Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Herein! – Wer kommt denn bei diesem Wetter?« – Die junge Frau stützte den Arm auf die Seitenlehne ihrer Chaiselongue und bog den Kopf neugierig vor, dem Eintretenden entgegenzusehen, der langsam durch den großen Salon auf ihr Blumenerkerchen zuschritt. »Ach so, Sie sind es, Rosch ...« und mit enttäuschter Miene sank sie in ihre Kissen zurück.

Der alte Herr beugte sich über die kleine Hand, die sie ihm lässig entgegenstreckte.

»Es ist wirklich edel von Ihnen,« sagte sie gähnend, »daß Sie sich selbst von diesem unausstehlichen Regen nicht abhalten lassen, mir pünktlich, wie immer, Ihren Sonntagsbesuch zu machen.«

»Wenn Pflicht und Vergnügen zusammentreffen ...«

»Nun ja, ich weiß schon. Mir ist es übrigens sehr lieb, daß Sie gerade heute kommen. So können Sie Papa doch bezeugen, wie verlassen ich bin. Mein Mann ist, wie jedesmal, wenn wir uns zanken, zur Jagd gefahren. Und ich bin hier vollständig gefangen, weil wir nur ein Gespann besitzen. Papa soll sich endlich dazu entschließen, mir ein zweites zu geben. Sagen Sie es ihm, auf Sie hört er. Man muß ja verbauern oder ganz melancholisch werden, hier auf dem Lande, an Tagen wie heute, wo kein Mensch den langen Weg herausfinden kann.«

»Außer einem getreuen Verehrer, den Sie aber, wie es scheint, nicht so recht zu der Gattung Mensch zu zählen geruhen.«

»Sie? nein, gewiß nicht. Welcher gewöhnliche Sterbliche brächte es denn fertig – wenn er überhaupt groß genug dächte, bei diesem Regen sich einer armen Frau zu erbarmen – nach dem langen Wege in so makelloser Toilette zu erscheinen? Um das zu können, muß man eben ein Ritter aus der alten Schule, ein Chevalier de la Roche-Blanche sein.«

»Meinen Sie?«

»Natürlich, ich weiß es. Wer von uns Bürgerlichen hier, meinen Mann nicht ausgenommen, besitzt nur ein Zehntteil von Ihrem Anstand? Wir verkürzen Ihren Namen, alter Freund, machen uns gelegentlich lustig über Ihren schwarzen Frack und die weiße Krawatte am frühen Morgen, ohne die Sie noch niemand sah. Und wir mißbrauchen Ihre Güte, aber am Ende – am Ende beneiden wir Sie doch alle um die anererbte Würde des alten Adels, die kein Reichtum zu geben vermag.«

Der alte Herr verbeugte sich stumm, die Hand auf dem Herzen.

»Machen Sie nicht Ihr fatales mokantes Gesicht, von dem man nie weiß, was es bedeutet, ob Sie sich oder Ihre Freunde verspotten. Im Ernste, Rosch, Sie sind mir ein Wunder. Ich denke oft darüber nach, wie ein Mensch von so vielen Talenten, mit Ihrer Erscheinung, von solcher Herkunft, dies Leben ... Wird die Arbeit nicht hübsch?« unterbrach sie sich selbst und hielt ihm ihre Stickerei hin, »es ist entschieden die beste Zeichnung, die Sie noch entworfen haben. Alle bewundern sie.«

»Sehr hübsch. Aber wie vortrefflich Sie sticken. Das gibt meinem Werk erst die Vollendung. – Wollten Sie noch etwas fragen, Frau Klara?«

»Ich? Nichts. Oder doch ...« sie sah zu ihm auf, die Nadel mit dem seidenen Faden in der Rechten erhoben, »ich will Sie endlich einmal fragen. Und Sie sollen mir Rede stehen. Das können Sie tun zu meiner Zerstreuung. Sagen Sie's, Rosch, wie sind Sie hierher in unsere Stadt, wie in unseren Kreis verschlagen worden?«

»Ich fürchte, Frau Klara, das zu hören, würde Sie wenig unterhalten.«

»O ganz gewiß. Ich liebe Romane. Und Ihre Geschichte muß sich anhören wie ein Roman. Wissen Sie noch, wie gern ich als Kind Ihnen immer zugehört habe? Sie nannten mich Ihren kleinen Liebling und hoben mich auf Ihre Knie und begannen: Es war einmal ... Und dann war ich selig. Jetzt leider, nach zweijähriger Ehe, bin ich für Märchen zu alt geworden. Aber die Wahrheit zu erfahren, begehre ich desto mehr. Also, Rosch, weshalb wurden Sie nicht Soldat, wie die Adligen sonst? Weshalb nicht Dichter, Schriftsteller, Maler, da Sie doch zu allem Talent besitzen? Seien Sie einmal offen. Habe ich Ihnen nicht Vertrauen bewiesen, haben Sie nicht um meine Liebe und um meine Verlobung gewußt, ehe ich sie dem Papa gestanden? Weshalb hüllen Sie sich in ein Geheimnis? Und wenn die anderen alle Sie nehmen, wie Sie sind, ohne weiter zu fragen, ich bin Ihnen mehr, und ich will Sie kennen. Fangen Sie an: Es war einmal, vor manchen Jahren, weit, weit in Frankreich, ein edler Ritter, der wohnte in seinem stolzen Schlosse hoch auf dem schroffen, ›weißen Felsen‹, von welchem er den Namen führte.«

Um die bartlosen Lippen des alten Herrn zuckte wieder ein spöttisches Lächeln. Er fuhr mit der Rechten über das glattrasierte Kinn und über den Mund, als ob er es verbergen wollte. »Das wäre ein Märchen,« sagte er leise. »Ich dachte, Sie begehrten die Wahrheit.«

»Und die würde anders lauten?«

»Die Wahrheit, Frau Klara, wird nackt dargestellt. Doch die Maler schmeicheln ihr, wenn sie dieselbe als eine reizende Frauengestalt verführerisch schildern. Denn sie ist häßlich, unerfreulich, alltäglich und platt. Würde man die wahre Geschichte erzählen wollen, man müßte etwa also beginnen: Es war einmal ein alter Schiffer, der trank und spielte, rauchte und fluchte in seinem kleinen Haus hier am Hafen, und er nannte sich: Hein Wittsteen.«

»Nein!« sie sah ungläubig zu ihm auf, »das kann nicht Ihr Ernst sein.«

Er zuckte die Achseln. »Sie sehen, daß ich recht behalte. Schon die Einleitung mißfällt Ihnen gründlich. Ersparen wir uns also das Weitere.«

»Im Gegenteil, nun bin ich vollends neugierig geworden. Nun will, nun muß ich alles wissen. Sie haben mir früher einmal gesagt, es gäbe nichts, was Sie mir abschlagen könnten, wenn ich Sie so recht darum bäte. Zwar weiß ich selbst nicht, weshalb gerade ich eine solche Gewalt über Sie besitzen sollte. Aber ich muß es doch einmal versuchen. Und so bitte ich Sie denn: Rosch, lieber alter Freund Rosch, tun Sie mir den Gefallen, zu meinem Troste an diesem grauen trostlosen Tage, erzählen Sie!«

»Wenn Sie es wirklich hören wollen ... Vielleicht ist es besser,« sagte er seufzend, »daß ich einem Menschen mein Leben schildere, so wie ich es lebte. Morgen kann's aus sein. Meine Altersgenossen fast alle sind mir schon vorausgegangen. Den Nachgeborenen bin ich eben nur der Rosch, über den man lacht, weil es von jeher so Sitte gewesen, von dem man nichts weiß, als daß er schon seit Menschengedenken das wunderlich nutzlose Metier des Lustigmachers und Unterhalters betreibt. Aber, Frau Klara, es ist nicht lustig, was ich Ihnen zu erzählen habe. Zuvörderst also das Geständnis, daß jene vornehme französische Abkunft in das Reich der Fabel gehört. Ich bin eines Ewerführers Enkel. Ja, noch mehr, des alten Wittsteen einziger Sohn, zu schwächlich, um des Vaters Gewerbe fortzuführen, ward deshalb – Sie wollen es, und ich sage die Wahrheit – ward deshalb in die Lehre getan zu einem ehrsamen – Perückenmacher. Nachdem er allhier ausgelernt, ist mein Herr Vater auf Reisen gegangen, nach Paris und Wien. Es war, soviel ich davon weiß, in letzterer Stadt, wo er auf den Rat seiner Frau seinen gemeinen plattdeutschen Namen ins Französische übersetzte, wie es sich für einen Coiffeur besser schicken mochte. Aus Wittsteen wurde Roche-Blanche gemacht. Und wie die Sprache es forderte, setzte man den Artikel davor. Man hat sich eben nach dem Geist einer Sprache zu richten. Als mein Vater starb, und die Witwe mit ihrer Kinderschar sich hierher wandte, wußten die wenigsten, wer Madame de la Roche-Blanche sei, und daß sie das Haus des alten Wittsteen als seine Schwiegertochter bezog. Der Großvater war von dem Vertilgen des steifen Grogs schon recht unklar im Kopfe. Er starb bald darauf. Das baufällige Häuschen, das Hauptstück des kleinen Nachlasses, war schwer verkäuflich, so mußte meine Mutter hier wohnen, wie wenig sie. Stadt und Nachbarschaft liebte. Daß die Leute sie für vornehm hielten, mit Respekt behandelten, war desto besser. Sie tat nichts dazu, die Nachbarn zu täuschen, doch auch nichts, um ihnen den Irrtum, der ihr recht bequem war, zu nehmen.

Meine Mutter ist eine kluge Frau gewesen, die sich in jede Lebenslage zu schicken verstand. Von Hause aus, als Elsässerin an zwei Sprachen gewöhnt, wußte sie mit diesem geringen Pfunde, hatte sie sonst auch kaum etwas gelernt, Wucher zu treiben. Sie muß einmal schön gewesen sein. Mir steht sie als eine hohe, stattliche Gestalt vor dem Geiste, aus dem feingeschnittenen, bräunlichen Gesichte schauen ihre großen, tiefdunklen Augen mich dummen Burschen voll Strenge an, und doch mit einer unsäglichen Liebe. Ich entsinne mich ihrer nicht anders als mit zwei dicken, zu beiden Seiten des Gesichtes aufgesteckten schneeweißen Locken. Ob der Schmerz um den Tod des Vaters, ob der Kummer über die ungeratenen Söhne ihr Haar früh gebleicht hat, ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt von ihrem Leben nur so viel, als ich aus gelegentlichen Worten und Andeutungen erraten konnte. Sie hat nie gern von sich selbst gesprochen. Als blutjunges Mädchen scheint sie in Paris in hartem Dienst gestanden zu haben, zur Zeit Napoleons. Später ist sie mit der Mariabella, einer damals berühmten Sängerin, nach Wien gekommen und hat dort meinen Vater kennen gelernt, der die Diva coiffierte. Sie sprach stets Französisch, mit einer vollendeten Aussprache. Ihr Deutsch dagegen, das nur selten, im höchsten Zorn und bei außergewöhnlichen Anlässen zum Vorschein kam, ist immer das alte urwüchsige Elsässer Bauernpatois geblieben. Uns Kinder lehrte sie, daß wir durch den Namen Roche-Blanche höher als unsere Nachbarn ständen, demgemäß verpflichtet seien, uns besser zu führen. Die Fiktion mochte ihr als Erziehungsmittel dienlich scheinen. Sie verfing aber bei den größeren Knaben deshalb nicht, weil diese den Großvater noch gekannt hatten. Und war es das alte Schifferblut, oder das leidige Wohnen am Hafen, die drei Ältesten schlugen nach Wittsteenscher Art.

Zwei von ihnen gingen zu Schiff und ließen nichts mehr von sich hören. Der dritte, Baptiste, ein lustiger, wohlveranlagter Bursch, hat eines Tages bei einer Schlägerei am Hafen – ganz nüchtern war er vielleicht nicht gewesen – einen bösen Fall getan. Man trug ihn der Mutter als Krüppel ins Haus. Zwölf Jahre lang hat sie ihn pflegen müssen.

Blieben noch die beiden letzten, meine Schwester und ich. Die Nanette war ein sanftes, herzensgutes Geschöpf. Doch meine energische Frau Mama konnte schwächliche Menschen nicht leiden. Nanettens scheinbarer. Gehorsam, ihre kleinen Flunkereien, ihre Dienstbeflissenheit gegen Fremde, ihre Freude am Schwatzen, das alles war der Mutter unerträglich. Sie schalt mit dem Mädchen, war oft hart und ungerecht, schüchterte sie immer mehr ein, bis sie zuletzt ihr Vertrauen verlor.

Ich aber, der Jüngste, der Nachgeborene, war meiner Mutter Lieblingskind. Mon petit – so nannte sie mich noch zärtlich, da ich schon ein alter Mann war. War es, weil sie von Geburt an mich bemitleidet hatte, der ich den Vater nie gekannt, war's, weil ich ein hübscher Bursche gewesen bin – mit siebzig Jahren darf man das wohl sagen – sie gab mir alle Zärtlichkeit, die ihr stolzes Herz sonst so streng verschlossen hielt. Außerdem – vielleicht tut der Gedanke ihr unrecht! – außerdem aber, so scheint es mir jetzt, gefiel es ihr, daß ich, der zu jung war, die Vergangenheit zu kennen, so lange Zeit buchstäblich an die vornehme Herkunft und unseren schönen Namen glaubte. Die Großen hänselten mich deshalb. Meine Schwester rief mich – wohlverstanden, wenn die Mutter es nicht hörte: »Du, kleiner Marquis!« – Und der Baptiste, den ich auf seinem Schmerzenslager nur selten sah, sagte gar, wenn ich in seine Nähe kam: Monseigneur, was verschafft mir die Ehre?

Und – ist es glaublich! – das schmeichelte mir. Selbst als ich schon ein großer Junge von zwölf bis vierzehn Jahren war und recht gut begriff, daß wir einfach Wittsteen hießen und nichts weiter, hielt ich mich doch noch für etwas Besonderes. Ich weiß heute aus Erfahrung, wie alle Kinder sich gern allein und auserwählt dünken. Die Überzeugung von meiner Vornehmheit war mir so tief ins Blut gedrungen, daß ich in Gang, in Sprache und Haltung mich als ein Chevalier de la Roche-Blanche bezeigte, ja, was weit mehr ist, daß ich mich immer wieder so dachte. Weil man aber meist auch für das angesehen wird, wofür man sich ausgibt in der Welt, so hielten mich meine Spielgenossen sämtlich sehr hoch, und gerade die besseren zogen mich zu sich.

Den kleinen Roche-Blanche dürft ihr ins Haus bringen, er ist arm und hat doch gute Manieren; die anderen Jungen, mit denen ihr wohl auf der Straße spielt, die laßt nur hübsch draußen. – So sprachen die Mütter. – Und wenn aus einem Patrizierhause geschickt ward, ich solle zum Spielen kommen, dann lobte meine gute Mama mich und ermahnte mich, ferner brav zu sein. Das fiel mir nicht schwer. Ich war nicht, was man einen Duckmäuser nennt, noch ein Schürzenkind. Aber es stand mir einmal im Kopfe, daß ich berufen sei, ma mère zu der Stellung zu verhelfen, die ihr nach meiner Ansicht gebührte, für den Kummer, den die Brüder ihr zugefügt, sie zu entschädigen, sie angesehen, reich – was weiß ich! – sie glücklich zu machen. Knabenträume! – Doch hatten sie den einen Erfolg, daß ich mich um so fester in meine selbstgeschaffene Würde einhüllte. Als ein Roche-Blanche und Genosse reicher Kaufmannssöhne – soviel kannte ich die Welt schon – mußte es mir leichter fallen, dies Ziel zu erreichen, denn als ein armer Schifferbursch.

Damals übrigens waren die Stände nicht so streng geschieden wie heute. Es wohnten noch alle im Innern der Stadt eng beieinander und kamen in tägliche Berührung. Wir kämpften unsere Schlachten an Sommerabenden auf der Straße mitsammen aus; wir kletterten in die großen Schuten, die unter den Speichern im Flet angebunden lagen, als wären wir dort in unserem Recht; und wenn wir dann in der Dämmerstunde uns, vom Laufen und Raufen ermüdet, auf die Stufen der hochaufgetreppten Häuser lagerten, ich obenan als der Höchste von allen auf dem hölzernen Beischlag thronend, so horchten mir die Söhne der großen Handelsherren so andächtig, wie unsere Nachbarskinder vom Hafen. Sie alle glaubten unbedingt an die Tapferkeit und den Edelmut der Chevaliers de la Roche-Blanche, deren einer in jeder meiner Historien auftrat, mochte ich dieselben nun in irgendeinem alten Schmöker, der Himmel mag wissen wo, aufgestöbert, oder selbst in meinem erfinderischen Kopf mir erdichtet haben. –

Ich lernte nicht viel. Um mich in eine Armenschule oder wohltätige Anstalt zu schicken, war meine Mutter viel zu stolz. Für einen besseren, ›standesgemäßen‹ Unterricht fehlten ihr, wie begreiflich, die Mittel. Lesen und Schreiben erwarb ich mir, ich weiß nicht mehr, wie; für ein gutes Französisch sorgte sie selbst; von den Matrosen, die im Hafen sich gern mit mir beschäftigten, fing ich ein paar englische Brocken auf. Und außerdem gab unser Mieter mir Zeichenstunden. Wir hatten nämlich das obere Stockwerk unseres Häuschens einem alten Ehepaar überlassen, das mich sehr liebte, da es selbst keine Kinder besaß. Bis ich mich in ihre ›gute‹ Stube eingeschlichen, hatten die beiden ihre zärtlichen, alten Herzen nur an ihre Kanarienvögel und ihre Hunde hängen können. Nun herrschte ich unumschränkt in denselben.

Der Mann war Künstler. Er hatte in Italien studiert, und diese Erinnerung verklärte sein Leben. Jetzt gab er Mal- und Zeichenlektionen. Doch wurden Unterrichtsstunden damals noch etwas schlechter bezahlt als heute, wo sie auch nicht ein Vermögen eintragen. So sah er sich, wenn seine Einnahmen nicht reichen wollten, gezwungen, für die kleinen Hafenschänken, die Zigarrenläden und Stores an den Kajen Aushängeschilder zu malen, die recht grellbunt und lustig sein mußten, daß sie den Seeleuten schon von weitem verführerisch in die Augen stachen. Dabei nun benutzte er mich, um schadhafte Tafeln abzuholen, neue dafür fortzutragen und sonst mancherlei Gänge zu tun, bei denen er selber, der geachtete alte Lehrer, sich nur ungern blicken ließ. Und weil ich mich immer anstellig zeigte, ihm Stunden lang mit Wonne zusah, wie er pinselte, nie glücklicher war, als wenn ich unter seinem Fenster auf einem Schemelchen hocken durfte, ihm die Farben zu halten, nahm er mich vollends in seine Gunst auf und begann, mich zu unterrichten. Ich hatte eine glückliche Hand und lernte leicht. Mit vierzehn Jahren habe ich schon ein Ölbild gemalt, das wir beide, der alte Georg Koch und ich, vortrefflich fanden. Es war sein eigenes Konterfei, wie er am Fenster seines kleinen Wohnzimmers saß, durch dessen Scheiben man ganz deutlich die Schiffe im Hafen erkennen konnte. Unter seiner Leitung begann ich alsdann meine Mutter zu porträtieren, Nanette, Frau Koch; jeder, der mir in den Weg kam. mußte mir herhalten. Und bald war der Alte entschlossen, daß ich Maler werden solle, ein großer, berühmter, wie er selbst es einst erträumt.

Doch meine Mutter, die es ganz gern gesehen hatte, daß ich bei ihm lernte, schüttelte zu diesen Plänen ihren Kopf. – Willst du auch abends dir heimlich aus den Schifferkneipen die Schilder holen, sie frisch zu streichen? fragte sie. Dazu, mon petit, bist du zu gut. Das ziemt sich nicht für einen Roche-Blanche. – So war ihr Refrain.

Was ich aber denn werden sollte, und was sich zieme für meinen Namen, das zu bestimmen, fiel ihr nicht so leicht. Von ihrer Jugendzeit her trug sie noch allerlei romantische Ideen im Kopfe. Die vornehme Welt, die im Hause ihrer Herrin aus und ein gegangen war, hatte ihr nur zu gut behagt. Je enger ihr Gesichtskreis jetzt schien, um so weiter reichten ihre Wünsche für mich. Miteinander entwarfen wir die herrlichsten Pläne, wie wir leben wollten, wenn ich erst ein Mann und reich sei. Nur über das ›Wie‹, den Weg vom Tal bis zu jener luftigen Höhe, darüber waren wir einstweilen unklar, ich selbst so gut wie meine Mutter.

Nun begab es sich einmal wieder, daß in einem Patrizierhause, einem der achtbarsten unserer Stadt, dessen Schiffe ich im Hafen sehr wohl kannte, eine große Gesellschaft gegeben wurde. Die Enkel des Herrn Senators Wedeking waren meine liebsten Spielgenossen; zudem empfahl mich der alte Koch, der dort im Haus unterrichtete, und da der Abend der Bildung zugute kommen sollte, lud man auch mich mit etlichen Jungen gleichen Alters zum Zuhören ein. Es galt nämlich einem berühmten Pariser, membre de l'Institut, Diplomaten und Dichter, der auf der Durchreise die Stadt berührte, zu huldigen. Man hatte eigens von Berlin, wo derzeit eine französische Truppe auftrat, einen jungen Schauspieler verschrieben, der aus den Werken jenes Fremden etwas deklamieren sollte.

Die Gesellschaft, der Ehrengast vorn in der Mitte, saß erwartungsvoll da. Uns Jungen, die wir, in die Ecke gedrängt, ungeduldig des Anfanges harrten, ward schon die Zeit lang. Auf einem Tischchen standen auf erhöhtem Platze ein Licht und ein Glas Wasser bereit. Daneben lag aufgeschlagen das Buch, aus dem wir etwas hören sollten. Ich schlich mich heran und guckte hinein. Ich kannte das Gedicht ganz gut, denn auf eine oder die andere Weise hatte ich immer gewußt, mir Bücher zu schaffen, und sobald sie französisch waren, fand meine Mutter an meiner Lektüre nie das mindeste auszusetzen.

Aber der Schauspieler erschien nicht. Ich sah den alten guten Senator mit hochrotem Gesicht zwischen den Reihen seiner Gäste hin und her gehen, sich verlegen entschuldigen. Eine Dame sang einstweilen, die Zeit abzukürzen, ein deutsches Lied.

Wenn wir nur irgend jemanden hätten, der das Zeug vortragen könnte! flüsterte Herr Wedeking, der Sohn des Senators, dicht hinter mir seinem ältesten Knaben zu. Euer Französisch ist leider auch nicht zum Anhören. Und meines erst! Es ist eine Blamage für unser Haus. Der Großvater ist außer sich. Wir können unmöglich eingestehen, daß der feine Mosjö, beleidigt, weil man ihn zu den Bedienten setzen wollte, auf und davon ging. Jungens! hat denn keiner von euch einen vernünftigen Einfall? Ihr solltet euch doch Mühe geben, dem Großpapa so gut wie mir aus der Verlegenheit zu helfen.

Da dreht sich Fritz, der zweite Sohn und mein ganz spezieller Freund, zu dem Vater herum: Der Rosch kann Französisch.

Der Rosch ... wer ist das? – Ach du, Roche-Blanche! – aber der gute Herr schüttelt den Kopf.

Ja sicher, Papa, der Rosch deklamiert wie ein Schauspieler, der kann alles, erklärt mein eifriger junger Vertreter.

So? meinst du wirklich? – noch etwas zweifelnd – freilich, er soll von Franzosen stammen. Junge! ich schenke dir, was du willst, wenn du uns aushilfst.

Ich will, Herr Wedeking, wenn ich es Ihnen nur gut genug mache, sage ich mutig.

Nun denn, vorwärts marsch, aufs Podium, und zeig', was du kannst!

Bevor ich mich noch recht besinne, schiebt er mich hinauf. Und da stehe ich, neben dem Licht und dem Glase Wasser allein vor der großen, eleganten Gesellschaft. Der alte Herr mit all den Orden, der gerade vor mir sitzt, blickt mich mit enttäuschtem Gesichte an. Der Herr Senator selbst scheint bestürzt, einen Jungen in kurzer Jacke da oben zu sehen, und die Damen flüstern halblaut. Mich packt ein Bangen. Vor allem mußte ich versuchen, mein Erscheinen hier zu erklären. Und das Buch, das ich schon ergriffen hatte, beiseite legend, trete ich vor und bitte in ein paar höflichen Worten um Verzeihung für meine Kühnheit, da ich nur zum Ersatz für den plötzlich verhinderten Künstler eingesprungen sei, auf daß unser allverehrter Gast nicht ganz ungefeiert von dannen ziehe. Die kleine Ansprache hielt ich in meinem allerschönsten Französisch, in freier Haltung, wie meine Mutter, die einstige Begleiterin der Mariabella, mich gelehrt, zu gehen und zu stehen. Und war es nun, daß das lange Warten die Ansprüche schon herabgestimmt hatte, war es, daß meine Jugend die Gesellschaft überraschte und für mich einnahm, auf meine kurze Rede erhob sich ein lebhafter Beifall. Ermutigt, begann ich das große Gedicht zu rezitieren. Doch ich merkte bald, daß die schweren Alexandriner mit ihrem gewichtig pomphaften Ernst für mein junges Organ nicht recht paßten. Ich klappte nach einem Absatz mein Büchlein zu, erklärte betrübt, ich sei nicht würdig, so Erhabenes vorzutragen, und begann statt dessen, in den ersten Augenblicken noch etwas zaghaft und stockend, ein kleines, lustiges Scherzspiel zu sprechen, das ich selbst verfaßt und unter Beihilfe meiner Mutter vor wenig Wochen dem alten Koch zu seinem Geburtstag aufgeführt hatte. Ich stellte darin einen jungen Kavalier dar, der, um sich zu bilden, von Paris zu Georg Koch in die Lehre kommt. Doch indem ich es heute wiederholte, wußte ich mit geschickter Wendung die Worte, die sich auf jenen bezogen, in eine Huldigung für unseren Ehrengast zu verwandeln. Das gebrochene Deutsch, in dem ich mich auszudrücken hatte, machte alle lachen. Die Kunststücke, die für meinen Lehrer bestimmt gewesen, paßten auch hier. Aus dem schwarzen Papier, das ich beständig bei mir trug, schnitt ich, anstatt Kochs Porträt, dasjenige der Exzellenz aus. Und anstatt zu sagen, daß ich diese Kunst bei dem eminenten Maler im Fluge erlernt, erklärte ich, der Anblick des berühmten, großen Dichters habe mich zu derselben begeistert. Nun dieser Applaus! Man war entzückt. Vor Erstaunen über meine außerordentliche Leistung wußte die Gesellschaft sich kaum zu fassen. Der vornehme Gast nickte mir recht gnädig zu, doch schien er minder befriedigt als alle. Seine Eitelkeit mochte sich weder von dem schwarzen Konterfei, noch von der ganzen kindlichen Szene sonderlich geschmeichelt fühlen.

Am dankbarsten war jedenfalls der alte Senator, der Herr des Hauses. Nachdem er von Sohn und Enkel erfahren, wer ich sei, nahm er mich beiseite, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und sprach wiederholt: Hast's brav gemacht, mein Sohn, sehr brav, sehr brav.

Dann, als die Gesellschaft ihr Ende gefunden, der hohe Gast fort war, und nach genossenem Eis und Champagner, dem wir Knaben in einem Nebenzimmer tapfer zugesprochen hatten, ich mich gleichfalls entfernen wollte, hielt er mich zurück: Kleiner Franzos, he! hast dich brav aus der Schlinge gezogen. Und uns mit dir. Das muß ich dir danken. Da nimm und kauf dir was. Etwas Schönes. Hörst du, kleiner Franzos, recht etwas Schönes!

Und da ich, überrascht, noch zögern wollte, seine Gabe anzunehmen, stieß mich von hinten Freund Fritz in die Seite: So nimm es doch, Rosch. Was willst du dich zieren? Der Großpapa beschenkt uns auch oft.

Und Herr Wedeking selber, der Sohn des Senators, sagte freundlich: Scheue dich nur nicht. Mein alter Vater ist immer glücklich, wenn er jemandem eine Freude machen kann. Und du, mein Junge, du hast es dir redlich heute abend verdient! –

Ich bedankte mich also, so höflich ich konnte, und empfahl mich zugleich. Meine Hand hatte ich fest zugedrückt, um nicht zu sehen, was ich erhalten. Doch fühlte ich trotzdem, daß es eine kleine, fein gearbeitete Münze sei. Also Gold. Und ich hatte es redlich verdient! Ich flog mehr, als ich ging, durch die dunklen Straßen, über die Brücken, am Flet entlang und stand vor unserer niedrigen Haustür und riß an der Glocke, daß es durch die stille Nacht erklang. Die Nanette schloß zitternd auf.

Jean-Louis, du? O, wie bin ich erschrocken. Weshalb kommst du so spät? wie darfst du so laut klingeln! Denkst du denn nicht daran, daß der Baptiste davon aufwachen wird? Und dann ist er morgen wieder kränker!

Ich aber, ohne auf ihre bekannten Klagen nur zu hören, schlüpfte vorüber. Schnell wie eine Katze lief ich das kurze Treppchen hinauf, das zu der Hinterstube führte.

Ma mère, ma mère, sind Sie noch wach?

Sie saß wie gewöhnlich an ihrem Stickrahmen. Trotz ihrer schwachen Augen mußte sie immer sticken, Tag und Nacht, und meist die feinsten Haararbeiten, weil man sie ihr höher zahlte. – Bei meinem Eintritt schob sie das kleine Licht beiseite und ihre Brille auf die Stirn, um mich besser zu sehen. Ich legte das Geld vor sie auf den Tisch. Es war ein Louisdor. – Das habe ich verdient, sagte ich, und bringe es Ihnen, als meinen ersten Beitrag zum Haushalt. – Dabei warf ich mich stolz in die Brust, wie es meine Knabengestalt nur erlaubte, und blickte herablassend auf Nanette, die mit halb ungläubiger Miene daneben stand.

Meine Mutter schaute auf: Verdient? verdient? Mein Sohn, ist das wahr? auf ehrenhafte, ehrliche Weise? Und bringst es mir, dein erstes Geld! Das bin ich nicht gewohnt. Das erlebte ich nie. So willst du eine Ausnahme machen, willst anders werden als deine Brüder? In ihrem Alter darf deine Mutter Trost und Unterstützung erwarten? Ah, Jean-Louis, mon petit, mon petit! so soll ich an dir noch Freude erleben! – – Und die Frau, die sonst so hart schien, nahm meinen Kopf in beide Hände, und ihre heißen Dankestränen fielen auf meine Stirn.

Spät in der Nacht ließ mich die Seligkeit noch nicht schlafen. In meinem Dachkämmerlein, unter dem dünnen Deckchen im Bett, lag ich und horchte, wie mein Herz klopfte. Was für zauberhafte Träume mir im Kopfe tanzten! Bald sah ich mich wieder vor einer Gesellschaft, wie ich deklamierte, bald war ich selbst ein großer Künstler, der sich von anderen Vorspielen ließ. Oder noch besser, wenn ich gefeiert werden sollte, wie die Exzellenz heute abend, dann würde ich mich schnell erheben, vor der glänzenden Versammlung meine eigenen Gedichte vorzutragen – es verstand das ja doch kein anderer so gut! Und während alle mir Beifall klatschten und Bravo riefen und Dakapo, würde ganz vorn, auf dem Ehrenplatz, meine Mutter sitzen, in seidenem Kleide, mit reichem Schmuck, schön und stattlich wie keine andere. Und sie würde lächeln: Gut, recht gut! – und mit einem Kopfnicken zu mir hinüber sich zu ihrer Nachbarin wenden: Es ist mein Sohn, mein kleiner Jean-Louis ... Ach, wie war ich selig, ich armer Junge!

Ich wußte noch nicht, daß aus diesen beiden Gefühlen, dem Hunger nach Beifall vor der Gesellschaft und der leidenschaftlichen Liebe zu meiner Mutter sich die Kette schmieden würde, die mich festhalten sollte.

Jener glückselige erste Abend des Erfolges war nur der Anfang. Wie es dann kam, daß der einen Vorstellung bald eine zweite nachgefolgt ist, welche Familie mich zunächst veranlaßt hat, auf das Podium zu steigen, was ich ferner geleistet habe, das alles ist mir längst entschwunden. Aber Herrn Wedekings gütige Worte: Du hast es dir redlich verdient, die begleiteten mich, sie rechtfertigten mein Unternehmen. Geld verdienen, daß meine Mutter ruhig schlafen könne, daß sie leben dürfte, wie sie es wünschte, das war mein Streben. Und dies war das erste und leichteste Mittel, das sich mir darbot. Ich schien noch zu jung für irgendeine bessere Stellung, hatte weder Ausdauer noch Kraft zu ernster Arbeit, besaß eben nichts weiter als gute Laune und das Talent, meine Umgebung zu unterhalten. Jene aber, die mich einluden und aneiferten, auf diesem Wege fortzufahren, ermangelten solcher glücklichen Gaben. Wollten sie sich von der Arbeit erholen, sich zerstreuen, so bedurften sie eines Führers, eines Menschen, der anders geartet, leichteren Geblüts war. Ich lieferte ihnen die Anregung, die sie brauchten, und sie bezahlten den lustigen Knaben. Es war ein sehr natürlicher Handel. Niemand sah etwas Entehrendes darin.

Schneller als man es denken sollte, gelangte ich zu einer gewissen Berühmtheit in unserer Stadt. – Ihr müßt den kleinen Roche-Blanche auffordern, sagte ein vermöglicher Hausvater zu dem anderen, wenn ihr Leute bei euch sehen wollt. Solch ein schmuckes Französlein versteht es besser als unsereiner, der müde vom Geschäft nach Haus kommt, die Gesellschaft in Stimmung zu bringen. Der gibt euch die besten Ideen für alles, macht euch gleich ein halb Dutzend Entwürfe für die Tischkarte, die Toiletten der Damen; im Handumdrehen hat er euch den ganzen Saal voll Menschen gezeichnet, wie sie sitzen und stehen sollen. Er ist der geborene mâitre de plaisir.

Solche Lobpreisungen brachten mich weiter. Mein Stand und Name halfen noch mich zu empfehlen; die guten Leute fühlten sich nicht wenig geschmeichelt, einen jungen Adligen bei sich zu sehen. Wer konnte auch wissen, was künftig einmal aus mir werden würde? Ein Chevalier de la Roche-Blanche! Vielleicht war ich zu hohen Ehren berufen.

Und ich selber gab mir Mühe, meine Gönner zufriedenzustellen. Tag und Nacht dachte ich an meine Erfolge und war eifrigst bestrebt, mir noch mehr Talente für die Geselligkeit zu erwerben. Von der guten Frau Koch, der Gattin unseres Mieters, so krank sie zu der Zeit schon war, ließ ich mir auf ihrem klimperigen, alten Piano die Noten beibringen, von meiner Mutter kleine Lieder einstudieren – genau wie einst die Mariabella gesungen hatte. Meinen alten Lese- und Lerntrieb wandte ich nur noch auf solche Bücher, in welchen unterhaltsame Dinge, Rätsel, Schnurren zu finden waren, die ich vor der Gesellschaft und zu ihrer Erheiterung vortragen konnte. So oft mir dann ein gewichtiges Päckchen mit dem Honorar für einen Abend zugestellt wurde, war meine Mutter jedesmal stolz. Der reiche Geber fügte dem Dank für ein wohlgelungenes Fest in seinem Hause wohl noch eine Entschuldigung bei, weil er es überhaupt gewagt, einem jungen de la Roche-Blanche die geringe Gabe als Zeichen der Dankbarkeit und zur Erinnerung anzubieten. Ich aber freute mich einfach des Geldes. Das ist sehr lange her.

Der einzige Mensch, der mit meinen schönen Erfolgen nicht einverstanden war, war Koch. Ich hatte über all dem Vergnügen seine Zukunftspläne fast vergessen, ging nur in die Stunde noch, wenn es galt, mir für eine Kostümzeichnung, eine Stickerei oder Dekoration, die ich angeben sollte, seinen Rat einzuholen, und der Alte schimpfte gewaltig über meine heillose Lauheit. Darüber war seine Frau, die immer zu meinen Gunsten geredet, ihm gestorben; er brauchte weniger Geld als früher, gab das Schildermalen auf und konnte daher meines Beistands entbehren. Und nun traf es sich noch, daß einer seiner früheren Schüler vom Gymnasium her, der sich zum Maler bestimmt hatte, seine schon begonnenen Studien zu Düsseldorf aufgeben mußte, weil er sein Vermögen verloren, und sich, in die Heimat zurückgekehrt, einstweilen zum alten Georg Koch in die Lehre gab. Dieser junge Kunstbeflissene – nennen wir ihn Ferdinand – war um etliches älter als ich, von sehr guter Familie, fleißig, gewissenhaft, voll Ehrgeiz, recht, was man einen Streber nennt. Und er konnte dem Alten berichten, wie die Akademieprofessoren seine Strichführung gelobt, die er aus der Schule erlernt, bei Koch. Natürlich, daß dieser ihn in sein enthusiastisches Künstlerherz einschloß, mich mehr und mehr aus demselben verbannte.

Nun war ich aber in die Jahre gekommen, in welchen alle meine Freunde sich ihren Beruf wählten. Die meisten waren schon auf und davon, auf der Universität, in fernen überseeischen Ländern. Fritz Wedeking schrieb mir aus Japan, wie schön es dort sei, und redete mir zu, ihm nachzukommen. Ich hatte von jeher Reiselust. Aber wie und mit welchen Mitteln hätte ich dieselbe wohl befriedigen sollen?

Da sitze ich einmal in meinem Dachkämmerlein – ein Frühlingstag war es, recht einer von denen, bei welchen sich das Herz in der Brust dehnt und sich sehnt, hinauszugelangen – als Koch bei mir eintritt. Er fragt, was ich treibe, hört die Antwort nicht an, geht hin und her, betrachtet stumm das Bild meiner Mutter über dem Bett, an dem er selbst mir einst geholfen hatte, geht wieder auf und ab und bleibt endlich an dem Tisch stehen, an dem ich eben mich mühe, ohne rechte Begeisterung ein Hochzeitskarmen zu verfassen.

Höre, Junge, platzt er heraus, ich gönn' es dir gar nicht. Denn du verdienst es nicht mit deiner Trägheit. Aber ein ehrlicher Kerl bin ich einmal. Und verschweigen mag ich's dir nicht. Willst du also noch Maler werden – jetzt ist der Zeitpunkt. Nämlich, daß du es nur weißt, es ist mir ein kleines Versehen passiert. Will ich da neulich des Ferdinand Skizzen mit einem feinen Empfehlungsschreiben an die Gesellschaft von Kunstfreunden senden, die ein Stipendium zur Romfahrt erteilt. Und was erhalte ich zur Antwort? Beide Schüler erscheinen recht fähig, sie mögen jeder durch eine größere Arbeit beweisen, welcher mehr der Beihilfe wert ist. Als Thema sei ihnen der ›Abschied‹ gegeben. – Beide Schüler! – wie ich mir die Blätter ansehe, die man mir zurückgibt, da merke ich's erst: es sind mir zwischen Ferdinands Sachen etwelche Hefte von dir geraten. Nun, das ist ein Zufall. Willst du ihn nützen?

Ob ich es wollte! Ein Stipendium, nach Rom fahren, Maler werden! Mir schwindelte vor so vielem Glück. Ich fiel dem Alten um den Hals. Ich lief hinunter zu meiner Mutter, ihr die herrliche Nachricht zu verkünden. Im Flur stolperte ich über Ferdinand und Nanette, die sich irgend etwas sehr Wichtiges zu sagen hatten, und berichtete ihnen meine Freude und erwartete wohl gar von ihnen Teilnahme und Ermunterung. In meinem Jubel dachte ich nichts als: Fort! hinaus in die weite Welt! reisen! schauen! nicht mehr für andere Vergnügen ersinnen, sondern für mich selber leben und genießen! Ich ging umher in jenen Tagen wie ein junger Fürst, der sich gerade bereitet, seinen Thron zu besteigen.

Einstweilen mußte ich zwar noch, ehe ich die verlangte Prüfungsarbeit in Angriff nehmen konnte, mein Hochzeitsgedicht zu Ende bringen, auch die schon übernommenen Verpflichtungen für ein paar in den nächsten Wochen abzuhaltende Feste ausführen. Zum Malen fand sich sogleich nicht die Zeit. Mein Mitbewerber Ferdinand saß indessen schon eifrig im Atelier des alten Koch an einer gewaltig großen Leinwand, dem Abschied des Tobias. Es würde etwas ganz Herrliches, noch nie Dagewesenes werden. So berichtete mir mindestens Nanette, die mit dem neuen Hausgenossen – er war für die Zeit bis zur Entscheidung ganz zu dem Alten hinaufgezogen – überraschend schnell vertraut geworden. Ich selber konnte immer noch nicht zum Entschluß gelangen, wie ich den mir vorgeschriebenen Gedanken versinnbildlichen sollte. Ich sann und sann darüber nach, bis ich von ungefähr mein Bild in der Wirklichkeit vor mir sah.

Ich weiß noch sehr deutlich den Abend – oder vielmehr Morgen –, da ich, von jener Hochzeit kommend, den Kopf heiß von allem eingeheimsten Lobe, am Flet entlang ging, über die Brücke, und stehenblieb und mir das Wasser ansah, den alten Krahn, die schon grünenden Linden, die Giebelhäuser, den Kirchturm dahinter und mich fragte, wie das alles Wohl dreinschauen werde, wenn ich fort sei. Rom! Ich sehnte mich, es zu sehen. Aber Kapitol und Forum mußte ich erst kennen lernen, wie sie mich. Dort in den großen Schuten im Flet hatte ich als Knabe gespielt, das gewölbte Holzdach des Krahns nicht ohne Lebensgefahr erklettert. Sie kannten mich so gut wie die Schiffer und die Speicherarbeiter hier unten, wie der Türmer dort hoch im Kirchturm, wie all die hübschen Mädchen und Frauen, die hinter den dichtgereihten Fenstern dieser Häuser noch im Morgenschlummer lagen, vielleicht von dem munteren Tanze träumend, den ich ihnen zur Nacht gespielt, den ich allernächster Tage ihnen zu Gefallen gern wieder aufspielen würde. Ja, wer würde denn für ihr Vergnügen sorgen, wenn ich nicht da war? Wie würden sie ohne mich fertig werden, sie alle hier in der Gesellschaft? Sie – und erst die Meinen. Meine Mutter hatte in den letzten Tagen ihre alten Haararbeiten wieder ausgenommen. Ich muß mich gewöhnen, mehr zu verdienen, wenn du erst fort bist, hatte sie mit ruhiger Stimme zu mir gesagt. Kein Wort des Vorwurfs, kein Laut der Klage. Ich wußte es aber doch, wie schwer es ihr fiel, mich gehen zu lassen, wußte es, weil es mir selbst so hart ankam. Konnte ich hier denn nicht Maler werden? Wozu mußte man erst nach Rom, um die Schönheit kennen zu lernen? War es hier nicht schön genug? Das berühmte Licht in der römischen Campagna, konnte es leuchtender sein, poetisch verklärender, weicher, als dieser goldschimmernde Frühsonnenschein, gedämpft vom Nebel über den Fleten? Ich fühlte es ganz erst, wie sehr ich meine Vaterstadt liebte, wie innig die Menschen, wie heiß meine Mutter. Ich stand und starrte hinaus in den Himmel, in die Sonne, und sah mir wieder und wieder die Häuser an, das Flet und die Straße, mit schwerem Herzen.

Aber dann ging ich eilig davon. Es drängte mich jetzt, das Bild, das mir so greifbar im Sinn stand, auf die Leinwand zu bringen, zu vollenden. Den Namen des Abschieds dachte ich zu rechtfertigen durch eine Männergestalt im Hintergrunde, die rückschauend noch ein letztes Mal die Heimat grüßte. Wenn nur erst die Prüfung vorbei, die Trennung überwunden wäre, deren Vorahnung mir das Herz so schwer bedrückte!

Da ich nach Hause kam und an der Zimmertür meiner Mutter vorüberging, trat ich nicht ein, um von dem Anblick ihres stillen, bleichen Gesichtes mir den Mut nicht lähmen zu lassen.

Das Werk, das ich mit hastigem Eifer sofort begann, gelang mir über mein eigenes Erwarten. Ich merkte im Malen nicht nur, daß ich etwas konnte, sondern auch, daß mir gerade diese Arbeit wundersam lieb war. Der alte Koch besuchte mich manchmal, stand hinter mir und sah mir zu, wie ich ihm früher, und schüttelte den Kopf und sagte: Junge, woher hast du das nur? Man fühlt förmlich die Wehmut deiner Abschiedsstimmung aus dem kleinen Bilde heraus.

Mit jedem Tag ward mir freier ums Herz, konnte ich meinen Kopf höher tragen. Und so sehr nahm mir mein Werk die Gedanken in Anspruch, daß ich es kaum beachtete, wie alle anderen in unserem Hause Tag für Tag stiller, bedrückter umhergingen.

So war ich beinahe fertig geworden. Nur ein letztes Mal noch wanderte ich zu derselben morgenfrühen Stunde wieder durch dieselbe Straße, sie in Gedanken mit ihrem Abbilde zu vergleichen. Da ich heimkam, den Kopf erfüllt von Farben und seinen Lichteffekten, die ich noch verwerten mußte, und eben die Treppe zu unserem ersten Stockwerk ersteige – die alten Stufen knacken und knarren –, da sehe ich zwei auseinander stieben. – Wieder der Ferdinand und Nanette.

Was habt ihr nur immer miteinander zu tuscheln? frage ich. Und dann versteckt ihr euch, wenn ich komme; macht mich doch lieber zum Mitverschworenen.

Dich! – die Nanette wendet sich verächtlich von mir, das Tuch vor den Augen.

Ja, mich. Willst du mir nicht freundlichst sagen, was ich verbrochen habe, deinen Zorn zu verdienen? Ich merke schon die ganze Zeit her, daß du irgend etwas gegen mich auf dem Herzen trägst, und bin mir doch keines Unrechts bewußt. Am wenigsten eines, das dich berührt.

O du! schluchzt sie, wie oft hast du nicht sonst gesagt, du würdest alles tun für die Mutter. Und nun willst du fort, und ich muß bleiben. Ja, und mich würde sie niemals entbehren, dich aber ... Sie weint jetzt jede Nacht durch.

Die Mutter weint?

Gewiß. Du siehst und hörst ja nichts anderes mehr als nur dein Bild. Sonst hättest du es längst gemerkt, wie es um uns zwei steht, daß hier der Ferdinand und ich ...

Nanette, flüstert er, sei still, sei vernünftig, du hast mir versprochen! ...

Halt, fahre ich dazwischen, ich bitte mir aus, daß ihr eure Geheimtuereien von jetzt an aufgebt. Ich bin der Bruder, wenngleich ein jüngerer, und habe für meine Schwester zu sorgen. Also, was gibt es?

Wir lieben uns, ruft sie, begreifst du's denn noch nicht? Wir hatten gedacht, uns heiraten zu können, wenn Ferdinand erst in Rom als Maler selbständig geworden. Aber nun bist du dazwischengekommen. Und dein Bild wird die Leute bestechen. O, Jean-Louis, mein lieber, bester, einziger Bruder, stelle es nicht aus. Tu' es für mich, für ihn, für die Mutter! Sonst wirst du am Ende wirklich das Stipendium erhalten! –

Das also war es. Ich schob die Schwester auf die Seite und nahm mir den Herrn Ferdinand mit auf mein Zimmer. Wenn das Stipendium ihm zufiele – das er kraft seiner Familienverbindungen sicher zu gewinnen gehofft, bis ich sein Nebenbuhler geworden –, hatte er gedacht, sofort nach Rom zu gehen, dort anfangs fleißig zu kopieren, in ein bis zwei Jahren genug zu verdienen, um seine Braut heimholen zu können und alsdann in der großen Kunst das Größte zu leisten. Seine Sicherheit machte mir Eindruck. Vielleicht, dachte ich, ist er wirklich mehr Künstler als ich, und ich tue unrecht, ihm die Lebensbahn zu durchkreuzen. Er sprach mit so fester Überzeugung. Ihn ängstigte kein bitterer Vorgeschmack künftigen Heimwehs, keine Sorge. Und Nanettens Lebensglück, und meiner armen Mutter Tränen ... Schließlich gab ich ihm die Hand: Versuche es, sagte ich, ich will dir nicht im Wege stehen.

Als ich zu meiner Mutter kam – ich hatte den beiden feierlich geloben müssen, das Geheimnis einstweilen zu wahren – und ihr mit ruhiger Miene erklärte, ich habe es mir überlegt, das Fortgehen fiele mir doch zu schwer, ich wollte fürs erste noch hier bei ihr bleiben, da sagte sie leise: Ah, mon petit, mon petit! wie soll ich es dir danken, was du an mir tust! Siehst du, es wäre zu hart gewesen. Wenn ich dich hätte fortlassen müssen, ich hätte nicht weiterleben können.

Nun, damit war's aus. Ich blieb, wie gesagt. Die Konkurrenz fand nicht statt, Ferdinand schickte seinen Karton ein, erhielt das Stipendium, und ich dichtete, wie's mein Beruf war, ein passendes Festspiel zum Abschiedskommers. Doch habe ich hier gleich einzuschalten, daß von all den schönen Dingen, die ich dazumal ihm prophezeit, wenig wahr geworden ist. Der Maler Ferdinand in Rom kopierte fleißig, wie er geplant. Man hörte als guten Gesellschafter und Cicerone zureisender Stadtgenossen seinen Namen häufig nennen. Sonst aber nicht viel. Die Heimholung der Nanette ließ auch auf sich warten. Als meine Mutter, bald nach des jungen Künstlers Fortgang durch einen Zufall doch von dem geheimen Einverständnis der beiden erfuhr, ergoß sich all ihr Zorn auf mich.

Wie, du glaubst an den glatten Menschen und seine Versprechungen? Du verstehst dich auf Physiognomien so wenig, siehst es nicht, wie dieser Ferdinand nur sich fördern will? Nun, das gelingt ihm ja, wie ich merke. Nanette, das schwache, arglose Kind, schenkt ihm ihr Herz. Durch sie nimmt er dich ein. Durch deine Güte wird ihm das Stipendium. Mit dem Gelde läßt sich schon weiter streben. So wird er Stufe um Stufe erklimmen. Doch die, auf welcher er eben gestanden, wird er im Aufwärtssteigen verachten, von sich stoßen, zurück in die Tiefe. Und unsere Nanette, merke es dir, die holt er sich nie. Dein Opfer ist umsonst gewesen.

Sie sollte, wie immer, recht behalten.

Übrigens ist's mit dem einen Versuch, einen anderen Beruf für mich zu finden, nicht getan gewesen. Meine guten Freunde, Fritz Wedeking an ihrer Spitze, gaben sich redliche Mühe um mich. Er hatte als Knabe von jeher zu meiner Vortrefflichkeit hinaufgesehen. Jetzt, da er das erstemal zum Besuch von Japan zurückkam, mochten ihm Reise und Entfernung den Blick für so manche Dinge erweitert haben. Ist es wahr, fragte er, daß du es ausgeschlagen hast, nach Rom zu gehen und Maler zu werden? Rosch, alter Freund, das ist ja undenkbar! Du willst doch nicht dein Leben lang vor diesen Philistern zu ihrem Vergnügen den Narren machen? Für einige Zeit mochte das ganz gut sein, als du ein Knabe warst. – Aber für immer ... Es wäre ein nichtswürdiges Metier. Noch dazu für einen Menschen, der so viel in sich hat wie du!

Höre Fritz, gab ich zur Antwort – wir saßen in meinem alten Schlupfwinkel, dem Giebelkämmerchen unter dem Dach, das ich mit Skizzen und Bildern mir recht behaglich austapeziert hatte, und der Phylax, Fritzens steter Begleiter, schaute aus seinen klugen Augen zu unseren Reden nachdenklich drein – höre, ich bitte dich, übe keine zu späte Kritik mehr an dem, was geschehen. Möglich, daß es übereilt war. Doch ist es geschehen. Wenn du mir aber beistehen willst, aus meinem Leben noch etwas Besseres herauszuschlagen, als ich allein es zustande brachte, so nehme ich gern den Freundesdienst an. Nur eins: wie und was es auch sein mag, es darf mich nicht von hier entfernen, von meiner Mutter.

Und darin lag die Schwierigkeit. Erst von London aus, wo Fritz seines Vaters Haus vertrat, dann hier, als er sich selbständig machte, was hat er nicht alles versucht, unternommen, mir zu helfen! Es ging auch alles Wohl eine Zeitlang. Ich führte die französische Korrespondenz im Kontor, ich schrieb für eine fremde Zeitung, ich bekleidete mehrere kleine städtische Ämter. Doch es wollte nie so recht fruchten. Ein jeder wirkliche Beruf erfordert ruhige Stetigkeit, die ich nicht besaß. Ähnlich wie dem Schauspieler, der bei seinen Gastrollen durch allzu vielen Beifall verwöhnt, sich nun für ein stehendes Publikum nicht mehr Mühe geben mag, so erging es mir; ich tat nur gern, was von aller Welt laut bewundert wurde. Ohne Lob wußte ich nicht zu leben, ich brauchte dessen immer mehr und mehr. Und auch des Geldes bedurfte ich dringender als vor Zeiten, so einfach unser Haushalt war. Da der Baptiste nach langen Leiden endlich starb, erkrankte die Mutter, wahrscheinlich infolge der Anstrengungen, die sie sich bei seiner Pflege zugemutet. Und als die schlimmste Gefahr vorüber, und als wir meinten, aufatmen zu können, da erklärte uns der Arzt, daß sie den vollen Gebrauch ihrer Glieder niemals wiedererlangen könne. Sie, die bisher für alle gesorgt, die mit der Arbeit ihrer emsigen Hände uns Kinder ernährt und aufgezogen, sie sollte fortan unfähig sein, sich nur zu bewegen. Hellen Geistes war sie wie immer, voller Anteilnahme für jeden, rasch entschlossen, klug und klar. Aber sie war und blieb gelähmt.

Damals sind meine ehrgeizigen Knabenträume längst begraben gewesen. Immer beschäftigt, neue Feste und Vergnügungen zu erdenken, von allen Leuten in Anspruch genommen, um Rat befragt, kam ich mir selbst ganz wichtig vor. Fast unbemerkt bin ich so von dem einen in das andere Jahr, von einem in das andere Jahrzehnt, hinübergelangt, über mich und meinen Beruf ernster nachzudenken, habe ich nie die Zeit gehabt. Und als ich dann doch aus diesem Halbschlaf des Gewissens aufgeweckt wurde, durch die einfache Frage: Was sind Sie, mein Herr? – da ist es schon zu spät gewesen und mein Leben verspielt.

Weshalb ich gerade sie lieben mußte, die mich so fragte? Ich kann es nicht sagen. Ich stand nicht mehr in der ersten Jugend, ich hatte viele Frauen gekannt, schönere, glänzendere als sie. Aber noch jetzt, nach mehr als dreißig langen Jahren, fühle ich ein Zucken im Herzen, wenn ich jener Zeit nur gedenke.

Da ich sie zum erstenmal sah, saß sie an den großen Flügeltüren, die zum Garten geöffnet waren. Wie nun die Kinder, die mich jubelnd bei meinem Eintritt empfangen und zu ihrem Sitz hingezerrt hatten, damit ich die fremde, große Schwester kennen lerne, ohne mich ihr vorzustellen, weiterstürmten, hob sie erstaunt die dunklen Augen und wiederholte in fragendem Tone meinen Namen, den ich selbst ihr nennen mußte: De la Roche-Blanche? – das klingt ja französisch. Darf ich französisch zu Ihnen reden, ungescheut, wie zu einem Landsmann?

Und ich: Gewiß, gewiß, mein Fräulein, Ganz wie Sie es wünschen. – Das war alles, was ich ihr zu erwidern wußte.

In der alltäglichen Umgebung, in dem bekannten, wohlhäbigen Hause dies zarte Wundergeschöpf zu finden, das überraschte mich so sehr, daß ich kaum begriff, was ich sagte. Erst nach und nach entsann ich mich, wie man mir früher von einer ersten Ehe des Hausherrn schon erzählt und von einem Kinde, das irgendwo ›drüben‹ geblieben war. Seit ich die Familie kannte, das heißt seit fünfzehn Jahren und mehr, lebten sie hier. Die Frau, eine Honoratiorentochter, die lustigen, derben Kinder, die allesamt mir zugetan waren, der ganze gutbürgerliche Zuschnitt des Haushalts, alles das stand in dem denkbar schärfsten Kontrast zu dieser vornehm ätherischen und exotischen Erscheinung.

Sie schien das selbst ein wenig zu fühlen. Ich will versuchen, hier heimisch zu werden, sagte sie. Nun ich weiß, daß jemand da ist, mit dem ich natürlich in meiner Sprache plaudern kann, wird es mir auch eher gelingen. Als die Kinder hier, bei meiner Ankunft aus Westindien, mich gleich so herzlich, so geschwisterlich empfingen, kam ich mir kalt und förmlich vor. Ich mußte meine Begrüßungsworte erst suchen, langsam übersetzen. Die neue Mama – sie ist so gut, sie hat verlangt, daß ich sie so nenne – wollte, um mir Freude zu machen, immer französisch mit mir sprechen. Aber ich litt es nicht. Denn nun schien mir's, als ob auch sie der trennende Nebelschleier verhülle, der mir so schwer vor den Augen lag. Nur mein Vater ist mir nicht fremd; der spricht zu mir mit einer Stimme, die mir vertraut und heimatlich klingt. Aber, fuhr sie heiter fort, die Mama hat unrecht getan, mich zu überraschen. Warum sagte sie nichts davon, daß ich heute abend in der Gesellschaft einen Franzosen treffen würde? Hat sie mir sonst doch alle Freunde, die kommen sollten, bei Namen genannt und genau beschrieben.

Und keine von diesen Beschreibungen will auf mich passen? fragte ich.

Nein, keine! So müssen Sie wohl versuchen, sich selbst mir zu schildern, wenn wir auch noch nicht förmlich einander vorgestellt sind.

Ich erzählte ihr auf ihr Verlangen von mir und meinem Leben. Doch ich verwirrte mich dabei, stockte und wußte die rechten Worte nicht zu finden, ich, der ich sonst stets der gewandteste Redner, nie um eine Phrase verlegen war. Sie aber nickte verständnisvoll, als habe sie alles sehr wohl begriffen. Das gefällt mir von Ihnen, das ist recht, daß Sie Ihre kranke Mutter lieben und um ihretwillen am Orte bleiben. Sehen Sie, wie gut ich die Menschen kenne! Als Sie vorhin sich von den Kindern so lustig ins Zimmer zerren ließen, dachte ich's gleich, daß man Ihnen vertrauen dürfe. Aber noch eins möchte ich wissen. Sie sehen mir anders aus, als die Leute sonst hier. Zwar, Sie sind Franzose. Aber doch ... Sind Sie denn auch Kaufmann, wie mein Vater und alle? Ich bin sehr neugierig, nicht wahr? Sagen Sie's mir, was sind Sie, mein Herr?

Die Tür flog auf. Es erschienen zu gleicher Zeit etliche Gäste und die Hausfrau. Wie ich den Leuten dankte, daß sie gekommen, in unser trauliches Alleinsein so plötzlich hereingebrochen waren! Wie ich aufatmete, als sich nun alle um das schöne Mädchen drängten, mich von ihr trennten! So war ich der Verpflichtung enthoben, auf ihre verfängliche letzte Frage eine Antwort zu geben, ihr sagen zu müssen, was ich sei. Was war ich denn auch? Zum erstenmal fragte ich es mich selber.

Die Kinder hatten, da sie mich müßig abseits stehen sahen, ihre Rechte an mich wieder geltend gemacht. Sie zogen mich hinaus ins Freie auf den viereckigen erhöhten Altan am Ende des Gartens. Der Blick von dort schweift hinaus, weit bis über den Fluß. Drüben, im Duft am Horizont geht die Sonne zur Rüste. Es ist mild und warm. Die Nachtigall schlägt. Und der kleine Karl, der älteste, ein keckes Bürschlein und mein ganz spezieller Freund, plappert mit seinem Kinderstimmchen mir etwas vor. Ich weiß nicht, was. Denn ich höre ihn nicht, und nicht den Vogel, und nicht die Menschen, die im Garten lustwandelnd unter dem Altan vorübergehen. Ich höre nur, was ich selbst mir sage, laut, eindringlich, alles übertönend: Sei kein solcher Tor. Rede dir nichts ein, was undenkbar wäre. Du hast nichts, bist nicht einmal frei. Und um dies Mädchen zu erringen, um zu ihr nur ausblicken zu dürfen, müßtest du ein ganzer Mann sein und ihrer wert! –

Es ist Nacht geworden. Die sorgsame Hausfrau hat vorgeschlagen, da es kühl ward, den Garten zu verlassen, und mich gebeten, ein wenig zu spielen, damit die Jugend tanzen könne. So sitze ich denn und hämmere meinen Walzer herunter. Aber nicht halb im Schlaf, wie wohl sonst. Heute zuckt es mir in den Fingern, und es saust mir in den Ohren, mein rascher Herzschlag gibt den Takt an. Fest habe ich mir vorgenommen, den Kopf nicht zu wenden. Aber ich weiß es doch genau, so oft sie hinter mir vorübertanzt. Und wie sie tanzt! Es ist ein Gleiten, ein Schweben, Wiegen, als trüge die linde Abendluft, die zu der geöffneten Tür hereinströmt, sie sanft und leicht, nach dem Klang der Musik dahin. Die anderen Tänzer halten inne, ihr zuzuschauen. Fritz Wedeking, sonst ein gewandter Ballherr, sieht derb und bäuerisch aus neben ihrer Elfengestalt. Da der Tanz aus ist, bleibt sie in meiner Nähe stehen, lächelnd, ohne jede Erregung, ohne Erhitzung, als fließe unter der silberweißen, mattschimmernden Haut das Blut so gleichmäßig ruhig wie vorher. Nur ihre Augen blicken heller, glänzender, als vor einer Stunde, unter den dunklen Wimpern hervor.

Und die Paare ordnen sich neu, und ich spiele weiter. Sie hat mich – ich fühle es – von der Seite ein paarmal halb verwundert betrachtet. In der nächsten Pause, nachdem sie mit verschiedenen Herren, zuletzt mit dem Grafen Berg getanzt hat, einem jungen Attaché bei einer mitteldeutschen Gesandtschaft, kommt sie plötzlich quer durch den Saal zu mir herüber. Sie haben sich nun lange genug für unser Vergnügen angestrengt, Monsieur de la Roche-Blanche, spricht sie und wirft Fächer und Handschuhe auf den Deckel des Flügels, ich bin überzeugt, Sie selber müssen auch gern tanzen. Wenn sich sonst niemand erbietet, für Sie einzutreten, so will ich's versuchen, Ihr Amt auszufüllen, tant bien que mal. – Und sie macht Miene, meinen Platz einzunehmen.

Zwei Stunden lang habe ich mir auseinandergesetzt, daß ich nicht wieder wie vorhin als ihresgleichen mit ihr verkehren will. Ich habe mir gesagt, daß ich eine Mauer zwischen ihr und mir errichten müsse. Aber bei dem ersten Ton ihrer weichen, verschleierten Stimme bricht die hohe Mauer zusammen. Wenn Sie, Mademoiselle Claire, am Klavier sitzen würden, wie sollte dann der Tanz mich freuen? Lassen Sie mich ruhig spielen. So kann ich Sie mindestens tanzen sehen!

Sie lacht. Sie ist es von jeher gewohnt, daß man ihr Schmeichelhaftes sagt, und sie hört es nicht ungern. Es ist keine Spur von Ziererei noch von falscher Scham in ihrem Wesen. Oh, que vous êtes français! sagt sie nur, indem sie gehorsam die Handschuhe wieder über die schlanken Finger streift.

Fritz Wedeking, der ihre Worte gehört hat, klopft mir auf die Schulter: Ja, ja, der versteht es! Er kann ebensogut Walzer spielen, wie auf französisch Komplimente drechseln. Ach, Fräulein Claire, hätte unsereiner nur von seinen Talenten ein Zehntteil!

Der arme Junge! Er verschlingt sie mit seinen ehrlichen Augen. Sie aber sieht ihn nicht und fährt fort, langsam an ihren Handschuhen zu nesteln. Versteht Herr de la Roche-Blanche denn wirklich so vieles? fragt sie, den Blick auf dieselben gesenkt.

Alles! gibt Fritz überzeugungsvoll zur Antwort mit der alten bewundernden Anhänglichkeit seiner Knabenzeit.

Der Graf Berg ist herangekommen, sie noch um eine Tour zu bitten. Sie zögert. Ich weiß nicht, spricht sie, ob wir wirklich Herrn de la Roche-Blanche noch länger in Anspruch nehmen dürfen ...?

Den Rosch? – Der junge Herr Graf ist mir nie sehr sympathisch gewesen. Obwohl er fremd war, hatte er von Anfang an mich mit dem verkürzten Namen gerufen, den mir die Jugendfreunde gegeben. – Den Rosch? Mein gnädigstes Fräulein, wie mögen Sie nur seinethalben in Sorge sein. Er ist ja dazu eingeladen. Sein sehr beneidenswertes Metier ist's, zu unserem Tanze aufzuspielen.

Den Rosch! – Nur diesen ersten kurzen Ausruf hat sie erfaßt. Mit leiser Stimme wiederholt sie das Wort. Dem Grafen wie Fritz gibt sie mit entlassender Handbewegung zu verstehen, daß sie nicht tanzen will. Sie läßt sich auf den Stuhl neben dem Flügel sinken, blaß bis in die feinen, beweglichen Lippen, die sich fest aufeinander pressen. Den Blick hat sie von mir abgewendet und sitzt dort regungslos und starrt vor sich nieder.

Ich spiele weiter. Die anderen tanzen.

Also hatte Ihre Frau Mutter doch nicht vergessen, einen der erwarteten Besucher Ihnen zu beschreiben? So spreche ich mitten im Walzer, wo nur sie mich hören kann. Schade, daß sie bei der Schilderung mich mit einem kürzeren Namen genannt hat, als ich selbst mich Ihnen vorstellen konnte.

Sind Sie's denn wirklich? fragt sie tonlos.

Ja, Fräulein Claire, ich bin der Rosch. Wundert Sie das? Vordem hielten sich nur die Fürsten am Hofe ihre Gaukler und Narren. Die Welt ist demokratisch geworden. Doch die Bedürfnisse der Menschen sind im Grunde die gleichen geblieben. So hat sich diese gute Stadt denn auch ihren Spaßmacher angestellt. Und trägt er nicht mehr die Schellenkappe, noch das Kleid mi-parti, wie sein Vorfahr der Hofnarr, sein Stand ist – er sollte das nie vergessen! – der alte geblieben. Trotz seines regelrecht schwarzen Fracks, trotz der hohen weißen Binde achtet man ihn gering, wie jenen. – So rede ich mit bitteren Worten, indessen ich die lustigen Weisen ertönen lasse. Und sie schweigt und sieht mich nicht an. –

Was ist dir, Jean-Louis? fragte mich am nächsten Morgen meine Mutter, als ich zum Frühstück bei ihr eintrat, was hast du gestern abend erlebt, das dich so ungewöhnlich erregte?

Ich! ich wüßte nicht. Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?

Dein Schritt auf der Treppe verriet es mir. Wie sollte ich deinen Schritt nicht kennen! – Wenn ich lange nachts wach gelegen und dich heimkehren höre, weiß ich immer, wie dir zumute ist, ob froh oder trüb. Heute aber – mein liebes Kind, was hat's nur gegeben? Ich habe kein Auge mehr schließen können.

Arme Mutter! Ich beugte mich über sie und küßte ihre gekrümmten, machtlosen Finger. Und dann erzählte ich ihr und Nanette, daß es ein Abend gewesen wie alle, an dem ich viel zum Tanz gespielt hatte. Es war ein junges Mädchen da, die Tochter des Hauses, in die sich Fritz Wedeking, mein Freund, wie es schien, gleich beim ersten Anblick verliebte. Ich hatte noch lange mit ihm im Mondschein promenieren, seine Reden anhören müssen. Davon ward ich müde. Das war alles. Ich rate Ihnen, so schloß ich, gegen die Mutter gewandt, lieber zu schlafen, als auf den Ton meiner Schritte zu horchen. Sie hören, fürchte ich, sonst noch Dinge, die nicht sind.

Ma mère nickte nur still vor sich hin. Du sprachst nie früher von jenem Mädchen? fragte sie nach einer Pause. Nein, wie sollte ich? Ich sah sie nie früher. Nicht früher als gestern? – Die alte Frau seufzte. Und wieder nach geraumer Weile, nachdem ich verschiedene häusliche Dinge mit Nanette verhandelt hatte, begann sie plötzlich: Wie sieht sie aus?

Wer, ma mère? Wen meinen Sie?

Das junge Mädchen, von dem dein Freund so sehr entzückt war. Ich möchte gern etwas mehr von ihr hören. Und woher kommt sie?

So mußte ich berichten, was ich selber zum Teil erst gestern erfahren hatte, wie Claire, die bei der Geburt ihre Mutter verloren, auf Guadeloupe bei ihren Großeltern geblieben war, bis diese kaum vor einem Jahr ihr starben, und sie inmitten des weitläufigen Besitzes ganz allein stand. Da hatte sie endlich dem Verlangen ihres Vaters nachgegeben und war mit Freunden nach Europa zu ihm gekommen.

Also eine Kreolin, sagte meine Mutter, schön, reich und sehr stolz. Dein Freund, der sie liebt, er sollte sich hüten. Sie kann ihm bitteres Herzeleid bringen.

Mein Freund, der sie liebt, er sollte sich hüten ... Ich habe ungezählte Male mir meiner Mutter Wort wiederholt. Und dennoch ...

Als der Abend herankam, stand ich am Flet, vor dem stattlichen, hoch aufgetreppten Giebelhause, vor dem die breitästigen, duftenden Linden den alten Krahn überschatteten. Es lag in der Straße, welche schon einmal, als ich mein Prüfungsbild malen gewollt, in meinem Leben mir wichtig gewesen. Und ich zog an der Glocke, um mich zu erkundigen, wie der gestrige Abend den Damen bekommen. Das Dienstmädchen führte mich durch den gewölbten Flur in den langen Garten. Auf dem Altan am Ende desselben saß Frau Luise, ihren Jüngsten auf den Knien, über die Brüstung beugte sich Claire und grüßte mich mit ihren dunklen Augen ... Dein Freund, der sie liebt, er sollte sich hüten ... Ich hatte das Wort vollständig vergessen.

Von da an sahen wir uns häufig, fast jeden Tag.

Ein Mensch wie ich, der ich zu jener Zeit zwar noch nicht der alte, doch immer der Rosch war, ein Halbgeschöpf, erschien den Eltern Wohl kaum gefährlich, nur zur Unterhaltung des verwöhnten, der Zerstreuung bedürftigen Mädchens gerade geeignet. Manchmal, wenn ihre Mutter, Frau Luise, von Hausfrauenpflichten in Anspruch genommen, uns länger, als gewöhnlich, allein ließ, schüttelte Claire selbst den Kopf. Was für wunderliche Sitten Ihr hierzulande habt, sagte sie; die Großmutter hätte das nie geduldet. Ich durfte mich mit keinem Herrn, ob fremd, ob bekannt, allein unterhalten. Es klingt wohl recht gut, so viel freier zu leben. Aber es ist eine trügende Freiheit. Hier muß man sich selber mit Schranken umgeben, vorsichtig sein, Nachdenken, erwägen ... Dort, unter der Großmutter ängstlicher Obhut war ich weit weniger gebunden als jetzt.

Trafen wir uns dann in Gesellschaft, und bemühten alle anderen sich um sie, so fühlte ich, wie über alle hinweg ihr Blick mich suchte. Sie schien zu wissen, was ich dachte. Wenn ich sie einmal meiden wollte, so sagte ihr Blick: Tu's nicht, es schmerzt mich. Dann war ich in der nächsten Sekunde an ihrer Seite.

Unter allen ist mir ein Abend deutlich im Herzen haften geblieben. Wir befanden uns draußen auf dem Landhaus eines ihrer Verwandten, und ich hatte vorgeschlagen, daß die ganze Gesellschaft gemeinsam eine Fahrt auf dem Fluß unternehmen solle. Dabei kamen alle in gute Stimmung, wir plauderten, lachten, vergaßen darüber, genau auf Richtung und Strömung zu achten, und fanden uns plötzlich festgeraten auf einer Sandbank. Trotz vereinter Anstrengungen gelang es nicht, das große, schwere Boot loszubringen. Da gab's kein Mittel als Geduld. Wir mußten eben die Flut abwarten, die uns forttreiben würde. Die Zeit zu verkürzen, ward gesungen. Aber die Stimmen wollten nicht recht zusammenklingen, der Mond schien so träumerisch, es war auf dem Flusse so wundersam still, nach und nach verstummten die lustigen Lieder vor dem feierlichen Ernst dieser Nacht. Ich saß auf meine Ruder gelehnt, sah, wie das Wasser silbern blitzend an ihnen niederrieselte und hörte die Tropfen einzeln hinabfallen in den Strom. Ich hätte den Kopf nur zu wenden brauchen, um sie zu sehen, Claire. Doch wandte ich ihn nicht.

Graf Berg, der in ihrer Nähe saß, plauderte allerhand tolles Zeug. Sie ließ ihn reden.

Ich bemerkte auch, wie Fritz unruhig wurde. So oft er den Grafen um sie bemüht sah, packte ihn die Eifersucht. Und da er kein anderes Mittel fand, jenen zum Stillschweigen zu zwingen, verlangte er, ich solle etwas erzählen. Haben Sie je den Rosch gehört, Fräulein Claire? fragte er; nein, Sie können's nicht wissen, wie schnell er die Zeit verstreichen macht.

O ja, ich weiß es, sagte sie leise.

Wenn er erzählt, fuhr Fritz eifrig fort, dann denke ich mir, ich sei wieder zum Knaben geworden, der, anstatt gehorsam sein Pensum zu lernen, abends aus dem Hinterfenster in den Hof hinabkletterte, über die Planke zum Nachbarn hinüber und dort durch den Torweg. In der Straße saßest du, Rosch, alle Jungen rund um dich her, und ich hockte mich nieder, ganz klein, im hintersten Winkel an der Hauswand, daß mein Vater, der, aus einer Sitzung heimkehrend, vorüberging, mich nicht sehen sollte. Weißt du, daß ich, um deine Märchen zu hören, selbst etliche Prügel stillschweigend ertrug?

Sie sind ein guter Mensch, Herr Wedeking, sagte Claire zu ihm.

Ein Märchen, ein Märchen! rufen die anderen, lassen Sie hören.

Und ich erzähle ihnen, ganz leise, das Märchen von dem Königssohne, der sich in einen Stern verliebt. Er zieht aus, den Stern zu suchen. Und er wandert Tag und Nacht durch fremde Länder, öde Wüsten, über die Berge, ohne dem Himmel näher zu kommen. So gelangt er zuletzt an das Meer. Da hört sein Weg auf, er kann nicht weiter. Müde und traurig legt er sich schlafen. Es ist tiefe Nacht, als er wieder aufwacht. Er aber meint schon im Himmel zu sein. Denn neben ihm, aus dem feuchten Grunde blickt sein vielgeliebter Stern ihm traut entgegen. Da breitet er die Arme aus und stürzt sich vorwärts; das Sternlicht zerteilt sich, zugleich mit den Wellen, in die er hinabsinkt. Hoch über ihm aber am Himmel droben steht der Stern, so fern wie vorher, unerreichbar, unbeweglich, leuchtend und klar.

Der junge Graf Berg murmelt zwischen den Lippen, da ich geendet: Recht hübsch, besonders für Kinder. Die übrigen schweigen. Sie bemerkten es nicht, wie die Flut herankam, wie sie das Schiff hob, wie sie nun leise, während ich mit meinem Ruder die Richtung angebe, uns weiter trägt, dem Lande zu. Die Wellen glucksen und schluchzen heimlich um unsern Kiel. Still gleiten wir hin durch die schweigsame Nacht, voll unsäglicher Traurigkeit, voll unaussprechlich wonnigen Glücks.

Am Land, beim Aussteigen, liegt ihre Hand eine Sekunde lang auf meinem Arm. Ich könnte die Hand an die Lippen ziehen, sie würde es dulden. Aber:

Die Sterne, die begehrt man nicht,
Man freut sich ihrer Pracht ...

Mein Märchenprinz ist ein vermessener Tor gewesen, nicht wahr, Fräulein Claire, scheint es Ihnen nicht auch so? frage ich.

Sie blickt mich an mit einem wunderlich erschreckenden Blick und gibt keine Antwort und geht ins Haus.

Am Abend spät, während sie mit ihren Eltern zur Stadt zurückfährt, wandern wir friedlich heim miteinander, Fritz Wedeking, der Phylax und ich. Jene zwei scheinen herzensfroh. Der Hund springt voraus, und sein Herr drückt mir immer wieder die Hand. Sie hat gesagt, er sei ein guter Mensch. Beim Abschied hat sie dem Phylax den Kopf gestreichelt. Das tut ihm wohl, fast als wäre es ihm selber geschehen.

Siehst du, sagt er, die anderen, die alle ihre Schönheit bewundern, wissen ja gar nicht, wie sie ist. Als ich so im Boot saß und sie unbemerkt anschauen konnte, indes du erzähltest, habe ich es erst recht empfunden, wie ihr Gesicht die reine, stolze Seele spiegelt. Du mußt mir helfen. Denn ich weiß es, alter Rosch, du verstehst sie. Und daß sie auch dir so gut ist, von Anfang dir entgegenkam wie ... nun, wie sie es tat, das war's, woran ich ihr Wesen erkannte.

Ich hörte seine Reden und schwieg. Ihm nicht und nicht einmal mir selber durfte ich sagen, was ich fühlte. Die Leute um mich her sprachen täglich davon, wer wohl das schöne, reiche Mädchen heimführen werde, ob Fritz Wedeking, ob ein anderer. Man befragte mich um meine Ansicht. Frau Luise, ihre gute Stiefmama, zog mich zu Rat, was ich wohl denke, wie Claires Entscheidung fallen werde. Und selbst bis in unser stilles Häuschen war die Fama gedrungen. Nanette, die ihr eigenes Hoffen längst eingesargt hatte, lebte auf, sobald sie von fern nur von der Verlobung einer anderen etwas hörte.

Ist es wahr, fragte sie, daß dein Freund Fritz das schöne Fräulein aus Westindien heiraten wird? und hörte ich recht, daß man die Verbindung erst bei dem Fest zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Firma Wedeking anzeigen will? Du mußt es doch wissen, du ordnest ja alles zu der Gesellschaft. Und passen denn die zwei auch zusammen? und werden sie glücklich?

Meine Mutter verwies ihr die Fragen. Schwatz' nicht so, Nanette. Kannst du deine Neugier gar nie beherrschen! Was geht das uns an! Und wenn Jean-Louis etwas davon wüßte, im Vertrauen wäre, meinst du, er würde uns es verraten, was seinen liebsten Freund betrifft?

Meine Mutter hatte seit jenem ersten Abend nie wieder des Mädchens erwähnt. Aber ich sah ihre forschenden Augen, die mir folgten, die sich um mich sorgten. Ich wich ihr aus. Und ich ging auch Fritz aus dem Wege, der von mir Rat und Beistand wollte, seinen Eltern, allen Fragern.

Das Fest bei den Wedekings gab mir den Vorwand, Claire weniger als bisher zu besuchen. Ich hatte zu tun mit Dichten, Einstudieren, Probieren. Wenn man eine Aufführung von etwa hundert Dilettanten zu ordnen und zu leiten hat, mag man von all dem Hin und Her schließlich die gute Laune verlieren. Es konnte niemand sich darüber wundern, daß ich zerstreut und abgespannt schien. Sie sah es auch wohl. Denn sie fragte mit keiner Silbe, weshalb ich fortblieb. Und wenn wir uns auf der Probe trafen – ich hatte selbstverständlich auch ihr eine Rolle zuteilen müssen – so lag etwas trennend, wie ein Schleier von Fremdheit, zwischen uns beiden. Es ist recht so, sagte ich mir. Und es muß so sein. Und ich habe es gewollt. – Aber das Herz in der Brust tat mir weh, als hätte ich selbst mir's in Stücke geschnitten.

So kam der Tag heran. Bei dem Fest wird es sich entscheiden, hatten alle Leute so oft gesagt, daß auch ich es glaubte. Bis zu dem Feste ... dachte ich selbst – nur bis dahin mich tapfer halten, sie meiden, ihr nichts, was ich fühle, verraten; – dann – was dann kommen, geschehen sollte, das fragte ich mich nicht.

Und nun war der Abend da, und in dem kleinen Glasverschlage, dem »Zibürken«, das abgeteilt von der altertümlichen Kaufmannsdiele, ehedem wohl einem Aufseher als Sitz gedient, thronte ich und ließ die Truppen meiner Getreuen vor mir die Musterung passieren. Wir hatten, weil kein Saal des Hauses für unsere Aufführung reichen wollte, hier auf der Diele unsere Bühne aufgeschlagen. Die alte Treppe, die hölzernen Galerien im oberen Stockwerk ringsumher, auch ihnen war ihre Rolle in dem Stück zuerteilt. Und wie nun die Mitspieler einer nach dem anderen langsam die gewundene Treppe herunterkamen, in ihren Rokoko-Kostümen aus der Zeit vom Bau dieses Hauses, da gab das Ganze ein so treues, so buntes Bild, daß ich mit meinem eigenen Werk wohl zufrieden sein durfte.

Ganz zuletzt kam Claire. Sie war anders gekleidet. Als Fortuna sollte sie die Schlußworte sprechen. Sie trug weiße griechische Gewänder, deren weiche Falten ihre schlanke Gestalt umhüllten. Nur ein goldener Reif hielt ihr Haar zusammen. Sonst war keine Farbe an ihr. So blaß erschien sie, wie ein Marmorgebild. Die anderen alle hatten sich mir gezeigt, hatten verlangt, daß ich dies und jenes an ihrem Anzug noch ordnen solle. Sie ging gesenkten Hauptes vorüber. Und als jemand von den Mitspielern fragte, ob sie sich nicht schminken lassen wolle, da sah sie auf und sah den Schminktopf, die Puderquaste neben meinem Platz. Es war mir sonst nie eingefallen, daß ich mich solcher kleinen Dienste, die ich als Regisseur, um mein Amt gut zu erfüllen, verrichten mußte, zu schämen hätte. Da ich ihren Blick auffing, schob ich die Friseurgeräte auf die Seite, kam aus meinem Sitz heraus und machte mir auf der Bühne zu schaffen, nur um diesem Blick zu entgehen.

Aber zwischen den Kulissen traf ich auf Fritz. Rosch, jetzt oder nie, sagte er hastig, zeig', daß du mein Freund bist, steh mir bei. Ich ertrag' es nicht länger. Ich kann nicht von fern stehen und es mit ansehen, wie alle ihre Schönheit bewundern. Ich will endlich wissen, woran ich bin. Du mußt mir eine Gelegenheit schaffen, nur auf fünf Minuten mit ihr zu sprechen.

Ich?

Natürlich. Bist du nicht Regisseur? Schick' die anderen fort. Du kannst es machen, daß ich mit ihr allein bleibe. Auch dir muß dran liegen, daß dieser ungewisse Zustand ein Ende findet, daß wir erfahren, was sie im Sinn führt.

Auch mir? Ja, du hast recht, Fritz, es ist so, auch mir ...

Und dann habe ich die beiden allein gelassen.

Die Diele füllte sich mit den Zuschauern. Unser Gaukelspiel begann. Ich hatte auf der Bühne zu tun, als Regisseur, Souffleur und Akteur, drei Rollen zugleich in einer Person. Sie sagten, ich hätte meine Sache vortrefflich gemacht. Ich weiß nichts davon. Was ich da spielte, sang und sagte, ich tat es alles im Traum, rein mechanisch. Nur einmal erwachte ich für eine Minute aus dem halb bewußtlosen Zustand: als auf sein Stichwort Fritz nicht erschien. So war's ihm mißglückt. Ich wußte es vorher. Aber jetzt ... Doch ich hatte nicht Zeit, es nur auszudenken. Wir mußten im Augenblick weiterspielen. Sie wunderten alle sich, wie gelassen ich die Störung hinnahm und meine allerbeste Szene fallen ließ, ohne dem Deserteur nur zu zürnen. Ich zwang mich, meine Züge nichts von dem verraten zu lassen, was in mir war. Und da sie endlich erschien und langsam die Stufen zu der Bühne hinaufstieg, da mußte ich ihr entgegengehen, ich konnte nicht anders, es war ein Fieber in mir, das mich antrieb.

Dank, sage ich leise. Und sie blickt mich an und versteht mich.

Die Glocke gibt das Zeichen, der Vorhang teilt sich. Es ist das Schlußbild, Fortuna, welche dem guten Kaufmannshause, dessen Gründung wir soeben in dem Spiel mit angewohnt haben, Segen verheißt für künftige Zeiten. Die Zuschauer sind wie bezaubert von ihrem Anblick. In dem weiten Raum herrscht Schweigen. Und nun spricht sie mit ihrer weichen südlichen Stimme, mit dem lieblichen fremden Tonfall langsam und feierlich meine Verse. Die Leute applaudieren nicht nur, sie weinen und rufen und schreien. Der Vorhang muß sich wieder teilen, sie nochmals zeigen und noch einmal. Roche-Blanche, rufen alle laut, Roche-Blanche, der Verfasser, der Regisseur!

Und ich muß an die Rampe treten, mich verbeugen, neben ihr. Man ruft uns beide. Seite an Seite stehen wir. Aber wir sehen uns nicht in die Augen. Sie hat das Füllhorn, aus dem sie dem Hausherrn und seinen Gästen die glückverheißenden Blumen gespendet, sinken lassen. Nur ein Blatt fiel noch heraus. Ich sehe es am Boden liegen und bücke mich und hebe es auf. Einen Augenblick ist es, als wollte sie etwas sagen, wollte mich hindern. Aber sie wendet sich und geht und läßt mir das halbverwelkte Blatt. Ich bewahre es noch heute.

Mit der Aufführung war aber der Abend noch nicht beendet. Es folgte, wie gebührlich, das Gastmahl und darauf der Ball. Ich habe bei dem einen getoastet, bei dem andern getanzt. Selbstverständlich getanzt nur mit Damen, die keine besseren Partner fanden. Es gehört sich das so für einen Festordner und alten Hausfreund meines Schlages. Claire war sogleich nach dem Souper, bei welchem ich sie nur ganz von fern erblicken konnte, fortgegangen. Fritz blieb unsichtbar. Ich harrte aus, bis zuallerletzt, wie es meine Pflicht war. Und zuallerletzt zog Herr Wedeking, mein bester und ältester Beschützer, durch dessen Vermittlung mir damals mein erstes Honorar geworden, mich auf die Seite.

Hier, lieber Rosch. Ihnen verdanken wir diesen Abend. Sie sollen sich der fröhlichen Gründung unseres Hauses noch lange erinnern. Bleiben Sie uns ein Freund wie bis heute. Das große Kuvert, das er mir in die Hände drückte, dünkte mich schwer, als hätte es statt der Banknoten Bleiklumpen enthalten. Aber ich konnte es ihm nicht vor die Füße werfen. Ich nahm es an, wie ich immer getan.

Und dann lag ich zu Haus im Bett, in meinem Stübchen unter dem Dach, gerade wie damals, vor so vielen Jahren. Nur ich war anders. Und die vier Wände schauten mich an mit anderen Augen. Und das Päckchen auf dem Tisch, dort neben dem Licht, das ich mir so redlich verdient, wie nur je eins früher, das machte mir diesmal Schmerzen statt Freude. Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte auch nicht viel. Ich war nur todmüde. In jedem Glieds, in jedem Finger fühlte ich das Blei, das Herr Wedeking mir gegeben. Dies ist das Ende, sagte ich mir. Ich hatte alle die Wochen her nur bis zu diesem Tag gedacht. Nun war das Heute da, und ich wußte: nun ist alles aus. –

Es dämmerte, als man bei mir klopfte und Fritz Wedeking mit dem Phylax eintrat. Sie sahen beide so übernächtig aus, wie ich mich fühlte. Der Hund schnupperte an dem Tisch mit dem Gelde und kam dann heran und legte seinen Kopf mir aufs Bett, mich mit den klugen Augen anschauend, als wolle er bitten für seinen Herrn. Der hatte sich ohne ›Guten Morgens‹ noch ›Um Vergebung‹ auf den einzigen Stuhl sinken lassen. Die Hände schlaff zwischen den Knien hängend, starrte er vor sich auf den Boden. Ich fragte ihn nicht, weshalb er gekommen.

Rosch, alter Junge, begann er nach geraumer Weile, sie will mich nicht.

Ich nickte nur.

Bist du mein Freund?

Ich denke, ja.

Ich denke es auch. Gestern halfst du mir, mit ihr zu sprechen. Das war nicht das Rechte. Heute mußt du mehr für mich tun. Du sollst selbst zu ihr gehen, ihr sagen, wie ich sie liebe, daß ich nur für sie leben werde, und nichts von ihr fordern, nichts als Geduld, ein wenig Geduld, sich lieben zu lassen.

Das ... ich ... ich ... Ich kann es nicht, Fritz.

Du mußt es, Rosch. Wenn du mein Freund bist. Das gestern war nur ein halber Dienst. Nun fordere ich die andere Hälfte. Auf dich wird sie hören, dir vertraut sie, du bist Franzose, du sprichst ihre Sprache; sag ihr, wie ich's meine. Und – was redest du da, du selbst? – Alter Rosch, wenn du ihr auch gut bist – wie jeder sein muß, der sie nur sah, du liebst sie ja doch nicht so wie ich. Und du kannst sie nicht heiraten. Ich aber, ich weiß nicht, wie ich ohne sie noch leben soll. Wenn du mir nicht helfen willst, dann ... Und, Rosch, ich denke doch, an meinem Tode würdest du ungern Mitschuld tragen.

Sein unbegrenztes Vertrauen in unsere Freundschaft rührte mich. Ich wußte auch sehr wohl, daß wenn irgendein Mensch auf der Welt, ich ihm helfen könne. So stand ich auf und kleidete mich an und ging. Der Phylax kam mit mir. Wollte er wachen, daß ich zum Besten seines Herrn, nicht gegen ihn handelte? Er folgte mir dicht auf dem Fuß die Treppe hinunter.

Im Flur hielt die Nanette mich auf: Jean-Louis, die Mutter ängstigt sich die ganze Nacht schon. Sie hat dich gestern heimkehren gehört, spät, mit so schweren, müden Schritten. Und nun gar seit dein Freund hinaufging ... Komm zu ihr, ich bitte dich, daß sie dich sieht und weiß, was dir ist.

Ich kann nicht, Nanette. Sage ihr, sie solle nur ruhig sein. Wenn alles vorüber ist, so oder so ... dann komme ich.

So gingen wir durch die bekannten Straßen, der Phylax und ich. Mir war seltsam zumute. Du kannst sie nicht heiraten, hatte Fritz zu mir gesagt. Aber schon allein das Bewußtsein, daß ich zu ihr ging, heute, jetzt, daß ich in wenigen Minuten Aug' in Aug' mit ihr sprechen sollte, erfüllte mir das Herz mit einem heißen, ungekannten Glücksgefühl. Es war ganz gut, daß der Hund immer neben mir blieb, als Mahner, in wessen Auftrag ich ginge.

Und freilich dort im Hause schien man mein Kommen in dieser Eigenschaft ganz natürlich zu finden. Frau Luise empfing mich mit verweintem Gesicht. Wissen Sie's schon? Sie hat dem Fritz einen Korb gegeben, Fritz Wedeking, dem besten Menschen, dem liebenswürdigsten, reichsten, angesehensten jungen Mann in der ganzen Stadt. Was will sie nur? Sie hat auch den Grafen Berg abgewiesen. Gestern in der Nacht noch hat sie eine lange Unterredung mit meinem Mann gehabt. Als er zu mir kam, sagte er nicht, was sie gesprochen. Er kündete mir nur seinen Entschluß an, auf eine Zeitlang mit ihr und mir nach dem Süden zu gehen, die Luft hier bekomme ihr nicht. Denken Sie nur! Ist es nicht Zu traurig? Fort von den Kindern, von meinem Hausstand! Ich liebe sie ja auch, gewiß. Und ich verstehe es ganz gut, daß mein Mann ängstlich ist, weil ihre Mutter, die ihm viel, viel mehr als ich war, so jung starb. Aber ... Mein guter bester Roche-Blanche, Sie reden mit ihr, Sie sagen ihr alles, nicht wahr? Sie gelten ja so viel bei Claire, wer weiß, vielleicht entschließt sie sich doch, den Fritz noch zu nehmen.

Frau Luise hatte mich bei diesen Worten in den ersten Stock geführt und klopfte an Claires Zimmertür. Sie lehnte am Fenster, als wir eintraten, schwarz gekleidet, wie ich sie während des ganzen Sommers nicht gesehen. Draußen ging ein scharfer Herbstwind, der die Bäume im Garten rüttelte, daß die welken Blätter in Wirbeln über die Wege hintanzten und an der Mauer des Altans sich zu gelben Hügeln häuften. Ihre Mutter sagte, daß ich gekommen sei, mit ihr zu sprechen, und bat Claire, mich ruhig anzuhören. Dann ließ sie uns allein.

Da jene fort war, schwiegen wir beide. Sie war in derselben Stellung geblieben, die Stirn an die Fensterscheiben gedrückt. Ich sah nur die feine Linie ihres Nackens, ihres verlorenen Profils. Ein unsinniges Verlangen, zu ihr hinzustürzen, wortlos meine Lippen auf ihren weißen Hals zu drücken, schnürte mir die Kehle zu.

Aber der Phylax war mitgekommen. Er knurrte leise. Ich sagte, was Fritz mir aufgetragen hatte, was ihre Mutter mir noch eben ans Herz gelegt. Und ich sagte warm, wie ich's konnte, was für ein guter, herrlicher Mensch Fritz Wedeking sei, welch treuer Freund und wie sehr geschaffen, eine Frau wahrhaft glücklich zu machen. Ich wollte mir nichts vorzuwerfen haben. Der Abwesende wäre zufrieden gewesen, hätte er vernommen, wie ich seine Sache vertrat. Was soll ich ihm sagen, Fräulein Claire? so fragte ich endlich, da mir keine Antwort wurde. Er liebt Sie von Herzen und will es nicht fassen, daß so große Liebe nicht doch allmählich noch Erwiderung Wecken sollte. Wenn Sie nicht bestimmte Grunde gegen ihn haben ...

Warum quälen Sie mich? sagte sie leise und kehrte das blasse Gesicht zu mir her. Weshalb fragen Sie mich, was Sie wissen – so gut, wie ich selbst.

Claire!

Nun ja, es ist so. Wozu noch es leugnen? Wenn auch wir zwei uns Mühe geben Versteckens miteinander zu spielen, hört es dadurch auf zu bestehen? Fritz Wedeking ist ein braver Mensch, und ich bin ihm sehr gut. Aber ich kann nicht seine Frau sein, weil ... Weil ich dann jeden Tag, jede Stunde mit einem zusammentreffen müßte, dem ich nicht gut bin, nein, den ich ...

Claire! schrie ich auf.

Sie sah mich voll und furchtlos an. Soll ich's nicht sagen, daß ich Sie liebe? Weil Sie nicht den Mut haben, mir es zu sagen? Ich aber schäme mich mehr des Verschweigens als meines Gefühls. Weshalb denn nicht ehrlich und offen aussprechen, was man doch denkt? Es wird freilich nicht anders davon, nichts erleichtert. Unser Leben ist das gleiche, als wäre das Wort ungesagt geblieben.

Doch nun es ausgesprochen ist und – Claire, ist es denn wahr? Das Glück macht mich schwindeln! – Doch da es wahr ist, und Sie es sagen, nun habe ich Mut. Allein, still für mich, konnte ich leiden und schweigen. Aber da Sie ... Fräulein Claire, wir wollen uns über das Gemeine erheben. Ich bin arm. Aber wir hängen nicht am Reichtum. Wir sind beide stark genug und fühlen stark, um von den Vorurteilen der Menge uns nicht niederbeugen zu lassen. Wir wollen, müssen glücklich werden.

So sprach ich und noch viele andere, bewegliche Worte, wie sie das Herz eingibt, wenn man liebt.

Sie war vom Fenster fort getreten, näher zu mir und hörte mich an. Ihre seltsam klaren Augen schauten gerade in die meinen, als ob ihre innerste reine Seele zu meiner spräche. Ja, wir lieben uns, sagte sie langsam mit der traurig verschleierten Stimme, so tief, wie wir tief sind. Und so stark wir beide lieben, so stark werden wir leiden müssen. Glücklich sein? Ist denn das möglich? Sie sagen, uns scheiden Vorurteile, die es gelte zu überwinden. Wären es nur Vorurteile! Aber was uns trennt, liegt in uns, in unserem Herzen, in unserem Blut. Und solange wir leben und atmen, werden wir es nicht ausrotten können. Weshalb sind Sie zu mir gekommen, für einen anderen um mich zu werben? Weshalb nicht für sich? Und ich, nach einer halben Stunde, da ich Sie zuerst gesehen, nach einer kurzen halben Stunde, wußte ich es nicht gleich sehr wohl, wie ich für Sie fühlen könnte? Da nannte man Sie mit dem richtigen Namen. Entsinnen Sie sich noch, wie ich erschrak? Vielleicht – hätte ich eine Mutter gehabt –-, ich wäre wie andere junge Mädchen länger vor dem Ernst des Lebens behütet geblieben, hätte frei der Poesie in meinem Herzen folgen dürfen. Aber ich bin allein aufgewachsen. Wie sehr die Großmutter mich auch geliebt hat, sie konnte mich nicht davor schützen, daß ich selber sehen lernte. So habe ich es denn begriffen, was die Achtung der Welt gilt. Ein rechter Mann muß einen rechten Beruf erfüllen – das lernte ich früh. Es ist zum Gesetz in mir geworden. Ich vermag diese Überzeugung nicht abzutun, wie gern ich auch möchte. Ich fühle, daß ich darum leiden werde. Ich fühle es deutlich. Aber dennoch kann ich nicht anders. – Gestern, spät in der Nacht, bin ich noch zu meinem Vater gegangen, habe versucht, mir von ihm einen Ablaß zu holen. Aber er verstand mich nicht einmal. Den Rosch hast du gern? nun ja, natürlich, ebendeshalb solltest du Fritz zum Manne nehmen, da seht ihr euch täglich; meinte er. So muß ich mir selbst, allein! helfen und raten. Der einzige Mensch, dem ich meinen Schmerz klagen, dem ich die Frage vorlegen dürfte, wie ich sie fühle, der mich verstehen, begreifen würde, der sind Sie. Und so frage ich Sie denn, sagen Sie's mir, der Sie mich lieben: wenn ich, die Tochter und Enkelin so vieler, ehrsamer Kaufmannsgeschlechter, die laute Stimme der Vernunft in mir überwinde, der lauteren in meinem Herzen folge, wenn ich den zum Manne nehme, den ich liebe, den Chevalier Jean-Louis de la Roche-Blanche, kann das ein Glück sein? für ihn, für mich, für ... unsere Kinder? ...

Nein ... sagte ich.

Und das war alles. Und dann sind wir voneinander gegangen.

*

Da ich jenes Tages heimgekehrt, Fritz meine Beichte abgelegt hatte, während der Phylax tröstend mir die Hände leckte, da sprach mein Freund mit Tränen in seinen ehrlichen Augen: Rosch, verzeih mir. Dein Los ist härter. Meins will ich schon tragen.

Erst gegen Abend – die Nanette war ausgegangen – habe ich mich zu meiner Mutter hinabgeschlichen und mich auf das Schemelchen neben sie, meinen alten Knabenplatz, gesetzt. Ihr brauchte ich nicht viel zu gestehen. Ihre gichtkranken Hände strichen leise, schmeichelnd, als sei ich noch ein kleines Kind, mir über Stirn und Haar und Augen: Mon petit, ah mon pauvre petit, sei still, sage nichts, ich weiß ja schon alles. Ich habe es lang, lang kommen sehen und ahnte, wie es enden würde. – Nein, lassen Sie mich nicht mehr davon reden. –

Eine Zeitlang habe ich dann gegen mein Schicksal mich auflehnen wollen, versuchen wollen, aus meinem Leben etwas Besseres zu gestalten. Ich malte wieder, machte Pläne, dachte spät noch ein Künstler zu werden. Das währte nicht lang. Wir mußten ja leben. Und die Mutter war alt und Nanette kränklich. Wozu war ich gut, als für sie zu sorgen? So bin ich, fast ohne es selbst zu wissen, wieder in die gewohnten Bahnen hineingeraten und bin drin geblieben, bis auf diese Stunde: Hausfreund, Festordner und Sorgenbanner. Der gute Koch hat Schilder gemalt, wenn seine Börse allzu leer schien. Ich schreibe alsdann ein Hochzeitskarmen. Welcher Erwerb ist ehrenhafter? Es ist schwer zu entscheiden.

Und nun wissen Sie auch, Frau Klara, weshalb Sie von jeher mein Liebling waren, und weshalb ich Ihnen keine Bitte abschlagen kann: weil Sie jenen Namen tragen. Ihres Vaters schöne Stiefschwester, nach der Sie ihn führen, starb jung in Rom. Ich habe sie nicht wiedergesehen.

Somit wäre meine Erzählung denn zu Ende. Gestehen Sie's nur, mein Leben hört sich nicht wie ein Roman an. Wenigstens nicht in dem Sinne, wie Sie es meinten. Zürnen Sie mir, meine liebe junge Freundin, daß ich Ihnen die Langweile so schlecht vertrieb? Nicht wahr, Sie spotten wohl des Alten, der Ihren Wunsch allzu wörtlich nahm, Ihnen von seinem innersten Leben aufrichtig zu sprechen. Am Ende wäre Ihnen ein Märchen doch lieber gewesen? – – – –«

Er erhob sich bei diesen Worten. In dem Erker war es fast dunkel geworden. Der Regen schlug eintönig, wie vorher, an die Scheiben. Da der alte Herr sich dem Ruhebett nähern wollte, sah er die Stickerei, zu welcher er die Zeichnung entworfen hatte, am Boden liegen. Er nahm sie sorgsam auf.

»Frau Klara,« sagte er leise, »warum geben Sie mir keine Antwort? Hat mein Geschick Sie so erschüttert? Ich danke Ihnen ..., ich ...« Er bückte sich näher noch über das ihm abgewandte, halb in die Kissen vergrabene Antlitz der jungen Frau.

»Ah! so ...« Und das selbstverspottende Lächeln stahl sich wieder um seine Lippen, zuckte in den zahllosen Fältchen um Mund und Augen. »So, so, nun weiß ich doch, wozu es gut ist, wenn ein Freund am Regentage sich entschließt, aus seines Herzens verborgensten Kammern lang gehegte, geheime Schätze auf viele Bitten heraufzuholen. Seine alten Schmerzen dienen, den besseren Zeitvertreiber zu locken. Mit diesem trostreichen Sorgenstiller kann freilich kein Erzähler sich messen. Ihm muß ich Weichen. – Schlafen Sie wohl. Und träumen Sie glücklich!«

Und lautlosen Schrittes verließ er das Zimmer.


 << zurück