Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Capitel. Die Sirene.

Die Bahnhofsglocke war zum zweiten Male geläutet worden. Von fernher ertönte ein schriller Pfiff der Locomotive, zum Zeichen, daß der erwartete Zug nahe. Ein Aechzen, Stöhnen und schmerzendes Kreischen rollender Räder – der Zug fuhr im Perron ein.

Der Zug hielt. Die Schaffner eilten an die Thüren, um dieselben zu öffnen.

»Station Lindenberg!« ertönte ihr Ruf.

Die Wagen entleerten sich, denn hier wurde auf die hier einmündende Sekundärbahn, welche westwärts in die Berge und an die österreichisch-bayrische Grenze führte, umgestiegen.

Eine junge Dame stand auf dem Perron. Ihr Köpfchen, welches sich nach rechts und links wandte, um besorgt forschend die Aussteigenden zu betrachten, ließ vermuthen, daß sie irgend einen Passagier oder eine Reisende erwarte. Schon schienen alle Ankommenden die Coupées verlassen zu haben, da öffnete sich am hintersten Wagen die Thür, welche unachtsamer Weise von außen wieder zugeworfen war, noch einmal und es stieg eine in ein elegantes Reisegewand gekleidete Dame aus.

Sie war blond, sehr üppig gebaut. Schon beim ersten Blicke auf sie mußte man sich sagen, daß sie den besseren, vielleicht sogar den höheren Ständen angehöre. Sie blieb am Coupée stehen und blickte sich forschend um.

Da fiel das Auge der erst erwähnten jungen Dame auf sie.

»Ah, doch, endlich!« sagte die Wartende in erfreutem Tone zu sich selbst und dann eilte sie auf die Andere zu.

Diese sah sie kommen und kam ihr einige Schritte mit ausgestreckten Armen entgegen.

»Milda!« rief sie aus. »Schon glaubte ich, Du seiest verhindert worden.«

»O nein, liebe Asta. Beinahe fühlte ich Sorge. Ich sah so Viele aussteigen, nur Dich nicht. Hast Du mein Telegramm unterwegs erhalten, in welchem ich Dich benachrichtigte, daß ich Dich hier abholen werde? Ich hatte es Bahnhof Brünn zum Ausrufen unter den Passagieren adressirt.«

»Freilich habe ich es erhalten. Der Portier rief so laut: ›Baronesse Asta von Zolba aus Wien!‹; Alle Welt wurde aufmerksam auf mich. Hätte ich es nicht erhalten, so würde ich mich hier nicht so nach Dir umgeblickt haben.«

»So ist es also geglückt, und nun herzlich willkommen, meine liebe, liebe Asta!«

Sie umarmten und küßten sich. Es war ein reizendes Bild, eine höchst interessante Gruppe, welche diese beiden Mädchen boten. Beide jung, schön, sichtlich wohlhabend und hochstehend. Die Eine blond, hoch, voll, eine fast mehr als königliche Gestalt, die Andere ein Wenig kleiner, fein, aber äußerst elegant, brünett und von jener Schönheit, welche zwar nicht im ersten Augenblicke alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann aber für immer fesselt.

»Und ists weit, daß Du mir entgegengekommen bist, Milda?« fragte die Blonde.

»Eine ziemliche Strecke. Wir haben volle zwei Stunden zu fahren, bevor wir ankommen. Aber ich wollte Dich gern so bald wie möglich begrüßen.«

»Das ist so reizend, so lieb von Dir. Aber ich habe gar nicht gewußt, daß dieses Schloß Steinegg so weit entfernt von der übrigen Welt gelegen ist.«

»Es liegt in den Bergen, hart an der Grenze, aber wirklich reizend. Ich bin ganz glücklich darüber, daß Vater es gekauft hat.«

»Und wann geht der Zug?«

»Wir haben eine volle Stunde zu warten.«

»Dann also hinein in den Wartesalon!«

Einer der Schaffner hatte indessen ihre Effecten aus dem Coupée genommen.

»Wartezimmer erster Klasse!« befahl sie.

Er trug die Sachen hinein und erhielt ein so reichliches Trinkgeld, daß er ihr ein Honneur machte, als ob er einen sehr hohen Offizier oder eine Prinzessin vor sich habe.

Die beiden Freundinnen setzten sich an einen der wenigen Tische. Lindenberg war keine große Station. Das Bahnhofsgebäude war klein und so faßte das Wartezimmer erster Klasse nur wenige Personen. Da viele der eben Ausgestiegenen auf den Zug der Sekundärbahn warteten, und Andere, welche mit demselben Zuge fahren wollten, sich auch nach und nach auf dem Bahnhofe einstellten, so waren die Tische sehr bald so besetzt, daß nur eine kleine Anzahl von Stühlen noch frei stand.

»Also Du findest Schloß Steinegg hübsch?« fragte Asta. »Das freut mich. Ich hatte Sorge, daß Du Dich enttäuscht fühlen könntest.«

»Das gar nicht. Steinegg ist nicht nur hübsch, sondern geradezu reizend. Es liegt hoch oben auf dem Felsen, weißt Du, so recht wie eine frühere, alte romantische Ritterburg. Und unten am Fuße des Berges breitet sich zwischen Waldesgrün das Städtchen aus, schmuck und sauber, wie eine Perle zwischen lauter Smaragden.«

»Du wirst ja förmlich poetisch!«

»Ich bin geradezu begeistert von unserer neuen Besitzung. Schade, daß Vater erst so spät kommen kann!«

»Leider! Es ist nicht immer bequem, eine solche Hofcharge zu bekleiden. Uebrigens hat er sich doch wegen Deiner Abwesenheit zuweilen einsam gefühlt, und ich habe meiner Freundespflicht genügt und Deine Stelle zu vertreten gesucht.«

»Dafür muß ich Dir großen Dank wissen, zumal Vater jetzt weniger als früher der Mann ist, mit welchem man die Einsamkeit gern theilen mag.«

»Ja, weißt Du, in aller Aufrichtigkeit, er ist doch ein ziemlicher Brummbär!«

»Brummbär wohl nicht, aber schwermüthig. Es muß irgend ein Kummer an seinem Frohsinn nagen. Ich habe mich vergeblich bemüht, zu entdecken, was sein Gemüth beschwert. Ich habe bei ihm in Wien wirklich nicht behaupten können, daß ich die Freuden der Residenz genießen durfte. Ich bin vielmehr eine Einsiedlerin gewesen.«

»Und jetzt wieder!«

»O nein. Es giebt im Orte einige Personen, mit denen ich gern verkehre.«

»Im Orte? Also in dem kleinen Neste Steinegg?«

»Ja.«

»Du scherzest. Eine Baronesse von Alberg kann sich doch nicht an irgend eine Bewohnerin einer solchen winzigen Provinzialstadt anschließen!«

Es war ein hochmüthiger, beinahe harter, abstoßender Zug, welcher der Schönheit ihres reizenden Gesichtes in diesem Augenblicke Eintrag that. Ihre Freundin bemerkte es und antwortete mit einiger Reserve:

»Nun, von einem förmlichen oder wohl gar innigen Anschließen habe ich doch nicht gesprochen. Es ist so zu sagen eine Art Höflichkeitsverkehr, und die Ansprüche, welche man bei einem solchen macht, sind ja nicht unschwer zu befriedigen.«

»Ja, Du bist freilich immer leicht zu befriedigen gewesen. Das ist wahr!«

Milda sah über diese Bemerkung, welche einen Vorwurf enthielt, hinweg und antwortete:

»Du kannst Dir ja denken, daß ich zu einem wirklich geselligen Verkehr ja gar keine Zeit habe. Die umfangreiche Einrichtung eines Schlosses zu beaufsichtigen, das ist eine Anstrengung, welche Einem wenig Ruhe und Muße läßt. Darum freue ich mich Deiner Ankunft. Du wirst mich unterstützen und Dein bekannter, vorzüglicher Geschmack wird alle Lücken ergänzen, welche ich an mir so zu beklagen habe.«

»Ja, dazu bin ich sehr gern bereit. Freilich der Wirthschaft werden wir uns nicht ausschließlich widmen können. Es giebt noch Anderes, was unser volles Interesse in Anspruch nehmen wird.«

»Anderes?«

»Ja, und zwar höchst Interessantes.«

»Was könnte das sein?«

»Etwas, was Du niemals errathen würdest.«

»So will ich lieber gar nicht rathen und Dich also bitten, es mir gleich mitzutheilen.«

»Ja, ich brenne vor Begierde, es Dir zu sagen. Ich werde nicht der einzige Besuch sein, welchen Du auf Schloß Steinegg empfängst.«

Milda machte nicht ein Gesicht, als ob sie sich über diese Mittheilung erfreut fühle.

»Noch anderen Besuch?« fragte sie.

»Ja. Du scheinst nicht davon erbaut zu sein?«

»Ich weiß ja nicht, wen Du meinst.«

»Nun, ich habe Dir ja gesagt, daß es sich um etwas sehr Interessantes handelt. Ah!«

Der letztere Ausruf war mit ganz eigenartiger Betonung ausgesprochen, etwa so, wie Einer, dem etwas Unangenehmes widerfährt, ›Nanu!‹; sagen würde. Er galt einer Person, welche soeben eingetreten war, sich im Zimmer umgesehen hatte und nun langsam auf den Tisch, an welchem die beiden Mädchen saßen, zugeschritten kam.

»Ich glaube gar, dieser Mensch will sich hieher zu uns setzen!«

»Er hätte ein Recht dazu. Dieses Lokal ist ja ein öffentliches,« meinte Milda in versöhnlichem Tone.

»Was nennst Du öffentlich! Es muß selbst in größter Oeffentlichkeit, und da gerade erst recht, darauf gesehen werden, daß ein Jeder die Würde seines Standes zu wahren vermag. Ah, wirklich, der Mensch wagt es, der Strolch!«

Der, von welchem sie sprach, trug kurze Hosen, so daß seine Kniee nackt hervorblickten, Wadenstrümpfe und derbe, rindslederne Bergschuhe. In seinem breiten, wollenen Gürtel steckte eine kurze Tabakspfeife. Aus der Tasche seiner Weste hing eine dünne, messigene Uhrkette. Sein Halstuch war von Baumwolle und sehr leger gebunden. Der breite Kragen des groben Hemdes war weder gestärkt, noch geplättet. Sein Hut war alt und zerknillt und der Stock, welchen er in der Hand hatte, schien einfach im Walde abgeschnitten worden zu sein. Sein Gesicht war – schön, männlich schön, scharf und kühn gezeichnet, und gewisse Parthieen desselben ließen vermuthen, daß es noch vor kurzer Zeit sehr wetterbraun gewesen sei.

Dieser junge Mann war kein Anderer als – der Krikelanton. Er trug seine alte, ärmliche Gebirgstracht.

»Grüß Gott!« sagte er. »Mit Verlaubnissen, meine Damen!«

Milda nickte leise; Asta aber that, als ob sie ihn weder gesehen noch seinen Gruß gehört habe.

»Gebens mal ein Bierl her!« sagte er zu dem Kellner, welcher soeben vorüber ging.

Der dienstbare Geist brachte das Verlangte, und der Krikelanton zog ein kleines, altes Beutelchen aus der Tasche und suchte die nöthige Anzahl einzelner Kupferkreuzer aus demselben hervor.

»Kellner,« sagte Asta, »nicht wahr, hier ist der Wartesalon erster Klasse?«

»Ja, meine Dame.«

»Dürfen Passagiere anderer Classen hier verkehren?«

»Verkehren? Ja.«

»Ich denke, das ist untersagt!«

»Nein, nämlich der nothwendige Verkehr. Es kann doch vorkommen, daß ein Passagier niederer Classe mit einem höherer Classe zu sprechen hat.«

»Davon spreche ich nicht. Ich frage, ob ein Passagier niederer Classe hier Platz nehmen und sein Bier verzehren darf grad wie Einer, welcher für erste Classe bezahlt.«

»Nein.«

»Nun, dann sorgen Sie schleunigst dafür, daß dieser Mann hier sich dahin plazirt, wohin er gehört.«

Der Anton that, als ob ihm dies gar nicht gelte. Er setzte das Glas an den Mund und that einen kräftigen, vergnügten Schluck aus demselben, setzte es wieder nieder und schnalzte mit der Zunge wie Einer, dem es sehr gut geschmeckt hat.

»Haben Sie es gehört?« fragte der Kellner.

»Was?«

»Sie sollen dahin gehen, wohin Sie gehören.«

»Da bin ich bereits schon.«

»So? Wohin gehören Sie?«

»Hierher auf dem Bahnhofen.«

»Sie befinden sich aber gegenwärtig im Wartesalon der ersten Classe!«

»So? Das ist halt schon richtig. Da will ich ja auch sein.«

»Ach so!« dehnte der Kellner. »Sie wollen erster Classe fahren, Sie etwa?«

»Ja. Habens vielleichten was dagegen?«

»Mit Ihren einzelnen Kreuzern!«

Da blitzte der Anton ihn aus seinen dunklen Augen an und fragte ihn: »Hörens mal, Sie guts Gschnappsel, wer sinds dann eigentlich, daß mir in dieser Weisen kommen?«

»Ich bin der Kellner hier. Verstanden!«

»Na, da sinds auch was rechts! So ein Bierl einschenken und herumitragen und den Frack schwenken und mit dera Servietten wedeln, das kann halt ein jeder dumme Jungen. Ich will nicht sagen, daß Sie auch einer sind, mich abern lassens aus, sonst fang ich auch an zu wedeln, aberst halt nicht mit dera Servietten!«

Er hatte das so laut gesagt, daß man es durch das ganze Zimmer hören konnte. Die Herrschaften wurden aufmerksam auf ihn. Der Kellner warf sich in Positur und antwortete:

»Was, auch noch grob werden wollen Sie! Das fehlte noch, hier im Wartesaale erster Classe. Ich fordere Sie hiermit auf, das Zimmer zu verlassen.«

»Du armes Männerl, Du hättst das Geschicken, mich aufzufordern! Du bist ein dienstbarer Geisten. Wann ich außigehen soll, so muß es mir ein ganz Anderer sagen als Du bist.«

»Gut! Der Andere soll sogleich kommen!«

Er ging, und der Anton nahm so ruhig und gleichmüthig einen zweiten Schluck Bier, als ob nicht das Geringste vorgekommen sei. Jetzt kam der Wirth, an seiner Seite der Kellner.

»Da sitzt er,« sagte der Letztere.

Kein Mensch im Zimmer sprach ein Wort. Alle wollten erfahren, was gesprochen wurde, und wie der arme Gebirgler sich verhalten werde.

»Mein Kellner hat Ihnen befohlen, das Local zu verlassen?« fragte der Wirth.

Der Anton nickte.

»Gesagt hat ers, aberst befohlen hat er mirs nicht, denn er hat mir nix zu befehlen!«

»Er hat es an meiner Stelle gethan!«

»So? Wer sinds dann eigentlich?«

»Der Wirth.«

»Das will ich schon bereits gelten lassen, denn das geht doch ein Bisserl weitern hinaufi: erst dera Kellnern und nachhero dera Wirthen. Dann bin ich neubegierig, wer nun noch kommen wird!«

»Niemand. Ich befehle Ihnen, zu gehen, und Sie haben zu gehorchen!«

»So! Und wenn ich nun nicht gehorch?«

»So lasse ich Sie mit Gewalt hinausbringen!«

»Das könnens versuchen! Ich werds gar gern darauf ankommen lassen.«

»Also Sie gehen nicht freiwillig?«

»Nein!«

»So hole ich Polizei!«

»Das machens ja, mein scharmanter Herr Wirthen. Dir Polizeien wird Ihnen sodann sagen, obs hier Jemand hinauswerfen können, der herkommen ist, wo mit dera Eisenbahn zu fahren. Für solche Passagiererln sind die Stuben da!«

»Aber die erste Classe nicht für Sie!«

»So! Fahrt Ihr Herr Kellnern etwan erster Classen? Dann, wann nicht, so soll er bei Denen bedienen, die niedriger Classe fahren! Verstanden!«

Die Anwesenden steckten die Köpfe zusammen. Sie waren überzeugt, daß er nicht herein gehöre; aber daß er sich nicht werfen ließ, sicherte ihn ihrer stillen Sympathie. Nur Asta von Zelba sagte in befehlendem Tone zum Wirthe:

»Bitte, beenden Sie diese widerwärtige Scene! Es ist ja ein Skandal!«

»Sofort gnädiges Fräulein! Ich hole Polizei!«

Er ging und kehrte baldigst mit dem Stationär zurück. Dieser machte ein sehr grimmiges Gesicht, faßte den Anton bei der Schulter und sagte ganz einfach:

»Komm Bursche! Hier bist Du am unrechten Platz!«

Da stand der Anton langsam auf. Schon glaubten die Anwesenden, daß er dem Polizisten folgen werde; aber er wirbelte nur die Spitzen seines prächtigen Schnurrbartes in die Luft und sagte:

»Hörens mal, zunächst verbitt ich mir das Du! Ich glaub nicht, daß ich mit Ihnen oder Sie mit mir die Schweinen gehütet haben! Und das Wort Burschen, das könnens meinetwegen anwenden, wanns mal mit sich selberst reden! Und wo ich am richtigen oder am falschen Platzen bin, das muß ich am Allernbesten wissen. Ich bin höflich hereinikommen, hab grüßt und um Erlaubnissen beten, mich hierher setzen zu dürfen. Weiterst hab ich nix zu thun, und weiterst hab ich auch nix than. Ich hab auch mein Bierl zahlt, und nun möcht ich doch fast wissen, warum ich hier nicht sitzen bleiben darf!«

»Weil Sie nicht hier herein gehören!«

»So? Wer sagt das?«

»Ich. Oder fahren Sie vielleicht erster Klasse?«

»Ja.«

»So – o – s – o – o! Das glaube ich nicht. Sie sehen gar nicht nach erster Classe aus!«

»Na, nach welchern sehens dann wohl Sie aus?«

»Werden Sie nicht grob!«

»Ach, aberst Sie haben wohl das Recht, mit denen Passagieren erster Classen grob zu sein? Da werd ich mich doch mal bei dera vorgesetzten Behörden derkundigen. Wann Einer sein Geldl zahlt wie ein jeder Andrer und nix than hat, gar nix, und muß sich vom Kellnern, vom Wirthen und sodann auch noch von dera Polizeien verinjuriren lassen, das ist mir schon die rechte Art und Weisen. Da werd ich doch mal gleich beim Ministerl anfragen. Verstanden!«

»Sie haben nicht zu räsonniren. Zeigen Sie mir Ihr Billet erster Classe!«

»Das hab ich noch nicht.«

»So gehen Sie eben fort! Hier dürfen nur solche Leute verkehren, welche sich durch den Besitz des Billets legitimiren können.«

»Wann kein Billetenschaltern offen ist, so kann ich mir keins kaufen. Und nun seins doch mal so gut, und fragens die andern Herrschafterln nach denen Billeten! Gar Mancher, der gut hier herein gehört, wird sich noch keins kauft haben.«

»Das ist wahr!« ließ sich ein Herr hören.

»So sagen Sie, wer Sie sind?« fragte der Polizist.

»Ich bin dera Anton Warschauer geheißen.«

»Ach, etwa gar der Krikelanton?« fragte der Wirth.

»Ja.«

»So, also der Wilddieb.«

»Was? Wilddieb sagst? Na da werd ich Dir sogleich einen Gamsbock schießen, dent heimitragen magst!«

Er holte aus und gab dem Wirth eine Ohrfeige, daß der Getroffene sofort niederstürzte. Da sprang der Polizist auf den Anton ein, faßte ihm beim Arme und herrschte ihn an:

»Mensch, Sie vergreifen sich an dem Wirth! Jetzt sind Sie mein Arrestant!«

»So? Dann verarretiren Sie vorher den Wirthen, der mich beleidigt hat!«

»Was ich thun werde, das haben Sie mir nicht zu befehlen. Sie sind ein Ruhestörer und renitenter Mensch. Sie müssen bestraft werden. Kommen Sie! Vorwärts marsch!«

Da trat der Herr herbei, welcher bereits vorhin gesprochen hatte, und sagte zum Polizisten:

»Sie haben nicht das mindeste Recht, diesen Herrn zu arretiren. Er hat sich ganz anständig betragen. Er ist provocirt worden von einer Dame, welche selbst noch nicht bewiesen hat, daß sie sich im Besitze eines Billetes erster Classe befindet. Daß er dem Wirthe eine Ohrfeige gegeben hat, ist kein Grund zur Arretur. Der Wirth hat ihn geschimpft, und ich an seiner Stelle hätte ebenso mit einer Ohrfeige geantwortet. Ihr Verhalten ist auch nicht correct. Sie sind über Ihre Befugnisse hinausgegangen; das muß ich ernstlich rügen!«

»So!« meinte der Polizist kleinlaut. »Wer sind Sie denn, mein Herr?«

»Der!«

»Er zog eine große, glänzende Medaille aus der Tasche und zeigte sie ihm.

»Herrgott! Verzeihung, allergnädigst – – –«

»Still! Entfernen Sie sich!«

Der Polizist ging; der Kellner verschwand, und der Wirth trug in aller Stille seine Ohrfeige hinaus. Der Anton aber sagte zu dem Fremden:

»Habens auch von Herzen Dank, gnädiger Herr! Es gefreut mich halt sehr, daß doch Einer hier wesen ist, der da wußt hat, was Gerechtigkeiten ist!«

Er setzte sich wieder nieder. Es war still in dem Salon. Da ließ sich Asta's Stimme laut hören:

»Bitte, Milda, komm! Vielleicht giebt es draußen anständigere Umgebung als hier!«

Sie stand auf und verschwand hinter der Thür des andern Wartezimmers. Milda von Alberg befand sich sichtlich in größter Verlegenheit. Sie war glühend roth geworden. Sie wollte die Freundin nicht verlassen, aber auch nicht vor so vielen Leuten durch ihre Entfernung constatiren, daß sie die Ansicht Asta's theile. Der Krikelanton sah das. Er kam ihr zu Hilfe:

»Gehens in Gottes Namen mit hinaus, Fräulein,« sagte er. »Ich weiß halt ganz genau, daß sie nicht so sind wie die Andre. Sie, wanns auf Sie ankommen wär, Sie hätten mich nimmer fortweisen lassen. Dazu ist halt Ihr Gesichterl zu lieb und zu gut. Also gehens immer!«

»Bravo, bravo!« riefen mehrere Stimmen.

Milda erglühte wie eine Rose. Sie blieb noch ein kleines Weilchen sitzen und entfernte sich dann.

Draußen im Wartezimmer zweiter Classe saß ihre Freundin.

»Nun, kommst Du endlich?« fragte diese in zürnendem Tone. »Das scheint doch beinahe, als ob Du mich verleugnen wolltest, als ob Du Dich meiner schämtest.«

»Was denkst Du! Ich folgte nicht sofort, um den Affront nicht zu vergrößern.«

»Affront? Wer hat ihn verursacht? Ich oder dieses Subject, welches uns in dieser Weise blamirte?«

»Bitte, Asta, regen wir uns nicht weiter auf; freuen wir uns vielmehr, daß wir einander wieder haben! Ich bitte Dich!«

Die schöne Blondine zog die Stirne in Falten, zuckte die vollen Schultern, was ihr ein äußerst indignirtes Aussehen gab, und antwortete:

»Nun ja. Du bist immer ein klein Wenig plebejisch gesinnt gewesen. Nimm mirs nicht übel; aber ich gebe es auf, Dich zu ändern. Vergessen wir also dieses so unangenehme Intermezzo, obgleich ich am Allerliebsten wieder umkehren und nach Wien zurückfahren möchte. Ich denke aber an die höchst interessante Bekanntschaft, welche ich bei Dir machen werde.«

»Ich wüßte nicht, wen Du meinen könntest!«

»Nun, aus Schloß und Stadt Steinegg ist es allerdings Niemand. Darauf kannst Du Dich verlassen. Ich glaube nicht, daß es dort eine Person giebt, welcher ich meine Beachtung schenken werde.«

»Ich hoffe doch!«

»Ich? Wem zum Beispiel?«

»Da ist zum Beispiel eine mir sehr sympathische Dame: Frau Bürgermeister Holberg. Sie ist Wittwe – – –«

»Hm! Eine Bürgermeisterswittwe! Fi donc

»Eine sehr gebildete Dame!«

»Dame? Doch bürgerlich?«

Nun, meinst Du, daß es keine bürgerliche Dame geben könne?«

»Nein, die kann es freilich nicht geben. Eine Dame muß meiner Ansicht nach unbedingt von Adel sein. Also Deine Freundin kann mir nicht imponiren.«

»Das wird sie auf keinen Fall. Ihr ganzes Wesen ist gar nicht aufs Imponiren angelegt. Sie ist eine sehr liebe, stille, bescheidene Seele, welche ihren reichen Schatz an Kenntnissen und Erfahrungen kaum ahnen läßt, weißt Du, so eine tief angelegte Natur, aus welcher man immer neue Schätze empor fördert, sobald sie sich Einem einmal geöffnet hat.«

»Also eine Art Schacht?« spottete Asta.

»Ja,« antwortete Milda, über den Spott hinweggehend, »wirklich ein reicher Schacht.«

»Oder ein Stollen, eine Kohlengrube. Einmal von Weitem werde ich sie mir wohl ansehen; aber nahe kommen werde ich ihr auf keinen Fall. Kohlengruben haben für mich stets etwas Beängstigendes. Ich lasse sie Dir also über, ohne in die geringste Concurrenz mit Dir zu treten. Lieber werde ich mich mit der neuen Bekanntschaft sehr eingehend beschäftigen.«

»So sage mir doch endlich, wen Du meinst!«

»Es wird Dich außerordentlich überraschen, es zu vernehmen. Du liebst ja auch die Kunst.«

»Also sprichst Du von einem Künstler oder von einer Künstlerin?«

»Von Einem, nicht von Einer natürlich.«

»Und den willst Du bei mir kennen lernen?«

»Ja.«

»Auf Schloß Steinegg?«

»Freilich.«

»Da dürftest Du Dich täuschen. Außer eben Frau Bürgermeister Holberg, welche eine angenehme Stimme hat, sehr reizend singt und mit mir zuweilen musicirt, giebt es auf und in Steinegg keine Person, welcher ich den Rang eines Künstlers zusprechen möchte.«

»Schon wieder diese Frau Bürgermeisterin! Ich spreche aber ja von gar keiner sich in Steinegg befindenden Person, sondern von einem Herrn, welcher aus Wien kommen wird, sich Dir vorzustellen.«

»Aus Wien? Ein Künstler? Ich weiß wirklich nicht, welcher das sein könnte. Mit welcher Abtheilung der Kunst beschäftigt er sich?«

»Mit dem Gesange.«

»Also ein Sänger? Ich wüßte keinen einzigen Sänger der Hauptstadt, welcher Veranlassung haben könnte, sich mir auf Schloß Steinegg vorzustellen.«

»Das ist eben das Hochinteressante, daß Du ihn gar nicht kennst!«

»Ich! Also ein Herr Deiner Bekanntschaft?«

»Nein, auch nicht. Ich habe ihn weder gesehen noch gehört; aber ich brenne vor Begierde, ihn kennen zu lernen.«

»Aber, liebste Asta, so begreife ich nicht, ans welchem Grunde er grad zu mir will!«

»Aus dem sehr einfachen und sehr triftigen Grunde, daß Dein Vater ihn zu Dir schickt.«

»Mein Vater?« fragte Milda erstaunt. »Der? Der schickt mir einen Sänger?«

»Ja, meine Liebe!«

»Unglaublich! Mein Vater, welcher mich zwar nicht meiner Ansicht nach, sondern zufolge des Urtheils Anderer fast zu streng, beinahe klösterlich erzogen hat, mein Vater, welcher so unausgesetzt jede männliche Bekanntschaft von mir fern hielt, sendet mir einen Künstler, einen Sänger nach Steinegg, welches ich, wie er weiß, in solcher Einsamkeit bewohne!«

»So ist es.«

»Du mußt Dich irren, vollständig irren!«

»O nein. Er hat mir sogar, bevor ich abreiste, gewisse Instructionen in Beziehung auf diesen jungen Herrn ertheilt.«

»Also jung sogar! Ich begreife nicht!«

»Ich werde es Dir erklären müssen.«

»Natürlich bitte ich Dich sehr darum!«

»Nun, Du kennst doch den Professor der Musik, Weinhold?«

»Freilich. Er war mein Clavier- und Gesangslehrer, eine ausgesprochene Capacität in seinem Fache.«

»Nun, dieser Professor hat eine neue Gesangesgröße entdeckt, einen Tenor, der ohne Gleichen sein soll.«

»Ach! Wo?«

»Das ist Geheimniß, wenigstens konnte ich bisher nichts Gewisses erfahren. Dein Vater weiß es, aber er scheint Diskretion versprochen zu haben, denn ich vermochte mit allen meinen Bitten nicht, ihm eine Mittheilung abzulocken.«

»Das klingt ja außerordentlich geheimnißvoll!«

»Ist es auch, ist es auch wirklich. Also besagte Stimme ist entdeckt worden, irgendwo und vor ganz kurzer Zeit. Der Professor hat den Betreffenden mit nach Wien gebracht und ihm im Stillen den ersten Unterricht ertheilt. Der Sänger scheint ein Unicum zu sein, denn nicht nur seine Kehle ist einzig, sondern auch seine übrige Begabung soll eine so brillante sein, daß er in Zeit von wenigen Wochen Fortschritte zu verzeichnen hat, zu welchen bei Anderen Monate und wohl gar noch längere Fristen gehören. Du weißt, daß der Professor eben als Capacität bei den hohen und höchsten Herrschaften Zutritt hat. Auch wird er von ihnen in seinem Hause besucht. Eines Tages steigt die Fürstin Metternich vor seiner Thür aus dem Phaeton, um ihn irgend einer Composition zu interviewen. Sie gelangt, da seine Vorsaalthür zufälliger Weise offen steht, in seine Wohnung, ohne klingeln zu müssen. Niemand hat eine Ahnung von ihrer Gegenwart – da hört sie vom Vorzimmer aus eine Stimme – eine männliche, wunderbare Stimme, welche zur Pianobegleitung ein Lied singt. Sie hat noch nie so eine Stimme gehört, sie, welche die Künstler aller Länder und Welten gehört hat. Sie lauscht, sie hört das Lied zu Ende und ist unendlich entzückt und begeistert. Sie öffnet die Thür, ohne anzuklopfen, und überrascht den Professor beim Unterrichte, welchen er seinem neuen Findling giebt. Er muß erzählen, und die Folge ist, daß die neue Stimme zur Soirée der Fürstin befohlen wird. Der Professor weigert sich, er will nicht, aber er muß. Am Abend trägt der neu Entdeckte einige Piécen vor, natürlich vor höchsten Herrschaften, und erntet einen Beifall, wie er noch gar nicht gehört worden sein soll. Alle Welt will ihn nun hören. Alle Salons sind ihm geöffnet. Eine der allerhöchsten Damen; ich weiß nicht, ob eine der Erzherzoginnen oder gar die kaiserliche Majestät selbst, wünscht auch, ihn zu hören. Er erhält Audienz und singt mit ganz dem gleichen Erfolge. Eine Stimme wie die seinige soll noch gar nie gehört worden sein. Der hohe Herr Gemahl wird herbei gebeten; er hört den Sänger auch und ist für dessen Stimme so begeistert, daß er sich für seine Ausbildung auf das Lebhafteste zu interessiren beginnt. Der von Gott Begnadete soll sich nicht vorzeitig in den Salons verausgaben, sondern er soll studiren, ernsthaft arbeiten, um baldigst zur Vollkommenheit zu gelangen. Dazu aber ist Wien für ihn der Ort nicht. Man würde ihm keine Ruhe gönnen; er müßte singen, singen und immer wieder singen und fänd dabei nicht eine Stunde Zeit zur Ausbildung. Darum muß er fort, und zwar an einen Ort, welchen Niemand kennt, damit er nicht von den Kunstenthusiasten aufgesucht und entführt wird. Man wendet sich an Deinen Vater, und dieser ist ganz entzückt, Schloß Steinegg zur Verfügung stellen zu können.«

»So also ist es, so!«

»Ja. Du begreifst, daß es Deinem Vater ganz bedeutende Chancen macht, sich auf diese Weise den höchsten Herrschaften verbinden zu können. Der unbekannte Sänger ist bereits personna grata und wird es später unbedingt noch mehr werden. Also kannst Du Dich rüsten, ihn so zu empfangen, daß – – – verstehst Du mich?«

»Vollständig!«

»Der Professor kommt auch mit. Es soll auf Schloß Steinegg ganz im Stillen einige Monate lang geübt werden, und dann soll er plötzlich, und ganz unvorhergemeldet mit einer bedeutenden Leistung an die Öffentlichkeit treten, Und nicht blos der Professor allein soll an seiner Ausbildung arbeiten, sondern es sind noch zwei andere Personen dazu ausersehen.«

»Noch zwei Lehrer, welche nach Steinegg kommen?«

»Lehrerinnen!«

»O wehe!«

»Nicht o wehe, sondern ganz das Gegentheil!«

»So wird mein liebes Steinegg ja zur wirklichen Unterrichtsanstalt!«

»Freilich. Ich bin ganz entzückt darüber!«

»Ich weniger.«

»Warum?«

»Nun, daß ich meinen lieben Professor für längere Zeit bei mir haben soll, das freut mich. Daß der Sänger bei mir ausgebildet werden soll, ist mir sogar eine Ehre. Ich werde ihnen Beiden gern die Thore öffnen. Aber daß ich noch zweien Lehrerinnen gastlich – – – das ist mir unbequem.«

»Weißt Du denn, wer sie sind!«

»Gleich viel, wer sie sind!«

»Nein, denn die Eine bin ich, und die –«

»Du? Du? Unmöglich!«

»Ja, ich! Und die Andere sollst Du sein. Du selbst, liebe Milda!«

»Du scherzest!«

»Es ist mein völligster Ernst.«

»Ich, Lehrerin eines angehenden Künstlers! Bist Du toll! Ich wüßte nicht, was er von mir lernen sollte!«

»Anstand!«

»Was? Anstand?«

»Ja, Anstand und Tournüre!«

»Höre, das klingt höchst sonderbar!«

»Und ist doch so sehr einfach. Er soll nämlich, wie Dein Vater mir mittheilt, sich bisher nicht in sehr exclusiven Verhältnissen befunden haben, und in Folge dessen ist es ihm noch schwierig, sich in höheren Kreisen als souverainer Künstler zu bewegen. Eine alte Erfahrung aber lehrt, daß man diesen Chic sich am Leichtesten und Schnellsten und am Sichersten im Umgange mit gewandten und liebenswürdigen Damen aneignet. Diese beiden Eigenschaften besitzen wir. Du bist sehr liebenswürdig, und ich schmeichle mir, gewandt zu sein. Voila tout! Einverstanden?«

»Ich möchte das doch noch immer für einen Scherz Deinerseits halten.«

»Das darfst Du nicht; es ist völliger Ernst. Der betreffende Herr mag wohl einige kleine Ecken und Härten besitzen, welche er in unserer Gesellschaft verlieren soll. Nun, ich will mich dieser Aufgabe sehr fleißig und mit aller Sorgfalt widmen, denn ich habe gehört, daß er – im Vertrauen zu Dir gesagt – ein außerordentlich hübscher Kerl sein soll.«

»Kerl! Asta!«

»Pah! Unter vier Augen ist selbst ein solcher Ausdruck einmal gestattet!«

»Also, das hast Du bereits gehört?«

»Ja. Sein Aeußeres soll sehr vielversprechend sein. Du weißt, daß ich mich stets besonders gern mit den Vorzügen des starken Geschlechtes beschäftigt habe. Ich gehöre zu den umworbensten Mitgliedern unserer ›weiblichen Phalanx‹;, und so ist es für mich vom größten Interesse, zu probiren, ob ich diesen ›Neuentdeckten‹; besiegen werde oder ob er Sieger über mich sein wird.«

»Asta, ich bitte Dich!«

»Bitte, sei nicht prüde! Tugendhaft sind wir ja Alle, denn man beobachtet uns. Aber sobald wir uns unter uns befinden, können wir den lästigen Schleier ablegen. Ich halte es mit der Liebe, denn ich bin jung und schön. Wäre ich alt und häßlich, so würde ich mich nach einem anderen Sport umsehen.«

Diese mehr als aufrichtigen Auslassungen machten einen höchst peinlichen Eindruck auf Milda. Die schöne Blondine nannte sich zwar ihre Freundin, aber von Milda's Seite war diese Freundschaft viel mehr eine Bekanntschaft gewesen. Von Herzen hatte sie sich nie zu ihr hingezogen gefühlt. Sie hatte auch recht wohl gewußt, daß Asta eine mehr sinnlich als geistig bevorzugte Natur sei; aber daß sie solche Grundsätze wie jetzt entwickeln könne, hatte sie freilich nicht geahnt. Sie fühlte sich abgestoßen und hätte wohl eine nicht sehr freundliche Bemerkung gemacht, wenn nicht gerade jetzt das erste Glockenzeichen für den Abgang des Zuges gegeben worden wäre. Das überhob sie der Gelegenheit, einen so schnellen Riß zwischen sich und Asta entstehen zu lassen. Beide begaben sich hinaus an den Zug, wohin Asta ihr Gepäck sich nachkommen ließ.

Sie hätten sich ganz ungestört weiter unterhalten können, denn es stieg Niemand weiter bei ihnen ein. Jetzt läutete es zum dritten Male. Die Schaffner schlugen die ja noch aufstehenden Thüren zu.

»Steinegg, erster Classe!« rief eine Stimme.

»Was? Sie wollen erster Classe fahren?«

»Ja.«

»Das muß ein Irrthum sein. Zeigen Sie Ihr Billet!«

»Hier!«

»Ah, wirklich! Also schnell, schnell, hier herein!«

Der Schaffner riß die Coupéethüre auf, und die beiden Mädchen sahen – – den Krikelanton einsteigen, Milda zu ihrem geheimen Ergötzen, Asta aber zu ihrem größten Aerger.

»Ihr Diener!« grüßte er höflich und setzte sich nieder.

Milda nickte ihm zu, Asta aber zuckte verächtlich die Achsel und wendete sich ab. Auf der nächsten Station bat sie den Schaffner um ein anderes Coupée, mußte aber zu ihrem Grimme vernehmen, daß alle anderen Plätze dieser Classe bereits besetzt seien. Sie mußte sich drein ergeben, mit diesem entsetzlichen Menschen bis Steinegg fahren zu müssen.

Dort wartete ihrer eine Equipage, welche sie nach dem Schlosse brachte. Der Erste, welcher ihnen entgegentrat, war – Professor Weinhold, welcher mit dem vorigen Zuge angekommen war und sich durch einen Brief des Barons von Alberg legitimirte, welchen er der Tochter überreichte.

Der Vater schrieb Milda ganz dasselbe, was sie bereits von Asta gehört hatte, und fügte allerlei wirthschaftliche und andere Bemerkungen hinzu, welche sich auf ihr Verhalten zum Professor und dessen Schüler bezogen. Nach diesem Letzteren befragt, erklärte der Professor, daß derselbe nicht direct von Wien hierher gefahren sei, sondern vorher einen kurzen Abstecher nach seiner Heimath gemacht habe, aber heut ganz gewiß noch ankommen werde. Es wurde sofort dafür gesorgt, daß er bei seiner Ankunft alle nöthigen Bequemlichkeiten vorfinden werde.

Der Krikelanton hatte sich, nachdem er am Bahnhofe aus dem Coupée gestiegen war, nach dem Gasthause begeben, wohin er seine Effecten vorausgeschickt hatte. Dort ließ er sich ein Zimmer geben und befahl den Friseur zu sich. Als er später wieder in die Gaststube trat, starrte ihn der Wirth offenen Mundes an.

»Ah, Verzeihung?« sagte er. »Ich weiß nicht – weiß nicht – aber sind Sie der Herr, welcher sich vorhin Nummer Drei anweisen ließ?«

»Ja.«

»Dann begreife ich nicht – –! Welch eine Veränderung ist da mit Ihnen vorgegangen! Fast hätte ich Sie für einen ganz Andern gehalten.«

Anton begab sich nach dem Schlosse. Er trug einen höchst eleganten Anzug, den Frack unter dem Ueberrocke. Auch sein Gang, seine Haltung war eine ganz andere. Der Aufenthalt in Wien hatte zwar keineswegs lange gedauert, war aber doch von sehr günstigem Einflüsse auf sein Aeußeres gewesen. Auch des Hochdeutschen war er nun mächtig, so daß er nicht befürchten mußte, sich eine Blöse zu geben.

Im Schlosse angekommen, fragte er den Diener nach dem Professor und wurde zu demselben geführt. Dieser ließ sogleich die Baronesse benachrichtigen, daß Herr Warschauer angekommen sei. Zugleich ließ er anfragen, wann es gestattet sei, denselben vorzustellen.

»Was meinst Du?« fragte Milda. »Es ist bereits Dämmerung, also Abend. Sollten wir nicht so rücksichtsvoll sein, ihn erst bis morgen von seiner Reise ausruhen zu lassen?«

»Ausruhen? Wozu?«

»Nun, er ist soeben erst angekommen; darum sollten wir – – ah, da fällt mir ein, daß ja seit dem unserigen kein weiterer Zug gekommen ist!«

»Wirklich? Dann hat er sich bereits heute hier befunden, oder er ist mit einer anderen Gelegenheit hier angekommen. Auf keinen Fall aber ist er so ermüdet, daß wir ihn bis morgen schonen müßten. Wir wollen ihn sehen. Und wie heißt er? Warschauer? Allerdings kein sehr distinguirter Name. Klingt fast wie ein Jude. Bruder Straubinger, Bruder Warschauer! Hm! Mir ists, als ob ich diesen Namen erst kürzlich gehört hätte.«

»Mir auch.«

»Aber wo?«

»Ich kann mich nicht besinnen.«

»Ich auch nicht.«

»Nun, so – aber, höre, da fällt mir ein! Weißt Du, wer Warschauer hieß? Anton Warschauer?«

»Nun, wer?«

»Der Passagier, welcher mit in unserem Coupée saß.«

»Ja, wahrhaftig. Du hast Recht. Jetzt fällt auch mir es ein. Anton Warschauer nannte er sich, als der Polizist ihn nach seinem Namen fragte. Aber das ist auf alle Fälle nur ein Zufall. Du meinst doch nicht etwa, daß dieser Mensch und der Sänger eine Person seien?«

»Das möchte ich nicht glauben.«

»Es ist ganz unmöglich! Die hoch interessante Person, von welcher ich gehört habe, und dieser freche Kerl können gar nicht identisch sein. Also, wollen wir ihn jetzt kommen lassen?«

»Wenn Du meinst?«

»Ja, ich meine es. Nun, was giebts?«

Diese Frage war an den wieder eintretenden Diener gerichtet.

»Frau Bürgermeister Holberg ist da,« meldete er.

»Kann wieder gehen!« befahl Asta ganz so, als ob sie die Herrin des Hauses sei.

»Verzeihe,« fiel Milda ein. »Ich möchte sie doch empfangen.«

»Aber Du siehst doch ein, daß wir jetzt keine Zeit für sie übrig haben!«

»O doch!« erklärte die Herrin leise, um dem wartenden Diener nicht hören zu lassen, was sie mit der Freundin spreche. »Ich muß Dir nämlich ein Geständniß machen, liebe Asta.«

»Nun?«

»Als Du mir gestern telegraphirtest, daß Du heute kommen würdest, war die Dame gerade bei mir, und in meiner Freude über Deine Ankunft lud ich sie ein, mich jetzt zu besuchen. Ich wollte sie Dir vorstellen, da ich ja unmöglich wissen konnte, daß Du in dieser Weise dagegen sein werdest. Nun ist sie da, und ich kann sie unmöglich wieder fortschicken.«

»Das ist mir höchst fatal. Du hättest mit dieser Einladung warten sollen, bis Du wußtest, ob es mir angenehm sei oder nicht. Ich bin nun einmal auf solche Bekanntschaften nicht passionirt.«

»Aber dieses eine Mal wirst Du es mir zu Liebe über Dich ergehen lassen, bitte!«

»Nun, nur höchst ungern, das sage ich Dir allerdings. Wie wird es aber da mit dem Sänger?«

»Den können wir trotzdem empfangen.«

»In Gegenwart dieser – Bürgermeisterin?«

»Ja. Warum nicht?«

»Weil es, streng genommen, eine Beleidigung für ihn ist, wenn Du ihn in Gegenwart einer so gewöhnlichen Person empfängst.«

»Das wohl kaum, denn er ist ja selbst bürgerlich.«

»Aber das Genie adelt ihn. Na, sie mag eintreten. Es ist aber ganz gewiß das erste und das letzte Mal, daß ich mit ihr spreche. Du darfst von mir nicht erwarten, daß ich große Herzlichkeit gegen sie zeige.«

Der Diener erhielt Befehl, die Bürgermeisterin herein zu lassen. Als die Dame hereintrat, begrüßte sie Milda wie eine lieb gewordene Person. Das Mädchen zeigte eine nicht ganz verhehlte Befangenheit, gab sich aber Mühe, sich gegen sie ganz so zutraulich wie gewöhnlich zu verhalten.

Asta hingegen nahm ihren Gruß mit hochmüthiger Herablassung hin und trat dann an den offenstehenden Flügel, um in den dort liegenden Noten herum zu blättern.

Die Bürgermeisterin war nicht eine alte Frau. Sie konnte wenig über vierzig Jahre zählen. Man sah es ihr an, daß sie sehr schön gewesen sein müsse. Ihr Auftreten war bescheiden, aber selbstbewußt. Sie mußte es unbedingt sehen und fühlen, daß sie von Asta mit Geringschätzung behandelt werde, besaß aber eine zu gute und gediegene Bildung, als daß sie ihre Indignation darüber hätte zeigen mögen.

Sonderbar! Sie und Milda waren einander in Beziehung auf die Gesichtszüge nicht im Mindesten ähnlich; hätte man aber den Hohenwalder Lehrer Max Walther zwischen Beide gestellt, so wäre es eine Unmöglichkeit gewesen, nicht zu sehen, daß er sowohl mit Milda als auch mit dieser Frau eine frappante Ähnlichkeit besitze.

Die Schloßherrin theilte ihrem Besuche mit, daß sie eben jetzt im Begriffe stehe, einen Herrn zu empfangen, welcher beabsichtige, sich als Sänger auszubilden. Sodann gab sie Befehl, Herrn Warschauer herbei zu bitten.

Die Spannung der beiden Mädchen war eine ganz bedeutende. Da öffnete der Diener die Thüre und meldete:

»Herr Professor Weinhold. Herr Warschauer!«

Die Beiden traten ein und verbeugten sich. Die Blicke trafen sich. Anton war im Frack, weißer Cravatte und eben solchen Glacéehandschuhen. Er hatte keine Ahnung, daß er hier diese beiden Damen finden werde; dennoch aber verrieth nicht ein Zug seines Gesichtes, daß er sie kenne oder gar über diese Begegnung überrascht sei.

Ganz anders Asta. Sie blickte ihn mit großen Augen an. Zunächst fragte sie sich, ob es möglich sei, daß der »Kerl« in so veränderter Gestalt jetzt vor ihr stehe, als sie aber seine Identität anerkennen mußte, konnte sie einen Ruf der Bestürzung nicht unterdrücken:

»Also doch, Milda!«

Und sie, die sich nicht beherrschen konnte, wollte in Beziehung auf Umgangsform seine Lehrerin sein!

Milda war ebenso betroffen wie ihre Freundin, wenigstens einen kurzen Moment lang; dann aber fühlte sie eine innere Freude darüber, daß es gerade so und nicht anders sei. Sie war nicht schadenfroh, aber sie sagte sich doch, daß Asta diese Niederlage mehr als voll verdient habe.

»Meine Damen,« stellte der Professor vor, »gestatten Sie mir, Ihnen meinen jungen Freund und Schüler, Herrn Warschauer, dringend zu empfehlen! Er ist ebenso wie ich in der Lage, Ihrer Freundlichkeit und Nachsicht zu bedürfen.«

Milda gab ihm und dann auch Anton die Hand und sagte zu dem Letzteren:

»Sie sind mir herzlichst willkommen. Papa schreibt mir viel Liebes und Gutes von Ihnen, und es soll mich aufrichtig freuen, wenn ich Ihnen den schweren Weg, welchen Sie so muthig betreten haben, ein Wenig erleichtern kann. – Hier, meine Freundin Baronesse Asta von Zella.«

Die Beiden standen einander gegenüber. Ihre Augen trafen sich mit prüfendem Blick. Der seinige blieb ruhig und fest auf ihr haften; sie aber senkte ihr Auge. Es war ihr unmöglich, ihn so wie er sie anzusehen. Dann wendete er sich zu Milda:

»Gnädige Baronesse, ich komme unfreiwillig als Einer, dem Sie einen Theil der Traulichkeit Ihres Heims zum Opfer bringen sollen. Ich kann mich nicht selbst entschuldigen, und Sie sollen selbst entscheiden, ob ich ein strenges Urtheil verdiene oder nicht.«

Wie klang das so ganz anders als vorher auf dem Bahnhofe! Asta's Augen blitzten unwillkürlich auf, und als er sich jetzt zu der Bürgermeisterin wandte, um auch dieser vorgestellt zu werden, da folgte sie seinen Bewegungen mit hellen Blicken.

Wie war es nur möglich, daß sie diesen jungen Mann auf dem Bahnhofe so hatte beleidigen können? Diese kräftige, ebenmäßige Gestalt, diese gewandten Bewegungen, die eigenartigen, männlich schönen Züge, das große, dunkle, gluthvolle Auge – ja, er war schön, und er war sogar noch mehr, er war interessant, höchst interessant.

Sie beschloß ihren großen Fehler durch gesteigerte Liebenswürdigkeit wieder gut zu machen.

»Eigentlich bin ich Diejenige gewesen, welche die Ankunft der Herren hier gemeldet hat,« sagte sie. »Der Herr Baron von Alberg hatte die Güte, mich damit zu beauftragen. Ich hatte das Vergnügen, mich wiederholt mit ihm über den neuen Stern zu unterhalten, welcher so plötzlich am Himmel der Kunst erschienen ist. Leider konnte ich nicht erfahren, in welchem Sternbilde er eigentlich entdeckt wurde.«

Während die Herren sich setzten, antwortete der Professor:

»Um auf Ihr Bild einzugehen, könnte ich antworten: im Sternbilde des Steinbockes.«

»Also im Thierkreise!« lachte sie.

»Ja.« fiel Anton selbst mit ein. »Ich wurde nämlich im Gebirge entdeckt und will zur besseren Erläuterung hinzufügen, daß ich eigentlich ein Wenig Wildschütz gewesen bin.«

Dabei ließ er seinen Blick zu Asta hinüberschweifen. Sie erröthete, denn Sie dachte an die Scene im Bahnhofe, wo er den »Wilddieb« mit einer Ohrfeige beantwortet hatte.

»Ja,« fügte der Professor bei, »sonderbarer Weise macht Herr Warschauer kein Hehl daraus, daß er zuweilen das Leben gewagt hat, um sich eine Gemse zu holen. Die Herren vom Amte sind auch so scharf hinter ihm her gewesen, daß er sich nur dadurch retten konnte, daß er einen Bären tödtete, welcher dem Könige an das Leben wollte. Diese kühne That war der erste Schritt auf der Bahn, welche er jetzt zu wandeln hat. Der zweite Schritt war der fürchterlich waghalsige Aufstieg zur Felsenwand, von welcher er mir meine arme, verunglückte Frau herabholte.«

»Ich bitte, bitte, nicht weiter!« fiel Asta ein. »Das ist ja ein ganzes Verzeichniß von Heldenthaten. Gemsjäger, Bärentödter, den König gerettet, Ihre Frau Gemahlin gerettet! Dürfte man darüber nicht vielleicht etwas Näheres hören?«

Anton sträubte sich gegen die Erzählung dieser Ereignisse; aber der Professor ließ es sich nicht nehmen, die Kühnheit seines Schülers in ein helles Licht zu stellen. Anton konnte nichts dagegen thun, als hier und da einen Einwand dazwischen zu werfen, wenn der Professor sich gar zu weit hinreißen ließ.

Dadurch wurde die Unterhaltung eine außerordentlich belebte. Ein Wort gab das andere. Anton hatte keine Schule genossen, aber er war außerordentlich gut beanlagt. Er hatte seinen Aufenthalt in Wien fleißig ausgenutzt und fühlte sich in Folge des heutigen Vorkommnisses den Damen überlegen. Das gab ihm eine außerordentliche Sicherheit, und so war es kein Wunder, daß er bei seinen körperlichen Vorzügen einen höchst günstigen Eindruck machte, besonders auf Asta, welche für männliche Schönheit so sehr leicht empfänglich war.

»Und bitte, wo haben Sie ihn denn zum ersten Male singen gehört?« fragte sie.

»Das sollte ich eigentlich gar nicht erzählen,« antwortete der Professor, »denn die Rolle, welche ich dabei spiele, ist keineswegs eine sehr ehrenvolle. Es war in einem kleinen Badeorte. Ich saß in einer hoch gelegenen Restauration, zu welcher ein steiler Pfad empor führte. Herr Warschauer kam diesen Pfad herauf gestiegen und begann gerade unter meinem Fenster zu jodeln. Im beispiellosen Erstaunen über diese unvergleichliche Stimme vergaß ich, daß das Fenster geschlossen sei, und fuhr mit dem Kopfe durch das Glas. Meine Frau hat dann mit dem Hammer nachgeholfen, daß ich den Kopf wieder hereinziehen konnte. In dieser Weise wurde der Stern entdeckt. Sie sehen, meine Damen, daß der Beruf eines Kunstastronomen kein ganz ungefährlicher ist.«

»Dann muß die Stimme freilich eine außerordentliche sein!«

»Ich habe bisher meinen großen Vorrath von Kunstausdrücken und termini technici vergebens durchstöbert, um die geeigneten Ausdrücke, Herrn Warschauers Stimme zu beschreiben, zu finden.«

»Schade, daß die Herren Künstler gewöhnlich so spröde und zurückhaltend sind.«

»Wieso?«

»Sie pflegen sich nur selten zu einer kleinen Gabe erbitten zu lassen.«

»Ja, leider gehört Herr Warschauer auch unter diese Kathegorie.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Ist er so unerbittlich?«

»O nein,« antwortete Anton jetzt selbst. »Nur bin ich nicht immer gestimmt, die gewöhnliche Neugierde Jedermanns zu befriedigen. Sie werden mich hier ja täglich singen hören, wohl mehr, als Sie es wünschen mögen?«

»Und wann werden Sie beginnen?« fragte Asta, ihm einen heißen Blick zuwerfend und dann eine ziemlich bezeichnende Wendung nach dem Flügel machend.

»Sofort, nachdem ich die Erlaubniß dazu erhalten habe.«

»Und wenn Sie dieselbe nun jetzt empfangen?«

»Ah,« lachte der Professor. »Auch eine jener Diplomatinnen, welche unüberwindlich sind!«

»Das soll sich jetzt erst zeigen. Milda, Du hast doch jedenfalls ein hübsches Lied hier liegen.«

»Wohl, aber wir wollen Herrn Warschauer doch nicht gleich heute belästigen?«

»Warum nicht? Ich mache mich anheischig, ihn so lange zu bitten, bis er die Bitte erfüllt.«

Wieder sandte sie ihm einen Blick zu, welcher berechnet war, ihn verwundend zu treffen. Es war ihm ganz eigentümlich zu Muthe. Er stand auf und trat zu ihr hin.

»Sie sollen nicht lange bitten müssen, gnädiges Fräulein,« sagte er. »Bitte, suchen Sie eines der Lieder aus!«

»Gern; aber helfen Sie mit!«

Sie schob ihm einen Theil der Noten zu. Beide suchten; dabei kam es wie von Ungefähr, daß ihre Hände sich berührten. Er erröthete. Sie bemerkte es.

»Er ist mein; er ist mir verfallen!« erklang es in ihrem Innern.

Endlich entschloß sie sich für eines der Lieder.

»Hier, bitte, mein Herr! Ich habe diese Composition nur ein einziges Mal gehört. Sie ist von einer Zartheit und Innigkeit, welche einen außerordentlich tiefen Eindruck in mir zurückgelassen hat. Darf ich bitten?«

»Gern, wenn der Herr Professor die Güte haben will, mich zu begleiten.«

Der Professor trat an das Instrument.

»Wenn ich auf dem Lager liege, componirt von Robert Franz? Gut, beginnen wir!«

Er setzte sich. Anton stand hinter ihm. Asta stellte sich so, daß er ihr und sie ihm offen in das Gesicht sehen konnte. Der Professor präludirte die zwei Tacte, und dann begann Anton:

»Wenn ich auf dem Lager liege,
        In Nacht und Dunkel gehüllt
So schwebt um mich ein liebes,
        Anmuthig süßes Bild.

Wen mir der stille Schlummer
        Geschlossen die Augen kaum,
So schleicht das Bild sich leise
        Hinein in meinen Traum.

Doch mit dem Traum des Morgens
        Zerrinnt es nimmermehr;
Dann trag ich es im Herzen
        Den ganzen Tag umher.«

So einfach das Gedicht ist, so einfach auch die Melodie. Wie viele tausend Male mochte dieses Lied schon gesungen worden sein, nur damit ein anderes folgen solle. Und welch einen Eindruck machte es hier!

Als er langsam in As-dur begann, vermochte keine der Zuhörerinnen, unbeweglich zu bleiben. Es klang, als ob die hellsten, reinsten Perlen von seinen Lippen rollten. Er sang leise, mit unterdrückter Stimme; aber man hörte, welcher Mächtigkeit dieselbe fähig sei. Das war eine Zartheit, ein Schmelz! War das denn wirklich der Tabuletkrämer, der damals seine ungelenken Jodler hinausgeschrieen hatte? Keine der Damen war eigentlich eine Musikkennerin; aber alle Drei fühlten sich tief, tief ergriffen, nur eine Jede in ihrer Weise.

»Dann trag ich es im Herzen
Den ganzen Tag umher!«

sagte Asta, als er geendet hatte. »Wie gut ist es doch, daß der Sänger nicht verurtheilt ist, das zu thun, was er singt! Sie würden bald müd werden.«

»Wohl kaum,« antwortete er. »Ich würde mein Herz nur einem Bilde öffnen, welches ich gern in demselben trage, und dann ermüdet man nicht.«

»Und wie müßte dieses Bild beschaffen sein?«

Ihre Augen leuchteten förmlich auffordernd zu ihm herüber.

»Blond,« antwortete er. »Das ist mein Ideal.«

»Und weiter!«

»Vielleicht folgt die Schilderung später einmal. Jetzt möcht ich auch den andern Damen gerecht werden: Für Jede ein Lied. Bitte, gnädige Baronesse!«

»Für mich auch eins?« sagte Milda. »Nun dann mein Lieblingslied. Hier ist es!«

Sie legte ihm das Notenblatt hin. Es war überschrieben »Blühendes Thal.« Der Gesang beginnt sogleich, ohne Vorspiel:

»Wo ich zum ersten Mal Dich sah,
Wie üppig grünt' die Wiese da.
        Wo ich zum ersten Mal Dich sprach,
        Da blühn die Veilchen unterm Dach.

Wo ich Dich küßt in dunkler Nacht,
Da hadert nun der Rosen Pracht,
        Doch wo ich Abschied nahm in Leid,
        Da rauscht nun eine Trauerweid'.

Bald jauchzt in Wonne mir das Herz,
Bald sinkt es ein in tiefstem Schmerz.
        So blüht und rauscht das ganze Thal
        Von unsrer Lieb, von unsrer Qual.«

Er hatte jetzt vermieden, Asta anzusehen, und doch fühlte er förmlich ihren Blick auf sich ruhend. Es war etwas Fascinirendes, Gefangennehmendes an diesem Mädchen. Er fühlte sich von ihr abgestoßen und doch auch mit eigenthümlich zwingender Macht wieder angezogen. Er dachte kaum an das Lied, welches er sang. Er sah kaum die Noten, und er hörte kaum seine eigenen Töne. Es war, als ob er sich in einem Zauber befinde.

Und nicht allein er war bezaubert. Auch Asta fühlte Etwas, was sie noch nie gefühlt hatte. Dieser Wildschütz machte ihr mit seiner herzbestrickenden und sinnbethörenden Stimme zu schaffen. Wenn Orpheus mit seinem Gesange Steine lebendig machen konnte, warum sollte es dieser geradezu beispiellose Tenor nicht vermögen, ein kaltes Herz in Liebesgluth zu versetzen? Warum vermied er ihren Blick? Sie veränderte ihre Stellung, um ihn zu zwingen, sie anzublicken, aber da wendete er sich ab:

»Bitte, Frau Bürgermeister, nun auch Sie ein Lied.«

»O nein, ich möchte Sie nicht belästigen,« antwortete sie in ihrer Bescheidenheit.

»Sie belästigen mich nicht, sondern es ist ein Wunsch, welchen Sie mir erfüllen.«

»In diesem Falle möchte ich Sie um dasjenige Lied bitten, welches mich unter allen hier vorzufindenden stets am tiefsten rührt: ›Des kranken Kindes Traum.‹; Bitte, hier sind die Noten!«

Er überflog die Melodie. Sie begann in A-moll, in so weichen, herzinnigen Tönen fragt das Kind:

»Was wecken aus dem Schlummer mich
        Für süße Töne doch?
O Mutter, sieh, wer mag es sein
        In später Stunde noch?«

Und die Mutter, welche am Bette des sterbenden Kindes wacht, antwortet voller Angst:

»Ich höre nichts, ich sehe nichts;
        O schlummre fort, so lind.
Man bringt Dir keine Ständchen jetzt,
        Du armes, armes Kind!«

Aber das Kindesohr hört doch Töne, Töne, welche nun heller und heller, jubelnd erklingen. Das Moll mit seinen Klagen ist vorüber, und nun ertönt es in freudigem, sicherem Dur:

»Es ist nicht irdische Musik,
        Was mich so freudig macht;
Mich rufen Engel mit Gesang,
        O Mutter, gute Nacht!«

Er hatte dieses Lied leise und zart begonnen wie die andern beiden auch; dann aber, bei den Worten »es ist nicht irdische Musik,« begann seine Stimme zu schwellen, stärker und starker; bei »mich rufen Engel mit Gesang« brauste sie durch das Zimmer, daß in Wahrheit und buchstäblich die Fensterscheiben klirrten, und dann sank sie bei dem letzten Gruße an die Mutter schnell wieder zum leisen, hinsterbenden Flüstern herab.

Und diese Stärke seiner Stimme hatte nichts Gewaltsames, nichts Erzwungenes an sich. Die Sonne strengt sich auch nicht an, wenn sie das ganze Licht und die ganze Wärme ihrer Strahlen zur Erde sendet. Asta war unwillkürlich zurückgewichen. Sie war fast erschrocken über diese gewaltige Fülle von Wohlklang und Metall. Milda saß mit gefalteten Händen auf ihrem Stuhle und blickte den Sänger zweifelnd an. War es denn möglich, daß diese Worte, diese Töne aus einer menschlichen Brust kamen? Und die Bürgermeisterin hatte sich abgewendet und weinte inbrünstig. Es war überhaupt eigen, daß diese drei weiblichen Wesen sich ganz genau und treffend durch die Wahl ihrer Lieder characterisirt hatten. Asta mit ihrem einfachen, nackten Constatiren des Verliebtseins:

»Dann trag ich es im Herzen
Den ganzen Tag umher!«

Milda, die Liebe tiefer, viel tiefer erfassend:

»So blüht und rauscht das ganze Thal
Von unsrer Lieb, von unsrer Qual.«

und die Bürgermeisterin nur an die größte Liebe, an die Mutterliebe denkend

»Man bringt Dir keine Ständchen jetzt,
Du armes, armes Kind!«

Sie war auf das Tiefste ergriffen. So wie jetzt hatte sie dieses Lied noch niemals singen gehört, und darum bäumte sich aller, aller Schmerz wieder empor, den sie seit langen, langen Jahren still im Herzen getragen hatte. Sie hatte zuweilen geglaubt und gehofft, ihn endlich, endlich besiegt zu haben; aber er regte sich von Zeit zu Zeit, um ihr zu zeigen, daß er noch immer vorhanden sei, und jetzt, heute Abend, war er mit einer Gewalt losgebrochen, welche ihr Herz erzittern und ihre Seele erbeben machte. Sie konnte sich nicht beherrschen, sie konnte nicht länger hier bleiben. Mit riesiger Anstrengung drängte sie die Thränen nur für die wenigen Augenblicke zurück, welche sie brauchte, um sich zu verabschieden.

Sie machte dem Professor eine höfliche und Asta eine sehr kalte Verbeugung, gab Milda die Hand und streckte sie dann auch Anton entgegen.

»Herr Warschauer,« sagte sie mit leiser Stimme, denn wenn sie laut hätte sprechen wollen, so wär sie in Schluchzen ausgebrochen, »ich danke Ihnen innigst für das Lied! Gott hat Ihnen in Ihrer Stimme eine Macht über die Menschenherzen gegeben, welche Ihnen und Andern zum Segen, aber auch zum Verderben gereichen kann. Er gebe Ihnen nun auch das ächte, wahre, treue Fühlen; dann werden Sie die Seele besitzen, ohne welche selbst die größte Kunst nur todt und leblos ist. Ich danke Ihnen nochmals! Gute Nacht!«

Ganz ohne es zu wollen, hatte sie eine scharfe und äußerst treffende Kritik geführt. Ja, sein Gesang war ohne Gefühl, ohne wahre Empfindung. Ihm fehlte die Seele; er hatte sie mit der Leni von sich gestoßen. Welchen Eindruck hätten seine Lieder gemacht, wenn eine wahre, reine und treue Liebe in seinem Herzen gelebt hätte! Leni's Lieder wirkten ja gerade deshalb, weil sie eine unglückliche Liebe im Herzen trug, so wunderbar, so hinreißend. Anton mußte, um auf die Höhe seines Berufes zu gelangen, innerlich von Neuem geboren werden.

Die Bürgermeisterin ging. Kaum hatte sie die Thür hinter sich zugemacht, so brachen ihre Thränen von Neuem aus. Es klangen ihr brausend und anklagend die Worte in's Ohr:

»Man bringt Dir keine Ständchen jetzt,
Du armes, armes Kind!«

Sie wankte langsam den Schloßberg hinab, müd und immer müder werdend und flüsterte wieder und immer wieder:

»Mein Kind, mein Kind, mein armes Kind! Mein Max, mein armer, kleiner Max! Dir wurde an der Wiege bei Fackelschein gesungen, und nun – bringt man Dir keine Ständchen mehr. Du armes, armes Kind! O Gott, gieb mir doch ein Zeichen, ob er todt ist, gestorben und verdorben in fremden, kalten Händen! Und lebt er noch, so laß mich ihn wiederfinden, damit ich gut mache, was an ihm gefehlt worden ist!«

So betete sie inbrünstig und ging langsam weiter, weinend und die Hände ringend.

Da trat ein Mann, der wartend am Rande des Weges gestanden hatte, an sie heran, blickte ihr in das Gesicht, um dasselbe bei der Dunkelheit des Abends zu erkennen und sagte dann in frohem Tone:

»Grüß Gott, Frau Bürgermeisterin! Ich hab hört, daß Sie auf dem Schloß waren und hier auf Sie wartet seit fast einer Stunden.«

»Sepp!« rief sie. »Sepp, ists wahr, bist Du es? Soeben habe ich zu Gott wegen meines Kindes gebeten, und da trittst Du zu mir heran. Ist das nicht, als ob mein Gebet Erhörung finden solle!«

»Na, regens sich halt nimmer auf, Frau Bürgermeistrin. Eine Botschaften bring ich schon; das ist wohl wahr.«

»Eine Botschaft! O Gott, mein Gott, ich danke Dir! Sepp, hast Du ihn gefunden?«

»Wen? Sie meinen wohl denen Buben?«

»Ja, wen soll ich denn sonst meinen!«

»Na, seins halt nur nicht gleich so hitzig! Wann ich sag, daß ich eine Botschaften bring, so denkens nachher gleich, daß Alles aufifunden worden ist. So schnell gehen diese Sachen doch nicht.«

»Aber eine Spur hast Du vielleicht doch?«

»Eine Spuren? Ja, die hab ich vielleicht entdeckt; aberst es ist nur so eine ganz kleine, ein Gedank von einer Spuren, und da müssen wir halt erst sehen, obs auch wohl die richtige ist.«

»So erzähle! Sag, wo, wie und wann Du diese Spur entdeckt hast.«

»Wo, wie, wann? Also von dem Ort, von der Zeit und auch von dera Art und Weisen soll ich gleich in einem Athem berichten! Hörens mal, Frau Bürgermeistrin, das halt der Hundertste nicht aus! Und ich bin so ein alter Kerlen, bei dems Hirn schon ein Wengerl eintrocknet ist. Wann ich gleich so viel auf einmal sagen soll, so bleibt mir gleich dera halbe Verstand stehen und die andera Hälften läuft mir fort. Nachhero sitz ich da und kann mich auf gar nix besinnen. Nein, das geht nimmer. Das muß recht hübsch langsam gethan werden, so in dera richtigen Reihen, Eins nach dem Andern und auch nicht hier auf dera Straßen, wo man die fünf Sinnen nicht so beisammen haben kann wie drinnen in dera Stuben, wo's einen Kaffee giebt, oder ein Bier und auch ein Käs und Brod oder gar einen Endknopf von dera Servelleratwursten dazu.«

»Du hast Recht. Hier ist freilich nicht der Ort zu solchen Mitteilungen. Mein Gott, wenn man sich so lange Jahre gesehnt hat, vergebens gesehnt, und man hört, daß diese Sehnsucht doch vielleicht gestillt werden kann, so denkt man freilich nicht sogleich an das Naheliegende. Also komm mit zu mir. Da magst Du mir erzählen, was Du erfahren hast.«

»Na, endlich! Das ist ein Worten, was ich gelten lassen will. Dort kann auch Niemand nix hören. Hier aberst in dera Dunkelheiten kann man niwmerst wissen, ob nicht Einer in dera Nähe steht und Alles hört.«

Sie gingen abwärts nach dem Städtchen. Die Bürgermeisterin lief so schnell, daß der Sepp Mühe hatte, nachzukommen. Er kannte die Wohnung seiner Auftraggeberin. Es war eines der besten Häuser der Stadt. Er war schon öfters bei ihr gewesen und darum kannte ihn auch das Dienstmädchen der Bürgermeisterin.

Dort angekommen, mußte er sich sofort an den Tisch setzen und erhielt ein gutes Abendessen vorgesetzt.

»Das laß ich mir schon gefallen,« meinte er schmunzelnd. »So was hat Unsereiner nicht immer. Das ist vom Mittag übrig blieben, ein halbes Backhähnerl mit Selleriesalaten und Backbirnen. Das öffnet den Verstand und macht die Augen hell. Und gar auch noch ein Gläserl Wein dazu! Na, das ist ja grad, als ob man die silberne Hochzeiten verzehren thut! Prost Mahlzeit, Frau Bürgermeistrin! Sie brauchen sich nicht mit anzustrengen, Essen werd ich schon selberst. Nachhero kann ich auch verzählen.«

Er ließ es sich schmecken. Sie saß ihm gegenüber und sah ihm zu. Obgleich sie ihre Begierde, Etwas zu erfahren, kaum beherrschen konnte, bemühte sie sich, äußerlich ruhig zu sein, und freute sich auch wirklich darüber, daß es dem Alten so ausgezeichnet schmeckte. Wenn er sein Glas ausgetrunken hatte, schankte sie es ihm schnell wieder voll und nöthigte ihn, nur zuzulangen. Das Trinken erleichtert bekanntlich das Essen, und je schneller der Sepp fertig wurde, desto eher konnte er seinen Bericht beginnen.

Er dagegen glaubte, nicht sogleich Alles sagen zu dürfen. Er hatte gehört, daß eine große Freude unter Umständen ebenso gefährlich wirken kann wie ein großer Schmerz. Er wollte vorsichtig sein, zumal er sehr große Stücke auf die Bürgermeisterin hielt.

Endlich legte er Messer und Gabel weg und wischte sich den Schnautzbart mit dem Zipfel des Tischtuches ab. Sie athmete erleichtert auf.

»So!« sagte er. »Das hat geschmeckt, und nun könnten wir wohl von unsera Angelegenheiten reden, wanns sicher wissen, daß's Niemand hören thut.«

»Wer soll es hören? Das Mädchen ist in der Küche.«

»Na, ich hab Dirndln kannt, dera Ohren gingen von dera Küchen aus dreimal ums ganze Haus herum. Da muß man sich in Acht nehmen.«

»Die meinige horcht nicht.«

»So? Das ist sehr gut. Dafür werd ichs auch heirathen, wann ich mal Eine brauchen thu, welche nicht neubegierig ist. Jetzt aberst darf ich Niemand auszanken von wegen dera Wißbegierden, denn ich hab ja jetzt selbst überall hinanhorchen mußt, um zu derfahren, was ich gern wissen wollt.«

»Nun, und was hast Du erfahren?«

Er machte ein verwundertes Gesicht und antwortete:

»Ich? Nix hab ich derfahren, gar nix.«

»Was? So hast Du wohl nur Scherz gemacht, als Du sagtest, daß Du eine Spur gefunden habest?«

»Nein. In so einer Sachen mag ich keinen Scherz treiben; das fallt mir freilich nicht ein. Aberst ich mein, daß ich nix derfahren hab, wie's frühern gewest ist. Und das muß ich doch wohl wissen, um merken zu können, ob ich richtig denkt hab oder nicht.«

Er blickte sie erwartungsvoll an. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück, schloß für einen Augenblick die Lider, als ob sie überlegen wolle, und sagte dann:

»Also wissen willst Du, was früher geschehen ist? Ja, vielleicht hab ich einen Fehler gemacht, daß ich Dir nicht Alles aufrichtig erzählte.«

»Freilich wohl. Je mehr ich weiß, desto besser und leichter kann ich forschen. Jetzt hab ich wohl Einen funden, der an einer fremden Thüren niederlegt worden ist, aberst ob er auch – der Richtigen ist, wer kann das wissen.«

»So! An einer fremden Thür? Wo?«

»In dera Gegend von Regensburgen.«

»Nun, das ist ja die Gegend, welche ich Dir genannt habe!«

»Ganz richtig. Aberst um Regensburgen herum sind gar viele Oertern und gar viele Häusern und gar viele Thüren. Was nun ist das Richtige?«

»Ich habe Dir gesagt, daß ich den Ort selbst nicht weiß.«

»Das ist schlimm. Aberst grad darum muß ich doch das Andre derfahren, was Sie noch wissen.«

Sie kämpfte mit sich selbst. Sie hatte ein großes Vertrauen zu dem Alten, und sie wußte recht gut, daß er dieses Vertrauen auch gar wohl verdiene; aber konnte sie, die Frau, einem Manne von ihrer Jugend erzählen, von dem Fehltritt, dessen sie sich damals schuldig gemacht hatte? War das nicht zu viel verlangt?

Als sie so zögerte, nickte er bedächtig vor sich hin und sagte:

»Na, ich weiß es gar wohl: es giebt halt Sachen, von denen man nicht gern redet. Darum will ich auch nix derfahren. Nachhero aberst dürfens auch nicht verlangen, daß ich mich weitern um diese Sach bekümmern thu. Ich sag Ihnen also, was ich weiß, und sodann mögens halt schaun, obs das Uebrige selber dermachen können. Ich werd Ihnen also mal was zeigen.«

Er holte seinen Rucksack aus der Ecke, in welche er ihn gelegt hatte, öffnete ihn und nahm einen kleinen Lederbeutel heraus, den er ihr gab.

»Hier habens dieses Beuterl, Frau Bürgermeistern. Schauns mal hinein, obs das kennen, was sich jetzt darinnen befindet!«

Sie zögerte. Sie hielt den Beutel zagend in der Hand, drückte ihn an die Brust und seufzte:

»Was wird es sein? Was?«

»Das werdens ja gleich schaun!«

»Jawohl. Aber es ist mir, als ob ich jetzt ein Urtheil vernehmen solle, welches über Leben und Tod entscheidet.«

»Na, so schlimm wirds halt doch nicht sein. Da nehmens auch noch das Papiererl, was ich da in meiner Taschen hab.«

Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und gab es ihr hin. Das öffnete sie. Es enthielt jenes kleine Stückchen Holz, welches zu dem bereits erwähnten Kreuz gehörte.

»Das Bruchstück, welches ich Dir anvertraut habe!« sagte sie. »Das giebst Du mir wieder? Warum? Hat es Dir nichts genützt?«

»Machens nur das Beuterl auf, nachhero werdens sehen.«

»Nun gut! So sei es gewagt!«

Sie öffnete den Beutel. Er enthielt jenes schwarze Holzkreuzchen, welches der Sepp bei dem Lehrer Walther entdeckt hatte. Die Frau fuhr von ihrem Stuhle auf.

»Das Kreuz, das Kreuz!« rief sie. Sie hielt es nahe an die Lampe, um es genau zu betrachten, und sah auch, daß das abgebrochene Stückchen ganz genau dazu paßte. »Es ists, es ists, es ist mein Kreuz, mein Kreuz! O Gott, endlich wird es Licht; endlich finde ich, was ich so lange Zeit und so vergeblich gesucht habe!«

Sie preßte das Kreuz an ihr Herz und an ihre Lippen und brach in Thränen aus. Der Sepp sagte nichts. Er war selbst aufs Tiefste gerührt. Er ließ sie gehen. Nach einer Weile fuhr sie fort:

»Wo das Kreuz gefunden worden ist, muß auch Derjenige sein, dem es gehört hat! Von wem hast Du es, Sepp, von wem?«

»Ja, ich weiß halt nicht, ob ichs sagen darf.«

»Warum nicht?«

»Weil mirs verboten worden ist.«

Das war nicht wahr. Er wollte vorsichtig sein. Er wollte hören, was sich damals begeben hatte, als die Mutter ihr Kind von sich gab. Erst dann konnte er gewiß wissen, ob der Lehrer dieses Kind gewesen sei, und erst dann konnte er, seiner Ansicht nach, die verlangte Mittheilung machen.

»Wer hat es Dir verboten?« fragte sie.

»Der, von dem ichs hab.«

»Er muß doch einen Grund dazu gehabt haben?«

»Freilich hat er ihn habt. Er hat nicht wollt, daß ein Mißbrauchen damit macht werde, und darum hat er mir befohlen, ich solls nimmer eher hergeben und nicht eher was verzählen, als bis ich selberst mich überzeugt hab, daß die Personen auch wirklich ganz die richtige ist.«

»So traust Du mir also nicht?«

»Ich? O, ich hab ein gar groß Vertrauen zu dera Frau Bürgermeisterin, aberst was mir anbefohlen worden ist, das muß ich doch thun.«

Sie blickte still vor sich hin, betrachtete das Kreuz wieder und wieder und sagte dann:

»Nun wohl. Du sollst sehen, daß ich wohl die Richtige bin. Ich werde Dir Alles erzählen.«

»Daran werdens wohl sehr recht thun. Ich werd hernach auch Alles sagen, was ich zu sagen hab.«

Sie war aufgestanden und ging in großer Erregung einige Male im Zimmer auf und ab. Dann blieb sie bei ihm stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte:

»Sepp, sage mir, warum Du ledig geblieben bist!«

»Ich? Na, weil mich Keine hat haben wollt.«

»Dich? Wenn ich Dich ansehe, so möchte ich trotz Deines Alters behaupten, daß Du in Deiner Jugend ein ganz hübscher Bursche gewesen sein mußt.«

Er nickte leise vor sich hin, schüttelte dann den Kopf und antwortete:

»Ja, was soll das nützen, wann man kein übles Aussehen hat und hernach dennoch keine Frau bekommt! Freilich wohl bin ich nicht ganz häßlich gewest, aberst es hat mir gar nix nützt.«

»So hast Du gar kein Mädchen gehabt?«

»Freilich hab ich mal Eine habt; dera Leni ihre Muttern ists gewest. Die hab ich so lieb habt, so sehr lieb; aberst sie ist mir untreu worden, als ich beim Militären standen hab und eine Zeiten lang nicht heimkommen bin.«

»Also geliebt hast sie?«

»Grad wie mein Leben und auch noch mehr.«

»Das wollt ich wissen. Ich wollt erfahren, ob Du die Liebe kennen gelernt hast.«

»O, die hab ich kennen lernt, mehr als genug, mit all ihrem Glück und mit all ihrem Leid. Als ich hab hört, daß es aus ist mit uns, da ist mirs grad so gewest, als ob ich schier vergehen soll und mich gleich hinlegen und sterben. Das hätt ich wohl nicht zweimal derleben könnt; das, wann mans nur einmal mitmachen thut, so ists grad schon mehr als genug.«

Er wischte sich über die Augen und dann mit dem Aermel über den Schnurrbart. Es war die Rührung über ihn gekommen, welche ihn jedesmal übermannte, wenn er an jene Zeit dachte, in welcher er hatte entsagen müssen.

»Sepp, ich fühle mit Dir. Nun ich weiß, daß Du die Liebe kamen gelernt hast, wirst Du mich verstehen und nicht gar schlimm von mir denken. Ich kann also von dem Jugendfehler, welchen ich begangen habe, mit Dir sprechen.«

»Ja, das könnens halt ganz gut. Ich hätt mir wohl spätern ein Weib nehmen konnt; wann ich wollt hätt, denn es hat mehrere geben, welche gar gern ihr Ja sagt hätten und sind auch ganz saubera Dirndln gewest; aber ich hab eben nicht wollt. Die Lieb hat mir zu tief im Herzen sessen; sie ist meine erst und einzige gewest und wird auch mal mit mir ins Grab hinunter gehen. Da brauchens also gar keine Sorg zu haben. Was die Lieb betrifft, davon versteh ich schon auch so ein kleines Wengerl.«

»So höre mich an! Ich werde es möglichst kurz machen, um nicht all des Vergangenen aber nicht Vergessenen wieder in mir aufzuwühlen.«

»Ja, sprechens nur! Ich hör schon zu.«

Sie setzte sich ihm wieder gegenüber und begann:

»Als ich jung war, hielt man mich für ein schönes Mädchen – – –«

»Ja,« fiel er ein. »Das glaub ich gar wohl, daß die Frau Bürgermeistrin ein appetitlichs Dirndl wesen ist. Das sieht man ja sogar jetzunder noch.«

Sie überhörte diese Bemerkung und fuhr fort:

»Mein Vater war Banquier. Er galt für reich; aber er hatte sich auf Zureden seines Compagnons in sehr verwickelte Speculationen eingelassen, und eines schönen Tages stellte es sich heraus, daß ihm kein Gulden und kein Kreuzer übrig bleibe, wenn er so ehrlich sein wollte, seine Passiva zu decken.«

»Ja, das hat man davon, wann man sich einen Compagnonerl anschafft! Das hab ich mir auch immer denkt, und darum hab ich meinen Wurzelhandel stets ganz alleini trieben. Ich mag halt keinen Andern dazu.«

»Er war ehrlich und zahlte. Er mußte eine untergeordnete Stelle im Bureau eines Andern annehmen.«

»Das war brav. Er hat Niemand betrogen. Solche Leutln sind aberst nicht gar zu häufig zu finden.«

»Ich hatte einen Jugendgenossen, welcher stets viel Interesse an mir genommen hatte. Er studirte Jurisprudenz und besuchte uns täglich, wenn er in den Ferien daheim war.«

»Ah, jetzunder beginnt die Liebesgeschichten!«

»Nein. Ich war ihm sehr freundschaftlich gesinnt, aber Liebe fühlte ich nicht für ihn.«

»Der arme Schluckerl!«

»Ich glaube vielmehr, daß meine Schwester ihm im Stillen eine innige Zuneigung widmete. Sie war ein gutes, aber immer kränkliches Mädchen, welches wenig Geräusch von sich machte. Er hieß Holberg.«

»Ah, so heißens doch jetzt selbst! So ist er also doch noch Ihr Mann worden?«

»Später! Als Vater sein Geschäft aufgeben mußte, reichte sein Gehalt nicht zu, unsere gemeinschaftlichen Bedürfnisse zu bestreiten. Ich als Aelteste sah mich darum gezwungen, dem Vater die Last zu erleichtern. Ich sah mich nach einer Stelle um und wurde Gouvernante in einer adeligen Familie.«

»Das ist ein großes Viehzeug, eine Gouvernanten; das weiß ich auch schon bereits. Denen Gouvernanterln steht die Nasen manchmalen höher als denen Herrschaften selbst. Das hab ich sehen, wann ich zu denen vornehmen Leutln kam und Wurzeln verkaufen wollte. Keine einzige Gouvernanten hat mir einen Enzianen oder auch nur einen Kalmussen abkaufen wollt!«

»Was sollte eine Gouvernante mit Kalmus machen?«

»Mit Kalmus? Na, der ist gar sehr gesund, auch für Gouvernanten, besonders wanns Bauchgrimmen haben und die stechende Koliken dazu.«

»Ach so! Also weiter. Meine Herrin war kränklich und mußte jährlich sechs Monate ins Bad. Natürlich nahm sie ihre Kinder mit, und ich mußte sie begleiten.«

»Der Herr aberst nicht?«

»Nein. Der blieb daheim. Er war bei der Regierung angestellt. Ueberhaupt besaß meine Dame einen sehr selbstständigen Character. Sie liebte es nicht, von ihrem Manne abhängig zu sein. Im Bade machte sie die Bekanntschaft eines jungen, höchst interessanten, adeligen Herrn, welcher sich Herr von Walther nannte.

»Walther? Hm!« brummte der Sepp.

»Was meinst Du? Kennst Du den Namen?«

»Ja, den kenn ich schon.«

»Wer heißt so?«

»Es soll mal einen Dichtern geben haben, welcher Walther von dem Vogelleim geheißen hat.«

»Walther von der Vogelweide, meinst Du wohl?«

»Na ja; der Walthern war aberst doch dabei.«

»Ich glaubte schon, Du hättest von jenem adeligen Herrn gehört.«

»Nein. Dafür werden Sie halt desto mehr von ihm hört haben. Nicht?«

»Leider! Ich bemerkte nämlich sehr bald, daß er nur um meinetwillen so oft kam. Das gefiel mir. Ich war ihm gut. Sein Aeußeres nahm mich gefangen, und seine gesellschaftliche Gewandtheit imponirte mir. Ich war sehr streng erzogen, hatte keine Mutter mehr und mit dem Vater und der Schwester sehr einsam gelebt. Es entging mir also alle Welt- und Lebenserfahrung. Meine Liebe wuchs von Tag zu Tag. Er wußte es einzurichten, mich oft allein zu treffen, und sprach endlich von seiner Liebe zu mir. Meine Zuneigung zu ihm war zur tiefen Hingebung geworden. Er sprach davon, seinen Eltern zu schreiben, und brachte mir nach kurzer Zeit ihre schriftliche Einwilligung. Nur machten sie die Bedingung, daß unsere Liebe noch einige Zeit geheim bleiben solle.«

»Warum denn?«

»Weil er eine alte, hocharistokratisch gesinnte Verwandte besaß, deren einziger Erbe er war. Sie hätte ihm aber die Erbschaft entzogen, wenn er eine Verbindung mit einer Bürgerlichen eingegangen wäre.«

»Also habens auf ihren Tod warten sollen?«

»So war es.«

»Na, das ist schön! Das ist gut! Und das nennt sich nachhero vom Adel und hocharistokraterisch! Unsereiner thät sich in dera Seelen hinein schämen, wann man auf den Tod einer alten, guten Tanten warten sollt. Das ist ja grab so schlimm, als wann man die alte, liebe Karfunkeln gleich todtschlagen thut! Ich dank sehr schön!«

»Leider sind solche Verhältnisse gar nicht sehr selten. Aber Du brauchst Dich gar nicht so zu ereifern. Er wartete gar nicht auf den Tod einer Verwandten.«

»Nicht? Aberst sogleich erst haben Sies sagt!«

»Es war ja gar nicht wahr! Er hatte mich belogen.«

»Was! Dera Schuft! Aberst warum hat er dann so eine Lügen macht?«

»Um meine Liebe auch ohne Ehe besitzen zu können.«

»Ah! So ist diese Sachen! So ein Hallodri ist er gewest! Na, Der, wann ich ihn da hätt, hier in dera Stuben, dem thät ich das Genick zerbrechen und auch noch ein paar andre Knöcherln dazu!«

»Ich liebte ihn, und in Folge dessen glaubte ich ihm. Er besaß mein ganzes Vertrauen, und wir verlobten uns im Stillen. Zwar gab ich meine Stellung nicht auf, aber wir befanden uns trotzdem möglichst oft und allein bei einander, und da – – da habe ich ihm denn mehr Vertrauen bewiesen als er verdiente. Ich habe es bitter bereuen müssen.«

»Ja, so gehts halt, wann so ein Schuftikus einen armen Dirndl den Himmeln vormalt, und doch hat er nix als nur Teufeleien im Kopf!«

»Das war im Spätherbst, und nach einigen Tagen verließen wir das Bad. Er ging nach Wien, und ich folgte meiner Gebieterin nach deren Besitzung.«

»Nun habens den Kerlen wohl gar nimmer wieder sehen?«

»O doch. Zunächst schrieben wir uns oft. Ich mußte alle meine Briefe poste restante adressiren – – –«

»Possi fressante? Warum?«

»Wegen seiner Tante. Sie wohnte bei ihm, und so war es leicht möglich, daß ihr eine Zuschrift von mir in die Hände fallen konnte.«

»Hörens mal, Frau Bürgermeistrin, das glaub ich halt nicht.«

»Du hast Recht. Ich aber glaubte es. Er besuchte mich auch einige Male heimlich. Dann blieb er aus, und auch seine Briefe kamen immer seltener. Ich hatte gegen Ende des Winters zu meinem Schreck gefühlt, daß der innige Umgang mit ihm nicht ohne Folgen geblieben sei, und es ihm mitgetheilt, aber keine Antwort erhalten. Meine Briefe wurden gar nicht mehr von der Post abgeholt und kamen zurück. Ich begann zu ahnen, das ich meine Liebe einem Unwürdigen geschenkt hatte.«

»Freilich. Das selbige hab ich schon längst geahnt.«

»Ich suchte natürlich meinen Zustand zu verbergen. Im Anfange deß Juni ging meine Dame wieder ins Bad, aber in ein anderes, nämlich nach Eger.«

»Und Sie mit?«

»Ja. Zu meiner freudigen Ueberraschung begegnete ich – – meinem Geliebten.«

»Himmelsakra! Was hat er sagt?«

»Er zeigte eine große Freude und entschuldigte sein Schweigen damit, daß er ganz plötzlich eine Reise nach Petersburg habe antreten müssen und jetzt erst zurückgekehrt sei. Er betheuerte mir, daß er nun im Begriff gestanden habe, mich aufzusuchen, und ganz glücklich sei, mich so unerwartet gefunden zu haben.«

»Na, wers glaubt!«

»Ich liebte ihn ja, und darum glaubte ich es.«

»Ja, die Lieb ist das schönste, aberst auch das dümmste Ding auf Gottes Erdboden!«

»Natürlich theilte ich ihm meine Sorgen mit. Ich hatte höchstens noch drei Wochen Frist und konnte es nicht über mich gewinnen, meinen Zustand der Herrin oder gar meinem Vater mitzutheilen. Er ging leichthin darüber weg und tröstete mich mit dem Versprechen, die Angelegenheit auf das Befriedigendste zu arrangiren.«

»Da gabs halt nur Eins: Er mußt Sie heirathen.«

»Das war ja unmöglich, weil seine Tante noch lebte, wie er sagte. Aber er zeigte mir so viel Liebe, daß ich mich beruhigte und ihm versprach, ganz nach seinem Willen zu handeln.«

»Na, da bin ich halt fast neubegierig, was sein Willen gewest sein wird!«

»Grad zu dieser Zeit bekam ich einen Brief, in welchem mir Vater meldete, daß die Schwester sehr krank geworden sei. Auch ihn hatte der Verlust seines Vermögens außerordentlich angegriffen. Er fühlte sich schwach und wünschte, daß ich schleunigst zu ihm kommen möge, um mich seiner und der Schwester anzunehmen. Das sagte ich dem Geliebten. Er fand, daß dieser Brief grad zur günstigen Zeit komme. Ich mußte ihn meiner Herrin zeigen und enthielt sogleich meine Entlassung.«

»Und auch ein Geldl dazu?«

»Nein. Ich war im Vorschuß, da ich sehr oft kleine Summen nach Hause gesandt hatte. Das Gehalt, welches Vater bezog, war sehr niedrig.«

»So sinds also nach Haus gangen?«

»Nein. Herr von Walther hatte sich nach einer nicht zu fernen Stadt gewandt, in welcher eine Hebamme Annoncen, wie man sie oft zu lesen pflegt, in den Blättern veröffentlichen ließ. Sie nahm Damen, welche ihre Entbindung in discreter Weise halten wollten, bei sich auf. Zu ihr mußte ich. Als ich mich drei Wochen bei ihr befand, war ich Mutter eines wunderhübschen kräftigen Knaben geworden, und – – das Geld, welches Walther mir gegeben hatte, war alle. Natürlich glaubte ich, daß er kommen werde. Er kam auch und wohnte einige Tage lang im besten Hotel des Ortes. Da wurde das Kind auf den Namen Max getauft.«

»Also Max von Walther? Hm!«

Er nickte nachdenklich vor sich hin.

»Was hast Du, Sepp? Du machst jetzt wieder ein Gesicht grad wie vorhin.«

»Ja, dies Gesichten mach ich allemalen, wann ein Kind tauft wird, Frau Bürgermeistrin.«

»Ich verstehe Dich nicht. Ich war an jenem Tage ganz glücklich. Mein Verlobter sprach von unserer Hochzeit, und als wir so allein in der kleinen Stube beisammen saßen, ich mit dem kleinen Max auf dem Arme, eine glückliche, hoffnungsvolle Mutter, da ertönten aus dem Gärtchen herauf die Töne eines Ständchens, welches er mir und dem Kinde bringen ließ. Der Garten lag abgeschieden, und es war nur ein Streichquartett; darum mochte dieses Ständchen gar kein Aufsehen, keine Störung im Orte, ich aber fühlte mich um so entzückter darüber.«

»Na, den Kerlen begreif ich jetzt fast nicht. Ich trau ihm gar nix Gutes zu, und doch läßt er gar ein Ständchen geigen! Hm!«

»Es war das erste und wohl auch das letzte, welches man dem Kinde gebracht hat!«

Und sich an das Lied erinnernd, welches der Krikelanton gesungen hatte, fügte sie traurig hinzu:

»Ich höre nichts, ich sehe nichts,
        O schlummre fort, so lind,
Man bringt Dir keine Ständchen jetzt,
        Du armes, armes Kind!«

Sie schwieg. Der Sepp verstand nicht, warum sie diese Strophen sagte, und schwieg darum auch. Nach einer längeren Weile fuhr sie fort:

»Als er dann an jenem Abende von mir ging, war ich so glücklich. Das Glück sollte ein schnelles und ganz unerwartetes Ende nehmen. Nämlich als ich am andern Morgen erwachte, brachte mir die Hebamme einen Brief, welcher für mich abgegeben worden sei. Ich erkannte auf dem Couvert die Handschrift meines Verlobten und öffnete, eine freudige Ueberraschung vermuthend.«

»Und es war doch keine?«

»O, es war im Gegentheil die schrecklichste Nachricht, welche mich treffen konnte.«

»Was hat drin standen?«

»Sepp, das würdest Du nie vermuthen, im ganzen Leben nicht!«

»Na, eine Schurkereien ists doch!«

»Ja, der würdige Abschluß einer entsetzlichen Schurkerei. Ich werde Dir den Brief vorlesen, obgleich ich seinen Inhalt auswendig weiß. Ein jedes Wort, ein jeder Buchstabe ist mir mit glühenden Zügen in die Seele geschrieben.«

Sie ging in das Nebenzimmer und kam mit einem alten, ganz zerlesenen Blatte, zurück.

»Das ist der Brief,« sagte sie. »Tausende von Thränen, nein, Millionen und Abermillionen find darauf gefallen. Sie haben die Schriftzüge verwischt, und doch kann ich sie noch lesen. Höre!«

Sie faltete das Blatt auseinander, fuhr sich mit der Hand über das Auge, als ob sie von dort einen Schleier entfernen wolle, und las langsam und mit tief bewegter und zitternder Stimme:

»Liebe Bertha.

Es ist die Zeit gekommen, in welcher ich es für gerathen halte. Dir eine Mittheilung zu machen, welche ich Dir wohl nicht so lange Zeit hätte vorenthalten sollen.

Wir müssen uns trennen, und zwar für immer. Zwar habe ich Dich geliebt und liebe Dich auch noch, aber das Weib eines unter einer Freiherrnkrone Geborenen hättest Du doch nie werden können. Der Sommer ist so schön. Die Sonne flimmert, und es duften die Blumen. Der Schmetterling nippt von der Rose und fliegt dann weiter. Die Rose warst Du, und der Schmetterling bin ich.

Wir haben einen schönen Traum geträumt. Jetzt müssen wir erwachen, denn das Leben ist sehr streng und verlangt nüchterne Menschen.

Natürlich habe ich von allem Anfang an diese Trennung voraus gesehen und mich darnach verhalten. Ich heiße nicht von Walther. Ich habe mir diesen Namen beigelegt aus Gründen, welche Du begreifen wirst. Auch habe ich keine alte Tante, welche ich beerben soll. Das sagte ich ja nur, um Dich einmal recht innig als – – Braut umarmen zu können. Diese Umarmung ist zu innig gewesen. Ich bedaure das jetzt um Deinetwillen. Aber es läßt sich nicht ändern. Natürlich bin ich so aufmerksam gegen Dich, Dir den kleinen Max nicht zu rauben. Du magst ihn als Andenken an die glücklichen Stunden behalten, welche Du in meinen liebevollen Armen verlebtest.

Forsche nicht nach mir! Es würde doch vergeblich sein. Du findest mich nicht. Und wolltest Du mich ja belästigen, so würde ich in meiner einflußreichen Stellung die Mittel besitzen, mich aller Querulei nachhaltig zu erwehren.

Ich habe Dir gestern Abend zum Abschied ein Ständchen bringen lassen, damit für immerdar ein zarter, poetischer Hauch über dem Andenken an unsere Trennung schwebe. Vielleicht hätte ich das unterlassen sollen, denn dieses Ständchen habe ich fast mit dem letzten Gulden bezahlt, den ich besitze.

Ich habe in diesem verdammten Bade heuer wenig Glück aber desto mehr Pech gehabt. Mein Geld ist alle, und alle meine Mittel sind nun erschöpft. Ich muß fast wie ein Handwerksbursche von hier abreisen und sehe mich also gezwungen, Dir die Befriedigung der Hebamme zu überlassen. Das wird Dir nicht schwer werden; Du hast ja Kleider und Wäsche genug bei Dir.

Uebrigens warne ich Dich, allzu lang bei ihr zu bleiben. Ich erfuhr, daß Deine Schwester nur noch kurze Zeit zu leben habe. Vielleicht ist sie jetzt bereits todt. Wann Du an ihrem Begräbnisse theilnehmen willst, mußt Du Dich also höchst wahrscheinlich beeilen.

Natürlich wünsche ich Dir und Deinem Max alles Glück der Erde. Es sollte mich freuen, wenn ich einst von Euch nur Erfreuliches zu hören bekäme. Also zuletzt herzlichen Dank für Deine Liebe und Hingebung. Denke zuweilen an Deinen – – sogenannten

                  Curt von Walther.«

Es war still im Zimmer, als sie den Brief vorgelesen hatte. Sie hatte denselben auf den Tisch gelegt und blickte starren Angesichtes in die Ecke.

Der Sepp stand auf. Er stieg mit langen Schritten hin und her, stieß halblaute Flüche und Kraftworte aus, blieb endlich vor ihr stehen und fragte:

»Wissens, wers gewest ist?«

»Nein.«

»So habens nicht nach ihm geforscht?«

»So viel es mir möglich war, ja. Aber es ist vollständig vergeblich gewesen.«

»So gut also hat er sich verstecken konnt! Ich!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Lampe empor sprang und fast umgefallen wäre. Dann fügte er hinzu:

»Ja, versteckt hat er sich gut, sehr gut. Aberst er wird seine Rechnung ohne den Sepp macht haben!«

»Wie so?«

»Wie so? Das fragens auch noch? Wie so? Nun, weil ich ihn finden werd!«

»Das ist unmöglich!«

»Meinens halt? O nein, da denkens sehr falsch, sehr falsch! Wissens, es giebt einen Herrgott, der das Gute belohnt und das Böse bestraft. Er wird den alten Wurzelseppen leiten, daß dieser den Herrn Curt von Walthern finden thut. Unds liegt mir halt schon heut in allen Gliedern, daß ich mit dem Urianer schon recht bald zusammen gerathen thu. Aberst dann, o dann! Himmelsakra, dann werden die Aesten und die Spänen so herumi fliegen, als ob Einer mit dera Axten einen Baum niederschlagen thut!«

»Daran denk ich längst nicht mehr!«

»Aberst ich seit jetzt! Hätt ichs schon ehern wußt, so hätt ich den Hallunken schon bereits funden. Das ahn ich ganz deutlich. Na, na, ich freu mich halt schon jetzt, wies sein wird, wann ich ihn ins Gebet nehm und in die Beichten. Dem solls zu Muthen werden als ob die Welt gleich untergehen wollt!«

»Es sind seit jener Zeit über zwei Jahrzehnte vergangen. Ich habe natürlich nicht öffentlich geforscht; aber einen Erfolg hätte mein Suchen doch gehabt, wenn der Erfolg überhaupt möglich gewesen wäre. Jetzt nach dieser langen Zeit ists nun ganz die Unmöglichkeit. Uebrigens, weshalb sollt ich nach ihm suchen?«

»Weshalb? Was für eine Fragen! Natürlich muß er seinen Zahlaus erhalten.«

»Nein. Ja, damals habe ich auch an Rache gedacht. Ich bin vor Schmerz, Jammer und Elend fast wahnsinnig gewesen. Das ist aber längst, längst vorüber. Ich bin alt und ruhig geworden und denke nicht mehr an Rache. Ich überlasse sie dem lieben Gott.«

»Und noch Einem!«

»Wem?«

»Dem lieben Gott und dem Wurzelsepp. Diese Beiden halten gar große Stucken auf nander und werden den Kerlen schon zu finden wissen. O Du mein Himmelreich, wie muß es Ihnen damals ums Herze gewest sein, nach dems den Brief gelesen hatten!«

»Ich war starr wie eine Leiche!«

»Das glaub ich halt gar gern.«

»Ich hab nicht denken und fühlen können. Ich bin bei lebendigem Leibe todt gewesen, bis mich das Schreien meines Kindes zu mir gebracht hat.«

»Und was habens nachhero macht?«

»Wenn ich Dir das ausführlich und wahrheitstreu erzählen sollte, würde ich sehr in Verlegenheit kommen, denn ich kann mich nicht besinnen, weil ich überhaupt ganz ohne Besinnung gewesen bin.«

»Ja, nach so kurzer Zeit, daß die Entbindung vorüberwest ist. Das ist ja grad ganz gefährlich gewest für die Gesundheiten und das Leben!«

»An mich hab ich zunächst gar nicht gedacht, sondern an das Kind, welches nun keinen Vater mehr hatte, und an die Schwester, welche nun todt sein solle. Diesen letzteren Gedanken hielt ich fest. Ich mußte fort, fort, fort, und zwar heimlich, daß mich Niemand zurückhalten konnte. Ich zog mein schlechtestes Kleid an, schrieb ein paar Zeilen an die Hebamme, daß sie sich mit meinen Sachen bezahlt machen möge, wickelte mein Kind in ein Tuch, steckte das wenige Geld zu mir, welches ich noch besaß, und schlich mich leise von dannen.«

»Herrgott! Wohin wolltens da?«

»Nach Hause.«

»Mit dem Kind?«

»Daran dachte ich nicht. Ich handelte ja ohne alle Ueberlegung. Ich befand mich wie im Traume und wußte nicht, was ich that. Ich lief nach dem Bahnhofe und lößte ein Billet. Aber ich kann heut noch nicht sagen, wo ich ausgestiegen bin. Ich konnte nicht weiter fahren, weil mein Geld nicht reichte. Das hätte ich mir doch ausrechnen können.«

»Sie armes, armes Wurm!«

»Dann bin ich zu Fuße gewandert, weiter und immer weiter. Das Geld wurde weniger und weniger. Ich empfand weder Hunger noch Durst; aber ich fühlte doch, daß ich essen müsse, um meinem Kinde zu trinken geben zu können. Dann wurde es nach und nach heller in meinem Kopfe, wenigstens zeitweilig, während es auch Stunden gab, in denen ich gradezu fieberte. In solchen offenen Augenblicken fragte ich mich, ob ich mit dem Kinde vor den alten, schwachen Vater treten dürfe. Nein! Es konnte sein Tod sein! Aber was anfangen?«

»Ja, was? Wann man keinen Verstand hat und keine Erfahrung und kein Geld! Mein Herrgott!«

»Da kam mir der Gedanke, das Kind einstweilen irgendwo hinzulegen, wo es gefunden werden mußte. Später konnte ich mir es ja wieder holen. Dieser Gedanke wühlte sich in meine Seele fest, und ich wurde ihn nicht wieder los. Ich wollte kein Verbrechen begehen, o nein! Nur einstweilen wollte ich mich des Kinders entäußern. Ich schrieb auf einen Zettel, den ich mir nebst Bleistift in einem Wirthshause, in welchem ich für einige Augenblicke einkehrte, geben ließ, den Namen des Kindes auf und daß es getauft sei.«

»Hm, ja! Das stimmt!«

»Womit stimmt es?«

»Nachher! Verzählens jetzund nur weitern!«

»Dann ging ich noch stundenlang fort, bis ich an ein kleines, allein stehendes Häuschen kam. Vor der Thür stand eine Bank, auf welche ich mich niedersetzte. Der Mann kam heraus und begann ein Gespräch mit mir. Was wir gesprochen haben, hatte ich bereits nach kurzer Zeit vergessen. Aber Einiges habe ich mir bis heut gemerkt. Der Mann war Tagearbeiter in einem nahe liegenden Einödhofe und hieß Beyer. Er hatte an jenem Tage frei, weil es ein Sonntag war.«

»Beyer?« fragte der Sepp. »Habens sich den Namen auch wirklich genau merkt?«

»Ganz genau. Ein guter Bekannter meines Vaters hieß ebenso. Das erleichterte es mir, den Namen zu merken.«

»Hm! Oh!«

Er machte wiederum ein sehr nachdenkliches Gesicht.

»Was meinst Du?« fragte sie.

»Nix, gar nix. Ich sinn nur eben nach, ob ich nicht vielleichten einen Beyer kennen thu, der Tagarbeiter an einem Einödhof wesen ist.«

»Nun, fällt Dir vielleicht einer ein?«

»Vielleicht, wann ich noch länger nachdenk. Es ist mir, als ob ich diesen Namen schon mal hört hätt.«

»Das sollte mich außerordentlich freuen, denn all mein Forschen ist vergeblich gewesen. Der Mann hatte ein so gutes Auge, ein so ehrliches Gesicht. Ich beschloß, ihm den Knaben da zu lassen. Ich fragte ihn, ob ich nicht ein Glas Milch erhalten könne, und er ging, es zu holen. Die Zeit, in welcher er mich allein ließ, benutzte ich, den Knaben auf die Bank zu legen und mich zu entfernen. Aber ehe ich es that, kam mir der Gedanke, ob ich dem Kinde nicht ein Andenken zurücklassen möchte. Ich hatte von meiner Mutter ein kleines Kreuz von Rosenholz, dieses hier, welches Du mir gebracht hast. Ich nahm es vom Halse, um es dem Knaben umzuhängen. Er schlief so schön, und seine Mutter wollte ihn verlassen. Das griff mir tief in das kranke Herz hinein. Ich hatte das Kreuz an die Lippen gelegt, um es noch einmal zu küssen. In meinem Schmerze nahm ich es zwischen die Zähne und bis darauf. Die Zähne gruben sich tief in das Holz ein. Ich sah es und brach das halb abgebissene Stückchen vollends ab. Es konnte mir ja als Erkennungszeichen dienen; dieser Gedanke kam mir.«

»So also ists gewest. Ich hab nicht begreifen konnt, warum das kleine Stückle ist abbrochen worden.«

»Ich hing dem Kind das Kreuz um, steckte den Zettel in das Tuch und eilte von dannen. In der Nähe gab es ein Gebüsch, an welches sich der Wald anschloß. Dort konnte man mich im Falle der Verfolgung nicht leicht finden; also suchte ich den Wald zu gewinnen, und das gelang mir auch.«

»Und habens sich die Gegend merkt?«

»Ja. Es war in der Nähe von Regensburg, wie ich Dir früher ja gesagt habe, daß Deine Nachforschungen dort von Erfolg sein könnten.«

»Sinds aberst doch nicht gewest.«

»Die meinigen auch nicht. Freilich bin ich nicht so bald wieder hin gekommen, wie ich mir vorgenommen hatte. Ich lief damals im Walde immer nach Osten hin und ließ mich an diesem und dem folgenden Tage von keinem Menschen erblicken. So kam ich über die kaiserliche Grenze und nach Hause.«

»Und wie stands da?«

»Als ich kam, wars am Abend, und sie hatten meine Schwester grad in den Sarg gelegt.«

»Du lieber Herrgott im Himmel droben!«

Die Bürgermeisterin senkte den Kopf und weinte.

Es dauerte lange, ehe sie wieder fortfahren konnte.

»Das war schrecklich, schrecklicher wohl noch als Alles, was vorher geschehen war. Der Vater hatte meiner Herrin geschrieben und die Nachricht erhalten, daß ich längst fort sei. Ich fand keine andere und bessere Ausrede, als daß ich unterwegs erkrankt sei. Das glaubte man mir sofort, denn ich hatte ja das Aussehen einer Leiche. Weiter konnte ich nichts sagen. Ich sah die todte Schwester und den alten, gramgebeugten Vater. Ich fand keine Worte und auch keine Thränen. Am andern Morgen wankte ich neben dem Vater hinter dem Sarge her, und dann legte ich mich krank nieder – ein Wundfieber hatte mich ergriffen.«

»Sapperloten! Da habens wohl phantasirt und auch Alles verzählt, was geschehen war?«

»Nein. Phantasirt habe ich nicht, sondern ganz still und stumm gelegen. Das Fieber hatte jene heimtückische, schleichende Gestalt angenommen, welche dem Leben am gefährlichsten ist. Ich rang Monate lang zwischen Tod and Leben, bis endlich die Jugend siegte. Und selbst dann war ich noch lange Zeit so schwach, daß ich nicht stehen konnte. Es war ein Gefühl stumpfer Gleichgiltigkeit, ein Zustand dumpfen Vergessens über mich gekommen. Ich sah die Gesichter der Leute, welche in meine Nähe kamen, aber ich merkte sie mir nicht. Ich wußte später nicht, was um mich her geschehen war. Nach und nach, langsam, äußerst langsam erwachte der Puls neuen Lebens in mir. Ich zwang mich, meiner Umgebung wieder Aufmerksamkeit zu schenken. Was ich erblickte, war traurig genug. Der Vater wankte wie ein Schatten umher, abgemagert, mit müden, glanzlosen, todten Augen. Der Tod meiner Schwester meine Krankheit, sein eigenes, unverdientes Schicksal; das trieb nun auch ihn an den Rand des Grabes. Er hatte mich in meiner Krankheit nicht verlassen können und in Folge dessen seine Stelle verloren. Er war zu schwach, eine andere zu begleiten und hätte jetzt auch keine andere erhalten.«

»Aberst wovon habens dann gelebt?«

»Das wußte ich auch nicht. Ich fragte ihn, und er antwortete mir nur mit dem Namen Holberg. Mein Jugendfreund hatte kurz vorher sein Assessorenexamen bestanden und sich dann in unserer Stadt als Rechtsanwalt niedergelassen. Bereits vor meiner Ankunft hatte er den Vater unterstützt und während meiner Krankheit seiner Güte in Form einer Geldanweisung Ausdruck gegeben. Auch diese Summe war bald zur Neige gegangen, und nun lebten wir Beide, Vater und ich, ohne daß ich es erfuhr, nur von der edlen Unterstützung des braven Holberg. Er war keineswegs sehr vermögend; aber er besaß trotz seiner Jugend bedeutende juridische Kenntnisse und hatte bald eine so zahlreiche Klientel um sich versammelt, daß er nicht unbedeutende Einnahmen machte.«

»Ein sehr braver Kerlen!«

»Ja, das war er,« gab sie mit einem tiefem Seufzer zu. »Und daß er so brav war, das hat mir später so manche, manche böse Stunde bereitet.«

»Warum das? Wann einer brav ist, kann man doch nicht bös drübern werden!«

»O nicht über ihn, sondern über mich mußte ich zürnen. Ich war nicht brav gegen ihn. Ich erfuhr erst nach und nach vom Vater, welchen Dank wir ihm schuldeten. Das lockte die Aufmerksamkeit meiner dankenden Seele auf ihn. Ich begann, ihn zu beobachten. Ich lernte seine Charaktereigenschaften, seine Vorzüge kennen, lernte ihn schätzen. Ich hatte ihn täglich vor Augen, sein bescheidenes Wesen, sein stilles Werben um meine Liebe. Ich betrachtete auch sein Aeußeres zum ersten Male mit anderen Augen. Ich sah, daß er zwar nicht schön war, aber doch auch körperliche Vorzüge besaß, welche mir bisher entgangen waren. Kurz und gut, er war ein edler Mann, und ich lernte ihn lieben. Das war freilich eine ganz andere Liebe als meine erste. Sie hatte nicht die Gluth, die unbedenkliche Hingabe der Ersteren; aber sie war rein, innig und wahr.«

»So habens ihn dann heirathet?«

»Ja. Aber das ging nicht so schnell. Ich fühlte und wußte, daß ich sein nicht werth sei. Ich war ohne den Segen des Priesters das Weib eines Andern gewesen. Durfte ich einem so edlen Manne gehören, ohne mich der größten Sünde, des Betruges schuldig zu machen? Aber konnte ich ihm Alles sagen? Nein und tausendmal nein. Ich wär vor Scham gestorben. Da belauschte ich eine Unterredung zwischen ihm und meinem Vater. Dieser sagt: ihm, daß er mich kenne und daß er glaube, ich liebe ihn, den Rechtsanwalt. Er gab ihm den Rath, zu mir von seiner Liebe zu sprechen. Aus der Antwort, welche darauf erfolgte, erkannte ich den Edelmuth Holbergs. Er sagte, daß er nur mich lieben könne und sein Glück nur an meiner Seite finden würde, aber er glaube, daß ich ihn nicht liebe, sondern nur Dankbarkeit empfinde für das Wenige, was er für uns gethan habe. Vater zerstreute sein Bedenken, und dann – ja dann kam eine Stunde, in welcher der edle Mann meine Hand in die seinige nahm und mich fragte, ob ich sie ihm lassen wolle fürs ganze Leben. Sepp, was hättest Du ihm geantwortet? Sage es mir aufrichtig!«

»Hm! Das weiß ich selberst nicht. Unrecht wärs gewest, ihm nix zu sagen; aberst es ihm zu sagen, das wär wohl auch eine Sünd an ihm gewest, weils ihn unglücklich macht hätt.«

»Das sagte ich ihm auch. Meine Liebe flüsterte mir hundert Entschuldigungsgründe zu, und ich – – wurde seine Frau.«

»Hat ers spätern derfahren?«

»Nein. Das hätte ihn elend gemacht. War ich vorher nicht aufrichtig, so durfte ich es später vollends gar nicht sein. Ich habe mir bittere Vorwürfe gemacht und oft, oft mit meinem Gewissen gekämpft. Grad dann, wenn er die ganze Fülle seiner Liebe über mich ergehen ließ, habe ich mich am elendsten gefühlt; aber ich habe einen großen, großen Trost: ich habe ihn glücklich gemacht, so glücklich, wie ein Weib ihren Mann nur machen kann.«

»So wirds der liebe Gott verzeihen, daß Sie nicht aufrichtig sein konnten.«

»Das hoffe ich von ganzem Herzen. Wir haben fünfzehn Jahre ununterbrochenen Glückes mit einander verlebt; dann starb er mir an einer Epidemie. Seitdem bin ich Wittwe. Während der letzten sechs Jahre war er Bürgermeister des hiesigen Ortes und hat mir dann ein Vermögen hinterlassen, von dessen Zinsen ich sorglos leben kann.«

»Aberst der Bub, der kleine Max Walthern. Was ist aus dem worden?«

»Das ists ja, was ich wissen will!«

»Habens denn nicht nach ihm forscht?«

»Gleich im ersten Jahre meiner Ehe. Ich hatte Gelegenheit, mit einer Freundin nach Regensburg zu reisen, und benutzte dies, nach dem Einödhof zu suchen. Ich fand ihn nicht. Ich habe die Nachforschungen fortgesetzt und sie niemals unterlassen. Erst nach dem Tode meines Mannes hatte ich Freiheit genug, in eigener Person zu suchen. Die Gegend hatte sich verändert. Einst kam ich an ein kleines Häuschen, welches ganz genau aussah, wie dasjenige, an dessen Thür ich meinen kleinen Max auf die Bank gelegt hatte. Ich fragte den Besitzer nach seinem Namen; es war nicht der richtige; aber nach vielen Fragen erfuhr ich, daß vor ungefähr fünfzehn Jahren ein gewisser Beyer, ein Tagearbeiter, hier gewohnt habe, aber bald darauf fortgezogen sei. Fernere Erkundigungen, selbst bei der Behörde, waren vergeblich. Er ist fortgezogen und hat den Knaben mit sich genommen, falls derselbe nicht vorher gestorben ist. Welche Vorwürfe ich mir darüber mache, das könnte nur eine Mutter fühlen, welche so wie ich ihr eignes Kind verstoßen hat. Und nun kommst heut Du und bringst mir das Kreuz, dasselbe Kreuz, mein Kreuz. Es ist mir, als sollte ich aus meiner Pein erlöst werden. Ich habe eine schwere Buße gethan, indem ich Dir Alles erzählt habe. Nun sage aber auch Du mir endlich, wie Du zu dem Kreuz gekommen bist!«

»Das ist ganz eigenthümlich. Das hat ein nackter Kerlen am Hals hangen habt.«

Sie blickte ihn verständnißlos an.

»Was? Sprich deutlicher!«

»Ich saß am Wassern und drinnen in demselbigen da badete Einer. Der hatte das Kreuzle anhangen.«

»Wer war es, wer? Sags schnell!«

»Na, ich hab ihn auch nicht kannt.«

»War er alt?«

»Nein, so ungefähr zwanzig.«

»Mein Gott! Das stimmt ja! Du hast ihn aber doch gefragt, wer und was er ist?«

»Na freilich werd ich das, wenn er das Kreuz am Hals hangen hat.«

»So sags doch, sags! Spanne mich nicht auf die Folter!«

»Ja wissens, ein Schullehrern ists gewest, und Max Walthern hat er heißen.«

Da fuhr sie blitzschnell von ihrem Stuhle auf.

»Max Walther! Ists möglich!«

»Natürlich! Er wird doch den seinigen Namen richtig nennen können!«

»Da stimmt ja auch der Name sehr genau.«

»Ja, der stimmt. Und Anderes stimmt halt auch noch.«

»Was?«

»Daß er bei Regensburgen an einem Häusle, in dem dera Tagearbeiter Beyer wohnt hat, auf die Bank legt worden ist von einem Mädchen, welches ein Glas Milchen verlangt hat und nicht gar sehr nobeln aussehen hat.«

»Ich habe Dir ja gesagt, daß ich mein schlechtestes Kleid angezogen hatte. Und unterwegs, in meinem fieberhaften Zustande, habe ich wohl auf mein Aeußeres so wenig Rücksicht genommen gehabt, daß mein Aussehen nicht das allerbeste gewesen ist. Er ists, er ists, er ists! Aber wohin hat ihn der Tagearbeiter mitgenommen?«

»Gar nicht. Der Mann ist so arm gewest, daß er sich des Buben gar nicht hat annehmen konnt. Er hat ihn also in das Waisenhaus geben mußt.«

»In das Waisenhaus!« Sie schlug die Hände zusammen. »Mein Kind mein armes Kind!«

»Na, da könnens schon ruhig sein. Er hat sagt, daß er da viele Liebe funden hat. Dann hat er einen Gönnern kennen lernt, der hat ihn auf die Schulen than, daß er hat Lehrern werden konnt.«

»Welch eine Fügung! So hat Gott mehr Mitleid mit ihm gehabt, als seine Mutter. Mein Heiland! Was wird er von dieser Mutter denken.«

»Das will Ihnen wohl Sorgen machen?«

»Wie schwere, wie große!«

»Nun, so werfens diese Sorg nur immerst zum Fenstern hinaus! Dera Maxerl ist halt ein gar braver Kerlen und denkt von seiner Muttern gar nix Böses. Er hat eine gar große Sehnsuchten nach derselben und wird ganz glücklich sein, wann er sie nur sehen kann.«

»Wirklich, wirklich?«

»Ja, er hat sagt, daß sie arm sein kann, wie eine Bettelfrauen. Dann will er für sie arbeiten und so gut zu ihr sein, daß sie alles Herzeleiden vergißt, was sie im Leben derfahren hat.«

»Das, das hat er gesagt?«

»O, noch viel, viel mehr!«

»Herr mein Gott, ich danke Dir! So einen Sohn bin ich nicht werth! Ich habe mich so schwer an ihm versündigt, daß ich ihm gar nicht unter die Augen treten darf!«

»Na, wo denkens da eigentlich hin? Den Max seine größte Aengsten ist, daß dera Vatern und die Muttern schon storben sind. Welch eine Freuden, wann ich ihm die Muttern bring.«

»Die ihm nicht einmal sagen kann, wer sein Vater ist!«

»Was das betrifft, so lassens nur den Wurzelsepp sorgen. Der wird den Luftikussen schon so ausfindig machen, daß er ihn beim Schopf derfassen und an den Haaren herbeischleppen kann. Es munkelt so eine geheime Stimm in meiner Seel, daß ich ihn schon recht bald derwischen werd. Wissens, da fallt mir was ein. Habens schon mal einen Steckbriefen gelesen?«

»Ja.«

»So ein Steckbriefen kommt in die Zeitungen, wann ein schlechter Kerlen, ein Verbrechern sucht und funden werden soll. Der Curt von Walthern aberst ist ein Verbrechern. Er hat Ihnen was vorschwindelt; er ist also ein Betrügern.«

»Willst Du etwa haben, daß wir ihn steckbrieflich durch die Polizei suchen lassen?« fragte sie unter einem leisen Lächeln.

»Durch die Polizeien nicht, sondern durch den Wurzelseppen. Bei so einem Steckbriefen steht alleweilen auch ein Signalementen. Jetzt wollen wir auch eins machen, damit ich ihn gleich kenne, wann ich ihn seh. Könnens Sich vielleichten noch derinnern, wie er damals ausschaut hat?«

»Als ob es noch heut wär. So eine Person prägt sich dem Gedächtnisse unauslöschlich ein. Aber was soll es Dir nützen, wenn ich ihn Dir beschreibe?«

»Gar sehr viel.«

»Er ist damals jung gewesen und muß also jetzt ein ganz anderes Aussehen haben.«

»Meinst? Ja, ältern wird er nun wohl ausschaun, als dazumalen; aberst es giebt doch Dingen, welche auch beim Alter nicht anderst werden. Wann er zum Beispiel schwarze Augen habt hat, so werden die nicht indessen roth worden sein und die blonden Haaren blau. Verstanden? Also sagens doch mal, wie alt er damals war!«

»Grad dreißig Jahre.«

»So ist er jetzund fünfzig. War er lang und stark?«

»Nein, sondern mittler Statur.«

»Die Haaren?«

»Blond.«

»Augen?«

»Blau.«

»Zähnen?«

»Vollständig und gut.«

»Hatte er Bart?«

»Ein Schnurrbärtchen. Aber ich kann mir nicht denken, daß dies zu Etwas führen soll!«

»Warum nicht? Lassens nur den alten Wurzelsepp gehn. Der weiß schon, warum er so fragen thut. Sagens lieber, ob er vielleichten so ein besonderes Kennzeichen habt hat, woran man ihn verkennen kann.«

»Das hatte er allerdings. Er hatte sich als Student einmal auf der Mensur befunden – – –«

»Was ist das für ein Ding?«

»Zweikampf. Zwei stehen auf der Mensur, das bedeutet so viel wie, sie stehen vor einander, um zu kämpfen.«

»Welch eine Dummheiten! Mensur! Kann man da nicht lieber gleich sagen: Sie fangen eine Rauferei oder Keilereien an? Nun weiter!«

»Dabei hat er einen Säbelhieb über den Kopf erhalten. Die rothe Narbe davon geht über die linke Stirn fast bis in das Auge hinein.«

»Wanns lieber was tiefer in den Kopf eindrungen wär, so wärs aus gewest mit ihm und er hätt kein braves Dirndl betrügen konnt! Also eine Narben hat er! Das muß man sich merken. Das kann leicht dazu führen, daß ich ihn entdecken thu.«

»Sei nicht zu sanguinisch mit Deinen Hoffnungen!«

»Warum soll ich nicht hoffen? Ich komm halt gar weit im Land herum, und da ists leicht möglich, daß ich mal Einen treff, der eine rothe Narben auf dera Stirn hat. Den werd ich dann gleich beim Schopf nehmen. Und nun sagens mal auch, wie Ihr Namen vorher gewest ist, bevor Sie den Mann geheirathet haben!«

»Mein Vater hieß Hiller, ich also Bertha Hiller. Aber ich bin überzeugt, daß Du diese Erkundigungen ganz umsonst einziehst. Ich werde mir, wie bisher, auch fernerhin Mühe geben, den Vater zu vergessen, und lieber meine ganze Aufmerksamkeit dem Sohne zuwenden. Noch habe ich Dich ja nicht nach einer der Hauptsachen gefragt. Wo hast Du Max getroffen?«

»Das hab ich bereits sagt, nämlich im Wasser, wo er baden that.«

»Bitte, scherze jetzt nicht!«

»Na, so will ich mal ernst sein und Ihnen den Ort nennen. Freuen werdens sich aberst wohl nicht sehr darüber, denn er ist weit von hier, sehr weit!«

»Das schadet nichts! Mag es noch so weit sein, ich reise hin. Und wenns in Amerika und noch weiter sein würde, so suchte ich meinen Sohn auf. Ich muß ihn sehen; ich muß ihn haben. Ich muß ihn um seine Verzeihung bitten und möglichst wieder gut machen, was ich an ihm verbrochen habe. Da kann mir kein Weg zu lang und kein Meer zu breit sein!«

»Na, schlimm ists freilich nicht. Uebers Wassern brauchens nicht, und auf dera Eisenbahn brauchens sich auch nicht zu setzen, denn sie könnens schon recht gut mit denen Füßen derlaufen. Sie brauchen halt nur da über den Berg zu steigen, so sinds halt gleich schon dort.«

»Da, hinüber, also in Bayern?«

»Ja, freilich.«

»Geht es durch viele Orte?«

»Nein, sondern es ist gleich dera erste.«

»Das wäre ja wohl Hohenwald?«

»Das ists. Dort ist er.«

»In Hohenwald! Das ist ja ein wahrer Spaziergang von wenig über einer Stunde! Also dort ist er, so nahe, und ich habe nicht die mindeste Ahnung davon gehabt?«

»Er ist erst seit ganz kurzer Zeit dort.«

»So! Und – – aber, da fällt mir ein: Hohenwald ist so verrufen. Ich glaube, gehört zu haben, daß die dortige Schulstelle eine sogenannte Strafstelle ist?«

»Das ist freilich wahr.«

»Mein Gott! Das erschreckt mich! Hat er einen Fehler begangen? Hat er sich das Mißfallen seiner Vorgesetzten zugezogen?«

»Der? Na, dem fallt das gar nimmer ein! Der ist ein Kerlen, der Haaren auf denen Zähnen und Federn am Buckel hat! Wann der noch eine kleine Weilen in dem Hohenwald ist, nachhero wird die Schulstellen bald keine Strafstellen mehr sein.«

»So! Also ist er brav?«

»Und was für ein Braver! Da könnt ich gar viel bereits erzählen, wann ich nur wollt.«

»Natürlich mußt Du das! Ich will Alles hören, was Du von ihm weißt.«

»Na, meinswegen. Werst es ist heut schon so spät worden und ich muß nun nach denen Gasthofen, sonst find ich keinen Platz zum Schlafen.«

»In den Gasthof lasse ich Dich nicht. Du mußt bei mir bleiben. Du. mußt Alles berichten. Ich werde noch eine Flasche Wein holen.«

»Ja, Frau Bürgermeisterin, das ist freilich der allerbesten Gedank, dens heut gehabt haben. Wanns mir noch ein Weinerl vorsetzen, nachhero bin ich nicht fortzubringen.«

»Gut, also Du bleibst! Sage mir aber noch schnell, wie er aussieht!«

»Na, wie soll er halt ausschaun? Die Beinen hat er unten und den Kopf oben, wie alle Menschen, und Schulmeistern.«

»Bitte, bleib ernsthaft.«

»Na, das bin ich schon! Ich seh bereits, daß ich ihn beschreiben muß fast auch wie in einem Steckbriefen.«

»Das ist nicht nöthig. Ich muß nur wissen, ob er gut aussieht und wohl und gesund.«

»Na freilich! Er ist nicht gar zu groß und stark, aberst auch nicht klein und schwach, wissens, so eine brave Mittelsorten. Haaren und Augen schwarz, das hat er von seiner Muttern. Und dabei hat er eine Körperkräften, die zum Verstaunen ist. Und er sieht auch gar nicht so aus, wie ein Dorfschulmeistern; er hat ein ganz ander Aussehen, viel gelehrter und vornehmer. Wann man ihm zum ersten Male begegnet, muß man bereits einen großen Respecten vor ihm haben. Auch mehr lernt hat er, als ein Schulmeistern, viel mehr. Er ist sogar ein Dichtern worden wie der Schillern und Göthen. Er hat dem Elephantenhanns ein Gedichten macht mit viel Wassern und großen Bäumen und Elephanten und auch einen Geist dazu. Das bringt gar nicht ein Jedern fertig. Und nachhero hat er auch ein Stuck aufs Papieren bracht, was im Theatern spielt werden muß; das wird halt ein Krama nannt.«

»Drama, meinst Du!«

»Ja, so mags sein. Ich weiß das Worten noch nicht so genau, weit ich noch selbst kein solches Lama schrieben hab. Sie werden eine große Freuden über ihn haben, wanns ihn sehen.«

»Ich bin ganz entzückt, lieber Sepp. Natürlich muß ich ihn gleich morgen sehen.«

»So! Da habens das Ding freilich sehr eilig!«

»Ich darf keine Stunde länger zögern, als unbedingt nöthig ist. Ich habe ihn und er hat seine Mutter so lange entbehrt, daß ich keine Minute verlieren darf, mich mit ihm zu vereinigen.«

»Recht habens da gar sehr. Und passen thuts morgen doch auch, denn da giebts keine Schulen, weil ein Feiertag ist. Aberst im Amt ist er da auch, weil er in dera Kirchen die Orgeln schlagen muß.«

»Desto besser. So kann ich sein Spiel hören und ihn sehen, ohne daß er mich bemerkt. Wir müssen also bei Zeiten aufbrechen, Sepp. Hörst Du?«

»Ja, das hör ich schon. Aberst wann wir so gar früh fort wollen, so müssens den Wein recht bald bringen, Frau Bürgermeisterin, sonst ist morgen die Kirchen anfangen und ich hab noch immer keinen.«

»Du hast recht,« lächelte sie. »Ich denke nur an mich und nicht an Dich.«

»Freilich! Und doch ist mir von dem vielen Sprechen und Derklären die Kehlen so trocken wie eine alte Feueressen. Den Ruß muß ich schnell hinabspülen.«

Sie war jetzt eine ganz Andere als vorher. Die Gewißheit, den Sohn zu sehen, verlieh ihr eine ganz jugendliche Spannkraft. Ihre Wangen hatten sich geröthet und ihre Augen leuchteten. Es war nach langer Leidenszeit neue Lebenskraft und neuer Lebensmuth über sie gekommen.

Sie holte den versprochenen Wein und während sich der Sepp denselben schmecken ließ, mußte er von Max Walcher erzählen, so viel er von demselben wußte. Nur das Abenteuer am Mühlenwehr verschwieg er. Als er erzählte, wie Walther gleich bei seiner Ankunft so mannhaft aufgetreten sei, war die Bürgermeisterin wirklich stolz auf den Sohn und fühlte sich so glücklich, wie noch niemals in ihrem ganzen Leben.

Sie trennten sich sehr spät, waren aber dennoch bereits sehr bei Zeiten wach. Die Bürgermeisterin zog sich nur sehr einfach an und dann begaben sie sich auf den Weg. Es fiel der braven Frau gar nicht ein, sich darüber zu schämen, daß sie an der Seite des armen Wurzelhändlers durch das kleine Städtchen ging. Der Sepp war auch hier bekannt und von allen Leuten geachtet.

Der Weg nach Hohenwald führte den Berg hinauf, an dem Schlosse vorüber und dann durch den Park, welcher zu dem Letzteren gehörte. Dann senkte er sich wieder abwärts, bis er in der Nähe der Mühle aus dem Walde trat und man Hohenwald vor sich liegen hatte.

Als Beide am Schlosse vorübergingen, blieb der Sepp einen Augenblick stehen und fragte:

»Ich hab hört, daß Schloß Steinegg verkauft ist. Wie heißt der jetzige Besitzern?«

»Es ist ein Baron von Alberg.«

»Aus dera hiesigen Gegend?«

»Nein. Er ist noch niemals hier gewesen. Er bekleidet eine hohe Anstellung in Wien, wo er von seinen Pflichten so festgehalten wird, daß er nicht selbst kommen konnte, sondern seine Tochter geschickt hat, um die Einrichtung des Schlosses zu beaufsichtigen.«

»Was für ein Dirndl ist sie, diese Tochtern?«

»Eine liebe, gute, junge Dame. Ich bin sehr oft mit ihr zusammen und habe sie wirklich herzlich lieb gewonnen. Natürlich ist auch sie noch niemals hier gewesen.«

»So kenn ich sie halt nicht.«

»Nein. Aber Du wirst sie gleich kennen lernen, denn dort kommt sie.«

Sie waren am Gebäude des Schlosses vorübergekommen und hatten den Park erreicht. In einiger Entfernung vor ihnen trat Milda mit Asta aus einem Seitenpfade auf den Hauptweg heraus. Sie hatten einen Morgenspaziergang gemacht und kamen den Beiden langsam entgegen.

»Welche ists?« fragte der Sepp.

»Die Schlanke.«

»Und wer ist die Andre?«

»Ein Fräulein von Zelba, welche den astronomischen Namen Asta führt.«

»Solche Namen können mir niemals gefallen. Wenn Einer sich immer bei so einem vornehmen Namen nennen hört, so wird er endlich gar selberst vornehm und stolz. Das ist wohl auch bei dera der Fall, denn sie schreitet so ganz besonderbar einher, grad als wanns in jeder Taschen eine Millionen stecken hätt.«

»Ja, stolz ist sie. Sie hat mich gestern, als ich ihr vorgestellt wurde, fast gar nicht angesehen.«

»So, dann mag sie nur höflich danken, wenn ich sie jetzt grüß, sonst sag ich ihr meine Meinung.«

»Das wirst Du nicht thun. Solche Leute läßt man in ihrem Hochmuthe gehen.«

»Ich werd sie auch gehen lassen. Ich halt sie nicht fest, aber Etwas thät ich ihr doch mitgeben.«

Die beiden Paare begegneten sich. Asta blickte verächtlich zur Seite. Milda machte zwar auch ein einigermaßen befremdetes Gesicht, als sie den ihr unbekannten Sepp an der Seite ihrer Freundin erblickte, nickte derselben aber doch bereits von Weitem freundlich zu.

Die Bürgermeisterin verbeugte sich vor den beiden adeligen Damen und der Sepp zog sehr höflich den Hut. Asta sah es gar nicht. Sie ging vorüber. Milda aber blieb stehen.

»Schon so früh munter, liebe Frau Bürgermeisterin,« sagte sie, ihr die Hand gebend. »Wollen Sie einen Spaziergang machen?«

»Ja, gnädige Baronesse. Und mit dem Angenehmen habe ich etwas Nützliches zu verbinden. Ich bin nach Hohenwald gerufen worden.«

»Dann darf ich Sie ja nicht aufhalten.«

Sie gab ihr die Hand zum Abschiede und ging der Freundin nach.

Sepp hatte bewegungslos dagestanden und kein Auge von ihr verwendet. Es zuckte über sein Gesicht wie eine große Ueberraschung.

»Komm!« sagte die Bürgermeisterin, als er auch jetzt noch stehen blieb und Milda nachblickte.

Sie hatte Sorge, daß er seinem Vorsatze folgen und gegen Asta grob sein werde.

»Donnerwettern!« stieß er hervor.

»Was hast Du?«

»Nix für Sie. Laufens langsam fort. Ich hab das Fräulein um was zu fragen.«

Er wendete sich rückwärts und eilte den beiden Damen nach. Sie hörten ihn kommen und blieben stehen, da sein Nahen nur ihnen gelten konnte. Er zog den Hut sehr respektvoll, blieb vor ihnen stehen und sagte:

»Bitt gar schön, Fräulein Baronessen! Nehmens halt nicht übeln, daß ich Sie vermolestir! Ich hab zwar kein vornehm Gewandel an, aberst ein braver Kerlen bin ich dennoch. Ich möcht halt sehr gern was fragen.«

»Thun Sie es,« antwortete Milda.

»Nicht wahr, Ihr Namen ist von Alberg?«

»Ja.«

»Lebt dera Herrn Baron Vatern noch?«

»Allerdings.«

»Ist er von nicht gar zu großer Figuren?«

»Ja.«

»Und er hat blonde Haaren?«

»Gewiß. Aber bitte, welche Ursachen haben Sie zu diesen eigenthümlichen Fragen?«

Statt die Antwort Sepp's abzuwarten, fiel Asta sogleich ein:

»Keine Ursache hat er. Der Mensch muß nicht recht im Kopfe sein.«

»Warum?« meinte Sepp.

»Sonst würden Sie nicht in dieser Weise nach dem gnädigen Herrn Baron von Alberg fragen.«

Er blickte sie vom Kopfe bis zu den Füßen herab an, drehte sich dann von ihr ab, Milda zu und fuhr zu dieser fort!

»Gnädiges Fräulein, Sie kennen mich nicht. Man nennt mich den Wurzelsepp, weil ich mit Wurzeln handle. Aber ich bin kein Irrer und auch kein Landstreichern. Sogar unser König redet gern mit mir, wann ich mal zu ihm kommen thu, und ich hab bereits mit manchen vornehmen Leutln so sprochen, wie ein Anderer nicht mit ihnen sprechen darf. Darum dürfen auch Sie mich anhören. Und Sie werdens thun, denn Sie haben ein liebs Gesichterl und zwei seelensgute Augen.«

Sie erröthete ein Wenig und nickte ihm dann gewährend zu:

»Sprechen Sie weiter!«

»Ich hab mirs denkt, daß ich darf. Ich habs Ihnen halt gleich angeschaut. Und das will ich Ihnen sagen, daß ich nicht unnütz frag, sondern daß ich eine sehr große Ursachen dazu hab, die ich Ihnen wohl einmal sagen werd. Nicht wahr, Ihr Herrn Vatern hat auch blaue Augen?«

»Ja.«

»Und eine Narben ans dera linken Stirn, von einer Pfenuren, auf der er standen hat.«

»Auch das ist richtig.«

»Haben Sie noch Geschwistern?«

»Nein.«

»So dank ich Ihnen gar schön! Heut kann ich Ihnen noch nicht sagen, warum ich diese Verkundigungen einizogen hab, aberst nächster Tagen werd ich mal um die Erlaubnissen bitten, mit Ihnen sprechen zu dürfen. Nachhero werdens wohl derfahren, daß ich meinen guten Grund habt hab.«

Und sich nun wieder zu Asta wendend, fuhr er fort:

»Und Sie, wissens, wanns wiedern mal gegrüßt werden, so dankens fein hübsch. Wann man vornehm ist, so muß man erst recht höflich sein, sonst ist man halt noch unverbildeter als gewöhnlichen Leut. Verstanden, Fräulein!«

Sie stand ganz starr.

»Frecher Mensch!« stieß sie hervor.

»Oho! Frech sagst zu mir? Da kommst gar schön an. Frech bist nur Du, daßt einer Damen nicht dankst, wie die Frau Bürgermeisterin ist! Denkst wohl, Du bist was Bessres? Denkst wohl, Deine Haut ist von Saffianen und Dein Gesicht von Marzipanen? Weißt, wannst zu viel trinkst, wirst auch besoffen, and wannst zu viel issest, bekommst auch das Schneiden im Leib, grad wie andere Menschen. Du bist aus demselbigen Stoff auch wie andere Leut, und wannst stirbst, so fangst auch an zu riechen, so daß man Dich fortschaffen muß. So eine Eiernudeln wie Du wird auch nur gefressen Und nun schau, daßt fortkommst! Du machst ja ein Gesichten, als ob die Gans den Schneemuff verschlungen hätt!«

Er drehte sich um und eilte der Bürgermeisterin nach, welche von dieser Unterhaltung nichts gehört hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, zurück zu schauen, um zu sehen, welchen Eindruck seine Strafrede gemacht habe.

Dieser war allerdings ein gewaltiger, denn Asta fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

»Das – das – das – – ah, hast Du es gehört?« stammelte sie.

Milda nickte nur. Der Alte war ihr sympathisch gewesen und der Freundin gönnte sie diese Zurechtweisung. Freilich hätte dieselbe nicht gar so grob kommen sollen.

»Also Wurzelsepp, Wurzelsepp!« rief Asta. »Er kommt aus der Stadt, er muß also dort wohnen. Ich werde sofort zur Polizei gehen, um ihn bestrafen zu lassen.«

Sie eilte fort und ließ Milda stehen.

Mittlerweile war der Sepp mit seiner Begleiterin weiter gegangen. Sie versuchte zu erfahren, was er mit der Baronesse zu sprechen gehabt habe, doch verschwieg er es.

Der Weg führte durch den Wald. Bald ging ein Seitenpfad rechts ab. Sepp bog in denselben ein.

»Das ist doch nicht der richtige Weg,« sagte sie. »Wir müssen gradaus gehen.«

»Kommens nur immer mit,« antwortete er. »Oder fürchtens sich, mit dem Sepp allein im Wald zu sein?«

»Nein. Dazu habe ich keine Veranlassung.«

»Dann gehens nur mit. Ich muß Ihnen was zeigen.«

»Was?«

»Einen Mann, der da drinnen wohnt.«

»Warum?«

»Das werdens bald derfahren. Gestern am Abend habens von dem Beyer sprochen, der Tagarbeitern gewest ist. Deshalben geh ich jetzunder hier in den Wald hinein.«

Er schritt rasch aus, um weiteren Fragen vorzubeugen und sie mußte folgen.

Nach mehreren Windungen des Weges kamen sie an eine von Bäumen befreite Stelle, an welcher eine alte sehr baufällige Hütte stand. Diese hatte nur zwei sehr kleine Fenster. Sepp klopfte an die Thür.

»Wer da?« fragte drinnen eine mürrische Stimme.

»Dera Wurzelsepp.«

»Gleich!«

Es dauerte eine Minute, bevor die Thür geöffnet wurde, dann kam ein langer, hagerer, kahler Kopf zum Vorschein.

»Bist auch wieder mal da?« erklang es unter der spitzigen Nase heraus.

»Das siehst ja, wannt mich anschaust!«

»So komm herein.«

»Heut bleib ich heraußen. Ich werd gar nicht lang bleiben; ich hab nur den Waldheger was fragen wollt.«

»So frag!«

Der Mann trat jetzt heraus. Er hatte trotz seiner schmalen, scharfen Gesichtszüge doch das Aussehen eines sehr gutmüthigen Menschen. Die Bürgermeisterin stand seitwärts, sodaß die offene Thür sich zwischen ihm und ihr befand, darum sah er sie nicht.

»Kennst vielleicht den neuen Herrn Lehrern?« fragte der Wurzelsepp.

»Da ist immer ein Neuer da, aberst keiner taugt was. Jetzt wohl wieder?«

»Ja.«

»Den hab ich noch gar nicht sehen. Was kümmert mich dera Lehrern? Ich geh nicht mehr in die Schulen.«

»Vielleicht thät er Dich doch was verinteressirn. Nicht wahr, Du bist früher Tagarbeitern gewest?«

»Freilich. In dera Gegend von Regensburg ists gewest.«

»Wo da?«

»Am Wasser aufwärts, beim Einödbauern, der damals Günther heißen hat.«

»So, also so! Und da kümmerst Dich nicht um den neuen Herrn Lehrern? Das ist wunderbar.«

»Warum wunderbar?«

»So hast auch wohl noch nicht hört, wie er heißt?«

»Ich hab schon sagt, daß er mich nix angeht. Er mag heißen, wie er will.«

»Na, wirst gleich anderst denken, wann ich Dir den Namen sag. Er heißt nämlich Max Walthern.«

Die lange Gestalt des Waldhegers fuhr kerzengrad empor.

»Max Walthern?« sagte er. »Alle Teufeln! Sollt das etwan dera Bub sein, welcher –«

»Nun, welcher? Was stehst nun da und sperrsts Maul sperrangelweit auf?«

»Weil dera Namen mir freilich bekannt ist.«

»Habs auch denkt.«

»Wieso kannst Du's dacht haben?«

»Weil ich weiß, daßt mal einen Buben gefunden hast, der grad so geheißen hat.«

»So! Da möcht ich auch fragen, wie Du das derfahren hast. Uebrigens hab ich den Buben nicht funden, sondern er ist mir grad nur so vor die Thür legt worden. Auf einem Zettel hat dera Namen standen, und am Hals hat er ein Kreuzerl habt. Ich bin ein armes Wurm west, fast noch ärmern als jetzund und hab den Buben ins Waisenhaus schafft. Was mit ihm worden ist, das weiß ich nicht, denn ich bin nachhero fortzogen, bald hierhin, bald dahin, wo ich grad eine Arbeiten funden hab.«

»Und bist doch so sucht worden.

»Von wem?«

»Von dem Mädchen.«

»Das sollt mich verwundern. Wer sein Kind in dieser Weise verläßt, der sucht nicht wiedern darnach.«

»Und doch hat sie sucht. Sie ist ein braves Dirndl west und krank. Sie hat das Fiebern habt im Kopf und in denen Nerven und da weiß man nicht, was man thut.«

»Ja, wanns so ist, so will ich ihr abbitten, was ich von ihr denkt hab. Also dera Bub ist nun groß und jetzt hier Schullehrern worden?«

»Ja. Kannst ihn Dir mal anschaun.«

»Freilich werd ich ihn mal aufsuchen. Vielleicht schenkt er mir da eine Cigarren odern gar ein Maß Bier. Dazu bring ichs von mir selber halt nicht so oft.«

Da trat die Bürgermeisterin hervor und fragte:

»So sind Sie wohl sehr arm.«

»O Jerum, ein Frauenzimmern!« rief er aus. »Sepp, was machst mit einem Weibsenbild im Walde?«

»Ich such den gestrigen Tag und kann ihn nicht finden. Jetzt aberst antwort doch, wannt fragt wirst!«

»Na, meinetwegen! Ob ich arm bin? Na freilich bin ich arm. Wann ich mir mal eine Extra-Güten thun will, kann ich Tannenzapfen essen.«

»Das sollen Sie nicht,« sagte die Dame. »Würden Sie jenes Mädchen, welches vergaß, daß Kind mitzunehmen, heut wieder erkennen?«

»Das wird schwer sein. Es sind seitdem doch nun zwanzig Jahren verflossen.«

»So will ich Ihnen sagen, daß ich es bin.«

»Sie!« Er schlug überrascht die Hände zusammen. »Sie sinds gewest, Sie? Na, damals habens mir halt eine schöne Arbeiten macht. Ich hab doch gar nicht wußt, was ich mit dem Kind anfangen sollt!«

»Sie haben gethan, was Sie thun konnten, und Sie sollen es nicht umsonst gethan haben. Würden Sie bereit sein, mich zu unterstützen, wenn Ihre Gegenwart nöthig wäre, falls der Lehrer legitimirt werden soll?«

»Allemalen! Das ist ja meine Schuldigkeiten.«

»Gut! So sagen Sie mir, was ich für Sie thun kann!«

»Sie für mich? Nix.«

»Was gar nichts?«

»Nein. Was solltens für mich thun können? Etwan im Wald herum laufen und meine Arbeit machen? Die muß ich halt selberst thun.«

»So meine ich es nicht. Ich wollte gern wissen, ob Sie nicht irgend einen Wunsch haben. Ich möcht Ihnen gern Etwas schenken.«

Da erheiterte sich sein altes Gesicht. Er kratzte sich mit beiden Händen den Kahlkopf, trotzdem derselbe keine Haare mehr hatte und meinte schmunzelnd:

»Ja, das ist freilich eine sehr böse Geschichten!«

»Wieso?«

»Sie wolln mir was schenken, und dos thät ich mir auch gar wohl gefallen lassen, aberst jetzt weiß ich nun nicht, was ich thu. Verlang ich zu viel, so geben Sie mirs nicht, und verlang ich zu wenig, so komm halt ich schlecht dabei weg.«

»Verlangen Sie nur getrost!«

»So! Na, so gebens mir vielleicht einen Groschen für ein Bier?«

»Gern!« lächelte sie über diese Bescheidenheit.

»Vielleicht gar auch fünfzehn Pfennige noch für ein Packeterl deutschen Kaisertabaken?«

»Auch das noch!«

»Aberst nun natürlich weiter nix?«

»O, wünschen Sie nur zu!«

»So gebens halt noch dreißig Pfennige für meine Schuhen hier. Sie haben einen Rissen, und ich muß mir einen Seitenflecken draufsetzen lassen.«

»Schön! Weiter!«

Er blickte sie ganz erstaunt an.

»Immer noch weitern?« fragte er.

»Ja.«

»Na, wanns gar so gut sein wollen, so gebens mir noch zwanzig Pfennige für einen Topf, worinnen ich mir meine Suppen kochen kann. Der vorige ist in diesem Winter zerfroren, und da muß ich nun kalt' Wassern trinken.«

»Auch das sollen Sie haben. Und wünschen Sie vielleicht noch Etwas?«

»Wie? Gar noch immer was?«

»Jawohl.«

»Da hat doch Ihre Güten und Mildthätigkeiten gar kein End! Wann das so ist, so werd ich mich mal sehr feini versteigen. Da kommt hier nun gar die Uhren daran. Darf ich?«

Er zog eine riesige Taschenuhr hervor, welche an einer starken Eichhörnchenkette hing.

»Immer wünschen Sie! Hat das Werk einen Fehler?«

»Nein, das hat keinen Fehlern. Wanns mal an einem Tag eine halbe Stunden vorauslaufen ist, so bleibts am nächsten Tag drei Viertelnstunden zuruck und dann läufts übermorgen wiedern eine Viertelstunden vor, und hernach hab ich ja gleich wiederum die richtige Zeiten. Also einen Fehlern hat die Uhr nicht. Es ist ein gar altes Erbstuck von meinem Großvater mütterlicher Seits, aus dem besten Tombak gemacht und mit vier Gehäusern gar – eine schwere und gar gewichtige Uhren! Aber vor anderthalb Jahren habe ich denen Schlüsseln verloren. Da borg ich mir zuweilen einen, wann ich Jemand treff, dessen Schlüsseln grad in die meinige paßt. Das ist ab erst äußerst selten weil sie gar so ein großes Schlüsselloch hat. Ich habs auch wohl versucht, mit dera Drahtzangen hinein zu. langen und sie aufi zu ziehen, äderst da kann ich mir leicht das kostbare Werk zu schanden machen. Also muß ich mir doch bald wiederum einen eigenen Schlüsseln kaufen.«

»Und den soll ich bezahlen?«

»Wanns wollen, bitt ich gar schön!«

»Wieviel kostet er?«

»Den macht mir dera Schlosser. Da ist er am Stärksten und hält am Längsten. Ich glaub, er wird halt nicht mehr verlangen als fünfzehn Pfennige vielleicht.«

»Die sollen Sie auch haben.«

»Na, so eine Güten ist mir seit langer Zeit nicht anthan worden! Jetzt nun kann ich nix mehr verlangen, und da wollen wir mal zusammenrechnen. Einen Topf, einen Uhrschlüsseln, einen Seitenflecken auf denen Stiefeln, ein Tabakspaketen und auch noch ein Bier. Das macht zusammen –«

Er hielt inne und kratzte sich sehr verlegen auf der Platte. Dann meinte er:

»Ja, verteuxeli, jetzt weiß ich nimmerst mehr, wie viel ich für das Einzelne anrechnet hab. Nun können wir nur gleich wiedern von vorn anfangen!«

»Nein, nein,« lachte die Bürgermeisterin. »Ich will Ihnen gleich lieber Etwas in Pausch und Bogen geben.«

»Meinswegen auch so! Aberst ob auch dieser Pausch und Bogen nachhero ausreichen wird?«

»Ich hoffe es. Hier haben Sie!«

Sie gab ihm zwei Stücke aus ihrer Börse. Er betrachtete dieselben, dann die Dame, ging mit den Augen noch einige Male herüber und hinüber und sagte dann:

»Jetzunder weiß ich gar nimmer, ob meine Augen auch noch richtig sehen können.«

»Nun, was sehen Sie denn?«

»Das sieht ja grad wie Gold aus, kanns aberst doch gar nicht sein!«

»Es ist Gold.«

»Dann ists ja ein Zwanzigmark- und nachhero noch ein Zehnmarkstuckerl!«

»Gewiß.«

»Aberst das kann doch nicht mir gehören sollen!«

»Warum nicht? Ich schenke es Ihnen.«

Er machte den Mund weit auf, schluckte und schluckte, als ob er Etwas drinnen habe, und sagte:

»Madame, wann ich mich nicht verrechnen thu, so sind das dreißig Markerln oder zehn Thalern!«

»Das ist richtig!«

»Und mein, mein solls sein! Sepp, Sepp, glaubst das etwan auch?«

»Freilich glaub ichs. Die Dame ist gut. Sie schenkt Dirs gern.«

»So will ich nur machen, daß ich schnell fortkomme, sonst könnts sich und zu meinen Kindern. Herrgott, wird das ein Jubel sein! Adjeh, Sepp, Adjeh, Madame! Behüts Gott alle Beid! Lebens recht wohl, und dank auch schön!«

Er nahm sich gar nicht Zeit, die Waldhütte zuzuschließen. Er rannte davon, so schnell seine alten Beine es ihm erlaubten.

»Da habens freilich eine Freuden angerichtet!« lachte der Sepp. »Der kanns halt brauchen!«

»Er soll noch mehr bekommen. Ist das nicht wieder eine Schickung Gottes, daß er diesen Mann und meinen Sohn so ganz in meine Nähe führt? Komm, Sepp, komm! Laß uns weiter gehen!«

Sie kehrten auf einem zweiten Waldpfade wieder nach dem Hauptwege zurück und folgten diesem bis zu der Brücke, welche über den Bach führte. Dort sahen sie Hohenwald vor sich liegen. Sie blieb stehen.

»Dort also, dort wohnt und lebt mein Sohn?« sagte sie, wie in Andacht die Hände faltend. »Dort ist die kleine, ärmliche Kirche, in welcher er nachher, die Orgel spielen wird! Mein Gott, wie ist mir zu Muthe! So froh, so selig und doch so bang!«

Sie schritten über die Brücke. Da kam hinter den Büschen des anderen Ufers der König daher. Die Drei trafen auf einander. Sepp zog den Hut. Die Bürgermeisterin grüßte auch, blieb aber mitten im Gruße starr halten. Sepp beeilte sich, ihr zu sagen:

»Das ist der Herr Ludwig, der hier für ein paar Tage wohnt.«

»Ludwig!« stotterte sie. Dann machte sie eine tiefe Verneigung. »Majestät!«

»Bitte!« antwortete der Monarch. »Nicht Majestät! Ich will hier nicht erkannt werden. Wenn Sie mich kennen, so ersuche ich Sie um Discretion.«

Sie beugte sich abermals. Sepp meinte einfach:

»Das ist nämlich die Frau Bürgermeisterin von Steinegg da drüben. Sie will zu ihrem Sohn, dem Herrn Lehrern.«

»Wie? Ich denke, dieser ist ein Findelkind.«

»Ja, er ist schon ein Findelkind, aberst sie gehören dennerst zusammen, denn sie ist eine Findelmutter, weil ich sie funden hab.«

»Ich verstehe das nicht.«

»Frau Bürgermeisterin, soll ichs verzählen?«

Die Frau erröthtete und erbleichte. Ihre Verlegenheit war eine ungeheure.

»Es handelt sich hier jedenfalls um eine discrete Angelegenheit,« sagte der König. »So sehr ich mich für den Lehrer interessire, kann ich doch nicht zugeben, daß der Sepp über Ihre privaten Angelegenheiten spricht.«

»Ach was!« rief der Sepp. »Wanns Eisen warm ist, so muß mans schmieden, sonst wirds wiederum kalt. Frau Bürgermeisterin, bedenkens, daß dera Max im Bayrischen geboren und auch da erzogen worden ist. Unsera königliche Majestäten habe also ein Wort mit drein zu sprechen, und es wird vielleicht niemalen wiedern vorkommen, daß Sie den guten, gnädigen Herrn so treffen wie grad jetzt in diesem Augenblick. Nehmens sich ein Herz, und redens von dera Leber weg. Er wird Sie nicht fressen. Dazu ist er doch gar zu gut und freundlich. Ich werd mich dabei zurückhalten und fein hinterherkraxeln.«

Der König machte eine Wendung zum Weitergehen, und die Bürgermeisterin hielt dies für eine Aufforderung, sich an seiner Seite zu halten. Sie folgte derselben. Der Sepp ging in gehöriger Entfernung hinter ihnen her. Er schmunzelte höchst vergnügt vor sich hin und brummte:

»Sepp, bist doch ein Teufelskerlen! Alles bringst zu Stande, Alles! Jetzt hast sogar Die da auf den König hetzt. Nun wird das Ding mit dera Legitimationen gleich gehen wie geschmiert!«

In der Nähe des Dorfes blieben die beiden Voranschreitenden noch eine ganze Weile in ernstem Gespräch stehen. Der Sepp sah dann, daß die Bürgermeisterin weinend des Königs Hand ergriff und ihre Lippen darauf drückte. Der Monarch schien tief gerührt zu sein. Es lag jener tiefsinnig-wohlwollende Zug über sein Gesicht ausgebreitet, welchen man stets an dem hohen Herrn bemerkte, wenn sein Herz in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er nickte ihr zu, schenkte auch dem Sepp einen Blick und schritt dann langsam weiter.

Er ging hinter dem Dorfe hinweg, an Das denkend, was ihm die Bürgermeisterin in tiefster Reue und unter strömenden Thränen erzählt hatte. Seine Stirn legte sich in Falten. War sie nicht zu rechtfertigen, so war sie doch zu entschuldigen, denn sie hatte nur unter dem Einflusse ihres krankhaften Zustandes sich des Kindes entledigt. Wer aber war jener Schurke, welcher ein vertrauensvolles Mädchenherz in solcher Weise hintergangen hatte? Jedenfalls ein Angehöriger der feinen Aristokratie, welche dem Volke doch als leuchtendes Beispiel gelten sollte. Er verdiente die strengste Strafe, und diese Strafe sollte ihm werden, falls es gelang, ihn zu entdecken.

So dachte der König. Es war ein wunderbar schöner Feiertagsmorgen. Die Sonne leuchtete in all ihrer Pracht. Die Lerchen trillerten. Vom Busch her ertönte lauter Finkenschlag. Der König hörte es nicht. Sein Herz war so tief traurig. Welch eine Fülle von Schmerz vermag eine einzige Menschenseele in sich zu fassen! Hier, dieses kleine Hohenwald, dieses weltvergessene, einsame Gebirgsnest, wie viel Sorge und Noth, wie viel Jammer und Elend, wie viel Schlechtigkeit und Verbrechen trug es versteckt in seinen Häusern! Und nun die weite, weite Erde – welche undenkbare Masse von Herzeleid hat sie zu tragen, während sie stolz und leuchtend in furchtbarer Eile um die Sonne rollt! Ist das Leben denn überhaupt werth, daß man es lebt! Ist das Hohe, das Edle, nach welchem der Erdensohn strebt, denn wirklich so erhaben? Verdient es die Wissenschaft, die Kunst denn wirklich, daß man ihr die Leiden, Entbehrungen und Anstrengungen seines ganzen Daseins opfert? Ist nicht der Augenblick, an welchem ein müdes Auge bricht, um das Aufleuchten einer besseren Welt zu erblicken, nicht der schönste, der beneidenswertheste im ganzen Leben? Ist der Tod nicht Erlösung von allem Uebel, und bedeutet nicht der Klang der Sterbeglocken einen Bewillkommungsruf aus höheren Sphären, was die Seele Alles abgestreift hat, was – –

Er fuhr aus seinem Sinnen auf. Der Pfad hatte geendet und er stand vor der einstigen Flachsdörre. Die alte Feuerbalzern saß vor der Thüre auf einem Stein und flickte ein altes Tuch, welches kaum noch zu flicken war.

»Guten Morgen,« grüßte er.

»Guten Morgen,« dankte sie. »Der Herr hat sich gewiß verlaufen. Wo wollens denn halt hin, zu wem?«

»Ich geh nur spazieren.«

»So, dann sinds ein gar glücklicher Mensch. Unsereins kann nimmer spazieren gehn. Dazu giebts halt keine Zeit. Man muß schaffen, schaffen und immer schaffen, wann man nicht verhungern will.«

»Sind Sie so arm?«

»Arm? Du liebes Herrgott!? Wann wir nur blos arm wären, so wollt ich noch froh sein! Elend sind wir, die elendesten Leutln weit und breit.«

»Das wäre ja unaussprechlich traurig! Worin besteht denn Ihr Elend?«

»Das wissens nicht? Habens noch nimmer von der verrückten Feuerbalzern hört?«

»Es ist mir, als ob man mir diesen Namen einmal genannt hätte. Aber Genaues weiß ich nicht.«

»Sie können es sogleich derfahren.«

Und er erfuhr es. Die einstige Balzerbäuerin war stets bereit, Jedermann ihre Noth zu klagen. Sie that es auch jetzt. Sie erzählte Alles. Sie erzählte am Schlusse auch, daß der neue Lehrer der Einzige sei, der sie nicht verachtet, sondern ihr die Hand gereicht habe und sogar mit ihr gegangen sei.

Während der Erzählung war der Balzer aus dem Hause getreten. Er starrte dem Könige in das Gesicht. Das Auge des hohen Herrn ruhte forschend auf ihm.

»Ihr Sohn hat nicht das Aussehen eines Verrückten,« sagte er. »Es ist, als ob die Intelligenz sich vergeblich anstrenge, hervorzubrechen. Wo hat ihn denn damals der Balken getroffen?«

»Auf den Kopf freilich.«

»Das haben Sie mir bereits gesagt. Aber an welche Stelle?«

»Das kann ich halt nicht wissen. Das hat doch nur dera Doctoren merken konnt.«

So schmutzig der Balzer aussah, der König legte ihm doch die Hand prüfend auf das wirre Haar.

»Freund, guter Freund!« stammelte der Kranke, indem er dankbar nach der anderen Hand des Königs haschte.

Der Letztere betastete mit den Fingerspitzen den Kopf. Balzer duldete es, ohne eine Miene zu verziehen. Plötzlich aber schrie er laut auf. Der König hatte eine Stelle getroffen, welche schmerzte.

»Das habe ich mir gleich gedacht, als ich Ihrem Sohne in das Auge blickte. Er leidet nicht an einem Wahngedanken; sein Geist schläft auch nicht, sondern ist von einem physischen Drucke mit aller Gewalt niedergehalten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich meine, die verletzte Stelle seines Kopfes ist noch gar nicht geheilt; darum wird sein Geist verhindert, normal thätig zu sein. Wenn diese Stelle zur Heilung gebracht wird, so wird Ihr Sohn auch geistig gesunden. Er wird nicht mehr irr im Kopfe sein.«

Da blitzten ihre Augen auf. Sie warf das Tuch von sich, stand von dem Steine auf und fragte:

»Nicht mehr irr wird er sein? Er wird dann denken können und auch sprechen?«

»Ich bin kein Arzt und kann also nichts behaupten, aber ich vermuthe, daß ich Recht habe.«

»Und könnt er sich dann auch auf Alles besinnen, was damals in jener Nacht geschehen ist?«

»Ich glaube es.«

»Und er könnt es uns verzählen?«

»Gewiß.«

»Herrgott! Wärs möglich? Das ist das erste Licht, was ich leuchten seh. Wann doch die Stelle heilen thät! Dann käms heraus, wo unser Geld ist, und wer das Haus anbrennt hat. Warum sinds doch kein Arzt! Warum!«

Der König hatte jetzt die Stelle abermals berührt. Balzer stieß einen Weheruf aus und bat:

»Nimms hin, nimms hin! Ich sag ja nix. Gnade, Gnade!«

Dann, als der König die Hand von ihm nahm, rannte der Jammernde eiligst davon, um den Schmerz nicht etwa nochmals leiden zu müssen.

Der König blickte ihm sinnend nach und erkundigte sich dann:

»Ist denn nie ein Arzt auf denselben Gedanken gekommen, den ich soeben ausgesprochen habe?«

»Nein. Unsere Aerzten haben nie nix taugt. Und von fremd her einen klugen kommen lassen, das können wir nicht. Wir haben ja keinen einzigen Pfennig dazu.«

»Es soll ein kluger herkommen. Ich werde ihn rufen lassen.«

»Sie? Sie? Für uns? Sie wollen zahlen?«

»Ja, und zwar bald. Morgen bereits soll er hier sein.«

Da stürzte sie sich auf seine Hände, ergriff beide und bedeckte sie abwechselnd mit Küssen.

»Ists wahr? Ists wahr?« rief sie dabei. »O, ich weiß halt nicht, wers sind, aberst für uns sinds ein Engel, ein guter Engel vom Himmeln herab. Thun Sie's, ja thun Sie's! Wir können Ihnen freilich nix dafür geben, aberst dera Herrgott wirds Ihnen vergelten im Himmeln und in dera Seligkeiten!«

Er wehrte sie von sich ab.

»Wer wohnt noch in diesem Hause?«

»Dera Finkenheiner mit den Seinigen.«

»Ist er daheim?«

»Ja. Da droben steht er ja bereits am Fenstern und schaut herab auf uns.«

»So will ich ihn einmal aufsuchen.«

Er stieg die Treppe empor. Droben öffnete der Heiner bereits die Thüre.

»Der Herr Ludewigen,« sagte er. »Das ist gar schön, daß Sie mal zu uns kommen. Ich bin mit dem Sohn allein. Die Liesbeth ist mit –« er wollte sagen »mit ihrer Mutter«, schluckte aber die Worte wieder zurück – »nach dem Mühlen gegangen. Hier ist mein Bub, dens den Elephantenhannes nennen, weil er so gern so große Thieren malt.«

Der Jüngling saß bleich und matt wie gewöhnlich in seinem Stuhle. Er hatte ein von dem Lehrer geliehenes Buch vor sich. Seine großen, intelligenten Augen richteten sich mit demüthig forschendem Blick auf die gewaltige Persönlichkeit des Königs. Dieser winkte ihm freundlich zu und fragte:

»Könnte ich nicht vielleicht Etwas sehen, was Sie gezeichnet haben, junger Freund?«

»O, sehr Viel!« antwortete Heiner an Stelle seines Sohnes. »Das steht auf vielen hundert Blättern.«

Das Gesicht des Sohnes war leicht geröthet. Er machte eine abwehrende Handbewegung gegen den Vater und sagte:

»Nein, das zeig ich nicht mehr her. Das taugt ja Alles nix, gar nix. Das hab ich einsehen, seit der Herr Lehrern mich unterrichtet und seit ich in seinen Büchern les. Das neue, das Pastellenbild, wird wohl besser; aberst ich kanns auch noch nicht herzeigen, denn es ist noch nicht fertig.«

»Ich will Sie keineswegs dazu zwingen,« sagte der König. »Aber ich darf vielleicht erfahren, welchen Gegenstand es behandelt.«

»Ja, das kann ich schon sagen. Ich hab ein Bild zu zeichnen über ein Gedichten, welches dera Herr Lehrern macht hat.«

»Erlauben Sie mir, es zu lesen?«

»Er wird wohl nix dagegen haben, wann ichs Ihnen mal zeig.«

»Geben Sie es mir getrost? Ich werde es bei ihm verantworten. Wir sind gute Freunde.«

»So sollen Sie es gern haben. Hier ists.«

Der König erhielt das Blatt. Er las:

»Es treibt die Fanna heimathslos
        Auf der bewegten Fluth,
Wenn auf dem See gigantisch groß
        Der Talha Schatten ruht.

Er breitete die Netze aus
        Im klaren Mondenschein.
Sang in die stille Nacht hinaus
        Und träumte sich allein.

Da rauscht' es aus den Fluten auf,
        So geistergleich und schön;
Er hielt den Kahn in seinem Lauf
        Und ward nicht mehr gesehn.

Nun treibt die Fanna heimathlos
        Auf der bewegten Flut,
Wenn auf dem See gigantisch groß
        Der Talha Schatten ruht.

Der König ließ die Hand, in welcher er das Blatt hielt, langsam niedersinken und blickte still durch das niedere Fenster hinaus. Die Anwesenden sagten kein Wort. Der Ausdruck seines Gesichts sagte ihnen deutlich, daß er jetzt im Geiste mit dem Inhalte der soeben gelesenen Strophen beschäftigt sei. Sein Auge hatte einen sinnenden und doch beinahe begeistert glänzenden Blick. Er nickte dann leise und wie zustimmend mit dem Kopfe und sagte:

»Wer es nicht versteht, der kann dieses Gedicht nicht würdigen. Es ist ein geistreiches Gemälde einer südlichen, fremdartigen Landschaft, in kurzen, kräftigen und doch so tief durchdachten Worten – ein Meisterstück, welches eben nur von Meistern beurtheilt werden kann.«

Das hatte er wie zu sich selber gesagt. Dann wendete er sich wieder zu dem Elephantenhanns:

»Und nach diesen Worten wollen Sie ein Gemälde anfertigen, mein junger Freund?«

»Ja,« nickte der Gefragte. »Eine Pastellzeichnung.«

»Und haben weder eine Akademie besucht noch irgend einen namhaften Künstler zum Lehrer gehabt! Wissen Sie, daß Sie sehr kühn sind?«

»Ja, das weiß ich halt gar wohl, und darum zeig ich das Bild auch keinem Menschen. Nur dera Herr Lehrern darf es sehen.«

»So! Das ist bei aller Kühnheit doch bescheiden und vorsichtig.«

»Freilich, vorsichtig muß man halt bei einer solchen Sachen sein, wenn man nicht auslacht werden will.«

»Nun, ob Sie ausgelacht werden würden, das bezweifle ich doch. Ich glaube nicht, daß es hier irgend Einen giebt, der das Zeug hätte, über einen Versuch lachen zu dürfen. Daß Sie sich an ein so schwieriges Sujet wagen, beweißt, daß Sie entweder ein großer Dummkopf sind oder Genie besitzen. Wenn ich Sie so ansehe, möchte ich glauben, daß das Letztere der Fall sei.«

Hanns erröthete.

»Das sagens halt gar schön,« meinte er. »Aberst ein Genie bin ich wohl nimmer. Es liegt mir im Blut, daß ich zeichnen muß. Ich kann nicht anders. Es ist wie beim Rothkätherl oder beim Zeißig; die müssen singen, weils in dera Naturen bei ihnen liegt. Sie sind ganz traurig, wenns nicht singen dürfen, und auch ich fühl mich ganz elend, wenn ich kein Papieren mehr hab und keinen Bleistiften. Ich möcht ohne das Bildermachen halt gar nimmer leben.«

»So möchte ich gar bezweifeln, daß Sie Talent besitzen. Schade, daß man Ihre Pastellzeichnung nicht ansehen darf!«

Er warf einen fast bittenden Blick auf den jungen Menschen. Der alte Heiner sagte daher:

»Na, Hanns, einmal ist halt doch nicht immer. Laß doch dem Herrn das Bildwerk sehen!«

»Nein, Vatern, das geht nicht!«

»Warum denn nicht?«

»Weils noch nicht fertig ist. Ich muß mich ja schämen. Es ist einstweilen nur so dera Entwurfen da, und dera Elephant und das Flußpferd und die beiden Löwen sind ausgeführt. Die Dum- und Talebpalmen und die Talha und der Affenbrodbaum haben noch gar keine Schatten, und dera Geist, welcher den Fischern hinabzieht in das Wassern, ist erst nur in dera Contur angeben.«

»So weit ists schon fertig!« sagte der König. »Nun, da kann man ja doch bereits sagen, ob es nach der Vollendung Werth haben werde oder nicht!«

»Ja, dazu muß man aberst ein Kenner sein!«

Er sagte das in einem so naiv eindringlichen und auch ein Wenig selbstbewußten Tone, daß der König ein fröhliches, kurzes Lachen nicht unterdrücken konnte.

»Nun, sagte er, es giebt eine ganze Anzahl von Künstlern, welche mich für einen Kenner halten!«

»Obs aberst auch wahr ist?«

»Ich denke, diese Herren werden Recht haben.«

»So? Wie heißens denn diese Herren?«

»Ich will nur Lehnbach, Piloty, Kaulbach und Defregger nennen.«

Hanns fuhr empor, so weit seine Schwäche es ihm zuließ, und rief überrascht:

»O, Jerum! Das sind ja grad die berühmtesten!«

»Haben Sie bereits von ihnen gehört?«

»Ja denen Büchern, die ich mir borgt hab, hat gar viel von ihnen gestanden, und dera Herr Lehrern hat dann von ihnen erzählt. Also diese Künstlern sind Ihnen bekannt?«

»Persönlich sogar!«

»Dann sinds halt ein gar glücklicher Herr! Waans diese Leute kennen, so müssens vielleicht wohl aus dem München sein?«

»Ja, ich bin aus der Hauptstadt.«

»So möcht ich Sie beneiden. Wann ich mir mal so eine Gemäldesammlung anschauen, oderst gar mal mit so einem Künstlern reden könnt, gleich ein Jahr oder auch zwei thät ich von meinem Leben hingeben!«

Der König war tief gerührt von der Begeisterung des kranken Jünglings. Er sagte in mildem Tone:

»Vielleicht läßt es sich bewerkstelligen, daß dieser Wunsch Ihnen erfüllt werden kann.«

»Nein; das ist leidern gar nicht möglich. Ich bin ja krank und kann nicht aufi von meinem Platz. Ich muß die größt Anstrengung machen, wenn ich mal in dera Stuben umhergehen will. Und selbst wann ich gesund wär, so sind wir doch so sehr arm. Ich könnt das Geldl gar nimmer derschwingen, was man braucht, um nach dem München zu fahren.«

»So wenden sie sich doch an einen wohlhabenden Mann! Man hört ja so oft, daß ein Reicher einen Armen unterstützt hat.«

»Das klingt schon ganz gut und ganz schön. Aberst die Sache hat einen Haken oder gar zwei.«

»Welche?«

»Zunächst bin ich arm, aberst betteln könnt ich wohl nimmer, und sodann, wann ich auch bitten möcht, so wüßt ich doch gar nicht bei wem. Ich kenn nur einen einzig reichen Mann. Das ist dera Silberbauern. Von dem möcht ich keinen Pfennig haben, selbst wann ich darum sterben müßt.«

»Das glaube ich Ihnen. Aber es giebt doch noch Andere.«

»Die kennen wir nicht.«

»Nicht? Wirklich nicht? Hm! Einen kennen Sie doch.«

»Einen? Wer sollt das sein?«

»Der, welcher der Vater aller seiner Landeskinder ist und der allen Bedrängten und Hilfsbedürftigen gern eine Hand der Unterstützung bietet.«

»Landeskindern? Also meinens wohl unsern Landesvater, den König?«

»Ja.«

»O, der ist wohl gut. Ich hab ihn noch nie sehen, aber ich weiß, daß er ein gar milder und gütiger und barmherziger König ist. Das ganze Land weiß es, und darum halt ein jeder brave Bayer gar große Stücken auf seinen Landesherrn. Aberst wissens, das hat auch grad wiedern zwei Haken.«

»So! Gleich zwei? Welche sind das?«

»Zuerst weiß ich nicht, ob er grad auch mir helfen thät, und sodann weiß ich sehr wohl, daß er so gar sehr Vielen helfen muß, daß es eine Sünden und Unverschämtheiten war, wann grad dera dumme Elephantenhanns ihn auch belästigen wollt. Da sind noch gar Anderen da! Odern nicht?«

»Nein. Ein jeder Unterthan hat dasselbe Recht, sich an seinen König zu wenden.«

»Meinens? Hm! Wissens, dera Herr Lehrern hat auch davon sprachen, daß unser gutern König vielleicht ein Einsehen haben möcht, wann er wissen thät, daß ich arm bin und doch eine gute Anlage zum Malen hab.«

»So, hat er das gesagt? Das freut mich von ihm.«

»Ja, ich glaub gar, daß er mit dem Pastellbild eine gewisse Absichten hat, die sich auf den König bezieht.«

»Will er es ihm vielleicht zusenden?«

»Es ist möglich, daß er daran denkt.«

»Und würden Sie Ihre Einwilligung dazu geben?«

»Wenn ich halt wüßt, daß es dem Majestäten nicht gar so viel Störung machen thät, so wollt ich gar wohl einwilligen, denn unsera guter Ludwigen ist wohl dera Einzigen, vor dem ich mich nicht schämen thät. Darum geb ich mir halt eine große Mühen jetzund, und darum solls auch Keiner sehen.«

»Auch ich nicht?«

»Auch Sie nicht.«

»Es freut mich, daß Sie sie einen festen Willen haben. Aber es wäre wohl sehr gerathen, es mir einmal zu zeigen. Ich kann Ihnen auch erklären, weshalb.«

»Nun, warum?«

»Wenn Sie Ihr Werk dem Könige senden, so wird er es doch immer erst einigen hervorragenden Künstlern zeigen, um auf deren Ansichten zu hören. Diese Herren aber sind Bekannte von mir. Könnte ich nun Ihr Bild sehen und vorher mit ihnen von demselben sprechen, so würde das nur vortheilhaft für Sie sein.«

»Ja, hörst, dera Herr hat Recht!« fiel der Finkenheiner ein. »Zeigs ihm also doch mal, Hanns!«

»Nein, nun grad erst recht nicht,« entgegnete der junge Mann, dessen Gesicht sehr ernst geworden war.

»Aberst warum nicht?«

»Weil ich meinen König nicht täuschen will.«

»Was fällt Dir ein! Es ist ja gar kein Gedank dran, ihn zu täuschen.«

»O, freilich! Was sonsten? Jetzund zeig ich dem Herrn da mein Bild. Aus Mitleid giebt er den Künstlern ein gutes Worten, und diese geben nachher wiederum dem König aus Mitleid mit mir und aus Freundschaften mit dem Herrn da ein guts Wörtle. Nachhero sagt dera König Ja. Niemand hat ihn täuschen wollt, und dennoch ist er täuscht worden.«

»Bist ein dummer Talk!«

»Nein; ich hab Recht. Ists nicht so?«

Diese Frage war an den König gerichtet. Dieser streckte ihm die Hand entgegen und antwortete:

»Ja, Sie haben Recht. Ich sehe, daß Sie trotz Ihrer Jugend ein sehr reges Ehrgefühl besitzen. Damit haben Sie sich meine Hochachtung verdient, und ich will sehen, ob ich nicht selbst Etwas für Sie thun kann, auch ohne daß wir den König belästigen.«

»Sie? Könnens denn auch was thun für mich, für den Elephantenhanns, dens hier Alle auslachen?«

Der König nickte ihm zuversichtlich lächelnd zu.

»Trauen Sie mir gar nichts zu?«

»O, gar wohl. Ein guter Herrn sinds auf alle Fällen. Wann man Ihnen so ins Angesichten schaut, so hat man zuerst eine kleine Angsten vor Ihnen, denn Sie haben halt ein gar ernst Anschauen; aberst wenn man länger in Ihre Augen geschaut hat, und wanns nachher gesprochen haben, da geht Einem das Herz auf, denn man ist Ihnen recht gut worden inzwischen. So ists, wanns das wissen wollen.«

»Wenn Sie das ehrlich gemeint haben, so freue ich mich von Herzen, daß ich Ihr Vertrauen besitze.«

»Ja, ehrlich hab ichs meint. Sie haben ein Aug, ein Aug, so tief und voller Geheimnissen – – Wissens, grad so wie dera Tsad-See, den ich malen soll. Da sind auch Geistern und Nixen und allerhand Räthseln darinnen, und an seinem Ufer stehen tausend und abertausend Bäumen und Sträuchern, die sich an seinem Wasser derlaben und derquicken. So ists, ganz so!«

Der König war fast betroffen über die Wahrheit, welche in diesem Vergleiche lag. Er betrachtete den jungen Mann mit einem seiner mächtigen Blicke, die Keiner, auf dem das königliche Auge einmal geruht hatte, wieder vergessen kann, und sagte:

»Dieser Vergleich überzeugt mich, daß Sie eine tief und künstlerisch beanlagte Seele besitzen. Ich werde mich Ihrer annehmen.«

Ueber das bleiche Gesicht des Kranken ging ein sehr glückliches Lächeln, aber dennoch fragte er mit fast neckischer Betonung:

»Na aberst, wie werdens das anfangen?«

»Indem ich für Sie sorge.«

»Das könnens nicht. Das ist gar schwer.«

»Ja, es mag schwer sein, denn diese Sorge muß sich sowohl auf Ihren Geist als auch auf Ihren kranken Körper erstrecken. Das Letztere ist vielleicht noch schwieriger als das Erstere. Ich habe gehört, daß die Aerzte der Ansicht seien, nur eine Klimaveränderung könne Ihnen Heilung bringen.«

»Freilich wohl. Ich soll nach dem Süden.«

Er sagte das traurig, im Tone schmerzlicher Entsagung.

»Wohin?« fragte der König.

»Das hat Keiner sagt. Was solls auch nützen, wanns mir ein Land nennen? Sie wissens halt doch, daß ich im ganzen Leben nicht hinkommen kann.«

»Nun, wenn es durchaus nothwendig ist, daß sie unser Klima verlassen, so bin ich wohl erbietig, Ihnen das Fahrgeld auf der Eisenbahn zu bezahlen,« scherzte der König.

»O, weh! Das könnens gar leicht sagen!«

»So? Ich halte es nicht für leicht.«

»Schwer ists halt nicht. Was kanns eintragen, wann ich hinfahren kann? Ich muß doch dort bleiben, und dazu gehört wohl gar ein größeres Geldl als für nur das Hinreisen erforderlich ist.«

»Das ist sehr richtig. Und was sagen Sie dazu, wenn ich Ihnen verspreche, auch das zu bezahlen?«

Hans blickte ihn mit zaghaft forschenden Augen an. Sein Blick umschleierte sich feucht.

»Hörens,« bat er mit gesenkter Stimme, »machens keinen Scherz mit mir. Man darf einem Kranken nicht den Arzt und die Arzneien zeigen und ihn nachhero auf dem Schmerzenslager liegen lassen; das wäre eine gar große Grausamkeiten!«

»Gott soll mich behüten, grausam gegen Sie zu sein! Nein! Ich will Ihnen sagen, daß ich ziemlich wohlhabend bin. Ich habe keine Kinder; also macht es mich nicht arm, wenn ich für ein fremdes Kind einmal eine kleine Summe ausgebe. Zeigen Sie mir Ihr Bild, und dann werde ich Ihnen sagen, ob Sie Anlage zum Künstler besitzen. In diesem Falle werde ich Sie ausbilden lassen. Auf alle Fälle aber, selbst wenn Sie kein Talent für die Malerei besitzen sollten, werde ich dafür sorgen, daß Sie körperlich hergestellt werden, so weit es in der Möglichkeit liegt.«

Die beiden magern, bleichen Hände, welche der Kranke ihm jetzt entgegenstreckte, zitterten heftig.

»Ists wahr? Ists wahr?« fragte er.

»Ja. Ich spreche im Ernste.«

»Vater, Vater!« jubelte Hanns laut auf.

Er biß sich auf die Lippen, um nicht weinen zu müssen.

»Hanns, mein lieber Hanns!« rief der Heiner, auf ihn zuspringend und die Arme um ihn schlingend.

»Hasts hört? Hasts deutlich hört?«

»Ja, ja! Du sollst gesund werden! O, Herrgott, wer hätt denken konnt, daß heut so ein großes Glücken einkehren könnt in unsera arme Stuben hier!«

Hanns legte seinen Kopf an das Herz seines Vaters und sagte, auf den König deutend:

»Schau, wie gut er ist! Er weint! Der Herrgott mags ihm vergelten, daß er nur Freudenthränen kennen soll in seinem ganzen Leben!«

»Ja, die Augen des Monarchen standen voller Thränen. Er trat an das Fenster und blickte stumm hinaus. Er fühlte ganz und voll das Glück, der Wohlthäter braver Menschen sein zu können. Die Beiden wagten es nicht, ihn in seinem Schweigen zu stören. Sie hielten einander still umschlungen, und erst, als er sich wieder zu ihnen umwendete, trat der Heiner zu ihm, streckte ihm seine Hand entgegen und sagte aus überfließendem Herzen:

»Ich bin nun dera Finkenheiner, ein armer Deixsel, der Aermste wohl unter denen Armen hier; aberst da nehmens meine Hand! Ich muß sie Ihnen geben, sonst thät mirs das Herz abidrucken. Was Sie für meinen Hanns thun wollen, das kann er Ihnen gar nie vergelten, und ich kanns auch nicht. Es giebt nur Einen, der das lohnen kann; das ist dera Herrgott im Himmel droben. Zu dem werden wir halt beten alle Tagen und alle Nächten, daß er seine Hände so über Ihnen halten mag, daß nie kein Leid auf Ihr Haupt herabkommen mag. Er mag der Vergelter sein, hier im Leben und hernach auch droben in dera Ewigkeiten!«

Der König schüttelte ihm tief gerührt die Hand und sagte:

»Ich danke! An Gottes Segen ist Alles gelegen, und ohne seinen mächtigen Schutz ist selbst ein König machtlos und ein Millionär arm. Was den Hanns betrifft, so habe ich bereits die Absicht, einen Arzt kommen zu lassen, welcher den Balzerbauer untersuchen soll. Dieser Herr ist einer der berühmtesten Doctoren, welche wir besitzen, und er wird uns auch ganz genau sagen, was unserm jungen Maler frommt. Ich brauche jetzt eine Person, welche in die Stadt gehen kann, um mir eine Depesche zu besorgen – – –«

»Ich, ich werd das thun,« fiel der Heiner freudig ein. »Ich hab zwar nur einen Arm, aberst ich hab meine zwei Beinen, und mit denen werd ich springen, daß es auf dera Erden noch gar keine schnellere Stafetten geben hat als mich.«

»Gut! Vorher aber – – wie steht es nun mit dem Bilde? Darf ich es ansehen?«

»Freilich, freilich! Nicht wahr, Hanns?«

»Das versteht sich ganz von selberst! Hols schnell herbei, Vatern, schnell!«

Der alte Heiner ging hinaus in die Kammer und brachte die Zeichnung herein. Sie war mit einem dünnen Bogen bedeckt. Als der König nach demselben griff, um ihn zu entfernen, ging ein schwerer Seufzer durch die Stube:

»O Gott!«

Hanns hatte ihn ausgestoßen und dabei angstvoll die Hände gefaltet. Der Augenblick war ja da, an welchem entschieden werden solle, ob er Talent besitze oder nicht. Es öffnete sich die Zukunft für ihn, aber welch eine Zukunft.

Der König hörte den leisen Ausruf des Jünglings. Sein Auge mild auf denselben richtend, tröstete er:

»Seien Sie ruhig! Wie diese Prüfung auch ausfallen möge, Ihren Krankenplatz sollen Sie hier auf jeden Fall nicht länger mehr innebehalten. Und nun wollen wir getrost den Schleier lüften!«

Er schlug den Bogen zurück und ließ sein Auge prüfend auf die Zeichnung fallen. Kein Zug seines Gesichtes bewegte sich. Mit zuckenden Wimpern blickte Hanns ihn an. Es wurde ihm Angst, als der König nichts sagte. Der Heiner konnte es nicht aushalten. Er ging hinaus in die Kammer, sank in die Kniee, erhob seinen einen Arm und betete:

»Mein lieber Herrgott, gieb Deinen Segen dazu; gieb ihn, o gieb ihn! Dann will ich alles Herzeleid vergessen, was ich tragen hab, und auch noch mehr, noch viel mehr tragen bis an mein Sterbensend!«

Dann kehrte er in die Stube zurück.

Der König hatte das Bild vom Tisch hinweggenommen. Er hielt es gegen das Licht. Noch immer sagte er kein Wort. Hanns preßte auch die Lippen zusammen. Sie bebten ihm, als ob er unter einem Gesichtskrampf leide.

Endlich, endlich legte der König den Zeichenbogen wieder auf den Tisch und deckte das andere Papier darüber. Der Ernst seines Gesichtes machte einem heiteren, milden Lächeln Platz. Er bemerkte die Angst, mit welcher die Blicke der Beiden auf ihn gerichtet waren, und fragte:

»Das waren jetzt wohl böse Minuten?«

»Ei wohl!« antwortete der Heiner. »Fünf Minuten sinds gewest, volle fünf Minuten! Fast hab ichs nicht aushalten könnt. Mir ist gewest, als ob ich ein Mördern sein, der auf sein Urtheil warten muß. Und dem Hanns wirds nicht gar viel besser gewest sein in seinem Herzen!«

»Nun, ein Todesurtheil ist es glücklicher Weise nicht, was ich zu fällen habe.«

»Gott sei Dank! Also wirds halt gar nicht so sehr schlimm lauten?«

»Nein, sondern im Gegentheil sehr gut, besser wohl als Hanns es erwartet hat.«

Er trat zu dem Kranken, legte diesem die Hand auf den Kopf und fuhr fort:

»Gott hat Ihnen eine Gabe verliehen, wie nur sehr Wenige sie besitzen. Wenn Ihr Körper erstarkt ist, so daß Sie die Kraft besitzen, welche zu den Anstrengungen, die nothwendig sind, erforderlich ist, so werden Sie bald einen Platz erobern unter Denen, welche eine Zierde der Gesellschaft sind. Ich werde das Meinige thun, Ihnen den Weg zu ebnen und die Anstrengungen zu erleichtern. Von heut an, von dieser Stunde an, sorge ich für Sie.«

Hans holte tief, tief Athem, als ob er dem Erstickungstode nahe sei, stieß einen lauten, schrillen Schrei aus und legte den Kopf hintenüber an die Lehne des Stuhles. Todesbleich und mit geschlossenen Augen lag er da. Er war ohnmächtig geworden.

»Hanns, Hanns! Mein Bub, mein lieber, einziger Bub!« schrie der Heiner aus. »Stirb mir nicht! O mein Herrgott, stirb mir nur nicht!«

Er sprang auf ihn zu und zog den bleichen Kopf an seine Brust.

»Haben Sie keine Angst,« tröstete der König, nachdem er den Puls des Ohnmächtigen befühlt hatte. »Er lebt; es geschieht ihm nichts. Die Freude ist zu groß für seine schwache Constitution gewesen. Er hat mir die Besinnung verloren, wird aber sehr bald wieder zu sich kommen.«

»Meinens? Denkens das wirklich?«

»Ja, ich bin überzeugt davon.«

»Aber wanns sich irren! Wann er mir dennerst stirbt, grad heut, wo alle Sorg und alles Elenden ein End haben soll!«

»Er stirbt nicht. Da öffnet er ja schon die Augen!«

Hanns schlug die Augen auf, warf einen langen Blick in das Gesicht des Königs und schloß sie dann wieder. Ueber sein hageres Gesicht legte sich das Lächeln des Glückes, des Entzückens.

»O Du mein lieber Gott!« flüsterte er. »Wie herrlich das ist! Ich hör die Engel singen, und der Himmel ist offen, und alle Sonnen leuchten herab. Vater, Vater, hörsts auch?«

»Nein, Hanns,« meinte der Heiner. »Wach auf, wach auf! Mir ist so gar sehr bang um Dich!«

»Bang? Warum? Ich bin so selig! Ich soll ein Malern werden dürfen, ein großer Künstlern, eine Zierden von dera Gesellschaften, wie dera Herrn hier sagt hat! O Gott, o Gott! Jetzt weiß ich halt nimmerst, was ich denk und was ich thu. Ich bin wie im Traum und wie in allen Himmeln, und fast wird mirs zu schwer, wieder auf die Erd herab zu steigen. Ich möcht am Liebsten da bleiben, wo es so ein Wonnen giebt und solche Seligkeiten!«

Der König wendete sich ab. Am Fenster faltete er die Hände, empor zum heitern Morgenhimmel und flüsterte im leisen Gebete:

»Allliebender, ich danke Dir für diese Stunde! Ich danke Dir, daß Du mir die Macht und die Mittel verliehen hast, Menschen glücklich zu machen. Verleihe mir die Gnade, mein ganzes Volk glücklich zu sehen. Wie so gern möchte ich die Hungernden speisen, die Durstenden tränken, die Beladenen entlasten und die Irrenden auf den rechten Weg führen. Verleihe mir dazu die Kraft und die Weisheit, und bleibe bei mir mit Deinem starken Schutz und Schirm, denn Du, o Allmächtiger, bist es, ohne den ich nichts vermag!«

Da begannen die Kirchenglocken zu läuten. Es waren nur zwei kleine, armselige Glöcklein, welche im schwanken Kirchthurme ihre dünnen Stimmen ertönen ließen, aber es klang den drei Anwesenden doch, als ob diese Stimmen voll und gewaltig vom Thurme eines Domes erschallten. Und da fuhr der Heiner sich mit der einen Hand über die thränenden Augen und begann mit leiser, nach und nach stärkerer Stimme:

»Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut,
Dem Vater aller Güte,
Dem Gott, der große Wunder thut,
Dem Gott, der mein Gemüthe
Mit seinem reichen Trost erfüllt.
Dem Gott, der alle Jammer stillt.
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Und der Elephantenhanns, welcher wieder zu sich gekommen war und die Augen geöffnet hatte, fuhr fort:

»Ich rief den Herrn in meiner Noth:
›Ach Gott vernimm mein Schreien!‹;
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank, ach Gott, drum dank ich Dir!
Ach dankt, danket Gott mit mir!
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Als jetzt nun die Stimmen des Vaters und des Sohnes zusammen erschallten, drehte sich der König nach ihnen um und fiel mit ein:

»Es danken Dir die Himmelsheer',
O Herrscher aller Thronen,
Und die auf Erd', in Luft und Meer
In Deinem Schatten wohnen,
Die preisen Deine Lieb und Macht,
Die Alles, Alles wohl gemacht.
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Das Geläute war verhallt und still standen die Drei, still wie in der Kirche, bis der König sein Notizbuch aus der Tasche zog. Er nahm einen Zettel heraus, beschrieb ihn, steckte ihn in ein Couvert, welches er verschloß, versah dasselbe mit der Aufschrift ›Telegramm‹; und gab es dann dem Heiner.

»Hier, dieses Couvert muß nach der Stadt und dort auf dem Telegraphenamte abgegeben werden,« sagte er.

»Ich werd gleich laufen, was nur die Beine hergeben. Hab ich dort was zu zahlen?« fragte der Alte.

»Ja. Hier ist das Geld.«

Er zog seine Börse und schüttete den Inhalt derselben auf den Tisch aus. Der Alte warf eine fast erschrockenen Blick auf das viele Geld und fragte:

»Was? Wie? Kostet eine telegräfliche Depeschen ein solche Summen?«

»Nicht ganz. Was übrig bleibt, das soll als Botenlohn gelten.«

Der Alte blickte auf das Geld, in des Königs Angesicht, wieder hin und abermals her und rief:

»Na, wieviel wird da wohl übrig bleiben?«

»Ich hab es mir nicht genau ausgerechnet. Jetzt muß ich fort. Sobald der Arzt da ist, komm ich mit ihm her. Da können wir ja zusammenrechnen, Heiner.«

»Ja, das werden wir thun. Ich brings halt ehrlich wieder, was ich herausbekomm. Und wanns etwan gar zu viel verlangen, so kommens bei mir grad an den Rechten. Ich werd mit ihnen gut reden und so viel abhandeln, wie nur möglich ist!«

Der König ging, und dann konnte man den Heiner forteilen sehen, auf der Straße nach der Stadt, als ob er mit Hasen um die Wette zu laufen habe. –

Unterdessen war der Wurzelsepp mit der Frau Bürgermeisterin nach der Kirche gegangen. Er hätte gar so gern gewußt, was sie mit dem König gesprochen hatte; aber er besaß doch zu viel Zartgefühl, als daß es ihm eingefallen wäre, sie zu fragen, und da sie still und wortlos neben ihm herging, so achtete er ihr Schweigen und sagte auch nichts.

Die Dame hatte, wie bereits bemerkt, ihr einfachstes Kleid angelegt. Dennoch fiel ihre Erscheinung im Dorfe auf, zumal der Sepp mit ihr ging. Beide aber machten sich nichts aus der Aufmerksamkeit, welche sie erregten.

Das kleine Kirchlein stand inmitten des Gottesackers. Dort pflegten die Kirchengänger sich vor dem Beginn des Gottesdienstes einzufinden, um einige stille Minuten an den Gräbern ihrer Verstorbenen zuzubringen. Als der Sepp die Blicke bemerkte, welche ihm und seiner Begleiterin von diesen Leuten zugeworfen wurden, sagte er:

»Wollen doch lieber hineingehen in die Kirchen. Hier schaun halt Alle noch uns her, als ob wir so gar große Wunderthieren wären.«

»Das stört mich nicht,« antwortete sie.

»Mich auch nicht. Wanns Ihnen recht ist, so hab ich halt auch nix dagegen.«

»Ich möchte hier bleiben, um den Lehrer sehen zu können, wenn er kommt. In der Kirche kann ich ihn jedenfalls nicht so genau betrachten.«

»Wanns das ist, so gehen wir da um die Eck. Dort geht die Thüren hinaufi zur Orgeln, die er schlagen thut. Dahin muß er halt kommen.«

Sie stellten sich also so, daß sie ihn sehen konnten.

Noch ehe die Glocken läuteten, kam der Pfarrer langsam aus seiner Wohnung herbei. Die Anwesenden grüßten ihn und er verschwand in der Sacristei. Nur einige Augenblicke später kam Max Walther. Die anwesenden Bauern rissen ihre Hüte und Mützen in ganz anderer Weise herab, als vorhin beim Erscheinen des geistlichen Herrn, und die Frauen machten ihre respektvollen Knixe.

»Schauens,« flüsterte der Sepp. »Das ist er. Vor dem habens noch eine ganz andere Höflichkeiten, als vor dem Hochwürden. Er hats halt gar prächtig verstanden, sich in dera Ambitionen hineinzulegen. Ists nicht ein schmucker Bub?«

Sie standen Beide an einem Grabe, zu dessen Häupten sich ein Holzkreuz erhob. Die Bürgermeisterin sah den Sohn. Sie fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie sich an das Kreuz lehnen mußte, um nicht zu wanken.

Der Lehrer mußte an ihnen vorüber. Der Sepp zog seinen mit Blumen und Kräutern besteckten Hut vor ihm vom Kopfe. Walther bemerkte den Gruß, dankte und trat herbei.

»Gut, daß ich Sie treffe, Wurzelsepp,« sagte er. »Ich habe Sie gestern vergebens gesucht.«

»Brauchens mich, Herr Lehrern?«

»Ja, Sie wissen doch, wozu.«

»Wohl wegen dera Geschichten, dort unterm Wassern?«

»Ja.«

»Nun, dann bin ich allzeit bereit.«

»Sehr gut! Wir müssen doch nachschauen, was dort zu finden ist, sonst kann sich leicht eine Störung ergeben.«

»O nein. Dera – na, Sie wissen halt doch, wen ich meine, der liegt ja ohne Bewußtsein und kann also nix thun.«

»Wir müssen dennoch vorsichtig sein. Ich bin heut in die Mühle zu Tische geladen. Wollen wir uns dort treffen?«

»Ja, ich werd schon kommen. Und da – – ich hab nämlich hört, wann Zwei sich treffen, die sich noch nicht kennen, so muß dera Dritt ihnen sagen, wers sind. Das ist nobel und fein und man nennts halt eine Vorstellungen. Also werd ichs jetzundern auch machen. Dieser Herrn ist nämlich dera Herr Lehrern Walther, und diese Damen, die ist die Frau Bürgermeisterinnen Holberg in Steinegg, drüben über dera Grenzen hinüber. So, jetzunder hab ich meine Sachen brav macht. Wars halt so richtig?«

Die Bürgermeisterin hatte seitwärts am Kreuze gelehnt, so das Walther vorher nur einen kurzen Blick auf sie geworfen hatte. Jetzt zog er den Hut und verbeugte sich. Sein Blick fiel forschender auf sie. Es glitt ein ganz eigenthümlicher Zug über sein Angesicht.

»Grüß Gott, Frau Bürgermeisterin,« sagte er. »Ich kann mich nicht besinnen, wo es geschehen ist, aber wir müssen uns bereits einmal gesehen haben.«

Er stand so frisch, so kräftig in ahnungslosem Selbstbewußtsein vor ihr. Sie hätte ihn an ihr Herz ziehen mögen mit größtem Entzücken, aber sie durfte es doch nicht. Sie gab sich alle Mühe, ihre Bewegung zu beherrschen, und dennoch zitterte ihre Stimme ganz hörbar, als sie antwortete:

»Ich möchte das bezweifeln.«

»O doch! Ich pflege mich da niemals zu täuschen. Es ist mir sogar, als ob wir uns nicht nur gesehen, sondern sogar auch gesprochen hätten.«

Sie war leichenblaß.

»Ich könnte mich wirklich nicht besinnen.«

»Ich leider auch nicht; aber ich möchte schwören, daß ich bereits Ihre Stimme gehört habe. Wir müssen uns jedenfalls einmal getroffen haben, und zwar unter Umständen, welche mir sympatisch gewesen sind. Aber da läutet es. Ich muß zur Kirche. Entschuldigen Sie!«

Er entfernte sich. Sie legte die Hand auf die klopfende Brust. Das Herz wollte ihr zerspringen.

»Habens ihn wirklich schon mal sehen?« fragte der Wurzelsepp.

»Nie.«

»Aberst er sagts doch!«

»Das ist die Stimme des Herzens. O Gott, wenn er wüßte, wer ich bin!«

»Nun, das müssens ihm halt sagen!«

»Nein. Jetzt noch nicht.«

»Wann sonst?«

»Später, später.«

»Hat er Ihnen etwan nicht gefallen?«

»Wie können Sie so fragen! Ich bin unendlich glücklich und ganz entzückt von ihm. Ich bin nicht werth, einen solchen Sohn zu haben.«

»Papperlapappen! Sie sagens ihm, daß Sie seine Muttern sind und nehmen ihn beim Kopf. Nachhero ist Alles gut. Anders könnens gar nix machen!«

»Ich fürchte mich!«

»So? Eine Muttern, die sich vor ihrem Buben fürchtet? Das ist eine Dummheiten, die ich gar nicht leiden mag. Wanns selberst nix sagen, so sag ichs halt. Verstanden!«

»Um Gotteswillen, nein!«

»Wir werdens ja sehen. Jetzunder aber wollen wir hinein in die Kirchen.«

»Gut, aber vis-à-vis der Orgel, damit ich ihn sehen kann. Zeig mir einen passenden Ort.«

Das that er. Sie setzte sich gleich auf den ersten Platz an der Thür, um möglichst wenig aufzufallen, und lauschte mit Andacht dem Gesange und dem Orgelspiel ihres Sohnes.

Als später der Pfarrer die Kanzel betrat und über die heutige Bibelstelle predigte, sprach er über die heilige Kirche als Mutter der Gläubigen. Der alte Herr sprach sehr eindringlich, da ihm selbst ein jedes seiner Worte aus dem Herzen kam. Im Laufe seiner Rede hatte er Gelegenheit, mehrere Male das Bibelwort zu wiederholen: ›Kann auch eine Mutter ihr Kind vergessen?‹;

Wie mit glühenden Lanzenspitzen traf diese Frage das Herz der Bürgermeisterin. Der hochwürdige Herr schilderte das Mutterherz in all seiner Liebe, in all den Entbehrungen und Aufopferungen, in denen es so groß, so unvergleichlich ist. Und so sorgt auch die Kirche für die Gläubigen.

Es war, als ob ein jedes Wort eigens für die Bürgermeisterin berechnet sei. Sie befand sich in einer geistlichen Folter und fühlte Qualen, welche kaum zu ertragen waren.

Dann sprach der Redner von Gottes Güte, welche ohne Ende ist; er sprach davon, daß der Herr seine Sonne aufgehen lasse über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte, und wie hingegen der Mensch den Götzen Selbstsucht anbete und sein Herz verhärte dem Nächsten und sogar den Seinen gegenüber.

Für die Bürgermeisterin bewährte sich die Stelle der heiligen Schrift: ›Das Wort Gottes ist wie ein Hammer, welcher Felsen zerschmettert‹;. Jedes Wort des Predigers war ein solcher Hammerschlag für sie. Welche Liebe, wie viele Liebe hatte sie ihrem Kinde erwiesen? Gar keine. Hinausgestoßen hatte sie es in die weite Welt, hilflos unter fremde Menschen. Und jetzt, nachdem sie es wiedergefunden hatte, scheute sie sich, es an ihr Herz zu nehmen! Sie fühlte, daß es ihre Pflicht sei, keinen Augenblick zu zögern, und doch und doch kam dieser Schritt ihr so schwer, so unendlich schwer vor!

Am Schlusse der Predigt stellte der Pfarrer die unendliche Liebe Gottes als Aufforderung hin, ihr nachzueifern und in der Liebe zu den Menschen nicht zu ermüden und zu wanken. Dann verließ er die Kanzel. Trotzdem und trotz Alledem fühlte die Bürgermeisterin den Gedanken, daß sie ihren Fehler eingestehen und ihr Kind um Verzeihung anflehen müsse, schwer auf sich lasten.

Da ertönten mild und weich die Klänge der Orgel. Es war ein armes Instrument von nur vier Registern. Die Gemeinde hatte kein theureres zu beschaffen vermocht. Aber Walther war ein ausgezeichneter Orgelspieler. In seinem Vorspiele klang es wie eine Wiederholung des soeben Gehörten, wie eine innige, herzliche Mahnung zur Liebe, und dann begann der Gesang:

»Wie groß ist des Allmächtgen Güte!
        Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt,
Der mit verhärtetem Gemüthe
        Den Dank erstickt, der Gott gebührt?
Nein, seine Liebe zu ermessen,
        Sei ewig meine größte Pflicht.
Der Herr hat mein noch nie vergessen;
        Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht!«

Wer noch niemals den Eindruck einer einfachen, ergreifenden Melodie an sich erfahren hat, der kann es auch nicht begreifen, welche Macht sie auf ein vorbereitetes Menschenherz auszuüben vermag. Und das Herz der Bürgermeisterin war vorbereitet. Was die Predigt nicht vermocht hatte, das erwirkte diese Melodie. Sie schlich sich in die Seele der angstvollen Frau ein, stimmte sie ruhig und schmeichelte ihr alle Bedenken hinweg. Und was die erste Strophe noch unbesiegt gelassen hatte, das zerschmolz unter den Wogen der zweiten:

»Und diesen Gott sollt ich nicht ehren
        Und seine Güte nicht verstehn?
Er sollte rufen, ich nicht hören.
        Den Weg, den er mir zeigt, nicht gehn?
Sein Will ist mir ins Herz geschrieben
        Und bleibt mir in der Seele ruhn:
Wie er mich liebt, will ich auch lieben
        Und meine Pflicht getreulich thun.«

Es stand nun fest in ihr, nicht eher nach Steinegg zurück zu kehren, als bis sie sich ihrem Sohne zu erkennen gegeben habe.

Als der Gottesdienst beendet war, saß sie so in Sinnen versunken da, daß sie gar nicht bemerkte, daß die Gemeindeglieder sich von ihren Sitzen erhoben, um die Kirche zu verlassen.

Ganz hinten, da wo es keinen Sitz mehr gab, hatte der König gestanden, unbemerkt von den Anwesenden. Er war erst später gekommen und hatte nicht stören wollen. Darum ging er auch eher, als die Andern.

Als er aus dem Thore des Kirchhofs trat, kam in demselben Augenblicke ein städtisch gekleideter Herr das Dorf herauf, den Ueberrock am Arme tragend und eine Tasche an der Seite. Diese Letztere schien sehr gefüllt zu sein. Er trug eine goldene Brille und hatte ein sehr gelehrtes, dabei aber ziemlich joviales Aussehen. Als der König ihn bemerkte, blieb er überrascht stehen. Der Andere sah ihn und beschleunigte seine Schritte. Als er herangekommen war, zog er den Hut und machte eine tiefe, respektvolle Reverenz.

»Pst! Keine Komplimente!« warnte der König. »Es darf mich hier Niemand kennen. Aber Ihre Ankunft überrascht mich. Sie können doch unmöglich mein Telegramm bereits erhalten und in Folge dessen hier angekommen sein, Herr Medizinalrath.«

»Ein Telegramm habe ich allerdings nicht erhalten,« antwortete der Rath. »Umsomehr freue ich mich, ganz unbewußt dem hohen Rufe gefolgt zu sein.«

»Nichts vom ›hohen‹; Rufe, bitte ich! Ich wiederhole, daß ich hier nur ein gewisser Herr Ludwig bin, und ich werde Sie einfach Doctor nennen. Ihre Gegenwart ist hier dringend nöthig. Sie werden Interessantes zu thun bekommen. Aus welchem Grunde aber befinden Sie sich bereits jetzt schon hier?«

»Aus dem einfachsten: Meine Pflicht gebot mir, nach Hohenwald zu kommen!«

»Ah, das ist dankbar anzuerkennen!«

»Nachdem ich Eure Maje – – –«

»Pst, pst!«

»Entschuldigung! Also, nachdem ich Ihnen einen kurzen Aufenthalt in dieser herrlichen Waldluft angerathen hatte, verstand es sich von selbst, nachzusehen, wie mein Patient sich befinde, und ob er auch meine Verordnung in Ehren halte.«

»Das thut er sehr!« lächelte der König.

»So wird der Erfolg nicht ausbleiben.«

»Ich bemerke das bereits jetzt. Kommen Sie, damit wir nicht unter die Dorfbewohner gerathen, welche eben jetzt die Kirche verlassen. Sie begleiten mich nach meiner Wohnung.«

»Die ich mir hätte erfragen müssen, da ich sie nicht kannte.«

»Der Wurzelsepp hat sie mir besorgt. Ich wohne in einer Mühle bei sehr braven Leuten. Sie werden einem feinen Diner mit beiwohnen.«

»Von Herzen gern. Ich bin in der Stadt aus dem Coupee gestiegen und habe es vorgezogen, den Weg nach hier zu Fuß zurückzulegen. Das und die Gebirgsluft machen Appetit. Darf ich fragen, ob es ein Diner unter vier Augen sein werde?«

»O nein. Ich habe den Müller veranlaßt, den alten, würdigen Pfarrer zu laden und auch den Lehrer, einen sehr hoffnungsvollen, jungen Mann, von welchem ich überzeugt bin, daß er ein Dichter von Gottes Gnaden ist.«

»Ganz recht! Wieder einen Künstler entdeckt!«

»Zwei sogar. Einen Maler auch. Sie werden an demselben Ihre Kunst und Wissenschaft zu erproben haben. Doch davon später. Wir werden ferner speisen mit einigen guten Leuten, deren Namen Ihnen vielleicht ein Wenig prosaisch klingen werden.«

Der Medizinalrath freute sich außerordentlich, seinem hohen Patienten bei so vortheilhafter Stimmung zu finden. Er warf, während sie das Dorf verlassen hatten und nun über die Wiesen schritten, einen Blick umher und sagte:

»Hier in dieser Gottesnatur sollte Einem eigentlich gar nichts prosaisch erscheinen dürfen.«

»Namen doch wohl. So speisen wir zum Beispiel mit einem gewissen Müllerhelm. Das ist mein Wirth, der Müller, welcher Wilhelm heißt. Sodann mit dem Wurzelsepp – – –«

»Auf diesen freue ich mich bereits.«

»Und mit einem gewissen Finkenheiner.«

»Also Heinrich der Finkler, der Vogelsteller, aus dem sächsischen Herrscherhause.«

»O, mein Finkenheiner ist ein sehr guter Bayer. Er hat meine an Sie gerichtete Depesche nach der Stadt getragen und wird dennoch zur rechten Zeit zur Tafel kommen.«

In dieser wohlgemuthen Weise machte der König den Arzt mit den hiesigen Verhältnissen und Personen bekannt, während Beide langsam nach der Mühle spazierten.

Der Müller war auch in der Kirche gewesen. Als er aus der Thür derselben trat, sah er den Sepp stehen, welcher auf die Bürgermeisterin wartete. Er ging zu ihm hin und fragte:

»Hasts doch nicht vergessen, Sepp, daßt heut mit zum Mittag essen mußt?«

»Nein. Aberst ich kann trotzdem nicht kommen.«

»Das fehlt grad noch! Dera Herrn Ludwigen hats extra gewunschen, daßt mit dabei bist.«

»Mag wohl sein; aberst es geht dennerst nicht, weil ich heut em Kavallerirer bin.«

»Wie? Was bist?«

»Ein Kavallerirer.«

»Was meinst? Ein Kaviller oder ein Kavallerist?«

»Keins von Beiden. Weißt, ein Kavallerirer, das ist ein feiner Herrn, der eben einer feinen Damen ihr Begleitern und Beschützern und Kavallerirern ist.«

»So! Hast etwan eine feine Damen da im Dorf?«

»Ja.«

»Wohl die alte Feuerbalzern?«

»Nein, diese nicht. Aber wannst vielleichten meinst, daß ich mich mit dera schämen thät, so irrst Dich gar gewaltig. Die ist ein gar braves Weibsenbild, und es wär halt sehr gut, wann sich auch die Andern nach ihr richten thäten.«

»So ists eine Andere?«

»Ja, ab erst keine Hiesige.«

»Was Teuxel! Gehst etwan auf Freiersfüßen? Da würdest bei meiner alten Barbara schön ankommen.«

»Hat sich was! Es ist eine sehr feine Damen, eine Bürgermeisterin drüben aus Steinegg, welche hier zu thun habt hat und nun wiederum nach Haus will. Ich soll mitgehen.«

»Das geht nicht. Du mußt mit bei mir essen. Der Herr Ludewigen hats so befohlen.«

»Ich möcht freilich gern mit dabei sein, denn die Barbara wird sich heut mit ihrer Küchen sehen lassen.«

»Freilich! Die Liesbetherl hat gar sehr mit helfen mußt. Es wird hergehen fast wie auf einer Hochzeiten oder Kindtaufen.«

»Du, da möcht ichs freilich nicht versäumen; aberst meine Bürgermeisterin darf ich auch nicht im Stich lassen, und wannst ein gescheidter Kerlen bist, so weißt, wast nun da zu machen hast.«

»Was denn wohl? Das möcht ich fragen.«

»So bist eben halt kein gescheidter Kerlen, wannst erst fragst? Ohne sie kann ich halt nicht mit zu Dir. Also mußts mit einiladen.«

»Verbuxbaumi! Eine Frau Bürgermeistrin?«

»Jawohl!«

»Das kann doch wohl Dein Ernst nicht sein.«

»Grad ists mein allergrößter Ernst.«

»Das kann ich doch gar nicht wagen! Eine solche Damen, die noch dazu einen Bürgermeistern zum Mann hat! Wo denkst hin!«

»Sie hat den Mann nimmer mehr. Sie ist Wittwe!«

»Desto schlimmer! Die Wittwen, die haben gar viele Haar auf denen Zähnen. Vor denen hab ich immer einen großen Respecten habt.«

»O, die meinige beißt nicht.«

»So, also meinst, daß sie fürlieb nehmen wird?«

»Ganz gewiß, Schau, da kommts aus dera Kirchen. Sie kommt herbei. Nun kannsts ihr sagen.«

»Himmelsakra! Die hat so einen vornehmen Gang. Da fallt mir gleich die Buttern vom Brod, und ich weiß gar nicht, wie ich anifangen soll.«

»Ich werd Dir schon einihelfen. Paß nur aufi!«

Die Bürgermeisterin schritt auf die Beiden zu. Es war ihre Absicht nicht, bereits jetzt Hohenwald zu verlassen. Sie wollte vielmehr den Sepp fragen, ob es nicht möglich sei, den Lehrer wie durch einen blosen Zufall noch einmal zu treffen. Der alte Wurzelhändler hatte sich das bereits gedacht und darnach seine Vorkehrungen getroffen. Er ging ihr einige Schritte entgegen und sagte:

»Schauns, Frau Bürgermeistrin, hier Der ist dera Müllerhelm, mein bester Freund im Ort. Kennens den noch nicht?«

»Nein,« antwortete sie lächelnd, da er recht wohl wissen konnte, daß sie den Müller nicht kannte.

»Das ist Derselbige, bei dem halt der Herr Ludewigen wohnt. Er hat ein großes Essen bei sich. Wollens da auch nicht mitthun?«

»Ich? Ich bin ja fremd.«

»Fremd? Na, wanns dem Wurzelseppen seine Freundin Frau Bürgermeistrinnen sind, so sinds hier halt Keinem fremd. Der geistliche Herr speist mit und dera Herr Lehrern auch.«

»So! Aber dennoch kann ich es nicht unternehmen, in der Mühle Störung zu bereiten.«

»Störung? Sappermenten noch mal! Da giebts gar keine Störungen; da setzt man sich hin, nimmt das Messern und schneidet tüchtig ab. So ists hier Sitten, und so muß mans machen.«

»Hm! Du thust ja grad, als ob Du der Müller seist!«

»Ich? Wieso?«

»Weil Du mich einladest. Wenn dieser Herr es wirklich wünschte, daß ich mitkommen solle, so würde er es mit doch selbst sagen.«

»Der? Na, da kommens an den Rechten. Der hat gar die richtige Schneid nicht dazu. Der hat Angst vor Ihnen, weils eine Frau Bürgermeisterin sind.«

»Du!« rief der Müller, indem er ihm die Faust in die Seite stieß: »Ja! Was hast mich da zu stoßen? Ists etwan nicht wahr?«

»Nein,« antwortete der Müller, indem er sich Muth anschaffte. Er zog den Hut, machte einen schiefen Knix und sagte:

»Wissens, gnädige Frauen, einen Roggen kann ich von einer Gerste unterscheiden und einen Weizen von einem Hafern auch. Aberst mit denen großen städtischen Complimentern hab ich mich leider nicht gar viel abgeben konnt. Wanns zu mir kommen wollen und tüchtig mit essen, so solls mir halt eine Ehren sein und auch eine Freuden. Also sagens Ja, so wird halt noch ein Tellern mehr geschafft.«

Sie wäre gar zu gern mit gegangen. Aber schickte es sich denn? Darum wendete sie nochmals ein:

»Ich bin Ihnen ja fremd!«

»Nein, denn Sie sind hier beim Sepp. Und wen Der uns bringt, der ist grad, als ob er mein Brudern oder meine Schwestern oder Onkeln oder alte Tanten wär.«

»So,« lachte sie. »Dann will ich versuchen, Ihre Tante sein zu können.«

Der Müllerhelm kratzte sich verlegen am Ellbogen und raisonnirte über sich selbst:

»Sacra! Jetzund hab ich einen Bock schossen! Mit dera Tanten bin ich gar schön ankommen. Das mach ich gewiß nicht gleich wiedern! Lieberst sag ich da gleich Großmuttern, anstatt dera Tanten!«

»So soll ich als Großmutter kommen?«

Er sah sie erschrocken an.

»Donner und Doria! Jetzt hab ichs nun gar noch viel schlimmer macht! Nein, Frau Bürgermeistrin, mit dera Tanten und Großmüttern sinds halt nicht gemeint. Das weiß doch dera Teuxel! Mit dera Liesbetherl kann ich reden; das geht wie auf Butter; aberst sobald ich ein ander Weibsbild vor mir hab, so bin ich dera größt Dummrian auf dera Erden. Also nehmens, wie's gemeint ist, und kommens mit. Wollens die Güten haben?«

»Wenn Sie Ihre Einladung im Ernst meinen, so will ich Ja sagen.«

»Natürlich mein' ichs im Ernsten, denn zum Spaß wird bei mir nicht gessen; das werdens schon gar sehr bald wegbekommen. Wollens gleich mit mitnander? Da kommt auch schon dera Herr Lehrern.«

Ein kleines Bedenken hatte die Bürgermeisterin in Beziehung auf den König. Aber nach Dem, was sie ihm heut für ein Geständniß abgelegt hatte, sagte sie sich, daß es ihm nicht unerwünscht sein werde, falls sie mitkomme. Ihr Sohn war ja anwesend und der König war incognito.«

Während des kurzen Gespräches waren die Drei ans dem Gottesacker heraus auf die Dorfstraße getreten. Der Lehrer war herbeigekommen und hatte die letzten Worte gehört.

»Ja,« sagte er, »da komme ich bereits. Freilich will ich noch nicht nach der Mühle. Dazu wär es jetzt noch zu früh. Ich werde vorher noch einen kleinen Spaziergang machen.«

Das paßte dem Sepp. Er sagte sofort:

»Das ist sehr gut, Herr Lehrern. Wollens etwan allein spazieren?«

»Wollen Sie mit?«

»Nein, ich nicht. Ich muß hier mit dem Müllern gehen, weil wir noch Eins und das Andre zu besprechen haben. Aberst hier die Frau Bürgermeistrin kommt auch mit zum Schmauß; sie hat auch noch Zeit und kennt die hiesige Gegend noch nicht. Wanns galant sein wollen, so könnens sie halt einladen zum Mitgehen.«

Sie erröthete. Der Lehrer warf ihr ein bittendes Lächeln zu und sagte:

»Sie entschuldigen, Frau Bürgermeisterin! Unser Sepp hat so seine eigene Weise. Man darf ihm nichts übel nehmen.«

»Das fehlt auch noch, wann ichs nur gut meint hab!« rief der Alte. »Komm, Müllern! Die Beid werden keinen Andern brauchen, der so seine eigene Weise hat. Vorwärts!«

Er nahm den Müllern beim Arme und zog ihn fort.

»Da sehen Sie!« lachte Walther. »Hier oben in den Bergen wohnt ein kräftiger Menschenschlag; aber gut ist es doch gemeint.«

Sie mußte sich große Mühe geben, auch ein Lächeln zu zeigen, und fast nur leise antwortete sie:

»Ich bin überzeugt davon. Nur befürchte ich, Ihnen Störung zu bereiten, wenn Sie den Wunsch unsers eigenthümlichen Freundes erfüllen.«

»Störung? O nein! Es ist mir im Gegentheil recht lieb und aufrichtig angenehm, daß Sie mir erlauben, mich Ihnen anzuschließen. Ich befinde mich noch gar nicht lange hier oben in Hohenwald, aber doch fühle ich bereits jenen Wunsch nach Anderem, welchen Jeder empfindet, dem sein täglicher Umgang kein Genügen bringen kann. Man ist hier wirklich von Allem abgeschlossen.

Sie kamen in diesem Augenblicke an dem Gasthofe vorüber. Die Wirthin stand unter der Thür.

»Grüß Gott, Herr Lehrern!« rief sie erfreut. »Wollens spazieren gehen?«

»Ja, ein Wenig.«

»Das machens gar recht,« meinte sie, indem sie langsam näher kam. »Das Spazieren habens gar sehr nöthig zu dera Erholungen.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Ich weiß halt sehr gut, was für eine Anstrengung Sie haben in dera Schulen. Die Buben sind kaum zu zähmen und die Maderl kaum zu bändigen. Aberst freuen thuts michs doch, daß sie bei Ihnen an den richtigen Mann kommen sind. Wissens noch, als sie kamen, was ich Ihnen da für einen Rath geben hab?«

»Ja, sehr gut noch.«

»Schauns, da hat ich gar ernst meint, Prügel müssens haben, ganz gewaltge Prügel, hab ich denkt. Und nun Sie bringens das Alles ganz anderst fertig, ohne nur einen Stock anzugreifen. Sagens doch, wie bringens das nur eigentlich fertig?«

»Hm! Das ist nicht so schnell zu erklären. Man muß ein Wenig Psycholog sein.«

»Da wollt ich, ich wär auch ein solcher Phixologen. Meine Zwei wachsen mir über denen Kopf zusammen. Wann ich da nicht zuhauen thät, so kriegt ich selberst noch die Prügel. Das muß hier heroben so in dera Luft liegen. Nicht?«

»Gewisser Maßen haben Sie Recht. Eine kräftige Luft zeitigt auch kräftige Charactere.«

»Ja freilich, kräftig sinds bei uns. Mein Bub, der kaum zehn Jahren zählt, frißt mir bereits eine ganze Pfannen voll Dampfnudeln aus und fragt hernachers auch noch, ob ich keinen Eierkuchen hab. Der ist kaum mehr zu derfüttern. Was sollens hernach in dera Schulen lernen. Ein voller Bauch wird kein Magistern.«

»Nein; darum gewöhnen Sie Ihre Kinder lieber an eine mäßige Speisekarte.«

»Da käm ich schön an! Ja, eine Karten wollens schon bereits haben, aberst keine Speisekarten, sondern eine ganz andre. Da sitzen die Zwei am Tisch und spielen Sechsundsechzig mit nander, und wanns dann fertig sind, so hauens sich den Gewinn mit denen Holzpantofferln um den Kopf herum. Meiner Seel, es kracht oft so, daß es mir Angst wird um die armen Köpfen. Aberst das hält schon was ab hier in dera Gegend! Also habens Besuch erhalten, Herr Lehrern?«

»Besuch? Wieso?«

»Nun diese Damen hier?«

»Die Dame ist kein Gast von mir. Wir haben uns an der Kirche getroffen.«

»Ach so! Ich hab denkt, daß es ein Besuch ist, vielleicht wohl gar Ihre Muttern, weils sich gar so ähnlich sehen. Na, nix für ungut! Machens sich viel Vergnügen, die Herrschaften!«

Sie knixte und kehrte in das Haus zurück.

Bei ihren letzten Worten hatte es der Bürgermeisterin einen Stich ins Herz gegeben. Sie setzten ihren Weg fort, zunächst schweigsam. Walther warf von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick in das ernste Gesicht seiner stillen Begleiterin. Dann sagte er:

»Eigenthümlich! Die Wirthin hat Recht. Erst deren Aeußerung hat mich auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Bemerken Sie nicht auch, daß wir einander außerordentlich ähnlich sehen?«

Sie hatte das auch bereits bemerkt.

»Wirklich?« fragte sie.

»Ja, und zwar ganz auffällig. Man sollte kaum glauben, daß zwei Personen, welche einander in jeder Beziehung fremd sind, eine solche Ähnlichkeit besitzen können.«

»Ein Naturspiel,« sagte sie in unterdrücktem Tone.

»Sie müssen also aus diesem Grunde die Wirthin entschuldigen, daß sie Sie in eine solche Beziehung zu mir bringen wollte!«

»Das bedarf keiner Entschuldigung. Ich halte es vielmehr für ein Glück, einen Sohn zu besitzen, welcher die Achtung Andrer in der Weise besitzt wie Sie.«

»Es ist mir nicht leicht geworden, sie mir zu erringen. Ich hatte es, als ich hier ankam, mit einem sehr harten Materiale zu thun.«

»Also darum Ihre vorige Bemerkung, daß Sie keine Genüge finden!«

»Nein, darum nicht, sondern aus einem andern Grunde. Einen guten Reiter macht es ganz glücklich, ein wildes Pferd zu bändigen! Ungefähr in ähnlicher Weise fühlt der Lehrer eine innige Befriedigung, wenn es ihm gelingt, solche spröde Seelen gefügig zu machen. Aber in meiner Erholungszeit finde ich nicht Das, was ich suchen möchte. Ich mußte mir das freilich vorher sagen.«

»Und dennoch haben Sie sich um diese schlimme Stelle beworben!«

»Dennoch!«

»Sie müssen einen sehr zwingenden Grund dazu gehabt haben?«

»Ich hatte ihn. Leider sehe ich ein, daß ich ein großes Opfer gebracht habe, ohne die erwartete Entschädigung dafür zu finden.«

Es legte sich ein herber, fast bitterer Zug um seinen Mund. Er blickte vor sich nieder. Sie fand nicht gleich einen neuen Anknüpfungsbund, und so schritten sie eine Weile stumm neben einander her.


 << zurück