nicht wieviele alte Scherben hat man gefunden ... Und dann habe ich in Neapel Gesangsstunden genommen, bin aber nicht viel voran gekommen ... ich hab' ...«

»Ich liebte die Musik nicht allzu sehr, obwohl Sie eine schöne Stimme besitzen und gut sangen. Das bringt Sie in Beziehung zu Leuten, denen Sie an sich schon genug nachlaufen.«

»Ich verstehe; doch in Neapel, als ich dort war, war das nicht allzu gefährlich ... Die Primadonna wog hundertfünfzig Kilo, und die zweite Sängerin hatte einen Mund wie ein Scheunentor und eine furchtbare Nase. Kurz, zwei Jahre sind verstrichen, und ich weiß nicht wie. Ich hab' nichts getan, nichts gelernt, habe aber zwei Jahre gelebt, ohne etwas davon zu merken.«

»Ich möchte Sie beschäftigt wissen, möchte an Ihnen eine lebhafte Neigung für irgend was Nützliches sehn. Die Muße fürchte ich für Sie.«

»Um es Ihnen frei heraus zu sagen, gnädige Frau, die Reisen sind in soweit für mich von Erfolg gewesen, als ich, wenn ich auch nichts tat, doch nicht mehr völlig müssig gewesen bin. Wenn man schöne Sachen sieht, langweilt man sich nicht; und ich bin, sobald ich mich langweile, immer drauf und dran, Dummheiten zu machen. Wirklich, ich bin ziemlich vernünftig geworden, und hab' sogar eine gewisse Zahl meiner Manieren, schnell Geld los zu werden, vergessen. Meine arme Tante hat meine Schulden bezahlt, und ich habe keine mehr; hab' einst genug gemacht, und will nun keine mehr. Kann als Junggeselle leben; und, da ich keinen Anspruch mehr darauf mache, reicher zu erscheinen, als ich bin, werd' ich keine Sprünge mehr machen. Sie lächeln? Hören Sie einen guten Anfang. Heute wollte mir Famin, der Freund, der mich zum Essen eingeladen hat, sein Pferd verkaufen. Fünftausend Franken ... 's ist ein prachtvolles Tier! Im ersten Moment wollte ich das Pferd haben; dann hab ich mir gesagt, daß ich nicht reich genug sei, um fünftausend Franken für eine Laune anzulegen; so werd' ich Fußgänger bleiben.«

»Das ist erstaunlich, Max; doch wissen Sie, was man tun muß, um ohne Unfall auf diesem guten Wege weiterzugehn? Sie müssen sich verheiraten.«

»Ach, mich verheiraten! ... Warum nicht? ... Wer aber wird mich wollen? Ich, der ich kein Recht habe, große Ansprüche zu machen, ich wollte eine Frau! ... Oh, nein! Es gibt keine mehr, die mir paßt ...«

Frau von Piennes errötete ein wenig, und er fuhr fort, ohne es zu merken:

»Eine Frau, die mich wollte ... Aber wissen Sie, gnädige Frau, daß das fast ein Grund sein würde, das ich sie nicht wollte?«

»Warum das? Welch eine Narrheit!«

»Sagt Othello nicht irgendwo – 's ist, glaube ich, um den Verdacht, den er auf Desdemona hat, vor sich selber zu rechtfertigen –: Dies Weib muß einen krausen Kopf und einen verderbten Geschmack haben, weil sie mich, der ich schwarz bin, gewählt hat!« – Kann ich nicht meinerseits sagen: Eine Frau, die mich will, muß einen merkwürdigen Geschmack haben?«

»Sie sind ein ziemlicher Taugenichts gewesen, Max, und man braucht Sie nicht noch schlechter zu machen, als Sie es sind. Hüten Sie sich, so von sich selber zu reden, denn es gibt Leute, die Ihnen aufs Wort glauben würden. Ich, ich bin sicher, wenn eines Tages ... ja, wenn Sie eine Frau sehr liebten, die Ihre volle Schätzung besäße, dann würden Sie ihr ...«

Frau von Piennes ward' es schwer, ihre Phrase zu beendigen, und Max, der sie äußerst neugierig fest anschaute, half ihr in keiner Weise, ihre schlecht angelegte Periode zu Ende zu bringen.

»Sie wollen sagen,« fuhr er endlich fort, »wenn ich wirklich verliebt wäre, würde man mich lieben, weil es sich dann der Mühe lohne?«

»Ja, dann würden Sie es wert sein, auch geliebt zu werden.«

»Wenn man nur lieben müßte, um geliebt zu werden ... Nicht allzu wahr ist, was Sie da sagen, gnädige Frau ... Bah! finden Sie mir eine mutige Frau, und ich verheirate mich, wenn sie nicht allzu häßlich ist, bin ich noch nicht alt genug, um mich nicht zu entflammen ... Sie stehn mir für das Übrige ein.«

»Woher kommen Sie jetzt?« unterbrach Frau von Piennes mit ernster Miene.

Max sprach sehr lakonisch über seine Reisen, aber doch in einer Weise, die bewies, daß er nicht wie jene Touristen gehandelt hatte, von welchen die Griechen sagen: »Koffer ist abgereist, Koffer ist zurückgekehrt!« Seine kurzen Bemerkungen zeigten einen gesunden Menschenverstand, der Meinungen nicht fertig hinnahm, da er in Wirklichkeit viel kultivierter war, als er scheinen wollte. Er zog sich bald zurück, da er bemerkte, daß Frau von Piennes den Kopf nach der Standuhr wandte, und versprach, nicht ohne einige Verwirrung, daß er abends zu Frau Darsenay kommen würde.

Indessen kam er nicht dorthin und Frau von Piennes war etwas ärgerlich darüber. Dafür war er am folgenden Morgen bei ihr, um sie um Verzeihung zu bitten, indem er sich mit Reisemüdigkeit entschuldigte, die ihn gezwungen habe, zu Hause zu bleiben; doch schlug er die Augen nieder und sprach in einem so unsicheren Tone, daß es nicht Frau von Piennes Geschicklichkeit im Gesichterlesen bedurft hätte, um zu merken, daß er leere Ausflüchte machte.

Als er mühsam zu Ende gekommen war, drohte sie ihm, ohne zu antworten, mit dem Finger.

»Sie glauben mir nicht?« sagte er.

»Nein. Glücklicherweise verstehen Sie noch nicht zu lügen. Nicht, um sich von Ihren Ermüdungen auszuruhn, sind Sie gestern Abend nicht zu Frau Darsenay gekommen, sondern sind nicht zu Hause geblieben.«

»Nun,« antwortete Max mit einem erzwungenen Lächeln, »Sie haben Recht. Ich hab mit den Nichtsnutzen im Rocher-de-Cancale gegessen, dann bin ich zum Tee bei Famin gewesen, man hat mich nicht weglassen wollen, und dann hab' ich gespielt.«

»Und haben verloren, das versteht sich von selber?«

»Nein, ich hab' gewonnen.

»Um so schlimmer. Lieber möcht' ich, Sie hätten verloren, besonders, wenn Sie das für immer von einer ebenso dummen wie abscheulichen Angewohnheit abbringen könnte.«

Sie beugte sich auf ihre Handarbeit und hub an, mit einem etwas gemachten Fleiße zu arbeiten.

»Waren viel Leute bei Frau Darsenay?« fragte Max schüchtern.

»Nein, wenig.«

»Keine jungen Mädchen, die man heiraten kann?«

»Nein.«

»Und doch rechne ich auf Sie, gnädige Frau. Sie wissen, was Sie mir versprochen haben?«

»Daran zu denken, werden wir noch Zeit finden.«

Frau von Piennes Ton hatte etwas Trockenes und Gezwungenes, das ihm sonst nicht eigen war.

Nach einem Schweigen fuhr Max mit bescheidener Miene fort:

»Sie sind unzufrieden mit mir, gnädige Frau? Warum schelten Sie mich nicht tüchtig aus, wie es meine Tante tat, um mir hernach zu verzeihen? Nun, wollen Sie, daß ich Ihnen mein Wort gebe, nie mehr zu spielen?«

»Wenn man ein Versprechen gibt, muß man die Kraft haben, es zu halten.«

»Ein Ihnen gegebenes Versprechen, gnädige Frau, würd' ich halten; dazu fühle ich Kraft und Mut in mir.«

»Gut, Max, ich nehme an,« sagte sie, ihm die Hand hinstreckend.

»Elfhundert Franken hab' ich gewonnen,« fuhr er fort; »wollen Sie sie für Ihre Armen? Schlecht erworbenes Geld könnte nimmer besser angewandt werden.«

Sie zauderte einen Augenblick.

»Warum nicht?« sagte sie ganz laut zu sich selbst. »Nun, Max, Sie werden sich des Verweises erinnern. Auf meinem Konto werd' ich Sie für elfhundert Franken einschreiben.«

»Meine Tante sagte, das beste Mittel, keine Schulden zu haben, sei, immer bar zu zahlen.«

Und also redend zog er seine Brieftasche, um die Scheine herauszunehmen. In der geöffneten Brieftasche glaubte Frau von Piennes ein Damenbild zu sehn. Max merkte, daß sie hinschaute, errötete und beeilte sich, die Brieftasche zuzumachen und die Scheint zu überreichen.

»Ich würde die Brieftasche gern sehn, ... wenn's möglich wäre,« fügte sie boshaft lächelnd hinzu.

Max war vollständig aus der Fassung gebracht: er stotterte einige unverständliche Worte und bemühte sich Frau von Piennes Aufmerksamkeit abzulenken.

Deren erster Gedanke war gewesen, in der Brieftasche sei das Bild irgend einer schönen Italienerin; Max' augenscheinliche Verwirrung aber und die Hauptfarbe der Miniatur – das war alles, was sie hatte sehen können, – hatten bald einen andern Argwohn in ihr wachgerufen. Früher einmal hatte sie Frau Aubrée ihr Porträt geschenkt; und sie bildete sich ein, in seiner Eigenschaft als direkter Erbe habe Max sich im Rechte geglaubt, es sich anzueignen. Das erschien ihr als unglaublich unschicklich. Indessen ließ sie sich anfangs nichts davon merken, doch als Herr von Salligny sich zurückziehen wollte, sagte sie zu ihm: »Ihre Tante hatte übrigens ein Bild von mir, das ich gern wiederhaben möchte.«

»Ich weiß nicht ... was für ein Bild? ... wie sah's aus?...« fragte Max mit unsicherer Miene.

Dieses Mal war Frau von Piennes entschlossen, sich nicht merken zu lassen, daß er lüge.

»Suchen Sie es,« sagte sie, so natürlich sie konnte, zu ihm. »Sie würden mir eine Freude machen.«

War es nicht das Porträt, so war sie mit Max' Fügsamkeit ziemlich zufrieden, und versprach sich, noch ein verirrtes Schaf zu retten.

Am folgenden Morgen hatte Max das Porträt gefunden und überbrachte es mit ziemlich gleichgültiger Miene. Er hatte bemerkt, daß die Ähnlichkeit nimmer groß gewesen war, und daß der Maler ihr eine steife Pose und einen strengen Gesichtsausdruck gegeben hatte, die unnatürlich waren. Von dem Augenblicke an wurden seine Besuche bei Frau von Piennes minder lang und er zeigte bei ihr eine verdrossene Miene, die sie nimmer an ihm gesehen hatte. Diese Laune schrieb sie der anfänglichen Anstrengung zu, die er sich auferlegen mußte, um seine Versprechungen zu halten und seinen üblen Neigungen zu widerstehen.

Vierzehn Tage nach Herrn von Sallignys Ankunft ging Frau von Piennes ihrer Gewohnheit gemäß zu ihrem Schützling Arsène Guillot, die sie unterdessen nicht vergessen hatte, was ich auch von Ihnen, gnädige Frau, hoffe. Nachdem sie einige Fragen über ihre Gesundheit und die Unterweisungen gestellt, die sie empfing, merkte sie, daß die Kranke noch viel anfälliger war als an den vorhergehenden Tagen und bot ihr an, ihr vorzulesen, damit sie sich nicht durch Sprechen ermüde. Das arme Mädchen hätte ganz gewiß lieber geplaudert, als einer derartigen Lektüre zu folgen, wie man sie ihr vorschlug, denn Sie können sich wohl denken, daß es sich um ein sehr ernstes Buch handelte, und Arsène hatte nur Hintertreppenromane gelesen. Es war ein frommes Buch, nach welchem Frau von Piennes griff; doch will ich es Ihnen nicht nennen, erstens, um seinem Verfasser kein Unrecht zu tun, zweitens, weil Sie mich vielleicht anklagen könnten, irgend einen boshaften Schluß gegen derartige Bücher im allgemeinen ziehen zu wollen. Es genüge, daß das fragliche Buch von einem neunzehnjährigen Jüngling stammte und besonders für die Aussöhnung verhärteter Sünderinnen geeignet war. Arsène hatte es sehr bedrückt und sie hatte deswegen in der vorhergehenden Nacht kein Auge schließen können. Auf der dritten Seite geschah, was bei jedem anderen Buche, ernsten oder nicht ernsten Inhaltes, geschehen wäre; es traf ein, was unvermeidlich war; ich will sagen, Fräulein Guillot schloß die Augen und schlief ein. Frau von Piennes merkte es, und beglückwünschte sich zu der beruhigenden Wirkung, die sie hervorgerufen hatte. Anfangs senkte sie die Stimme, um die Kranke nicht aufzuwecken, wenn sie plötzlich aufhörte, dann legte sie das Buch fort und stand leise auf, um auf den Zehenspitzen hinauszugehn. Da die Wärterin aber gewöhnlich zur Hausmeisterin hinunterging, wenn Frau von Piennes kam, denn ihre Besuche glichen ein bischen Beichtigerbesuchen, wollte sie die Rückkehr der Wärterin abwarten. Und da sie die größte Feindin der Welt von der Muße war, suchte sie sich etwas zu tun für die Minuten, die sie bei der Schläferin wachte. In einem kleinen Kabinett hinter dem Alkoven gab es ein Tischchen mit Tinte und Papier; sie nahm dort Platz und fing an, einen Brief zu schreiben, während sie ein Mundlack in einer Tischschublade suchte, trat jemand, der die Kranke aufweckte, ungestüm ins Zimmer.

»Mein Gott! Was sehe ich?« rief Arsène mit einer so aufgeregten Stimme, daß Frau von Piennes ein Beben ankam.

»Nun, ich höre ja schöne Dinge! Was soll das heißen? Wie eine Närrin aus dem Fenster zu springen! Hat man je solch einen Mädchenschädel gesehen!«

Ich weiß nicht, ob ich die Worte genau berichte, wenigstens war das der Sinn dessen, was die eben eingetretene Person sagte, die Frau von Piennes an ihrer Stimme sofort als Max von Salligny erkannte. Es folgten einige Ausrufe, einige erstickte Schreie Arsènes, dann eine ziemlich laute Umarmung. Endlich fuhr Max fort:

»Arme Arsène, in welch einem Zustand find' ich Dich wieder? Weißt Du, daß ich Dich nimmer ausfindig gemacht haben würde, wenn Julie mir nicht Deine letzte Adresse gegeben hätte? Aber hat man je eine ähnliche Narrheit gesehn!«

»Ach, Salligny! Salligny! wie glücklich bin ich! Wie ich nun bereue, was ich getan habe! Du wirst mich nun nicht mehr hübsch finden. Doch zürnst Du mir nicht mehr?«

»Wie einfältig Du bist,« sagte Max, »warum schreibst Du mir nicht, daß Du kein Geld hast? Warum holtest keins vom Major? Was ist denn aus Deinem Russen geworden? Ist er abgereist, Dein Kosak?«

Als Frau von Piennes Max' Stimme erkannte, war sie anfangs fast ebenso erstaunt wie Arsène. Die Überraschung hinderte sie, sich sofort zu zeigen; dann hatte sie zu überlegen begonnen, ob sie erscheinen sollte oder nicht; und wenn man horchend erwägt, entscheidet man nicht so schnell. Daraus ergab sich, daß sie den eben von mir berichteten erbaulichen Dialog hörte. Dann aber begriff sie, daß, wenn sie im Kabinett bliebe, sie sich in die Gefahr begäbe, noch mehr zu erlauschen. Sie faßte ihren Entschluß und trat ins Zimmer in jener ruhigen und stolzen Haltung, die tugendhafte Wesen nur selten verlieren, und der sie nach Bedürfnis gebieten.

»Max,« sagte sie, »Sie schaden dem armen Mädchen; entfernen Sie sich. In einer Stunde werden Sie mich bei mir sprechen.«

Totenbleich war Max geworden, als er Frau von Piennes an einem Orte erscheinen sah, wo er ihr niemals zu begegnen gedacht hätte; in der ersten Erregung wollte er gehorchen, und er machte einen Schritt nach der Tür hin.

»Du gehst?!... geh nicht fort!« schrie Arsène, sich mit verzweifelter Anstrengung in ihrem Bette erhebend.

»Mein Kind,« sagte Frau von Piennes, sie bei der Hand fassend, »seien Sie vernünftig. Hören Sie auf mich. Erinnern Sie sich dessen, was Sie mir versprochen haben!«

Dann warf sie einen ruhigen, aber gebieterischen Blick auf Max, der sofort hinausging. Arsène sank auf das Bett zurück. Als sie ihn hinausgehen sah, ward sie ohnmächtig.

Frau von Piennes und die Wärterin, die etwas später zurückkam, halfen ihr mit der Geschicklichkeit, die Frauen bei derartigen Fällen an den Tag legen. Nach und nach kam Arsène wieder zu Bewußtsein. Zuerst wanderten ihre Blicke durchs ganze Zimmer, wie um den dort zu suchen, den eben dort gesehen zu haben sie sich erinnerte; dann richtete sie ihre großen Augen auf Frau von Piennes, und sie fest anschauend, fragte sie:

»Ist es Ihr Gatte?«

»Nein,« antwortete Frau von Piennes leicht errötend, ohne daß jedoch die Sanftheit ihrer Stimme dadurch beeinträchtigt wurde; »Herr von Salligny ist mein Verwandter.«

Diese kleine Lüge glaubte sie sich gestatten zu dürfen, um die Macht zu erklären, die sie über ihn hatte.

»Dann liebt er Sie!« sagte Arsène.

Und heftete immer ihre Augen auf sie, die wie zwei Fackeln glühten.

Er! ... Ein Blitz glänzte auf Frau von Piennes Stirne. Einen Moment färbten sich ihre Wangen mit einem lebhaften Inkarnat, und ihre Stimme erstarb auf den Lippen, bald aber hatte sie ihre Heiterkeit wieder.

»Sie vergessen sich, mein liebes Kind,« sagte sie ernsten Tones. »Herr von Salligny hat begriffen, daß er Unrecht tat, Erinnerungen in Ihnen wachzurufen, die ihren Gedanken glücklicherweise fernliegen. Sie haben vergessen ...«

»Vergessen!« schrie Arsène mit dem Lächeln des Verdammten, das zu sehen wehtat.

»Ja, Arsène, Sie haben auf alle törichten Gedanken einer Zeit verzichtet, die nicht wiederkehren wird. Denken Sie daran, mein armes Kind, daß Sie diesem sträflichen Verhältnisse all Ihr Unglück verdanken. Denken Sie daran...«

»Er liebt Sie nicht!« unterbrach Arsène, ohne ihr zuzuhören, »er liebt Sie nicht und versteht einen einzigen Blick! Ich hab' Ihre und seine Augen gesehn. Ich täusche mich nicht... Im übrigen.. es ist ja recht! Sie sind jung, schön, strahlend ... ich verkrüppelt, entstellt ... zum Sterben fertig ...«

Sie konnte nicht vollenden: Seufzer erstickten ihre Stimme, die so stark und so schmerzlich waren, daß die Wärterin rief, sie wolle den Arzt holen; denn, wie sie sagte, »der Doktor fürchtet nichts mehr als solche Krämpfe, und wenn die anhalten, geht die Kleine drauf.«

Allmählich machte die Art Energie, die Arsène in der Lebhaftigkeit selbst ihres Schmerzes gefunden hatte, einer dumpfen Abgeschlagenheit Platz, die Frau von Piennes für Ruhe hielt. Sie fuhr mit ihren Ermahnungen fort, die unbewegliche Arsène aber hörte all die schönen und guten Gründe nicht, die man anführte, um der göttlichen Liebe vor der irdischen den Vorzug zu geben. Ihre Augen waren trocken, ihre Zähne krampfhaft auf einander gepreßt. Während ihre Beschützerin vom Himmel und der Zukunft sprach, dachte, träumte sie von der Gegenwart. Max' plötzliche Ankunft hatte in einem Augenblicke wieder närrische Illusionen in ihr erweckt, Frau von Piennes Blick aber hatte sie noch schneller zerstreut.

Nach einem glücklichen Traume von einer Minute fand Arsène nur noch die traurige Wirklichkeit, die, weil sie sie einen Augenblick vergessen hatte, hundertmal schrecklicher geworden war.

Ihr Arzt wird Ihnen sagen, gnädige Frau, daß Schiffbrüchige, die inmitten der Hungerqualen vom Schlafe überfallen werden, träumen, daß sie bei Tische sitzen und Wohllebe halten. Noch viel hungriger wachen sie auf, und wünschten nie geschlafen zu haben. Arsène litt eine Qual, die jener der Schiffbrüchigen verglichen werden kann. Früher hatte sie Max geliebt, wie sie eben zu lieben verstand. Mit ihm hatte sie immer ins Theater gehn wollen, mit ihm amüsierte sie sich auf einer Landpartie, von ihm schwatzte sie unaufhörlich bei ihren Freundinnen. Als Max abreiste, hatte sie viel geweint, jedoch bald darauf die Huldigungen eines Russen angenommen, den als seinen Nachfolger zu sehn, Max entzückt war, weil er ihn für einen Ehrenmann, das heißt für einen freigebigen Mann hielt. Solange sie das tolle Leben der Frauen ihrer Art leben konnte, war ihre Liebe zu Max nur eine angenehme Erinnerung, die sie manchmal zum Seufzen brachte. Sie dachte daran, wie man an die Vergnügungen seiner Kindheit denkt, die niemand indessen wieder aufnehmen möchte. Als Arsène aber keine Liebhaber mehr hatte, sich verlassen sah, nur noch die Last des Unglücks und der Schande fühlte, da verklärte sich ihre Liebe zu Max in gewisser Weise, weil sie die einzige Erinnerung war, die weder Bedauern noch Gewissensbisse in ihr wachrief. Sie erhöhte sie sogar in ihren eigenen Augen, und je mehr sie sich erniedrigt fühlte, desto mehr vergrößerte sie Max in ihrer Einbildung. »Ich bin seine Geliebte gewesen,« sagte sie sich, »er hat mich geliebt,« mit einer Art Stolz, wenn sie in Gedanken an ihr Kurtisanenleben der Ekel überkam. In den Sümpfen von Minturnes kräftigte Marius seinen Mut wieder, indem er sagte: Ich habe die Zimbern besiegt! Das ausgehaltene Mädchen – ach, sie war keins mehr – hatte, um der Schande und Verzweiflung widerstehn zu können, nur die Erinnerung: Max hat mich geliebt ... Er liebt mich noch! Einen Augenblick hatte sie es denken können; nun aber kam man und entriß ihr das einzige Gut, das ihr auf Erden blieb bis auf die Erinnerungen.

Während Arsène sich solch traurigen Gedanken überließ, bewies Frau von Piennes ihr mit Eifer die Notwendigkeit, für immer auf das verzichten zu müssen, was sie ihre sträflichen Verirrungen nannte. Eine feste Überzeugung macht fast gefühllos; und wie ein Arzt, ohne die Schreie des Patienten zu hören, Eisen und Feuer auf eine Wunde legt, so verfolgte Frau von Piennes mit erbarmungsloser Festigkeit ihre Aufgabe. Sie sagte, daß diese Zeit des Glücks, in welche die arme Arsen, wie um sich selber zu entgehn, sich flüchtete, eine Zeit des Verbrechens und der Schande wäre, die sie grade heute büße. Solche Illusionen müsse sie verabscheuen und aus ihrem Herzen verbannen; der Mann, zu dem sie wie zu ihrem Beschützer und fast wie zu einem Schutzgeiste aufsah, sollte in ihren Augen nichts weiter wie ein verderblicher Mitschuldiger, ein Verführer sein, den sie für immer fliehen müßte.

Das Wort Verführer, dessen Lächerlichkeit Frau von Piennes nicht fühlen konnte, ließ Arsène inmitten ihrer Tränen fast lächeln; doch ihre würdige Beschützerin merkte es nicht. Unerschütterlich fuhr sie mit ihrer Ermahnung fort, und beendigte sie mit einem Schlußsatze, der des armen Mädchens Seufzer verdoppelte, nämlich: Sie werden ihn nicht mehr sehn.«

Der eintreffende Arzt und das gänzliche Darniederliegen der Kranken erinnerten Frau von Piennes daran, daß sie hier genug getan hatte. Sie drückte Arsène die Hand im Fortgehn und sagte zu ihr:

»Mut, meine Tochter, und Gott wird Sie nicht verlassen.«

Eben hatte sie eine Pflicht erfüllt, und eine zweite, viel schwerere, blieb ihr noch. Ein anderer Schuldiger war übrig, dessen Seele sie der Reue auftun mußte; und trotz des Vertrauens, das sie aus ihrem frommen Eifer schöpfte, trotz der Herrschaft, die sie über Max ausübte und wovon sie bereits Beweise hatte, kurz, trotz ihrer guten Meinung, die sie hinsichtlich dieses ausschweifenden Menschen im Grunde des Herzens hegte, empfand sie eine seltsame Angst, wenn sie an den Kampf dachte, den sie auf sich genommen. Bevor sie solch schrecklichen Kampf begann, wollte sie Kräfte sammeln. Sie trat in eine Kirche ein und bat Gott um neue Eingebungen, um seine Sache zu verteidigen.

Als sie nach Hause kam, sagte man ihr, Herr von Salligny sei im Salon und erwarte sie seit langem. Sie fand ihn blaß, erregt und voller Unruhe. Sie setzten sich. Max wagte den Mund nicht aufzutun; und Frau von Piennes, die selber bewegt war, ohne den Grund davon tatsächlich zu wissen, verharrte einige Zeit, ohne zu sprechen, und ihn nur verstohlen anschauend.

»Max,« sagte sie, »ich will Ihnen keine Vorwürfe machen.«

Er hob den Kopf ziemlich kühn. Ihre Blicke begegneten sich und er schlug die Augen sofort nieder.

»Ihr gutes Herz,« fuhr sie fort, sagt Ihnen in diesem Augenblick mehr, als ich es tun könnte. Die Vorsehung hat Ihnen eine Lehre erteilen wollen, und ich hege die Hoffnung, die Überzeugung ... sie wird es nicht umsonst getan haben.«

»Gnädige Frau,« unterbrach Max, »ich weiß kaum, was vorgegangen ist. Das unglückliche Mädchen hat sich aus dem Fenster gestürzt, das hat man mir gesagt, aber ich habe nicht die Eitelkeit ... ich will sagen den Schmerz ... zu glauben, daß die Beziehungen, in denen wir früher zu einander gestanden haben, diese törichte Handlung haben veranlassen können.«

»Sagen Sie lieber, Max, daß sie, als sie schlecht handelten, die Konsequenzen nicht vorhergesehen haben. Als Sie dies junge Mädchen der Ausschweifung überlieferten, dachten sie nicht daran, daß sie sich eines Tages an sich vergreifen würde.« »Gnädige Frau,« rief Max heftig, »erlauben Sie mir zu sagen, daß Arsène Guillot durchaus nicht von mir verführt wurde. Als ich sie kennen lernte, war sie bereits verführt. Sie ist meine Geliebte gewesen, ich leugne 's nicht. Ich will sogar gestehen, ich habe sie geliebt ... wie man ein Wesen ihrer Art lieben kann. Mir gegenüber hat sie, glaub ich, etwas mehr Anhänglichkeit gehabt als gegen die anderen. Seit langem aber hatten alle Beziehungen zwischen uns aufgehört, und ohne daß sie viel Bedauern gezeigt hat. Als ich das letzte Mal Nachrichten von ihr erhielt, habe ich ihr Geld zukommen lassen; doch sie wirtschaftete schlecht ... Sie hat sich geschämt, mich nochmals um etwas zu bitten, denn sie besitzt ihren Stolz ... Das Unglück hat sie in jenen schrecklichen Entschluß hineingehetzt ... Untröstlich bin ich darüber ... Doch ich wiederhole Ihnen, gnädige Frau, bei alledem habe ich mir keinen Vorwurf zu machen.«

Frau von Piennes zerknitterte eine Handarbeit auf dem Tische, dann erwiderte sie:

»Nach den Ansichten der ›Gesellschaft‹ sind Sie zweifelsohne nicht schuldig, Sie haben keine Verantwortung auf sich geladen; aber es gibt eine andere Moral wie die der Gesellschaft, und nach deren Regeln möcht' ich Sie gern leben sehn ... Jetzt sind Sie vielleicht nicht fähig, mich zu verstehn. Lassen wir das. Um was ich Sie heute bitten möchte, ist ein Versprechen, das Sie mir nicht verweigern werden, des bin ich gewiß. Das unglückliche Mädchen hat sich der Reue ergeben. Voller Ehrfurcht hat sie die Ratschläge eines ehrwürdigen Geistlichen angehört, der sie gern hat besuchen wollen, wir haben allen Grund, das Beste für sie zu hoffen. – Sie, Sie dürfen sie nicht wieder sehn, denn ihr Herz schwankt noch zwischen Gut und Böse, und leider haben Sie weder den Wunsch, noch die Macht, ihr nützlich zu sein. Wenn Sie sie sähen, könnten Sie ihr viel Übel antun ... Darum bitte ich Sie um Ihr Wort, nicht mehr zu ihr zu gehn.«

Max machte eine überraschte Bewegung.

»Lieber Gott! gnädige Frau, was verlangen Sie von mir? Was für ein Übel sollte ich, meinen Sie, dem armen Mädchen antun? Ist es im Gegenteil nicht eine Verpflichtung für mich, der ... ich sie in ihren leichtfertigen Zeiten gesehn habe, Sie jetzt nicht aufzugeben, wo sie krank ist, und recht gefährlich krank, wenn man mir die Wahrheit gesagt hat?«

»Zweifelsohne ist das die Moral der Welt, aber es ist nicht meine. Je ernster die Krankheit ist, desto wichtiger ist es, daß Sie sie nicht mehr sehen.«

»Aber wollen Sie bedenken, gnädige Frau, daß in dem Zustande, in welchem sie sich befindet, selbst die törichtste Prüderie unmöglich beunruhigt werden kann ... Sehen Sie, gnädige Frau, wenn ich einen kranken Hund hätte, und wenn ich wüßte, daß ihm mein Anblick etwas Freude machte, würde ich eine schlechte Handlung zu tun glauben, wenn ich ihn allein verrecken ließe. Ich kann nicht annehmen, daß Sie, die Sie so gut und so barmherzig sind, anders denken. Erwägen Sie das. Wirklich grausam würde ich sein.«

»Eben bat ich Sie, mir dies Versprechen im Namen Ihrer guten Tante zu machen ... im Namen, der Freundschaft, die Sie für mich hegen ... jetzt verlange ich es im Namen dieses unglücklichen Mädchens selber von Ihnen: wenn Sie sie wirklich lieben ...«

»Ach! gnädige Frau, ich flehe Sie an, halten Sie doch nicht Dinge gegeneinander, die sich nicht vergleichen lassen. Glauben Sie mir bitte, es schmerzt mich unendlich, Ihnen, in was es auch sei, Widerstand zu leisten; aber wahrlich, dort, glaube ich, ist meine Ehre verpflichtet ... Das Wort mißfällt Ihnen? Vergessen Sie's. Nur, gnädige Frau, lassen Sie mich Sie meinerseits beschwören aus Mitleid mit dieser Unglücklichen ... und auch ein bischen aus Mitleid mit mir ... wenn ich Unrecht getan habe ... wenn ich mit dazu beigetragen habe, sie in der Ausschweifung verharren zu lassen ... so muß ich jetzt Sorge für sie tragen. Abscheulich wär' es, sie aufzugeben. Nie würd' ich mir das verzeihen. Nein, ich kann' sie nicht preisgeben. Sie werden das nicht verlangen, gnädige Frau.«

»Anderer Fürsorge wird ihr nicht ermangeln. Doch antworten Sie mir, Max: lieben Sie sie?«

»Ich liebe sie ... ich liebe sie ... Nein, ich liebe sie nicht. Das ist ein Wort, das hier nicht am Platze ist ... Sie lieben: ach, nein! Ich habe bei ihr ein ernsteres Gefühl, das ich bekämpfen mußte, zu vergessen gesucht. Das scheint Ihnen lächerlich, unbegreiflich? ... Ihrer Seele Reinheit kann nicht zugeben, daß man ein derartiges Heilmittel sucht? ... Nun, es ist nicht die schlechteste Handlung meines Lebens. Wenn wir Männer nicht manchmal die Hilfe hätten, unsere Leidenschaften vom Wege abzubringen, würden wir vielleicht ... ich jetzt vielleicht aus dem Fenster gesprungen sein ... Aber ich weiß nicht, was ich sage, und sie können, mich nicht verstehn ... begreife ich mich doch selbst kaum ...«

»Ich fragte Sie, ob Sie sie lieben,« entgegnete Frau von Piennes mit gesenkten Augen und mit einigem Zaudern, »weil Sie, wenn Sie ... freundschaftliche Gefühle für sie hegten, zweifelsohne den Mut aufbringen würden, ihr etwas wehe zu tun, um ihr dann eine große Wohltat zu erweisen. Sicherlich wird der Kummer, Sie nicht zu sehen, schwer erträglich für sie sein; sehr viel bedenklicher aber würde es sein, sie heute von dem Pfade abzulenken, den sie fast durch Wunder betreten hat. Es handelt sich um ihr »Heil,« Max; daß sie vollkommen eine Zeit vergißt, die Ihre Anwesenheit mit allzu großer Lebhaftigkeit in ihr Gedächtnis zurückrufen würde.«

Max schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Er war nicht religiös, und das Wort Heil, das auf Frau von Piennes so mächtig wirkte, sprach nicht ebenso eindringlich zu seiner Seele. Über diesen Punkt aber hatte er nicht mit ihr zu streiten. Stets vermied er es sorgfältig, ihr seine Zweifel zu zeigen, und auch diesmal noch wahrte er Schweigen; leicht indessen konnte man merken, daß er nicht überzeugt war.

»Ich will die Sprache der Welt mit Ihnen reden,« fuhr Frau von Piennes fort, »wenn es unglücklicherweise die einzige ist, die sie verstehen können; tatsächlich streiten wir über eine arithmetische Rechnung: durch Ihren Anblick hat sie nichts zu gewinnen, viel aber zu verlieren, jetzt wählen Sie.«

»Gnädige Frau,« sagte Max mit bewegter Stimme, »Sie zweifeln, hoffe ich, nicht mehr, daß es hinsichtlich Arsènes meinerseits kein anderes Gefühl geben kann als ein ... recht natürliches Interesse. Welche Gefahr gibt's dabei? Keine. Zweifeln Sie an mir? Denken Sie, ich will den guten Ratschlägen, die Sie ihr geben, entgegenarbeiten? Ach, mein Gott! glauben Sie, daß ich, der ich traurige Schauspiele, die ich mit einem gewissen Schauder fliehe, verwünsche, den Anblick einer Sterbenden mit sträflichen Absichten suche? Ich wiederhole Ihnen, gnädige Frau, für mich ist es ein Pflichtgedanke, eine Sühne, eine Züchtigung, wenn Sie wollen, die ich bei ihr suchen will.«

Bei diesem Wort hob Frau von Piennes den Kopf und sah ihn fest an mit einer überspannten Miene, die allen ihren Gesichtszügen einen erhabenen Ausdruck verlieh. – »Eine Sühne, sagen Sie, eine Züchtigung? ... Nun gut, ja! Ohne Ihr Wissen, Max, gehorchen Sie vielleicht einer »Ankündigung von oben,« und haben recht, sich mir zu widersetzen ... Ja, ich willige ein. Sehen Sie das Mädchen und möge sie das Werkzeug Ihrer Rettung werden wie Sie das ihres Verderbens sein mußten.«

Wahrscheinlich verstand Max nicht ebensogut wie Sie, gnädige Frau, was eine »Ankündigung von oben« ist. Der so plötzliche Entschlußwechsel wunderte ihn, er wußte nicht, wem er ihn zuschreiben sollte, er wußte nicht, ob er Frau von Piennes danken sollte, endlich nachgegeben zu haben; in diesem Augenblicke aber beschäftigte er sich in Hauptsache damit, zu erraten, ob er das Wesen, dem zu mißfallen er vor allem fürchtete, durch seine Hartnäckigkeit ermüdet oder gerade überzeugt hatte.

»Nur, Max,« fuhr Frau von Piennes fort, »bitte ich Sie oder vielmehr fordere ich von Ihnen ...«

Einen Moment hielt sie inne, und Max machte ein Zeichen mit dem Kopfe, das ankündigte, er unterwerfe sich allem.

»Ich verlange,« fuhr sie fort, »daß Sie sie nur mit mir zusammen besuchen.«

Er machte eine erstaunte Geste, beeilte sich aber hinzuzufügen, daß er ihr gehorchen würde.

»Ich verlasse mich nicht durchaus auf Sie,« sprach sie weiter. »Ich fürchte noch, Sie verderben mein Werk, und ich will Erfolg haben. Unter meiner Bewachung werden Sie im Gegenteil ein nützlicher Helfer sein, und ich hege die Hoffnung, Ihre Unterwürfigkeit wird ihren Lohn finden.«

Mit diesen Worten streckte sie ihm die Hand hin. Es wurde abgemacht, daß Max Arsène Guillot am folgenden Morgen besuchen sollte, Frau von Piennes würde vorangehen, um sie auf diesen Besuch vorzubereiten.

Sie verstehn ihr Vorhaben? Zuerst hatte sie gedacht, sie würde Max voller Reue vorfinden und aus Arsènes Beispiel leicht den Text zu einem beredten Sermon gegen seine schlechten Leidenschaften ziehen können; doch wider ihr Erwarten lehnte er jede Verantwortung ab. Man mußte den Angriff ändern und eine einstudierte, feierliche Rede in einem entscheidenden Momente aufschieben, ist ein fast ebenso gefährliches Unterfangen wie inmitten eines unvermuteten Angriffs eine neue Schlachtordnung aufstellen. Frau von Piennes hatte kein Manöver improvisieren können. Anstatt Max zu predigen, hatte sie mit ihm eine Schicklichkeitsfrage besprochen. Plötzlich war ihr ein neuer Gedanke gekommen. Die Gewissensbisse seiner Mittäterschaft werden ihn rühren, hatte sie gedacht. Das christliche Ende einer Frau, die er geliebt hat (und unglücklicherweise konnte sie nicht daran zweifeln, daß es nahe bevorstand) wird ihm sonder Zweifel einen entschiedenen Schlag versetzen. Auf die Hoffnung hin hatte sie sich plötzlich entschlossen, Max das Wiedersehen mit Arsène zu erlauben. Dadurch gewann sie noch die Vertagung ihrer beabsichtigten Ermahnung; denn, ich glaube es Ihnen schon gesagt zu haben, trotz ihres lebhaften Wunsches, einen Mann zu retten, dessen Verirrungen sie beklagte, schreckte sie unwillkürlich vor dem Gedanken zurück, sich auf eine so ernste Unterredung mit ihm einzulassen.

Stark gerechnet hatte sie mit der Güte ihrer Sache; am Erfolge zweifelte sie noch, und ein Nichtgelingen hieße an Max' Heil verzweifeln, hieß sich dazu verdammen, die Gefühle ihm gegenüber zu ändern. Der Teufel vielleicht, um zu vermeiden, daß sie sich gegen die lebhafte Zuneigung schütze, die sie zu einem Jugendfreunde hegte, der Teufel hatte Sorge getragen, daß sie diese Zuneigung mit einer christlichen Hoffnung rechtfertigte. Dem Versucher ist jede Waffe recht, und derartige Praktiken sind ihm vertraut, darum sagt der Portugiese so elegant: De boâs intencoes esta o inferno cheio. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Im Französischen sagt man, er ist mit Frauenzungen gepflastert, und das kommt aufs selbe heraus; denn die Frauen wollen meines Erachtens immer das Gute.

Sie erinnern mich an meine Erzählung. Am folgenden Morgen also ging Frau von Piennes zu ihrem Schützling, den sie sehr schwach, sehr abgeschlagen, aber doch viel ruhiger und viel resignierter vorfand, als sie gehofft hatte. Sie sprach wieder von Herrn von Salligny, doch mit mehr Schonung als am Vorabend.

In Wahrheit müsse Arsène durchaus auf ihn verzichten, und nur noch an ihn denken, um ihre gemeinsame Verblendung zu beweinen. Sie müsse noch, und das bilde einen Teil ihrer Buße, sie müsse ihre Reue Max selber noch zeigen, ihm ein Beispiel geben, indem sie ihr Leben ändere und ihm für die Zukunft der Gewissensruhe versichere, deren sie selber sich erfreue. Mit allen diesen christlichen Ermahnungen versäumte Frau von Piennes nicht, einige weltliche Argumente zu verbinden. Das zum Beispiel: wenn Arsène Herrn von Salligny wirklich liebe, müsse sie vor allem sein Wohl wünschen, und durch die Änderung ihrer Aufführung würde sie die Schätzung eines Mannes verdienen, die er ihr in Wirklichkeit noch nicht hatte gewähren können. Alles was streng und traurig an dieser Rede war, wurde plötzlich zunichte, als Frau von Piennes ihr am Schlusse anzeigte, daß sie Max wiedersehn und daß er kommen würde. Die lebhafte Röte, die ihre durch Leiden seit langem bleichen Wangen plötzlich beseelte, der außerordentliche Glanz, in welchem ihre Augen strahlten, hätten es Frau von Piennes fast bereuen lassen, ihre Einwilligung zu dieser Zusammenkunft gegeben zu haben; doch zu einem Entschlußwechsel war nicht mehr Zeit. Einige Minuten, die ihr noch vor Max' Ankunft blieben, verwandte sie zu frommen und nachdrücklichen Ermahnungen, die aber wurden mit einer großen Zerstreutheit angehört, denn Arsène schien nur damit beschäftigt, ihre Haare zu ordnen und das zerknitterte Band ihres Häubchens glattzustreichen.

Endlich erschien Herr von Salligny. Alle seine Gesichtszüge waren gespannt, um heiter und sicher zu erscheinen. Er fragte sie, wie sie sich befinde, und zwar mit einem Stimmklang, den er natürlich herauszubringen versuchte, was ein Katarrh aber nicht hergeben wollte. Arsène ihrerseits war nicht mehr die alte, sie stotterte, konnte keine Worte finden, nahm aber Frau von Piennes Hand und führte sie an ihre Lippen, wie um ihr zu danken. Was man sich in einer Viertelstunde sagte, war das nämliche, was sich verlegene Leute allenthalben sagen. Frau von Piennes allein bewahrte ihre übliche Ruhe oder vielmehr besser vorbereitete Ruhe; sie beherrschte sich besser. Häufig antwortete sie für Arsène, und die fand, daß ihre Interpretin ihre Gedanken recht schlecht wiedergäbe. Die Unterhaltung schlief ein; Frau von Piennes merkte, daß die Kranke viel huste, erinnerte sie daran, daß der Arzt ihr das Reden untersagte, und sich an Max wendend, erklärte sie, er würde besser tun, ein bischen vorzulesen, als Arsène durch seine Fragen zu ermüden. Voller Eifer nahm Max sofort ein Buch und näherte sich dem Fenster, denn das Zimmer war etwas dunkel. Er las, ohne viel zu verstehn. Sonder Zweifel begriff Arsène nichts mehr, es hatte aber das Aussehn, als ob sie mit lebhaftem Eifer zuhörte. Frau von Piennes stickte an einer Handarbeit, die sie mitgebracht hatte; die Wärterin kniff sich in den Arm, um nicht einzuschlafen. Unaufhörlich wanderten Frau von Piennes Augen vom Bett zum Fenster; nimmer hielt Argus mit seinen hundert Augen so gut Wache. Nach einigen Minuten neigte sie sich zu Arsènes Ohr herunter:

»Wie gut er liest!« sagte sie ganz leise.

Arsène warf ihr einen Blick zu, der merkwürdig gegen das Lächeln ihres Mundes abstach:

»Oh! ja,« antwortete sie.

Dann senkte sie die Augen, und von Minute zu Minute erschien eine schwere Träne am Rande ihrer Wimpern und rollte über ihre Wangen, ohne daß sie Acht darauf gab. Max wandte seinen Kopf nicht ein einziges Mal um. Nach einigen Seiten sagte Frau von Piennes zu Arsène:

»Wir wollen Sie jetzt ruhen lassen, mein Kind. Ich fürchte, wir haben Sie etwas ermüdet. Bald werden wir Sie wieder besuchen.«

Sie erhob sich und wie ihr Schatten stand Max auf. Ohne ihn fast anzusehn, sagte Arsène ihm Lebewohl.

»Ich bin zufrieden mit Ihnen, Max,« sagte Frau von Piennes, die er bis an ihre Türe begleitet hatte, »und mit ihr noch mehr. Das arme Mädchen ist ganz entsagungsvoll, sie gibt Ihnen ein Beispiel.«

»Leiden und schweigen, gnädige Frau, ist denn das so schwer zu lernen?«

»Was man vor allem lernen muß, ist, sein Herz bösen Gedanken zu verschließen!«

Max grüßte sie und entfernte sich eilig.

Als Frau von Piennes Arsène am folgenden Morgen wiedersah, fand sie sie beim Betrachten eines Straußes seltener Blumen, der auf einen Tisch bei ihrem Bette gestellt worden war.

»Herr von Salligny hat sie mir geschickt,« sagte sie. »Man hat von ihm aus angefragt, wie es mir gehe. Er ist nicht heraufgekommen.

»Die Blumen sind sehr schön,« sagte Frau von Piennes etwas trocken.

»Früher hatte ich Blumen sehr gern,« erklärte die Kranke seufzend; »und er hat mich verwöhnt damit ... Herr von Salligny verwöhnte mich, schenkte mir von allem das Schönste, was er finden konnte ... Aber das macht mir jetzt keine Freude ... Sie duften zu stark ... Sie sollten den Strauß nehmen, gnädige Frau; er wird sich nicht grämen, wenn ich ihn Ihnen schenke.«

»Nein, meine Liebe; der Anblick der Blumen macht Ihnen Freude,« erwiderte Frau von Piennes mit einem sanfteren Tone, denn der tief traurige Akzent der armen Arsène hatte sie sehr bewegt. »Ich will die duftenden nehmen, behalten Sie die Kamelien.«

»Nein, Kamelien verabscheue ich ... Sie erinnern mich an den einzigen Streit, den wir gehabt haben ... als ich bei ihm war.«

»Denken Sie nicht mehr an solche Torheiten, mein liebes Kind.«

»Eines Tages,« fuhr Arsène, Frau von Piennes fest anblickend, fort, »eines Tages fand ich in seinem Zimmer eine schöne rosa Kamelie in einem Wasserglase. Ich wollte sie nehmen, er wollte es nicht, hinderte mich sogar, sie anzufassen. Ich war hartnäckig, sagte ihm Dummheiten. Er nahm sie, sperrte sie in einen Schrank und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Ich, ich tobte entsetzlich, zerbrach ihm sogar eine Porzellanvase, die er sehr gern hatte. Nichts geschieht. Ich merkte wohl, daß er sie von einer feinen Dame hatte. Nie habe ich erfahren, woher diese Kamelie stammte.«

Während sie so sprach, heftete Arsène einen festen und fast spöttischen Blick auf Frau von Piennes, die unwillkürlich die Augen niederschlug. Es herrschte ein ziemlich langes Schweigen, das nur der schwere Atem der Kranken störte. Dunkel erinnerte sich Frau von Piennes an eine gewisse Kameliengeschichte. Als sie eines Tages bei Frau Aubrée speiste, hatte Max ihr gesagt, daß seine Tante ihm eben zum Geburtstag gratuliert hätte, und bat sie, ihm auch einen Strauß zu schenken. Lachend hatte sie eine Kamelie aus ihren Haaren losgemacht und sie ihm geschenkt. Wie aber war ein so unbedeutendes Geschehnis in ihren Gedanken haften geblieben? Frau von Piennes konnte es sich nicht erklären. Fast war sie ein bischen erschrocken darüber. Die Art Verwirrung, die sie sich selbst gegenüber verspürte, war kaum verscheucht, als Max eintrat und sie sich rot werden fühlte.

»Dank für Ihre Blumen,« sagte Arsène; »aber sie machen mir Kopfweh ... Sie sollen nicht verloren gehn; ich hab' sie der gnädigen Frau geschenkt. Lassen Sie mich nicht sprechen, man verbietet's mir. Wollen Sie mir etwas vorlesen?«

Max setzte sich und las. Dieses Mal hörte niemand zu; und ich denke, jeder, der Leser einbegriffen, verfolgte den Faden seiner eigenen Gedanken.

Als Frau von Piennes aufstand, um fortzugehn, wollte sie den Strauß auf dem Tische stehn lassen, Arsène aber erinnerte sie an ihn. Sie nahm also das Bukett mit und war verstimmt, sich vielleicht etwas geziert zu haben, weil sie diese Bagatelle nicht sofort angenommen hatte. – Was ist denn Schlimmes dabei? dachte sie. Aber es war schon schlimm, daß sie sich diese simple Frage stellte.

Ohne dazu aufgefordert zu sein, folgte ihr Max bis ins Haus. Sie setzten sich und verharrten, die Augen von einander abwendend, so lange in Schweigen, daß sie verlegen wurden.

»Das arme Mädchen,« sagte Frau von Piennes, »tut mir innig leid. Wie es scheint, ist fast keine Hoffnung mehr.«

»Sie haben den Arzt gesehn,« fragte Max, »was sagt er?«

Frau von Piennes schüttelte den Kopf:

»Sie hat nur noch wenige Tage in dieser Welt zu leben. Heute Morgen hat man ihr die letzte Ölung gegeben.«

»Ihr Gesicht zu sehen, bereitet einem Qual,« sagte Max, der in eine Fensternische trat, wahrscheinlich um seine Bewegung zu verbergen.

»Sicher ist es grausam, in ihrem Alter zu sterben,« versetzte Frau von Piennes ernst; »doch wer weiß, ob es nicht ein Unglück für sie wäre, wenn sie weiter lebte? ... Indem die Vorsehung sie vor einem Verzweiflungstode bewahrte, hat sie ihr Zeit zur Reue lassen wollen ... Das ist eine große Gnade, deren Wert sie jetzt selber fühlt. Abbé Dubignon ist sehr zufrieden mit ihr. Man darf sie nicht zu sehr beklagen, Max!«

»Ich weiß nicht, ob man Leute, die jung sterben, beklagen soll,« antwortete er ein wenig heftig... »Ich, ich würde gern jung sterben; was mich aber besonders betrübt, ist, sie so leiden zu sehen.«

»Die Leiden des Körpers sind der Seele oft von Nutzen...«

Ohne zu antworten, ließ Max sich in der äußersten Zimmerecke in einem dunklen, durch dichte Vorhänge halb verstecktem Winkel nieder. Frau von Piennes arbeitete oder arbeitete scheinbar, die Augen auf eine Stickerei geheftet; aber es schien ihr, als ob Max' Blick wie etwas Schweres auf ihr laste.

Diesen Blick, den sie floh, glaubte sie zu fühlen, wie er über ihre Hände, über ihre Schultern, über ihre Stirne irrte. Ihr schien's, daß er auf ihrem Fuße haften blieb, und sie verbarg ihn schnell unter ihrem Kleide. – Es ist vielleicht etwas Wahres an dem, was man vom magnetischen Fluidum sagt, gnädige Frau.

»Sie kennen den Admiral von Rigny, gnädige Frau?« fragte Max plötzlich.

»Ja, ein wenig.«

»Ich würde Sie vielleicht um einen Dienst bei ihm bitten ... ein Empfehlungsschreiben ...«

»Warum denn?«

»Seit einigen Tagen mache ich Pläne, gnädige Frau,« fuhr er mit gemachter Lustigkeit fort. »Ich arbeite an meiner Bekehrung und möchte gern eine gute christliche Tat tun, bin aber in Verlegenheit, wie ich's anfangen soll ...«

Frau von Piennes warf ihm einen etwas strengen Blick zu.

»Bei folgendem bin ich stehn geblieben,« fuhr er fort. »Ich bin ärgerlich, weil ich so wenig von Militärdingen weiß, wie man sich im Karree aufstellt, doch das läßt sich lernen ... und so hab' ich die Ehre, Ihnen zu sagen, ich habe große Lust, nach Griechenland zu gehn und dort – um des größten Ruhmes des Kreuzes willen, zu versuchen, irgend einen Türken zu töten!«

»Nach Griechenland!« rief Frau von Piennes, ihr Knäuel fallen lassend.

»Nach Griechenland. Hier tue ich nichts; ich langweile mich; bin zu nichts gut; kann nichts Nützliches tun; es gibt niemanden auf der Welt, dem ich zu etwas gut bin. Warum soll ich nicht gehn und Lorbeeren einheimsen, oder mir um einer guten Sache willen den Kopf zerschießen lassen? Für mich sehe ich überdies kein anderes Mittel, in den Ruhm oder den Tempel der Erinnerung einzugehn, von dem ich soviel halte. Stellen Sie sich vor, gnädige Frau, welche Ehre für mich, wenn man in der Zeitung lesen wird: Man schreibt uns aus Tripolitza, daß Herr von Salligny, ein junger Philhellene, der zu den höchsten Hoffnungen berechtigte – in einer Zeitung kann man das so gut sagen – der zu den höchsten Hoffnungen berechtigte, eben als ein Opfer seiner Begeisterung für die heilige Sache der Religion und der Freiheit gefallen ist. Der grausame Kurschid-Pascha hat sich unter Hintansetzung aller Wohlanständigkeit hinreißen lassen, ihm den Kopf abzusäbeln ... Der ist nach dem, was alle Welt sagt, just das Schlechteste an mir, nicht wahr, gnädige Frau?« Und er lachte gezwungen.

»Reden Sie im Ernst, Max? Sie wollen nach Griechenland gehn?«

»Sehr ernst, gnädige Frau; nur würd' ich darauf sehen, daß mein Nekrolog erst so spät wie möglich erscheint.«

»Was wollten Sie in Griechenland machen? Nicht Soldaten sind's, die den Griechen fehlen ... Sie würden einen ausgezeichneten Soldaten abgeben, des bin ich sicher, aber ...«

»Einen prächtigen Grenadier von fünf Fuß, sechs Zoll!« rief er, sich auf die Beine stellend; »die Griechen müßten ja sehr albern sein, wenn sie einen solchen Rekruten nicht haben wollten! Spaß beiseite, gnädige Frau,« fuhr er fort, sich wieder in einen Sessel zurückfallen lassend, »das ist, glaub' ich, das Beste, was ich tun kann. Ich mag nicht in Paris bleiben! (diese Worte stieß er mit einer gewissen Wucht hervor). Da bin ich unglücklich; werd' doch hundert Dummheiten anfangen... Ich hab' keine Widerstandskraft... Doch wir werden noch davon reden, ... ich reise ja nicht sofort ab ... aber ich werde reisen ... Oh! ja, es muß sein; ich habe meinen heiligsten Eid geleistet. – Wissen Sie, daß ich seit zwei Tagen griechisch lerne? Ω φιλτατη φιλω σε

's ist eine sehr schöne Sprache, nicht wahr?«

Frau von Piennes hatte Lord Byron gelesen und erinnerte sich dieser griechischen Phrase, die der Kehrreim einer seiner kleinen leichten Dichtungen ist. Die Übersetzung ist, wie Sie wissen, in der Anmerkung angegeben; sie heißt: »Mein Herz, ich liebe Dich.« – Das sind dortzulande verbindliche Redensarten.

Frau von Piennes verwünschte ihr all zu gutes Gedächtnis; sie hütete sich wohl zu fragen, was die griechischen Worte besagen sollten, und fürchtete nur, ihr Gesicht möchte zeigen, daß sie sie verstanden hätte. Max hatte sich dem Piano genähert. Seine wie zufällig auf die Tasten fallenden Hände schlugen einige melancholische Akkorde an. plötzlich griff er nach seinem Hute; und sich nach Frau von Piennes umkehrend, fragte er sie, ob sie am Abend zu Frau Darsenay zu gehen gedächte.

»Ich denke, ja,« antwortete sie etwas zögernd.

Er drückte ihr die Hand und ging sofort weg, sie einer Erregung, wie sie noch keine verspürt hatte, als Beute lassend.

Alle ihre Gedanken waren verwirrt und folgten einander mit solcher Schnelligkeit, daß sie keine Zeit hatte, bei einem einzigen zu verweilen. Es war wie jene Folge von Bildern, die vor dem Fenster eines fahrenden Eisenbahnwagens erscheinen und verschwinden. Doch ebenso, wie mitten im schnellsten Fahren das Auge, welches nicht alle Einzelheiten erfaßt, doch den Hauptcharakter der Landschaften, die man durchquert, aufnimmt, ebenso empfand Frau von Piennes inmitten dieses Chaos von auf sie einstürmenden Gedanken ein Schaudergefühl und glaubte sich wie an einen jähen Abhang inmitten furchtbarer Abstürze gezerrt. Daß Max sie liebte, daran war nicht zu zweifeln. Diese Liebe (sie sagte Neigung) war schon älteren Datums, doch bis dahin hatte sie sich noch nicht darüber beunruhigt. Zwischen einer frommen Frau wie ihr und einem Lebemann wie Max erhob sich eine unübersteigbare Schranke, die sie früher sicher machte. Obwohl sie nicht unempfindlich war der Freude oder dem eitlen Gedanken gegenüber einem so leichtfertigen Manne, wie es Max in ihrer Vorstellung war, ein ernsthaftes Gefühl einzuflößen, hatte sie nimmer daran gedacht, daß diese Neigung eines Tages ihrer Ruhe gefährlich werden könnte. Jetzt, wo der Taugenichts sich besserte, fing sie zu fürchten an. Seine Bekehrung, die sie sich zuschrieb, konnte also für sie und für ihn eine Ursache des Kummers und der Qualen werden. Für Augenblicke suchte sie sich zu überreden, daß die Gefahren, die sie undeutlich voraussah, keinen wirklichen Grund hatten. Diese jäh beschlossene Reise, der Umschwung, den sie in Herrn von Sallignys Benehmen bemerkt hatte, ließen sich allenfalls mit der Liebe erklären, die er für Arsène Guillot bewahrt hatte. Doch, seltsam! Dieser Gedanke war ihr unerträglicher als die anderen, und fast war's eine Erleichterung für sie, sich seine Unwahrscheinlichkeit zu beweisen.

Frau von Piennes brachte den ganzen Abend damit hin, sich so Phantome zu schaffen, sie zu zerstören, sie zu verbessern. Sie mochte nicht zu Frau Darsenay fahren und, um ihrer selbst noch sicherer zu sein, erlaubte sie ihrem Kutscher auszugehn und wollte sich früh schlafen legen ... Sobald sie diesen hochherzigen Entschluß aber gefaßt hatte und in keiner Weise widerrufen konnte, machte sie sich klar, daß er eine ihrer selbst unwürdige Schwäche sei, und bereute ihn. Vor allem fürchtete sie, Max möchte die Ursache ahnen; und da sie vor ihren eigenen Augen sich den wirklichen Grund ihres Nichtausgehens nicht verbergen konnte, kam sie dahin, sich bereits für schuldig zu halten, denn einzig ihre Befangenheit Herrn von Salligny gegenüber erschien ihr als Verbrechen. Sie betete lange, fand sich aber dadurch nicht erleichtert. Ich weiß nicht, um wieviel Uhr sie endlich einschlief; sicher ist, daß, als sie aufwachte, ihre Gedanken ebenso verwirrt waren wie am Vorabend; und ebenso weit war sie davon entfernt, einen Entschluß fassen zu können.

Während sie frühstückte, – denn man frühstückt trotz allem, gnädige Frau, vor allem, wenn man schlecht zu Abend gespeist – las sie in einer Zeitung, daß, ich weiß nicht was für ein Pascha eine Stadt in Rumelien geplündert hatte. Frauen und Kinder waren massakriert worden; einige Philhellenen waren mit den Waffen in der Hand umgekommen oder langsam unter schrecklichen Martern getötet worden. Dieser Zeitungsartikel war wenig geeignet, Frau von Piennes die Reise nach Griechenland, die Max vorbereitete, billigen zu lassen. Sie sann traurig über ihre Lektüre nach, als man ihr ein Briefchen von ihm brachte. Am vorigen Abend hatte er sich bei Frau Darsenay furchtbar gelangweilt; und in seiner Unruhe, Frau von Piennes dort nicht getroffen zu haben, schrieb er ihr, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und um sie zu fragen, zu welcher Stunde sie zu Arsène Guillot gehen würde. Frau von Piennes hatte keinen Mut zu schreiben und ließ antworten, sie würde zur gewohnten Stunde hingehn. Dann kam ihr der Gedanke, sofort hinzugehn, um Max nicht zu begegnen; beim Erwägen aber fand sie; das sei eine kindische und schimpfliche Lüge, schlimmer als ihre Schwäche vom Vorabend. Sie wappnete sich also mit Mut, betete inbrünstiglich, ging, als es Zeit war, fort und stieg festen Fußes in Arsènes Zimmer hinauf.


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