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1. Der alte Blas und der kleine Blas.

Im schönen Lande der Basken gibt es zwischen himmelhohen Felswänden, über welche brausende Katarakte schäumend und donnernd niederstürzen, üppige, fruchtbare Ebenen voll fetter Weiden und fruchtbeladener Obstbäume; die hohen Berge halten die Stürme ab, der von den Felsen wildabstürzende Strom zieht drunten als sanfter Fluß dahin – oder er breitet sich zum spiegelglatten See – eine ganze Normandie mit ihrem Obstreichtum, ihren schönen Triften, ist in einem solchen Tale eingeschlossen.

Ein Meierhof in solch gesegneter Gegend ist ein erfreulicher Besitz, der Stolz und der Ehrgeiz jeder baskischen Bäuerin, und wäre er auch nicht größer, als zwei Morgen Landes, umschlossen von einer dichten, lebenden Hecke, mit herrlichem Obst- und Gemüsegarten und reichbevölkertem Hühnerhofe.

Solcherart war der Hof der Cadije, einer schönen, kraft- und gesundheitstrotzenden jungen Bäuerin, der die rote, baskische Haube gar prächtig zu Gesichte stand.

Fleißig war die Cadije, wie nicht eine: vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht war sie an der Arbeit, dabei freundlich und leutselig gegen das Gesinde, von allen geliebt und geehrt, wenngleich auch ein wenig gefürchtet; denn sie konnte auch streng sein und führte die Zügel des Hausregimentes straff; aber so muß es sein auf einem wohlregierten Gehöft, wenn da Ordnung herrschen und Segen ruhen soll.

Vor Tagesanbruch war die Cadije schon in Hof und Stall tätig. Jetzt kommt sie zum Hause zurück und sieht verwundert, daß droben noch tiefste Ruhe herrscht, indes die Sonne eben aufgeht!

An das Stiegengeländer sich lehnend, ruft sie die Treppen hinauf: »Holla! Vater, Mann, Bübchen, wollt ihr heut' den ganzen Tag verschlafen? schon ist die Sonne über die Berge herauf, und auf dem Tische steht die frischgemolkene Milch, eilt euch, ihr Langschläfer!«

Die steile Holztreppe erdröhnte alsbald unter schweren Tritten: die Gerufenen erschienen, voran der alte Blas, den Kleinen an der Hand.

Der eine war der Vater, der andere das Kind der Cadije.

Der Alte zählte einundsiebzig – der Kleine sechs Jahre. Hinter beiden folgte Antoine, der Gatte der Cadije.

Der alte Blas war von kräftigem, gedrungenem Körperbau; Haupt- und Barthaar schneeweiß, das freundliche Gesicht von der Sonne gebräunt und von zahllosen Furchen durchzogen. Er trug die Kleidung der Basken der Ebene: die kurze Joppe aus dickem Tuche und die braune Mütze mit dem blutroten, lang herabfallenden Zipfel.

In seiner Jugend war er der flotteste Bursche des ganzen Tales gewesen; als Stierkämpfer, Tänzer, Erzähler suchte er seinesgleichen.

Heute freilich waren seine Glieder steif geworden und sein Haupt, das er gegen die linke Schulter geneigt trug, zitterte ein wenig; auch war er nicht mehr so redegewandt und geistesfrisch wie ehedem; aber er wußte noch immer genug zu erzählen und zu plaudern, besonders wenn er sich an einem Kruge Apfelmost, den seine Tochter so vorzüglich zu bereiten verstand, erfrischt hatte, gab er so manche schnurrige Geschichte zum besten, an der alt und jung sich ergötzten, und was seine Marschtüchtigkeit betraf, so konnte er noch gut seine vier Meilen zurücklegen, ohne eines stützenden Stabes zu bedürfen.

Er wollte nur eine Stütze: sein Enkelkind. Es richtete den Alten auf, den Kleinen führen zu können.

Der kleine Blas war ein schöner Knabe, ein echtes Kind der Berge, gesund, kräftig und lebhaften Geistes, und die größte Freude des alten Blas bestand darin, das dunkle Lockenköpfchen des Kleinen zwischen seine Hände zu nehmen, und ihm in die Augen zu schauen, die blau und tief waren, wie ein Bergsee.

Antoine Perdigut, der Vater des kleinen Blas, war ein etwa dreißigjähriger Mann, mit ernstem Gesichte, wie es fast alle Bewohner jener Gegend zur Schau trugen. Sein Schritt war gemessen, wie sein ganzes Wesen.

Die Cadije begrüßte mit herzlichem Kusse Vater, Kind und Gatten; dann setzten sie sich um den blankgescheuerten Tisch und verzehrten schweigend das Frühmahl.

Der Bauer pflegte des Morgens nicht viel zu schwatzen, er muß seine ganze Kraft aufsparen für die Mühen des Tages; erst abends, nach vollbrachter Arbeit, gönnt er sich's, zu plaudern, zu scherzen und zu lachen.

Heute hatte man's besonders eilig, man hatte länger als gewöhnlich geschlafen, und es war Saatzeit, wo Antoine vollauf zu tun hatte, um seine Felder zu bestellen.

Auch der Großvater hatte seine Beschäftigung, er bekleidete eine Bahnwächterstelle bei der nahen Eisenbahn, und es war Zeit, sich auf seinen Posten zu begeben.

Nachdem der alte Blas seine Schüssel geleert, sagte er in etwas schüchternem Tone zu seiner Tochter: »Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn du den Kleinen mit mir gehen ließest, er würde sich unterhalten, und – um es nur gleich zu gestehen, ich auch! Der Tag wird mir so lang, wenn ich nichts sehe als das fließende Wasser und die dahinbrausenden Eisenbahnzüge. Ganz anders ist's, wenn ich den Kleinen bei mir habe. Neulich regnete es den ganzen Tag; aber das Kind war an meiner Seite, da merkt ich's kaum, und abends rief ich aus: ›Was war das doch für ein schöner, sonniger Tag heute!‹« Und dann fuhr er fort: »Weißt du, es ist für den Kleinen zuträglich, die kräftige Luft am Wasser zu atmen, und dort findet er die schönsten Blumen zum Spielen.«

»So?« rief die Cadije, sich erhebend, »die Luft ist hier wohl schlecht, und im Garten gibt's keine Blumen? Der Bube bleibt daheim; bedarf er der Zerstreuung, der Unterhaltung, so mag er die Gänse hüten, 's ist überhaupt schon an der Zeit, daß er sich nützlich mache. Nein, Vater, nein, ich lasse ihn nicht mit Euch gehen; mich ängstigen die Eisenbahnzüge; mich ängstigt's, wenn er am Ufer spielt; dort bei der Böschung ist's so gefährlich; das lockere Erdreich beginnt zu rollen, sobald man nur den Fuß darauf setzt.«

Der kleine Blas erhob keinen Einwand gegen das mütterliche Verbot. Mit unvermindertem Appetit vollendete er sein Frühstück; kaum aber hatte er den letzten Tropfen Milch aus seiner Schale geschlürft, das letzte Stückchen Brot verzehrt, als er ganz erschrecklich zu heulen begann, indem er sich die Fäustchen in die Augen bohrte.

»Stille,« rief ihm die Mutter zu, »es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. O, ich weiß es wohl, warum du gerne mit dem Großvater gehst: weil er dir Geschichten erzählt, weil er dich überall herumlaufen läßt, weil er dich verzieht und verzärtelt; ich aber will nicht, daß man dich verziehe! Erst gestern kamst du in einem schönen Zustande heim – Ganz erhitzt, Dornen im Haar und das Gewand in Fetzen, die halbe Nacht hab' ich damit zugebracht, es zu flicken und wieder instand zu setzen. Nein! Du bleibst daheim.«

Der Kleine weinte unaufhörlich weiter und auch dem Alten schimmerte es feucht in den Augen.

Da legte sich Antoine ins Mittel.

»Einmal ist keinmal,« sagte er zu seiner Frau, »heut' magst du's ausnahmsweise erlauben, daß der Kleine den Großvater begleitet.«

Die Cadije hatte noch vielerlei einzuwenden; endlich aber gab sie ihre Einwilligung.

»Aber hoffentlich werdet ihr beide hübsch vernünftig sein,« sagte sie, und als diese gelobt hatten, nicht über den Schienenweg zu laufen, sich überhaupt vor den Eisenbahnzügen in acht zu nehmen und sich auch nicht dem Wasser zu nähern, fügte sie hinzu: »In Gottes Namen denn, geht; aber es ist ganz gewiß das allerletzte Mal, daß ich's erlaube.«

Vergnügt gingen Großvater und Enkel Hand in Hand davon. Langsam und gravitätisch schritten sie über den Hof zum Tore hinaus, die Hecke entlang, um der nachschauenden Mutter zu zeigen, wie sehr sie ihre Worte beherzigten und »vernünftig« seien.

Aber kaum waren sie aus der Sehweite, ei! wie war's da mit einem Male anders!

Der kleine Blas löste sein Händchen aus der Hand des Großvaters und sprang davon; er lief voraus und kehrte wieder zurück, sprang über Gräben und setzte über Hecken, kletterte auf Bäume und schaukelte in den Zweigen, wobei das Mützchen verloren wurde und die Höschen in Fetzen gingen.

Und um das Kind her flossen die goldenen Sonnenstrahlen, liefen über den Weg, huschten durchs Gezweig und spielten mit dem jauchzenden Knaben.

Und hinterdrein folgte hüpfend wie ein Kind der alte Blas und murmelte vergnügt: »So ist's recht, mein Söhnchen, so ist's recht!«

 

2. Die Zugbrücke.

Der kleine Blas lief immer zu, der Alte folgte lachend, so gelangten sie zum Fluß, erreichten die Brücke.

Der Fluß, schmal aber tief, so daß er von Flößen und sehr kleinen Segelbooten, die nur einen einzigen, aber sehr hohen Mast besitzen, befahren werden kann, schießt hier, zwischen der sandigen Böschung und den schwarzen Granitbergen, mit reißender Geschwindigkeit dahin, und hier verbindet eine kleine Brücke die beiden Ufer, und der Eisenbahnzug, der darübersaust, verschwindet in der Tunnelöffnung des gewaltigen schwarzen Berges wie in einem Höllenschlunde.

Es ist ein einsamer, düsterer Platz, allein jetzt vergoldet und erhellt der junge Tag die ganze Gegend.

Der alte Blas ging geradeswegs zur Brücke, diese war aufgezogen – es war eine Zugbrücke – und das Amt des Alten bestand darin, die Brücke aufzuziehen, wenn Flöße und Segelboote den Fluß hinabfuhren, und sie wieder niederzulassen, sobald die elektrische Glocke den Zug signalisierte.

Jetzt untersuchte er, ob alles in gutem Stande sei, ob Drähte und Ketten nicht etwa durch den Nachttau rostig geworden wären, ob die Kurbel dem Drucke der Hand anstandslos gehorchte, ob die Brücke sich leicht hob und senkte.

Indessen eilte der kleine Blas in das Gärtchen, das der Großvater vor dem rebenumschlungenen Wächterhäuschen für ihn angelegt hatte; natürlich nur für ihn, denn die Wege darin waren so schmal, als sollte nur das Kind hineingehen dürfen.

Veilchen, Tulpen, Monatsröschen blühten in wohlgepflegten Beeten, und in der Mitte erhob sich, stolz, auf goldgrünem Stengel eine großmächtige Sonnenblume und würdigte die kleinen Blümchen zu ihren Füßen keines Blickes.

Nachdem der Großvater sich überzeugt hatte, daß der Mechanismus der Brücke in Ordnung sei, schlich er leise, leise auf den Fußspitzen zum Gärtchen; dann plötzlich, mit einem Sprunge, stand er hinter dem Kinde und faßte sein Köpfchen mit beiden Händen; verblüfft wandte sich der Kleine, doch als er den Großvater erkannte, jauchzte er auf und der Alte rief: »Ah! jetzt hab' ich dich, jetzt halt' ich dich! – aber ich lasse dich wieder los, so fängt man die Vögelchen, hält sie ein Weilchen, damit sie sich mehr freuen, wenn man sie wieder fliegen läßt.

»Und nun spiele, mein Söhnchen, spiele mit den bunten Steinen, mit den Blumen, freut's dich, so magst du gar die Blumenbeete zerstören. Ja, ja!« sagte er lächelnd und halblaut für sich, »so erzieh' ich Kinder! Aber sollten solche Engel nicht das Recht haben, kleine Teufel zu sein?«

»Schau,« fuhr er dann zum Kleinen gewendet fort, »dort im Gebüsch habe ich ein Nest entdeckt, ich will dir's zeigen, sobald der Zug vorüber sein wird.«

Der Kleine belustigte sich nun daran, Gänseblümchen zu pflücken und dem guten Alten ins Gesicht zu werfen, die Stengel blieben in dem Barte hängen, so daß der Großvater zum Entzücken des Kindes einen Blumenbart bekam.

Er setzte sich auf die Bank vor dem Häuschen, der Kleine kletterte auf seine Knie und nun gab's ein Spielen, Kichern, Necken, Lachen; um sie her flogen die Vögel, blühten und dufteten die Blumen, und klar und goldig fiel das Licht auf Großvater und Enkelkind.

Plötzlich wurde der kleine Blas ernst und sagte: »Nun ist's genug gespielt, jetzt eine Geschichte.«

Da wollte der alte Blas den Kleinen haben! Denn das Kind verfehlte nie, den Großvater für jede schöne Geschichte recht herzhaft zu küssen und zu umhalsen: es verlohnte sich ein Märchen zu erzählen, wenn man dafür einen guten Kuß erhält.

Aber seit lange schon kannte der Kleine alle Geschichten, der Großvater hatte sie, wie oft schon erzählt: vom Däumling, vom Blaubart, vom Rotkäppchen und Schneewittchen und von der Eselshaut – und sonst wußte der Großvater keine.

Einmal hatte er sogar von einem herumziehenden Krämer ein dickes Buch erstanden, von welchem der Mann behauptete, es stünden gar schöne Sachen darin, als aber der alte Blas es genauer besichtigte – denn mit dem Lesen ging es nicht so schnell – enthielt es nur eine »Abhandlung über die Gründung französischer Geschäftshäuser in Mississippi«; doch das interessierte den kleinen Blas durchaus nicht.

Was blieb dem Großvater zu tun übrig, nun sich seine »Bibliothek« als unbrauchbar erwies und sein Vorrat erschöpft war? Er wurde zum Dichter: Nachts schlief er kaum und ersann die wundersamsten Märchen, die er dann am Tage seinem Enkel erzählte.

»Ja,« sagte er, »ich will dir eine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die so schön ist, daß nicht einmal die Stadtleute je eine schönere gehört haben.«

»Wie heißt sie, Großvater?«

»Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der keine Ohren hatte, und eines schwarzen Hundes, der ein Pfeifchen rauchte!«

»O!« rief das Kind staunend.

»Ja, sie ist sehr merkwürdig, die Geschichte, höre nur!« sagte der Alte.

Und der kleine Blas hob sein Lockenköpfchen und schaute den Großvater mit großen Augen aufmerksam an, während dieser ernst und feierlich seine Erzählung begann, innerlich aber fühlte er sich ein wenig unsicher; denn die Geschichte war etwas verwickelt und er selbst über den Schluß nicht ganz im klaren.

 

3. Geschichte eines kleinen Knaben, der keine Ohren hatte und eines Hundes, der eine Pfeife rauchte.

Es war einmal ...

»Wo Großvater?«

»In einem Lande.«

Es war einmal ein Mann und eine Frau. Das waren Bauern wie wir, aber nicht so glücklich; denn sie waren so arm, daß sie nicht einmal ein Stück Brot zu verzehren hatten, ehe sie schlafen gingen.

»Aber Suppe hatten sie doch?«

»Nein, nicht einmal eine Suppenschüssel; denn die Katze hatte sie zerschlagen.«

Also sie waren sehr, sehr arm und was sie noch unglücklicher machte, das war, daß ihr einziges Kind keine Ohren besaß.

»Da hat's wohl nicht gehört?«

»O doch!«

»Wieso denn?«

»Durch die Nase oder durch die Augen, darüber sagt die Geschichte nichts.«

Der kleine Blas dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Die Geschichte ist gar nicht schön.«

»Es kommt schon noch besser, das ist ja nur der Anfang.«

Also, das Kind, das keine Ohren hatte, und doch sehr gut hörte, erlauschte eines Tages, wie der Vater der Mutter erzählte, daß auf einem Berge eine Grotte sich befände, in welcher ein Zauberer sehr viel Gold und Geschmeide verborgen halte, und diesen Schatz demjenigen bestimme, der den Mut hätte, ihn unter tausend Gefahren zu holen.

Pechvogel, so hieß der Knabe, dachte: ach könnt' ich nur den Schatz heben; dann müßten Vater und Mutter sich nicht mehr plagen und ohne Abendbrot zu Bette gehen.

»Du siehst, wenn Pechvogel auch keine Ohren hatte, so besaß er doch ein gutes Herz.«

Er nahm sich daher vor, den Berg aufzusuchen, aber niemand etwas von seinem Vorhaben zu sagen; denn er wollte die Eltern überraschen.

Wenn ihn etwas abhielt, sich sogleich auf den Weg zu machen, so war's die Furcht vor seinem Mißgeschick; denn er hatte Pech in allen seinen Unternehmungen, der arme Knabe! Glaubte er etwas recht gemacht zu haben, so fiel es sicher übel aus, und er wurde obendrein für seinen guten Willen gestraft.

»So ergeht's auch oft im Leben; es gibt Leute, denen nichts glückt und die unschuldigerweise leiden müssen.«

Eines Tages sah Pechvogel einen Bettler am Wege sitzen, und obgleich er selbst blutarm war, und nur einen einzigen Pfennig besaß, so schenkte er doch dem Bettler die Münze.

»Du denkst wohl, der Bettler habe gesagt: Vergelt's Gott! bewahre! er warf ihm den Pfennig ins Gesicht, drohte mit der Faust und schrie: Es ist eine Sünde, die Armen zu betrügen, der liebe Gott wird dich dafür schon strafen.«

»Großvater, warum hat denn der Bettler das gesagt?«

»Weil der Pfennig falsch war, aber der kleine Pechvogel konnte nichts dafür; er hatte das Geldstück selbst geschenkt bekommen.«

Ein andermal hörte er die Henne im Stalle schreien und gackern. Nein, wie die schrie! – Er hatte Mitleid und sprang sogleich aus dem Bettchen – es war nachts – und eilte zu dem armen Tiere.

Die Henne saß in einem runden Korbe und schrie so gewaltig, als wollte sie jemand um Hilfe anrufen.

Pechvogel streichelte sie, aber die Henne fuhr fort zu schreien.

Da dachte der Knabe: »Gewiß ist irgend ein böses Tier drinnen im Korb und beißt die arme Henne!« und in seiner Dienstfertigkeit ergriff er den Korb und schüttelte ihn; denn er wollte die Henne veranlassen, aufzustehen, um sie von ihrem vermeintlichen Feinde zu befreien.

In der Tat sprang diese auf, da sie durch das Rütteln ganz scheu und wild geworden, flatterte umher, schlug mit den Flügeln; die Henne war also glücklich heraus, »aber weißt du, was noch herausfiel?« zwölf wunderschöne, große Eier, die die Mutter der Henne zum Ausbrüten untergelegt hatte, und sie waren alle zerbrochen! – Du kannst dir denken, wie die Eltern den armen kleinen Ohneohr auszankten, und er – er hatte doch nur Gutes mit der Henne im Sinne gehabt!

Aber richtig, ich muß dir ja noch erzählen, wie Pechvogel um seine Ohren gekommen; denn auf die Welt hatte er sie mitgebracht.

Das war einmal im Walde. Dort sah Pechvogel einen großen schwarzen Hund, der saß aufrecht auf den Hinterbeinen und rauchte ganz gemütlich ein Pfeifchen – – –

»Wie, Großvater, der Hund rauchte?«

»Jawohl! in der Gegend, wo Pechvogel zu Hause war, kann man häufig Hunden auf der Straße begegnen, die rauchen, bei uns aber kommt das seltener vor.«

Kurz, der Hund, den Pechvogel im Walde antraf, rauchte, oder vielmehr er rauchte nicht; denn das Feuer in seiner Pfeife war soeben erloschen.

Da näherte sich ihm unser guter Pechvogel und sagte: Herr Hund, wenn es Ihnen recht ist, will ich ins Dorf hinunterlaufen und Ihnen Zündhölzchen holen.

Das war doch gewiß lieb und artig von dem Knaben; aber der Hund richtet sich auf, bellt wie toll, fällt über den armen Jungen her und – eins, zwei – beißt ihm die Ohren ab, springt zurück, läuft durchs Gebüsch und ist verschwunden.

»Mitsamt Pechvogels Ohren!«

»Ja, mitsamt den Ohren.«

»Du, Großvater, wird er sie später wieder bekommen?«

»Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, hör' nur zu, so wirst du's erfahren.«

Du begreifst wohl, daß all das Mißgeschick unsern armen kleinen Pechvogel ein wenig zaghaft gemacht hatte; aber trotzdem blieb der Wunsch, anderen nützlich zu sein, in ihm stärker, als die Furcht vor dem üblen Ausgang, und so eines Nachts, als alle in der Hütte im tiefsten Schlafe lagen, erhob er sich leise – leise, schlich hinaus auf die Gasse und wanderte dem Berge zu.

Er fürchtete sich gar nicht, obgleich es sehr finster war.

Der Berg war ganz schwarz, gerade so, wie der da vor uns, und es führte kein Weg hinauf.

Außerdem wußte Pechvogel nicht, auf welcher Seite die Höhle des Zauberers lag.

Da stand er nun, wußte nicht, wohin sich wenden, und fürchtete schon, unverrichteter Dinge wieder heimkehren zu müssen, als plötzlich ein ungeheurer Rabe herangeflogen kam, der setzte sich vor Pechvogel nieder und begann zu krächzen. Aber sein Gekrächze klang durchaus nicht widerwärtig und schrecklich, sondern es schien vielmehr, als ob es der Rabe recht gut mit dem kleinen Ohneohr meine.

Pechvogel betrachtete ihn und es kam ihm vor, als hätte er diesen großen, spitzen Kopf mit dem Fichtenzweiglein im Schnabel schon einmal gesehen.

Nein, gesehen hatte er ihn noch nicht; aber der Rabe mit dem Fichtenzweiglein erinnerte ihn an den schwarzen Hund mit der Pfeife, und deshalb wollte Ohneohr schnell weglaufen, denn er fürchtete für seine Augen.

Aber der Rabe sagte: Fürchte dich nicht und lasse den Mut nicht sinken. Es begegnen dir freilich nur Widerwärtigkeiten, weshalb sie dich Pechvogel nennen, aber verzage nicht, früher oder später wird das Gute, das du getan, dir gelohnt werden; denn aus jeder guten Tat erwächst ein Lohn, wie aus dem Samenkorn die Ähre, wie aus der Eichel der Eichbaum. Bleibe nur immer gut und dienstfertig, wie du es bisher gewesen und laß dich das übrige nicht anfechten.

Und nun komm, setze dich auf meinen Rücken, ich will dich zur Höhle bringen. So sprach der Rabe und breitete seine Flügel aus. – O, er war so groß! so groß, daß der arme Pechvogel, der, weil er nichts zu essen hatte, sehr klein und mager war, ganz bequem auf seinem Rücken zwischen den Flügeln sitzen konnte.

Der Rabe erhob sich in die Lüfte und flog in sausender Geschwindigkeit dahin; aber unser kleiner Reiter fürchtete sich gar nicht; er dachte nur an die Freude seiner Eltern, wenn er mit dem Schatze heimkehren werde.

Als sie endlich so hoch geflogen waren, daß sie über dem höchsten Gipfel des Berges schwebten, ließ der Rabe sich nieder.

Ein abgrundtiefer Spalt war ringsum von dichtem Gestrüppe umgeben und darin saßen unzählige Eulen und Käuzchen, deren Augen gar unheimlich funkelten und leuchteten.

Pechvogel stieg ab und sagte: Schönen Dank, Herr Rabe, nun aber haben Sie wohl auch die Güte, mir den Weg zur Höhle zu zeigen.

Aber während Pechvogel sprach, hatte sich der Vogel verwandelt; er war kein Rabe mehr, sondern ein alter, häßlicher, schwarzer Zwerg mit einer Pfeife im Munde, und der sah den erschrockenen Knaben mit bösem Lachen an.

Obgleich nun Pechvogel wieder an den schwarzen Hund denken mußte, faßte er sich doch ein Herz und sagte: Herr Zwerg, möchten Sie wohl so gütig sein, mir zu sagen, wo ich den Schatz des Zauberers finden kann!

Aber jetzt kam es schrecklich!

Statt aller Antwort ergriff der Zwerg einen großen Knüttel, stürzte sich auf Pechvogel und hieb auf den armen Knaben ganz erbarmungslos ein, und die schrecklichen Eulen und Käuze flogen herbei, hackten mit scharfen Schnäbeln nach ihm und schrieen: Fort mit dir, du Dieb, den Schatz willst du haben? gewiß, um ihn zu vernaschen und im Kegelspiel zu vergeuden; ja, ja, statt in die Schule zu gehen, würdest du den ganzen Tag Kegel schieben. Packe dich, du Dieb, packe dich!

Pechvogel entgegnete: Ich bin kein Dieb; es ist erlaubt, den Schatz zu heben, da der Zauberer selbst ihn dem Mutigsten bestimmt hat. Ich will das Geld gewiß nicht vergeuden, sondern es meinen Eltern bringen, damit sie nicht mehr zu hungern brauchen und auch den Armen ein Almosen reichen können.

Aber wie sehr auch der Knabe seine guten Absichten beteuerte, es waren verlorene Worte, der Zwerg mit seinem Stocke, die Eulen mit ihren Schnäbeln fuhren fort, den armen Knaben zu mißhandeln und herumzuzausen, bis er halbtot und blutend niedersank und in den Abhang hinabkollerte, der in ein tiefes Loch mündete, in das er hineinfiel.

Jeder andere hätte über soviel erlittene Unbill das Wagnis aufgegeben, nicht so unser Pechvogel; er dachte nur an seine lieben Eltern und verlor den Mut nicht.

In dem Erdloche, in das er gefallen war, war's stockfinster, doch konnte er wahrnehmen, daß ein großes schwarzes Tier, das einem Wolfe glich, sich darin befand, es nagte an einem Knochen, so daß es gerade so aussah, als hätte es eine Pfeife im Munde.

Als der Wolf Pechvogels ansichtig wurde, schrie er: Fort von hier, du Lump, ich bin der Hüter des Schatzes, der unter diesem Stein, auf dem ich sitze, verborgen liegt, und ich möchte es niemand raten, ihn nehmen zu wollen.

Aber Ohneohr warf sich mutig auf den Wolf, und sein Wunsch, Gutes zu tun, gab ihm solche Kraft, daß es ihm gelang, das Untier zu überwältigen und umzuwerfen. Schnell, ehe der Wolf sich aufraffen konnte, hatte er schon den Stein weggewälzt; aber statt des erhofften Geldes fand er ein mit Edelsteinen gefülltes Kästchen, und diese Edelsteine waren so schön und köstlich, daß ein einziger davon genügt hätte, um drei Königreiche zu kaufen.

Während er nun damit beschäftigt war, das schwere Kästchen zu heben, hatte sich der Wolf erhoben und bearbeitete mit scharfen Zähnen den armen Pechvogel derart, daß nicht nur das Höschen, sondern auch die Haut in Fetzen ging.

Aber auch diese neuen Qualen achtete der gute Junge nicht; er dachte an sein liebes Mütterlein, das nun schöne Kleider bekommen würde wie die vornehmen Damen, und er sah sie im Geist prächtigst geschmückt, wie sie vor der Türe ihres neuerbauten Hauses stand und den vorüberziehenden Armen kräftige Suppe und warme Kleider reichte.

Ja! das war ein ganz seltener Junge; er achtete der eigenen Schmerzen nicht, wenn es galt andere zu beglücken.

Endlich hatte er das Kästchen im Arm; er wand sich, so gut es gehen wollte aus dem Erdloche heraus und durchs Gebüsch, immer vom bösen Wolf verfolgt und gebissen.

So gehetzt, kam er an einen steilen, abschüssigen Pfad, den schlug er ein; aber hier sah er durch die Dunkelheit hindurch sich von einer Menge Unholde in Menschen- und Tiergestalt umwogt. Alle ungeheuer und unheimlich wie Gespenster; sie kamen von allen Seiten, flogen durch die Luft und schrieen aus Leibeskräften: Haltet den Dieb! haltet den Dieb!

Der arme, kleine Junge lief in Todesangst, was ihn seine Beinchen nur tragen wollten; endlich hatte er die Ebene erreicht, und es ward still und stiller um ihn her. –

Er war recht traurig, der arme Pechvogel; alle Welt hielt ihn für schlecht, während er doch nur das Beste wollte; bald aber ermannte er sich, sein heimatliches Hüttchen war ja nicht mehr fern, und er dachte mit Freuden daran, wie er heimkehrend die Eltern wecken würde: Vater, Mutter! da ist der Schatz den der Zauberer dem Mutigsten bestimmte; ich hab' ihn erworben, freut euch, esset, trinkt und teilt euren Reichtum mit den Armen.

Ach! so gut, wie es der kleine Ohneohr hoffte, sollte es nicht kommen, das elterliche Haus war noch lange nicht erreicht, und nun sah er ganz deutlich – der Mond war eben aufgegangen – dort auf der Landstraße drei riesiggroße Soldaten, die kamen geradeswegs auf ihn zu.

Hu! wie die Säbel und Bajonette im Mondlichte unheimlich glänzten; schon waren sie ganz nahe, so daß er sehen konnte, daß die drei Männer unter ihren Helmen keine Menschengesichter, sondern schwarze Hundeschnauzen hatten, und daß alle drei aus Pfeifen rauchten. – – – – – – – –

*

So weit war der alte Blas in seiner Erzählung gekommen, als plötzlich die elektrische Klingel ertönte, die den Zug signalisierte; es war das Zeichen, daß er die Brücke herabzulassen habe.

Er erhob sich, doch der kleine Blas hielt ihn zurück: »Großvater waren die Soldaten wirkliche Hunde?«

»Ja!« antwortete der Alte, »es waren Hunde!« und da er wußte, daß der Zug erst in einer Viertelstunde kommen würde, die Brücke hingegen in einem Augenblicke herabgelassen war, so fuhr er fort: Wenigstens sahen sie wie Hunde aus, du weißt, in den Märchen sind die Leute nicht immer das, was sie scheinen.

Sobald die Soldaten den kleinen Pechvogel sahen, liefen sie auf ihn zu und riefen: Stillgestanden! Du bist's, der den Reisenden dort im Walde bestohlen hat, richtig! da ist ja auch das Kästchen. Und sie nahmen's ihm weg.

Pechvogel mochte noch so sehr versichern, daß er gar nicht im Walde war, sondern vom Berge käme, und daß das Kästchen den Schatz enthalte, den er wohlverdient und auf ehrliche Weise erworben habe; seine Beteuerungen halfen ihm nichts, die Soldaten nahmen ihn fest und führten ihn ins Gefängnis; dort warfen sie ihn in ein unterirdisches verlies – es war ganz finster darinnen und voll Ratten.

Indes war von dem Lärm, den die Soldaten schlugen, die ganze Stadt erwacht; alle Leute liefen vor dem Gefängnisse zusammen, und der arme Pechvogel konnte ganz deutlich bis in seine Kerkerzelle herunter hören, wie sie sagten: Hat man ihn endlich den Dieb? Wer ist's denn?

Ah! ah! der Pechvogel ist's, der kleine Ohneohr!

Wer hätte das gedacht, er sieht so ehrlich aus und ist solch ein Taugenichts!

Und der arme kleine Knabe weinte bitterlich über diese Reden, ach! er hatte nichts Böses tun wollen und auch nichts Böses getan. – –

*

Der alte Blas erhob sich jäh, der schrille Pfiff der Lokomotive ertönte zweimal, und schon sah man den schwärzlichen Rauch heranwirbeln.

Der Alte lief der Brücke zu, während das Kind mit Kieseln spielte – und setzte hastig die Kurbel in Bewegung.

Hinter sich hörte er, noch in ziemlicher Entfernung, die Lokomotive, der eine lange Wagenreihe folgte, keuchen, pusten, fauchen.

Es war ein Eilzug, der mit rasender Geschwindigkeit daherbrauste, und wenn der alte Blas sich umgesehen hätte, würde er die Reisenden an den Fenstern gesehen haben; sie lehnten sich heraus, um den gewaltigen Bergriesen zu betrachten, in welchen sie alsbald einfahren sollten.

Die Brücke senkte sich allmählich schwer herab, schon hatte sie etwa ein Drittel ihres Weges zurückgelegt – der alte Blas beeilte sich nicht allzu sehr, es war ja noch Zeit und alles ging gut.

Da plötzlich ertönt ein Schrei! ...

O, er kennt sie wohl, diese Stimme! – – – es ist die Stimme des kleinen Blas!

Das Kind, das am Ufer mit Sand und Kiesel gespielt hatte, war ausgeglitten, die Böschung hinuntergerollt, ins Wasser gefallen!

Großer Gott! er sieht sein Enkelkind, seinen Abgott, seine Lebensfreude sinken, in den Fluten verschwinden.

Der alte Blas war zwar einundsiebzig Jahre alt; aber er war stark und ein gewandter Schwimmer. Er läßt die Kurbel los, im Begriffe, sich in den Fluß zu stürzen – o gewiß, er wird sein Kind retten, dort taucht es wieder auf, er sieht das Köpfchen, aber – – – der Zug ist schon ganz nah, wenn der alte Blas sich nicht beeilt, wenn er die Brücke nicht vollständig niederläßt, dann prallt die mit voller Dampfkraft daherbrausende Lokomotive dagegen an, entgleist, der Zug stürzt, die Wagen sind zertrümmert, die Passagiere verwundet – tot! –

Dort aber taucht das Rind nochmals auf, es hebt die Ärmchen, es ruft – – – immer weiter und weiter reißt es der Strom – – –

Was beginnt der Großvater?

Er faßt mit starker Hand die Kurbel – –

Die Brücke ist herabgelassen, die Verbindung hergestellt, die Lokomotive, die Waggons rollen darüber mit Donnergebraus und verschwinden im Tunnel. – Das Geräusch verhallt ...

Der Zug ist vorüber, das Kind – – – ertrunken!

Am Ufer steht der alte Blas und schaut irren Blickes hinab in den Fluß, der den kleinen Blas davongetragen.

 

4. Nach erfüllter Pflicht.

Er stand am Ufer und starrte wie irrsinnig dem fließenden Wasser nach.

Ach! sein kleiner Blas, sein süßes Kind, sein Herzblättchen ist tot!

Nein! es war nicht möglich, es konnte, es durfte nicht sein! Er mußte wieder dies hübsche, fröhliche Gesichtchen, die klaren, sonnigen Blauaugen schauen, mußte wieder sein Jauchzen, sein Lachen hören!

Armer, alter Mann!

Er lief längs des Stromes, er wollte den kleinen Leichnam einholen, ihn herausziehen, in seine Arme nehmen, an sein Herz drücken.

Ach! er konnte ihn nicht einholen; der Strom hatte seinen Raub schon weit entführt, reißend schießt er dahin, ach! und solch kleine Kinderleiche ist so leicht!

Und dann – durfte er sich denn von seinem Posten entfernen? war er nicht wie ein Soldat, der von seinem Platz nicht weichen darf? – ach! so bleibt ihm nicht einmal der Trost, sein totes Enkelkind, das vielleicht ein mitleidiger Baumstamm oder das Schilf aufgefangen hat, wiederzusehen; er mußte bleiben.

»Habe ich recht getan, die Brücke vollends niederzulassen? wenn ich die Kurbel, unbekümmert um den Zug, losgelassen, wenn ich mich sogleich in den Strom gestürzt hätte, ich würde mein süßes, armes Kind gerettet haben! Freilich, der Zug wäre entgleist, zertrümmert, die Reisenden zerquetscht, zerrissen, getötet – – – aber – was kümmert mich das Leid anderer, was ihr Fluch –?! Soll denn ein Großvater nicht vor allem sein Enkelkind retten? O! ich habe unrecht getan, meine Pflicht zu erfüllen.«

So stöhnte, so schrie er auf in seinem verzweifelten, heißen Schmerz – und doch schien es ihm, als habe er recht gehandelt; er durfte nicht zögern, wo das Leben so vieler Menschen auf dem Spiele stand, sein Kind aufzugeben.

Jawohl! er hatte recht getan, und doch war's gräßlich, herzzerreißend!

Er kehrte zum Wächterhäuschen zurück; er betrachtete das Gärtchen, das er für sein Kind angelegt, die schmalen Wege, die noch seine Fußstapfen trugen; er berührte die Stelle, wo er eben erst gesessen, wo er seiner Geschichte gelauscht hatte. In seinem Barte hingen noch einige von den Blumen, die der kleine Blas ihm zugeworfen, die nahm der Alte jetzt und küßte sie unter tausend, tausend heißen Tränen.

 

5. Dem alten Blas gebricht's an Mut.

Die Sonne ging unter, purpurn erglühte in ihrem Widerscheine der schwarze Granitberg, als stände er in Flammen. Allmählich erlosch die Glut, es ward dunkler und dunkler, stiller und stiller – der alte Blas vernimmt nichts mehr als das eintönige, unheimliche Rauschen des Wassers.

Nun war's an der Zeit heimzukehren!

Heimkehren! allein, ohne Kind!

Allmächtiger Gott! was soll er der Mutter sagen?

Er trat ins Wächterhäuschen und nahm einen Stock – jetzt bedurfte er der Stütze.

Ach! wie war sonst die Heimkehr so fröhlich! die Abendmahlzeiten gewürzt durch tausend Scherzreden! Öfters wurde auch ein Krug Apfelwein geleert, das erhöhte die Stimmung, und der Kleine, dem der Großvater die besten Bissen zugesteckt hatte, schlief auf seinem hohen Sesselchen zufrieden, gesättigt, mit fettglänzenden Wangen ein.

Und heute? – – –

Der Alte ging langsam, zögernd, wie einer, der nicht vorwärts kommen will; oftmals blieb er stehen, lehnte sich an einen Baum und weinte bitterlich. – Nein, er konnte nicht weiter!

Wie sollte er das Gräßliche der Cadije, dem Vater ankündigen? – – – Der herzzerreißende Schrei der Mutter, wenn er sagen wird: »Der kleine Blas ist ertrunken!« – gellt ihm jetzt schon gräßlich im Ohre; er sieht jetzt schon Antoine, der bei der entsetzlichen Nachricht in der Türöffnung erscheint, schwanken und erbleichen.

Der Alte fürchtete nicht nur den verzweiflungsvollen Schmerzausbruch seiner Tochter, seines Schwiegersohnes, er sah auch – und das fürchtete er am meisten – ihre Vorwürfe voraus.

O, er sah es wohl ein, daß ein Vater, eine Mutter nimmermehr begreifen können, daß man an andere früher denken solle, als an die Seinen. »Du mußtest den Kleinen retten und die Leute, die wir gar nicht kennen und die uns nichts angehen, umkommen lassen.«

Ja, so wird die Cadije ausrufen, und der Alte, dessen Geist nun völlig getrübt war, dachte jetzt, daß seine Tochter recht habe.

Das beugte ihn noch tiefer!

Gesenkten Hauptes, mit gekrümmtem Rücken, wie wenn er eine schwere Last trüge, schritt er langsam dahin. Er wünschte den Hof noch recht fern, zehn Meilen, zwanzig Meilen, daß ein hoher, unübersteiglicher Berg davor läge.

Aber wie langsam er auch ging, endlich kam er doch an. Es war vollständig Nacht geworden, trotzdem bückte er sich, als er die Gartenhecke entlang schritt, um nicht gesehen zu werden.

Nie war er bei Tagesanbruch so fröhlich von hier ausgegangen als heute morgen – und nun?

Er war so schwach, daß er kaum imstande war, die hölzerne Gittertür des Hofes zu öffnen und erschrak über das Kettengerassel, das der aufspringende Hund verursachte.

Er durchschritt den Hof; die Stubentür war angelweit offen; er konnte den erleuchteten Tisch sehen, auf welchem das Abendbrot einladend dampfte.

Die Cadije erschien auf der Schwelle.

»He, Vater!« rief sie ihm lachend entgegen, »wo sind denn heut' Eure jungen Beine geblieben? Der Bauer ist schon daheim, das Essen steht auf dem Tisch; Kraut mit Speck, das ist nur so lange gut, als es warm ist. Beeilt Euch doch, Vater, es steht auch schon ein Krüglein Wein bereit, Euch zu erfrischen und zu erheitern.«

Der Alte näherte sich zögernd, furchtsam, wie ein Hund, der Prügel erwartet.

In der Stube am Tische saß schon Antoine.

»Genug geplaudert,« rief er jetzt lustig heraus, »kommt, kommt, ich sterbe vor Hunger und die Suppe duftet so köstlich!«

Der freundliche Empfang, das stille Glück der Ahnungslosen erschütterte den alten Blas.

Wie wird mit einem Schlage alles verändert sein! Das heitere Lachen wird verstummen, sie werden keinen Hunger verspüren! – – –

Nun fragte die Mutter: »Aber sagt doch, Vater, wo ist denn der Kleine?«

Jetzt war der gefürchtete Augenblick gekommen, nun half kein Zögern mehr; jetzt sollte er antworten: Das Kind ist tot, ist ertrunken!

Er hob den gesenkten Kopf, offenen Mundes, irren Blickes starrte er die Fragende mit solchem Entsetzen an, als stünde nicht ein blühendes Weib, sondern der Tod, ein häßliches Gerippe vor ihm.

Er senkte den Blick und stotterte: »Der Kleine, er ist dort hinter der Hecke; er geht langsam, wegen eines Nestchens, das wir gefunden haben. Ja, er ist wirklich dort, gewiß, es ist die reine Wahrheit, warte nur einen Augenblick, ich will ihn holen.«

»He Blas!« rief die Mutter.

»Nein, nein,« rief der Alte zitternd, »er wird nicht gehorchen, er fürchtet sich, gescholten zu werden, weil, weil – er sich so verspätet; ich will ihn selbst holen, werdet nur nicht ungeduldig und setzt euch zu Tisch.«

Und der alte Blas wandte sich, schritt zur Gittertür hinaus und indem er sie schloß, sagte er sich: »Nein, nein, ich kann, ich kann es nicht sagen.«

Und ohne eines anderen Gedankens mächtig zu sein, als daß es ihm unmöglich sei, das Gräßliche auszusprechen, die Verzweiflung seiner Tochter zu sehen, die Verwünschung seines Schwiegersohnes zu hören, begann er zu laufen, querfeldein, durch Wind und Finsternis, wie ein Mensch, der ein Verbrechen begangen hat, oder ein wütend gewordenes Tier.

 

6. Böswilligkeit der Leute.

Er dachte an keine Umkehr; er lief immer weiter und weiter, durch die Ebene, den Berg hinan, und als ihn seine Füße nicht mehr tragen wollten, sank er nieder und schlief auf den Steinen einen unruhigen, kurzen Schlaf voll entsetzenerregender Traumbilder.

Kaum erwacht, floh er weiter und weiter, ach, er konnte gar nicht weit genug entfernt fein von dem schrecklichen Flusse, der ihm sein Liebstes geraubt hatte und vom Hause, wo ehedem das Glück wohnte und wo sie jetzt weinten.

Er kam durch ein Dorf, dort aß er einige Bissen, wo er war und was er genoß, er wußte es nicht, – dankte und bezahlte mit den wenigen Kupfermünzen, die er zufällig in seiner Tasche fand.

Die Leute schauten ihn mißtrauisch an; denn er war sehr bleich und verstört und blickte sich fortwährend scheu um, als fürchte er Verfolgung.

Er wanderte weiter und weiter.

Am nächsten Tage hatte er ein Tal erreicht, wo ihn niemand mehr kannte; denn im baskischen Lande bilden die Berge Grenzen, die nur selten überschritten werden.

Da er kein Geld mehr besaß, so fragte er einen Steinklopfer, der am Wege arbeitete, ob er nicht auch durch dieselbe Beschäftigung sein Brot verdienen könne.

Doch der Steinklopfer erwiderte: »O! ein Amt, so wie das meine bekommt man nicht so leicht, dazu bedarf's der Protektion; ich rate Euch zu einem anderen Handwerke. Wenn Ihr ein ehrlicher Mann seid – beleidigt Luch nicht über meine Worte – es sind eben nicht alle Leute ehrlich, die des Weges kommen – wenn Ihr ein ehrlicher Mann seid, so könnt Ihr vielleicht Arbeit finden dort unten in der Sägemühle, soviel ich weiß, sucht der Herr Arbeiter, vielleicht nimmt er Euch auf.«

Der alte Blas befolgte den Rat, ging in die Brettsäge, bat um Arbeit und wurde endlich aufgenommen, obgleich der Besitzer der Mühle erst einige Schwierigkeiten erhob, weil der Alte keine Papiere besaß, keine Auskunft über sich geben wollte und auch sonst nicht vertrauenerweckend aussah.

Schließlich nahm ihn der Herr doch an; aber er sagte sich: »Den Alten will ich im Auge behalten!«

Tage, Wochen vergingen.

Die Beschäftigung des alten Blas bestand darin, daß er die Schaufeln des Mühlrades vom angesetzten Sand und Kies mit einem Messer zu reinigen hatte.

Zuerst war ihm diese Arbeit schrecklich wegen des Wassers, dessen Rauschen ihm Entsetzen einflößte, endlich gewöhnte er sich daran. Tief über seine Arbeit gebeugt, hantierte er mit seinem Instrumente; aber seine Gedanken schienen anderswo zu weilen, vielleicht war er auch gedankenlos.

Er war stumpfsinnig geworden.

Der Tod seines Enkels hatte ihn halb getötet; er selbst wußte wirklich nicht mehr, ob er noch lebe. Sein Geist war verwirrt, verdüstert, nur wenig klare Gedanken lebten noch in ihm: Der kleine Blas war im Wasser; nun war alles, alles zu Ende; drunten im Hofe wußten sie es wohl schon, weinten und fluchten ihm.

Das wälzte sich ihm fortwährend im Gehirne; er war wie blödsinnig vor Schmerz. Was um ihn herging, merkte er nicht, sah nicht, daß ihn die anderen Arbeiter mißtrauisch betrachteten, merkte nicht, daß keiner je das Wort an ihn richtete – er würde es wohl kaum gehört haben, wenn jemand ihn angesprochen hätte. – So kannte er die Gerüchte nicht, die über ihn im Umlauf waren.

Man sagte, daß der Alte Geld besäße; daß er trotzdem arbeitete, wunderte die Leute nicht; sie meinten, es sei schon öfter dagewesen, daß Räuber nach vollbrachter Tat eine Zeitlang arbeiteten, um arm zu scheinen und keinen Verdacht zu erregen. Denn für einen Straßenräuber hielten sie den armen, alten Blas; ja, sie trauten ihm zu, sein Opfer ermordet zu haben, und als einer von den Arbeitern ihn eines Nachts stöhnen hörte: »O! mein Gott, mein Gott! ich hab' meinen kleinen Blas getötet«, waren sie überzeugt, daß er ein Mörder sei.

Diese Gerüchte drangen bis zum Herrn, und dieser beschloß, über den Alten Erkundigungen einzuziehen. Das war leicht genug, denn die ambulanten Krämer, die von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf ziehen, erzählten, was sie über diesen Fall gehört.

Eines Tages ließ der Herr den alten Blas rufen: »Alter, Ihr müßt fort.«

Verwundert fragte dieser: »Fort? Warum?«

»Stellt Euch nicht, als ob Ihr's nicht wüßtet; man kennt Eure Geschichte.«

»Nun?« fragte der Alte.

»Nun,« entgegnete der Herr, »es ist möglich, daß Ihr den Kleinen nicht umgebracht habt – – – Nein, nein, ich sage ja nicht, daß Ihr's getan – aber – Ihr seid mit ihm weggegangen, Ihr wart beide allein, das Kind ist nicht wiedergekommen, und Ihr habt die Flucht ergriffen, ohne den Eltern ein Wort zu sagen.«

Der Alte brach in Tränen aus.

Ach Gott! das also glaubte man von ihm? er sollte seinen kleinen Blas getötet haben, das süße Kind, für das er sich die Haare seines Bartes einzeln ausgerauft hätte, für das er zwanzigmal nacheinander freudig gestorben wäre, das sein Glück, seine Freude, sein alles war?

Er wollte die Sache erklären. Aber die Geschichte mit der Brücke, die aufgezogen und herabgelassen werden mußte, schien nicht ganz klar, und daß das Kind gerade in dem Augenblicke ins Wasser fiel, als der Zug herbeikam, war so unwahrscheinlich, und wer sollte auch glauben, daß dieser alte, halb blödsinnige Mann den Heroismus besäße, seinen Enkel aufzuopfern, um das Leben fremder Leute zu retten! Er selbst hatte sich damals keine Rechenschaft über seine Handlungsweise abgelegt; er fühlte nur, daß er so und nicht anders handeln dürfe und müsse; aber jetzt fand er keine rechten Worte, das zu erklären; er verwickelte sich in Widersprüche.

Der Herr unterbrach ihn: »Ich will an Eure Unschuld glauben,« sagte er, »und nicht ich bin es, der Euch wegjagt; aber alle meine Arbeiter würden mich verlassen, wenn ich Euch behalten wollte. Seht, da sind sie, sprecht selbst mit ihnen.«

Die Arbeiter traten ein, der Herr fragte, ob sie wirklich darauf beständen, daß der Alte fort müsse.

Da riefen sie alle, wie aus einem Munde: »Ja, ja, er muß fort, wir wollen nicht arbeiten mit einem, der ein Kind ermordet hat, könnten nicht mit ihm an einem Tische sitzen! Es schaudert einem, wenn man ihn nur ansieht! Mach', daß du fortkommst, Alter, und laß dich nie wieder blicken, sonst bei Gott! sollst du es mit uns zu tun haben.«

Diesen Zornausbrüchen und Drohungen gegenüber stand der alte Blas stumm, gesenkten Hauptes, als wäre er wirklich ein Verbrecher. Mit zitternder Hand stieß er die Tür auf und ging wortlos von dannen, und als er ein Stück Weges gewandert und sich, stille stehend, umwandte, sah er die Arbeiter vor der Türe stehen; sie riefen ihm Beschimpfungen nach und drohten mit den Fäusten.

 

7. Grausamkeit der Dinge.

Er ging weiter und weiter! – durch eine Schlucht bergaufwärts. Die Schlucht war ein altes, ausgetrocknetes Flußbett, und die spitzen scharfen Steine, die, wohin er auch den Fuß setzte, ins Rollen kamen, taten ihm weh.

War's denn möglich? Er hatte seinen kleinen Blas verloren; er hatte sein freundliches Heim verlassen müssen und damit nicht genug, man hielt ihn für einen Mörder!

Weil er eine schwere Pflicht erfüllt hatte, glaubte man ihn eines Verbrechens schuldig!

Das war doch zu grausam!

Er litt um so mehr, als er ja selbst im Zweifel war, ob er recht gehandelt hatte. So irrte er von tausend Qualen gefoltert, ruhelos weiter – und weiter. – – –

Wo sollte er hin?

Wo er auch einspräche, würde man ihn denn nicht wieder fortjagen?

Zu seinen Kindern zurückkehren?

O, niemals, niemals! – Wie mußten sie, die Eltern des Kleinen ihn hassen, da doch Fremde ihn so verabscheuten! Ja, er muß fortgehen, immer fort und fort! weiter und weiter! – Aber ach! ist es denn nicht zu schrecklich, ohne Ziel wandern zu müssen, das Herz von Kummer erfüllt, die Augen halb blind vom Weinen; ach! wenn man so alt, so alt ist, wenn man hungert und das Bedürfnis nach Ruhe empfindet!

O! wie ist doch die Welt, wie ist das Schicksal so grausam gegen ihn!

Aufwärts und aufwärts wanderte er: die Steine rollten ihm über die Füße, die Zweige der Bäume schlugen ihm ins Gesicht, rauften sein Haar, die Dornen rissen ihm das Gewand vom Leibe; ach, die Dinge mißhandelten ihn ebenso, wie die Menschen!

Jetzt mußte er an den kleinen Pechvogel seines Märchens denken, ja, diesem glich er; auch er hatte nichts verbrochen, und mußte so ungerecht, so gräßlich leiden.

Der Tag schien ihm endlos, seine alten, müden Beine trugen ihn kaum mehr, und doch schritt er in der steinigen Schlucht weiter und immer weiter.

Der Abend kam, der alte Blas hatte weder gerastet noch gegessen und getrunken; jetzt versagten seine Kräfte; er sank auf einen Stein nieder; die Hände im Schoße gefaltet, saß er da, stieren Blickes, das Herz voll Verzweiflung – – –

Um ihn her waren riesige Granitblöcke, die vor urdenklichen Zeiten hier herabgestürzt sein mochten, aufgetürmt; zwischen den Felsen sprossen wilde Schößlinge, rankten sich Schlingpflanzen und bildeten mit den Dornsträuchern ein unentwirrbares Gestrüppe, und die Bergspitzen ragten hoch bis in den mit Wolken bedeckten Himmel hinan!

Plötzlich brach mit wilder Gewalt ein Sturmwind los, er beugte, entwurzelte die Bäume, schüttelte die Felsblöcke und riß in rasendem Wirbel Steine und Gezweig hoch empor.

Jetzt bricht das Unwetter los; Donner krachen, Blitz folgt auf Blitz; ein Wolkenbruch stürzt vom Himmel herab; das Wasser schwillt in den Bergschründen und Spalten und schießt wie ein Gießbach über die Felswände herab. Er reißt die entwurzelten Bäume mit sich; losgelöste Felsblöcke rollen, springen, stürzen; es ist ein Widerhall in den Bergen, als ob eine Welt in Trümmer fiele.

Der Wirbelwind hat den alten Blas erfaßt, und ihn von Stein zu Stein, von Baum zu Baum geschleudert; jetzt rollt alles, Mensch, Gestein, Strauchwerk, Bäume den Abgrund hinab.

Blutend, mit gebrochenen Gliedern blieb der alte Blas in der Tiefe liegen, Stein auf Stein stürzt auf ihn nieder und begräbt ihn unter der fürchterlichen Last.

 

8. Ende der Geschichte vom kleinen Knaben, der keine Ohren hatte, und vom schwarzen Hunde, der ein Pfeifchen rauchte.

Der alte Blas lag sterbend unter der immer anwachsenden Last der niederrollenden Felsstücke, und jetzt, wo seine Seele im Entfliehen war, empörte sich das Innere dieses armen, bis nun so geduldigen alten Mannes.

Nein, er hatte nie im Leben etwas Böses getan, er hatte nichts verbrochen, und es war schreiende Ungerechtigkeit, daß der Zufall, die Menschen und jetzt die ganze Natur ihm so arg mitspielten, ihn so grausam verfolgten. So gab es denn keine Gerechtigkeit, keinen Gott!

Er atmete schwer unter seiner erdrückenden Last; um ihn heulte die Windsbraut, donnerten die stürzenden Felsen und Wassermassen; die ganze Natur war in wildem, gewaltigem Aufruhr.

Aber allmählich kam über den lebendig Begrabenen eine sanfte Ermattung, die ihn seine Schmerzen weniger empfinden ließ; eine tiefe Ruhe umfing ihn, es war wohl der Anfang des ewigen Schlafes.

Das Tosen und Brausen um ihn her vernahm er nur mehr wie ein fernes, fernes Geräusch, das allmählich ganz verhallte. Ihm war, als läge er daheim auf seinem Bette, und die lastenden Steine wurden ihm zur warmen, weichen Decke.

Dann sah er sich am Ufer, bei der Brücke, und der kleine Blas spielte mit den Blumen des Gärtchens.

Ja, der kleine Blas war da, er hielt ihn auf dem Schoße, in seinen Armen; ja, es war sein süßer, hübscher, kleiner Blas! Aber plötzlich war das Kind wunderbar verwandelt, schöner war's, leuchtend wie ein Stern, und es hatte schneeweiße Engelschwingen.

Und der kleine Blas sprach: Jetzt bin ich im Himmel, Großvater, und ich weiß gar viele, schöne Geschichten, die ich dir alle erzählen will. Und den Schluß deines schönen Märchens vom armen Pechvogel, nicht wahr, Großvater, du wußtest ihn nicht! – Ich aber weiß das Ende jetzt, und will dir's erzählen. Hör zu, lieber Großvater!

Der arme Pechvogel war in seinem Kerker sehr traurig, so traurig wie du, mein armer Großvater, auch er litt unschuldig.

Aber während er schier verzweifelte und alles verloren glaubte, trat plötzlich der schwarze Hund mit der Pfeife im Munde ein und sprach: Pechvogel, deine Prüfungen sind zu Ende. Der Bettler am Wege, der dich schalt, ich war's, ich war die Henne, der du hilfreich beisprangst, ich war der Rabe, der Zwerg, der Wolf und die Soldaten; aber eigentlich bin ich das alles nicht, auch nicht ein schwarzer Hund, der aus einer pfeife raucht, sondern ich bin eine Fee, eine gute Fee.

Schau auf, Pechvogel!

Und plötzlich war der Kerker kein Kerker mehr, sondern ein schöner, großer Garten voll leuchtender Blumen, und vor dem staunenden Knaben stand eine wunderschöne Dame, strahlend wie eine Sonne, und sie sprach: Du hast alle Prüfungen bestanden und bist gut geblieben; freue dich, denn jetzt bist du im Paradiese, wo du mit den Englein ewig spielen darfst.

Die Fee verschwand, aber eine Schar Kinder erschien, die so schön waren, wie der kleine Pechvogel keine schöneren seiner Tage je gesehen hatte, die nahmen ihn in ihre Mitte und luden ihn ein, an ihren Spielen teilzunehmen. Und jetzt ist er glücklich, denn es gibt nichts Schöneres und Lustigeres für artige Kinder, als wenn sie im Paradiese mit Engeln spielen dürfen.

So erzählte der kleine Blas, der ein weißbeschwingter Engel war, dem unter Felstrümmern begrabenen alten Blas.

Und der arme Mann erkannte jetzt, daß es doch eine Gerechtigkeit und einen lieben Gott gibt; er drückte den kleinen Engel an sein Herz und starb schmerzlos und freudig: Der alte Großvater hatte Eile ins Paradies zu kommen, um die schönen Geschichten zu hören, die ihm sein kleiner Blas erzählen wird.


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