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Die Judenfrage als eine russische Frage

Augenblicklich möchte man nur an Rußland allein denken und sonst an nichts in der Welt. Die Daseinsfrage aller Stämme und Zungen, die es in Rußland gibt (»Jeder Stamm und jede Zunge,« wie es bei Puschkin heißt) ist auch die Daseinsfrage von Rußland selbst. Man möchte gerne alle diese Stämme und Zungen befragen: wie wollt ihr leben: mit Rußland oder ohne Rußland? Wenn ihr ohne uns leben wollt, warum wendet ihr euch dann an uns Russen mit der Bitte um Hilfe? Und wenn ihr mit uns leben wollt, so vergeßt in diesem schrecklichen Augenblick euch selbst und denkt nur an Rußland, denn wenn Rußland nicht mehr ist, so werdet ihr auch nicht mehr sein: Rußlands Rettung ist eure Rettung, Rußlands Untergang ist euer Untergang. Man möchte gerne sagen, daß es keine Judenfrage, keine polnische, armenische, georgische, ruthenische Frage mehr gibt, sondern nur die russische Frage allein.

Man möchte das gerne sagen, darf es aber nicht. Die Tragödie der russischen Gesellschaft besteht eben darin, daß sie augenblicklich nicht das Recht hat, es zu sagen. Darf sie denn sagen, daß das Wohl Rußlands auch das Wohl aller in ihm wohnenden Stämme und Zungen sein wird? Sagen kann man das ja leicht: wir haben es oft genug gesagt, aber heute glaubt uns niemand mehr.

Der ganze Idealismus der russischen Gesellschaft in den nationalen Fragen ist ohnmächtig und darum unverantwortlich.

In der Judenfrage ist das ganz besonders klar.

Was wollen die Juden von uns? Eine moralische Entrüstung, ein Eingeständnis, daß der Antisemitismus schändlich sei? Das Eingeständnis ist ja schon längst gemacht; die Empörung ist so stark und so einfach, daß es heute beinahe unmöglich ist, vernünftig und einfach darüber zu sprechen; man kann nur zugleich mit den Juden um Hilfe schreien. Und das tun wir auch.

Das Schreien allein genügt aber nicht. Und diese Erkenntnis, daß das Schreien allein nicht genügt, macht uns schlaff und ohnmächtig. Es ist so schwer, schmerzlich und beschämend ...

Aber wir schreien auch trotz des Schmerzes und trotz der Schande; wir schwören und beweisen den Leuten, die das Einmaleins nicht kennen und nicht wissen, daß 2 × 2 = 4 ist, daß die Juden ebensolche Menschen sind wie wir, keine Feinde des Vaterlandes, keine Verräter, sondern ehrliche russische Bürger, die ihr Vaterland nicht weniger lieben als wir; daß der Antisemitismus ein Schandmal auf der Stirne Rußlands ist.

Neben diesen Schreien kann man wohl auch noch ganz ruhig folgenden Gedanken aussprechen:

»Judophobie« und »Judophilie« sind miteinander verbunden. Die blinde Verleugnung eines fremden Volkstums weckt eine ebenso blinde Bejahung des gleichen Volkstums. Wenn die einen für alles in dem fremden Volkstum ein absolutes »Nein« haben, müssen die andern zu allem ein ebenso absolutes »Ja« sagen.

Was heißt »Judophile«, speziell heute in Rußland? Das ist ein Mensch, der die Juden mit besonderer, ausschließlicher Liebe liebt und in ihnen eine größere Wahrheit sieht als in allen andern Völkern. Als solche »Judophilen« erscheinen den Nationalisten, den »echt russischen Leuten« wir, die wir keine »echt russischen Leute« sind.

»Was gebt ihr euch immer mit den Juden ab?« fragen uns die Nationalisten.

Wie können wir uns aber mit den Juden nicht abgeben, und nicht bloß mit den Juden, sondern auch mit den Polen, Armeniern, Georgiern, Ruthenen usw.? Wenn vor unseren Augen jemand beleidigt und vergewaltigt wird, so können wir »als Menschen« doch nicht ruhig vorbeigehen: wir müssen helfen oder wenigstens zugleich mit dem Beleidigten um Hilfe schreien. Das tun wir auch, und wehe uns, wenn wir es zu tun aufhören, wenn wir aufhören, Menschen zu sein, um Russen zu werden.

Ein ganzer Wald von Nationalfragen ist um uns gewachsen und hat den russischen Himmel verdeckt. Die Stimmen aller in Rußland wohnender Zungen haben die russische Sprache übertönt. Das ist unausbleiblich und gerecht. Wir haben es schlecht, sie haben es aber noch schlechter; uns tut alles weh, ihre Schmerzen sind aber noch größer. Und wir müssen uns selbst um ihretwillen vergessen.

Darum sagen wir zu den Nationalisten:

»Hört doch auf, fremde Volksstämme zu unterdrücken, damit wir das Recht haben, Russen zu sein, damit wir unser nationales Gesicht mit Würde, als ein menschliches und kein tierisches Gesicht zeigen können.«

Hier nur ein Beispiel.

Die Judenfrage hat nicht nur eine nationale, sondern auch eine religiöse Seite. Zwischen Judentum und Christentum besteht wie zwischen zwei Polen eine starke Anziehung und eine ebenso starke Abstoßung. Das Christentum ist aus dem Judentum geboren, das Neue Testament – aus dem Alten. Der Apostel Paulus, der mehr als alle gegen die Juden kämpfte, sagt: » Ich habe gewünscht, verbannt zu sein von Christo für meine Brüder nach dem Fleisch,« d. h, für die Juden. Und auch Christus selbst ist ein Jude im Fleische. Die Lästerung des Judentums ist eine Lästerung des Fleisches Christi.

Von der Anziehung darf man wohl sprechen, von der Abstoßung aber nicht. Wie kann man auch mit einem, der keine Stimme hat, streiten?! Die Rechtlosigkeit der Juden erlegt uns Christen Schweigen auf. Was für sie eine äußere Vergewaltigung ist, ist für uns eine innere Vergewaltigung. Wir dürfen das Christentum vom Judentum nicht scheiden: das würde, wie ein Jude mir einmal sagte, die Errichtung »einer neuen, geistigen Ansiedlungsgrenze« bedeuten. Schafft zunächst die materielle Ansiedlungsgrenze ab, und dann werden wir von der geistigen sprechen können. Solange das nicht geschehen ist, muß die Wahrheit des Christentums vor dem Antlitze des Judentums ohnmächtig bleiben.

Warum ist die Judenfrage jetzt, während des Krieges, besonders schmerzhaft geworden?

Wir nannten diesen Krieg einen »Befreiungskrieg«. Wir begannen ihn, um die uns Fernen zu befreien. Wir lieben die Fernen. Warum hassen wir dann die uns Nahen? Außerhalb Rußlands lieben wir, in Rußland hassen wir. Wir haben mit allen Mitleid, aber gegen die Juden sind wir mitleidslos.

Da sterben sie für uns auf den Schlachtfeldern; sie lieben uns, die wir sie hassen, und wir hassen sie, die sie uns lieben.

Wenn wir auch weiter so handeln werden, wird uns niemand mehr glauben. Die Völker werden zu uns sagen:

»Ihr versteht nur aus der Ferne zu lieben. Ihr lügt.«

Wir aber hofften, daß unsere Kraft in der Wahrheit sei. Wir wollten mit unserer Wahrheit die Gewalt besiegen. Wenn wir das immer noch wollen, so dürfen wir nicht mehr lügen; wir dürfen nicht durch diese Lüge unsere Wahrheit, die siegende Kraft schwächen.

Unsere Gegner sagen: Wir kämpfen für die Welt, für die Herrschaft über die Welt; und sie tun es auch. Wir aber sagen: Wir kämpfen für den Frieden, für die Befreiung der Welt, und wir müssen tun, was wir sagen. Im Worte »Mir« »Mir« heißt russisch »Friede« und »Welt«; im ersteren Sinne wird es aber mit dem Doppel-i ohne Punkt (И), im letzteren mit dem punktierten i (i) geschrieben. Anm. d. Ü. setzen unsere Gegner den Punkt auf das »i«. Unterscheiden wir uns von ihnen nur dadurch, daß wir diesen Punkt nicht setzen? Russisch klingen die Worte »Welt« und »Friede« vollkommen gleich: um so mehr müssen wir uns nicht nur in der Sprache, sondern auch im Herzen von unsern Gegnern unterscheiden, damit die Völker sehen, wofür wir kämpfen: für die Herrschaft über die Welt oder für die Befreiung der Welt.

Laßt uns doch bei den Juden den Anfang machen.

Die bedrückten Völker dürfen aber nicht vergessen, daß nur ein freies russisches Volk ihnen die Freiheit zu geben vermag.

Und die Juden sollen nicht vergessen, daß die Judenfrage eine russische Frage ist.


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