Karl May
Im Reiche des silbernen Löwen III
Karl May

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Zweites Kapitel.

Ueber die Grenze

Wir waren stundenlang schweigsam nebeneinander her geritten, und nun erklang diese Frage so plötzlich, so unerwartet, so unmotiviert, daß ich den Sprecher erstaunt ansah und keine Antwort gab. Das arabische Wort Sihdi bedeutet »Herr«. So pflegte mich Halef noch immer zu nennen, obgleich wir schon längst nicht mehr Herr und Diener, sondern Freunde waren.

»Sihdi, wie denkst du über das Sterben?« wiederholte er seine Frage, als ob er annehme, daß ich ihn nicht verstanden habe.

»Du kennst ja meine Ansicht über den Tod,« antwortete ich nun. »Er ist für mich nicht vorhanden.«

»Für mich auch nicht. Das weißt du wohl. Aber ich habe dich nicht nach dem Tode, sondern nach dem Sterben gefragt. Dieses ist da, kein Mensch kann es wegleugnen!«

»So sage mir zunächst, wie du zu dieser Frage kommst! Mein lieber, heiterer, stets lebensfroher Hadschi

Halef spricht vom Sterben! Hast du etwa einen besonderen Grund zu dieser deiner Frage?«

»Nein. Von meiner Seele, meinem Geiste, meinem Verstande wurde sie nicht ausgesprochen, sondern sie ist mir aus den Gliedern in den Mund gestiegen.«

Das klang wohl sonderbar; aber ich kannte meinen Halef. Er pflegte mit dergleichen, für den ersten Augenblick auffälligen Ausdrücken immer den Nagel auf den Kopf zu treffen. Darum wiederholte ich seine Worte:

»Aus den Gliedern? Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?«

»Es fehlt mir nichts, Sihdi. Ich bin so gesund und so stark wie immer. Aber es ist etwas in mich hineingekrochen, was nicht hinein gehört. Es ist etwas Fremdes, etwas Ueberflüssiges, was ich nicht in mir dulden darf. Es steckt in meinen Gliedern, in den Armen, in den Beinen, in jeder Gegend meines Körpers. Ich weiß nicht, wie es heißt und was es will. Und dieses unbekannte, lästige Ding ist es, welches dich über das Sterben gefragt hat.«

»So wird es wohl wieder verschwinden, wenn wir es gar nicht beachten, ihm gar keine Antwort geben.«

»Meinst du? Gut; wollen das versuchen!«

Er kehrte nach diesen Worten in sein früheres Schweigen zurück.

Der liebe, kleine, so gern lustige Hadschi war seit gestern oder wohl schon seit vorgestern ungewöhnlich ernst und in sich gekehrt gewesen, bei ihm eine Seltenheit. Ich hatte angenommen, daß ihn irgend ein Gedanke innerlich beschäftige; nun aber wußte ich, daß dies nicht der Fall gewesen sei. Es war eine körperliche Indisposition vorhanden, von der ich annahm, daß sie bald vorübergehen werde.

Wir waren von Basra über Muhammera und Doraq an den um diese Zeit ziemlich wasserreichen Dscherrahi gekommen und hatten uns von ihm in die Berge des südlichen Luristan führen lassen. Nun war der Fluß längst verschwunden, und wir befanden uns in einem wasserarmen Gebiete, wo der Regen höchst selten und dann nur als kurzes, aber verheerendes Gewitter aufzutreten pflegt. Die Höhen ragten schroff und steil empor. Ihre Hänge waren kahl. Man sah keinen Baum, nur hie und da einen durstigen Strauch. Die Sonne brannte am Tage heiß hernieder; die Nächte hingegen waren empfindlich kalt, und wo es in den Schluchtentiefen mit Gras bewachsene Stellen gab, da hatte dieses Grün sein Dasein nur dem Tau der kalten, wunderbar sternenhellen Nächte zu verdanken.

Wir glaubten, morgen den obersten Zufluß des Quran zu erreichen. Dort, wo es Wald und Wasser gab, wollten wir uns ausruhen und unseren Pferden einige Tage Zeit lassen, sich von der jetzigen Anstrengung zu erholen.

Jetzt war es Nachmittag. Wir strebten einem Höhenkamm zu, dessen Erklimmen die Kräfte unserer Pferde so in Anspruch nahm, daß wir, als wir endlich oben angekommen waren, für einige Zeit anhielten, um sie verschnaufen zu lassen. Tief unter uns sahen wir das leere, wild zerrissene Bett eines Regenbaches, dem wir zu folgen hatten, wenn wir den jenseitigen Gebirgszug erreichen wollten. Ich sprach die Hoffnung aus, daß sich dort ein zum Uebernachten geeigneter Ort finden lassen werde. Aber Halef ging nicht, wie ich geglaubt hatte, auf diesen Gedanken ein, sondern er sagte:

»Sihdi, ich habe es versucht, doch vergeblich. Die Frage kommt immer wieder. Wie denkst du über das Sterben? Antworte mir; ich bitte dich!«

»Lieber Halef, meinst du nicht, daß es besser wäre, von etwas anderem zu sprechen?«

»Besser oder nicht besser; ich kann jetzt an nichts anderes denken. Es ist, wie ich schon sagte, nicht der Tod, den ich meine. Den habe auch ich früher für etwas Wahres gehalten, jetzt aber weiß ich, daß er nichts als Täuschung ist. Wenn wir von ihm sprechen, so meinen wir eben das Sterben, welches doch kein Tod ist. Hast du schon darüber nachgedacht?«

»Natürlich! Jeder ernste Mensch wird das thun. Warum fragst du denn nicht dich selbst? Du hast doch ebenso wie ich schon Menschen sterben sehen?«

»Nein, noch keinen!«

»Wieso? Ich habe doch mit dir vor Sterbenden gestanden!«

»Allerdings. Aber sterben sehen habe ich trotzdem noch keinen Einzigen. Man legt sich hin; man schließt die Augen; man röchelt; man hört auf zu atmen; dann ist man gestorben. Aber was ist dabei geschehen? Hat etwas aufgehört? Hat etwas angefangen? Hat sich etwas fortgesetzt, nur in anderer als der bisherigen Weise? Kannst du mir das sagen?«

»Nein, das kann ich nicht. Das kann überhaupt kein Lebender. Und wenn die Gestorbenen wiederkommen und zu uns sprechen könnten, wer weiß, ob sie es vermöchten, deine Frage zu beantworten. Sie würden vielleicht auch nichts weiter sagen können, als daß im Sterben die Seele von dem Leib geschieden wird.«

»Von ihm geschieden! Wo kam sie her? Wurde sie ihm gegeben? Ist sie in ihm entstanden? Was hat sie in ihm gewollt? Geht sie gern von ihm? Oder thut ihr das Scheiden von ihm weh?«

»Lieber Halef, ich bitte dich, von diesem Gegenstande abzubrechen! Was Gott allein wissen darf, das soll der Mensch nicht wissen wollen!«

»Woher weißt du, daß nur Allah es wissen darf? Das Sterben ist ein Scheiden. Ich darf ja wissen, wohin mich dieses Scheiden führen soll, nämlich in Allahs Himmel. Warum soll es mir verboten sein, zu erfahren, in welcher Weise dieser Abschied vor sich geht? Höre, Sihdi, während du in der vergangenen Nacht schliefest, habe ich darüber nachgedacht. Soll ich dir sagen, was mir da in den Sinn gekommen ist?«

»Ja. Sprich!«

»Ich bin der Scheik der Haddedihn, ein in der Dschesireh sehr reich gewordener Mann. Worin besteht mein Reichtum? In meinen Herden. Da sendet mir der Sultan einen Boten, durch welchen er mir sagen läßt, daß ich nach drei oder fünf Jahren in die Gegend von Edreneh ziehen soll, um Rosen zu züchten, welche mir den Duft ihres Oeles zu geben haben. Was werde ich thun? Kann ich meine Herden mitnehmen? Nein. Ich werde sie nach und nach aufgeben, um mir an ihrer Stelle anzueignen, was mir dort in Edreneh von Nutzen ist. Und wenn ich das gethan habe, so kann ich, wenn die Zeit gekommen ist, aus meinem bisherigen Lande scheiden, ohne mitnehmen zu müssen, was im neuen Lande mir nur hinderlich sein würde. So ist es auch beim Sterben. Ich wohne in diesem Leben, doch Allah hat mir seine Boten gesandt, welche mir sagen, daß ich für ein anderes bestimmt bin. Nun frage ich mich, was ich in jenem anderen Leben brauchen werde. Früher glaubte ich, es sei nichts weiter nötig, als nur der Kuran und seine Gerechtigkeit. Aber ich lernte dich kennen und erfuhr, daß diese Gerechtigkeit bei Allah nicht einen Para Wert besitzt. Ich weiß jetzt, was ich hier hinzugeben und was ich mir dafür für dort einzutauschen habe. Ich will Liebe anstatt des Hasses, Güte anstatt der Unduldsamkeit, Menschenfreundlichkeit anstatt des Stolzes, Versöhnlichkeit anstatt der Rachgier, und so könnte ich dir noch vieles andere sagen. Weißt du, was das heißt, und was das bedeutet? Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz Anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und an jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden; ich kann nach Edreneh, nach Allahs Himmel gehen, und das, was wir das Sterben nennen, wird grad das Gegenteil davon, nämlich das Aufhören des immerwährenden bisherigen Sterbens sein!«

Nachdem er dies gesagt hatte, sah er mich erwartungsvoll an. Ich war nicht nur erstaunt, ich war sogar betroffen. War es denn möglich, daß mein Hadschi derartige Gedanken hegen und solche Worte sprechen konnte?!

»Halef, sag mir aufrichtig: aufrichtig: Bist du krank?« fragte ich ihn.

»Krank?« lächelte er. »Du meinst im Kopfe? Ist das, was ich gesagt habe, so thöricht gewesen?«

»Nein. Unklar zwar, aber so gut, so gut! Ich meine körperlich krank.«

»Ich sagte dir doch schon, daß ich gesund bin. Ein klein wenig matt bin ich seit gestern, und heut drückt etwas gegen meine Stirn. Die Sonne schien an diesen beiden Tagen gar so heiß. Das ist der Grund. Zu sagen hat es nichts.«

»Und anstatt zu schlafen, hast du deinen Gedanken nachgehangen. Wir werden heut eher als gewöhnlich Rast machen. Dir ist Ruhe nötig. Komm; reiten wir weiter!«

Es ging nur langsam in das Thal hinab, und dann folgten wir dem Regenbette, dessen Windungen uns wieder aufwärts führten. An einer schmalen Stelle ritt ich voran, als hinter mir ein lautes, zitterndes »Huh u uh!« erklang.

»Was war das?« fragte ich, indem ich mich umdrehte.

»Mich fror ganz plötzlich,« antwortete Halef.

Ich sagte nichts, aber ich begann, besorgt um ihn zu werden. Der wackere Hadschi besaß eine fast ebenso eiserne Gesundheit wie ich selbst, doch war es sehr leicht möglich, daß er während unseres Aufenthaltes in dem höchst ungesunden Basra einen Ansteckungsstoff in sich aufgenommen hatte, der nun in ihm zu wirken begann.

Als wir höher kamen, erhob sich ein scharfer Wind. Die Nacht versprach sehr kalt zu werden, und das Gesicht Halefs zeigte eine Entfärbung, die mir nicht gefiel. Ich wünschte sehr, baldigst an eine vom Zuge freie Stelle zu kommen, wo wir zur Nacht bleiben konnten. Dieses Verlangen wurde auch sehr bald erfüllt, wenn auch in anderer Weise, als ich erwartet hatte.

Wir erreichten das Ende oder vielmehr den Anfang des Regenbaches. Zwei Bergeshänge stießen zusammen und bildeten ein Becken, dessen undurchlässiger Felsengrund das Wasser angesammelt hatte. Es gab infolge der Feuchtigkeit da allerlei Gesträuch, mit Hilfe dessen man sich ein wärmendes Lagerfeuer gestatten konnte. Das war uns beiden natürlich sehr willkommen. Weniger erfreulich aber war, daß wir die Stelle schon besetzt fanden. Es lagen ein Dutzend Männer da, deren abgesattelte Pferde am Wasser grasten. Die Leute sprangen auf, als sie uns kommen sahen. Ihre zurücktretenden Stirnen und hohen Hinterköpfe ließen mich vermuten, daß sie Luren waren. Bewaffnet waren sie nicht besser und nicht schlechter als alle diese Bergbewohner. Ihre Kleidung war die gewöhnlicher armer Nomaden, und auch unter ihren Pferden gab es keines, welches einen besonderen Wert gehabt hätte. Ob wir in ihnen ehrliche oder unehrliche Leute vor uns hatten, das wußten wir natürlich nicht, doch waren wir gewohnt, vorsichtig zu sein. Daß sie uns mit neugierigen und unsere Pferde mit bewundernden Blicken betrachteten, konnte uns nicht auffallen. Und ebensowenig erregte es unser Bedenken, daß sie unseren Gruß nicht abwarteten, sondern uns in jenem Gemisch von Arabisch, Persisch und Kurdisch willkommen hießen, welches man in diesem Grenzgebiete so oft zu hören bekommt.

Es gab unweit des Wassers einen alten Mauerrest, der gegen den Wind schützte; jedenfalls die beste Lagerstelle hier an diesem Platze. Sie wurde uns sofort und freiwillig angeboten, und wir machten von dieser Zuvorkommenheit recht gern Gebrauch. Man fragte uns nicht nach Namen, Stand und Herkommen, auch nicht nach der Religion, was hier, wo Sunniten und Schiiten einander stets feindlich gegenüberstehen, eine Seltenheit war. Auch gab es keine der gewöhnlichen Aufdringlichkeiten, denen man bei dem Zusammentreffen mit derartigen Leuten fast stets ausgesetzt ist. Kurz, wir fanden keinen Grund, wegen der Anwesenheit dieser Männer um uns besorgt zu sein.

Selbst als wir unsere Pferde abgesattelt hatten, belästigten sie weder die Tiere noch gaben sie ihre Urteile über sie in jener lauten lärmenden Weise ab, welche zudringlich ist. Auch unsere, besonders meine Waffen fielen ihnen auf; das sahen wir ja, aber sie gestatteten sich nicht, uns nach ihnen zu fragen oder gar sie zu berühren und zu untersuchen. Wir waren in ihren Augen vornehme Fremde, denen sie mit Achtung und Rücksicht zu begegnen hatten. Diesen Eindruck machten sie auf uns.

Sie gingen nur ein einziges Mal aus ihrer höflichen Zurückhaltung heraus. Nämlich als Halef Holz zu sammeln begann, um für uns ein Feuer anzuzünden, leisteten sie ihm bereitwilligst Hilfe; dann aber hielten sie sich wieder so entfernt von uns wie vorher. Trotz allem beschloß ich, zu wachen, während der Hadschi schlafen würde. Die Ruhe that ihm not.

Ich nahm von unseren Datteln und aß. Halef versicherte, weder Hunger noch Appetit zu haben. Das hörte ich nicht gern. Dann sah ich wiederholt, daß er in sich zusammenschauerte.

»Friert dich wieder?« fragte ich ihn.

»Ja,« antwortete er. »Aber es ist wie ein Frieren ohne Kälte. Ich möchte gern etwas recht Heißes trinken. Meinst du, daß ich diese Leute hier um etwas Kaffee bitten dürfte?«

Die Nomaden hatten nämlich auf ihrem Feuer ein großes Blechgefäß stehen, in welchem sie Kaffee kochten. Der Geruch dieses Getränkes verfehlte auch auf mich seine Wirkung nicht. Ich ging also hin zu ihnen und brachte unser Anliegen vor. Ich sah ganz deutlich, daß man sich herzlich darüber freute, uns diesen Gefallen erweisen zu können. Der, welcher ihr Anführer zu sein schien, sagte:

»Herr, Ihr steigt in großer Güte zu uns nieder. Wir sind arme Leute, und dieser Kaffee wurde so bereitet, wie er sich für uns ziemt. Ihr aber sollt einen anderen, viel besseren haben, der Euer würdig ist. Habt nur einige Minuten Geduld; dann wird er fertig sein.«

Wir hätten ihn ja auch so genommen, wie sie ihn hatten; aber wenn man an Stelle des weniger Guten etwas Besseres bekommen kann, so wäre man ein Thor, es abzulehnen. Uebrigens pflegt man in jenen Gegenden dem Kaffee Gewürz beizumischen, welches nicht hinein gehört. Der, welchen sie jetzt tranken, duftete ziemlich stark nach Cardamomen, und das war weder nach meinem noch nach Halefs Geschmack. Ich erlaubte mir, ihnen dies zu sagen. Der Mann antwortete so schnell und bereitwillig, daß es mir unter anderen Umständen ganz gewiß aufgefallen wäre:

»Wir werden den Eurigen nicht würzen, Herr. Aber unsere Bohnen haben einen etwas bitteren Beigeschmack, der Euch ohne Gewürz mehr auffallen wird. Sie werden beim Händler in der Nähe einer bitteren Sache gestanden haben. Uns thut das nichts; Euch aber wird es ungewöhnlich sein.«

Die Verhältnisse in den Kaufläden des Orients sind so mangelhafte, daß es gar kein Wunder ist, wenn irgend eine Sache den Geruch oder Geschmack einer anderen »anzieht«. Daß der Kaffee ein wenig bitter schmecken werde, konnte also keinen irgend welchen Verdacht in uns erwecken; aber der Eifer, mit dem es mir gesagt wurde, hätte meine Aufmerksamkeit erregen sollen. Diese Leute hatten, wie wir später erfuhren, uns schon lange Zeit, bevor wir sie bemerkten, von der jenseitigen Höhe herabkommen sehen und sich aus ganz bestimmten Gründen bei unserer Annäherung so gestellt, als ob sie keine Ahnung von uns gehabt hätten. Zu dem Plane, den sie ausführten, gehörte ganz besonders auch der Kaffee, den sie uns angeboten hätten, wenn ich nicht von selbst mit meiner Bitte gekommen wäre.

Das Frostgefühl Halefs nahm zu. Es schüttelte ihn, und darum war es wohl begreiflich, daß er, als wir das heiße Getränk bekamen, einen großen Becher voll auf einmal leerte und ihn sich auch gleich wieder füllen ließ. Ich genoß meinen Teil langsamer. Er war stark, sehr stark. Ich nahm freilich an, daß die Ursache dieser Uebertreibung nur darin liege, daß wir für vornehme Leute gehalten wurden. Bitter war er allerdings auch, aber man hat in den fernen, einsamen Grenzbergen zwischen Khusistan und Luristan keine Ursache, den Feinschmecker herauszukehren, und so trank ich nach und nach ebenso viel wie der Hadschi – drei große Becher voll. Ich that dies besonders in der Absicht, dadurch zum Wachen angeregt zu werden. Wir pflegten, abwechselnd zu wachen; heut aber hatte ich mir im stillen vorgenommen, Halef nicht aus dem Schlafe zu wecken.

Unsere Pferde grasten ganz in unserer Nähe. Sie waren gewohnt, sich nicht von uns zu entfernen. Und ebenso gehörte es zu ihrer Eigenart, daß sie sich nur gezwungener Weise zu anderen Pferden gesellten. Sie hatten ihre »Geheimnisse«. Was das heißt, habe ich an anderen Orten wiederholt gesagt. Hierzu muß noch erwähnt werden, daß sie von Halef dressiert worden waren, auf den zweimaligen Zuruf des Wortes »Litath« und einen dazwischen tönenden Pfiff jeden fremden Reiter abzuwerfen. Der Beduine liebt dergleichen Dinge und hat auch Zeit genug, sie seinen Pferden beizubringen. Sie können unter Umständen von großem Nutzen sein.

Mein Assil Ben Rih war gewöhnt, daß ich ihm des Abends, ehe ich mich schlafen legte, die Sure »Abu Laheb« langsam und deutlich in das Ohr sagte. Er hätte keinem Menschen Gehorsam geleistet, der dies nicht wußte und also unterließ. Ich that dies auch heut und streckte mich dann, in meine Decke gehüllt, neben Halef aus, obwohl es nicht meine Absicht war, einzuschlafen.

Zunächst machte ich die Bemerkung, daß mich der starke Kaffee nicht nur an-, sondern sogar aufgeregt hatte. Meine Denkkraft war in die schnellste Bewegung gesetzt. Es jagte eine Vorstellung die andere; ich konnte keine Idee festhalten. Dabei war diese innerliche Ruhelosigkeit keineswegs von der äußeren begleitet. Ich bewegte mich nicht. Es fiel mir gar nicht ein, auch nur ein Glied zu rühren. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich überhaupt nicht mehr bewegen könne, aber zum festen, klaren Bewußtsein wurde es mir nicht.

Zuerst sah ich die sich hetzenden Gedanken trotz ihrer Schnelligkeit deutlich an und in mir vorüber fliegen. Nach und nach verloren sie ihre Bestimmtheit; sie wurden verschwommen; dann konnte ich sie überhaupt nicht mehr voneinander unterscheiden, und schließlich wußte ich von ihnen gar nichts mehr; aber auch ich selbst war mir verschwunden, vollständig verschwunden.

Später war es mir, als ob ich einigemale halb aufgewacht, aber sofort wieder eingeschlafen sei. Das wiederholte sich, bis mir irgend ein Etwas in mir zuflüsterte, daß ich in einem unnatürlich tiefen Schlaf liege, den ich unbedingt zu besiegen habe. Dieses Etwas war ich selbst; ich hatte mich wiedergefunden. Und nun begann ein Ringen mit den widerstrebenden Augenlidern und der bleiernen Gliederschwere, die mich fest und unbeweglich an dem Boden halten wollte. Dazwischen hinein war es mir, als ob ich das Krachen des Donners höre. Das Rauschen des Windes und des Regens drang mir wie aus weiter Ferne an das Ohr, und dann kam es mir vor, als ob ich in kalter Nässe liege, welche den ganzen Körper durchdrang und ihn aber glücklicherweise auch endlich, endlich wieder bewegungsfähig machte. Ich strengte meinen ganzen Willen an, und da gelang es mir, den Oberkörper aufzurichten und die Augen zu öffnen. Was aber sah ich da!

Der Himmel war verschwunden. Ein fürchterliches Gewitter tobte. Ein Blitz zuckte nach dem anderen. Der Donner schien keine Pause zu kennen. Es ging Krach auf Krach und Schlag auf Schlag. Der Regen fiel wie eine kompakte Masse nieder. Er hatte das Felsenbecken, dessen Boden vorher nur bedeckt gewesen war, fast ganz bis oben angefüllt. Vor mir saß Halef, mit dem Rücken am Gemäuer lehnend. Seine Augen waren geschlossen. Er regte sich nicht. Seine Kleidung bestand nur aus Hose, Weste, Hemd und Stiefeln. Der Regen troff von diesen vollständig durchnäßten Stücken. Das lenkte meinen Blick auf mich selbst. Auch ich hatte nur Hose, Weste, Hemd und Stiefel, ganz so wie Halef, weiter nichts, alles andere fehlte. Kein Mensch außer uns beiden rinsumher! Die Nomaden waren fort, mit ihnen unsere Pferde, unsere Waffen und alles, was wir sonst noch besessen hatten. Ein Griff in meine Taschen zeigte mir, daß sie vollständig leer waren. Man hatte uns ausgeraubt, und wir mußten noch froh sein, daß wir nicht vollständig ausgezogen worden waren.

Ich kann nicht sagen, daß ich über diese Entdeckung erschrak. Selbst wenn ich ein schreckhafter Mensch wäre, so würde der Zustand der Betäubung, dem ich mich doch noch nicht ganz entrungen hatte, eine so energische Regung, wie der Schreck ist, gar nicht zugelassen haben. Ich rieb mir die Stirn, und es gelang mir, zwei Gedanken herauszureiben. Der erste war, daß wir in dem Kaffee Opium oder etwas dem Aehnliches getrunken hatten. Opiate sind ja in Persien, ihrem Erzeugungslande, von jedermann sehr leicht zu haben. Und zweitens sagte ich mir, daß uns jetzt nichts so sehr wie ruhige Ueberlegung geboten sei.

»Halef!« rief ich dem Gefährten zwischen zwei Donnerschlägen zu.

Er antwortete nicht. Ich wiederholte seinen Namen und schüttelte ihn am Arme. Die Wirkung war eine höchst sonderbare:

»Litaht!« rief er fast überlaut. Dann steckte er, ohne die Augen zu öffnen, den Zeigefinger krumm in den Mund, brachte einen schrillen Pfiff hervor und schrie dann das Wort zum zweitenmale.

Das war das Zeichen für die Pferde, Fremden nicht zu gehorchen, sondern sie abzuwerfen. Warum jetzt dieses Zeichen? Es war gewiß ein Zusammenhang der Ideen oder der Umstände, welcher ihn veranlaßte, es zu geben. Ich rüttelte ihn stärker und so lange, bis er die Augen aufschlug. Er starrte mich wie abwesend an.

»Halef, weißt du, wer ich bin?« fragte ich.

Da trat das Bewußtsein in seinen Blick, und er antwortete:

»Mein Sihdi bist du. Wer denn sonst?«

»Wie befindest du dich? Wie ist dir jetzt?«

»Warm, sehr warm,« lächelte er.

Wie? Warm? Mich, den Gesunden, durchdrang eine eisige Kälte, und er, dessen Zustand mir Besorgnis eingeflößt hatte, fühlte sich warm, sogar sehr warm! Wenn ich richtig vermutet hatte und eine Krankheit bei ihm im Anzuge war, so konnte die jetzige Durchnässung ihm im höchsten Grade gefährlich werden. Und da fühlte er sich warm! War es etwa das Fieber, welches hier einmal als Wohlthäter auftrat und ihm das Leben rettete?

»Weißt du, wo wir sind und was geschehen ist?« fragte ich ihn weiter.

Er schloß die Augen, wie um nachzusinnen, und antwortete nicht gleich. Dann öffnete er sie wieder, sprang mit einem einzigen Rucke in die Höhe und rief aus:

»Sihdi, du bist stets gegen den Gebrauch der Peitsche; aber hier ist sie es, welche das Wort zu sprechen hat! Es waren zwölf Mann. Sobald wir sie erwischt haben, bekommt ein jeder hundert Hiebe; das macht zusammen zwölfhundert Hiebe. Welche Seligkeit für mich!«

Er stand da, stolz und gerade aufgerichtet, als ob ihm nichts, aber auch gar nichts fehle. Bis auf das Hemd ausgeraubt, vollständig mittellos, sprach er doch genau so, als ob er der Beherrscher der Situation sei. Darum sagte ich:

»Rede mit Ueberlegung, lieber Halef! Schau dich und mich an! Wir sind Bettler; wir sind ganz ohnmächtige Menschen!«

»Bettler? Ohnmächtig? Was fällt dir ein! Wenn du nicht mein Sihdi wärest, so würde ich dir sagen, daß du dich schämen solltest, so ohne Selbstvertrauen zu sein! Kennst du denn dich und mich nicht mehr? Hast du vergessen, was wir alles erlebt und erzwungen haben? Bettler und ohnmächtig! Du bist der klügste Mann des Abend- und ich bin der pfiffigste Halef des ganzen Morgenlandes! Grad daß wir vollständig ausgeraubt und scheinbar ohne Mittel und ohne Hilfe sind, muß uns willkommen sein! Denn das giebt uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir können! Laß mich nur machen! Ich werde überlegen. Ich habe nicht immer geschlafen; ich bin auch aufgewacht; aber bewegen konnte ich mich leider nicht. Ich habe gesehen, und ich habe gehört. Was? Darüber will ich nachdenken.«

Er setzte sich wieder nieder, obgleich die Stelle naß wie jede andere war. Den Kopf in die Hände legend, sah er auf die Erde. Dabei sagte er, indem er zwischen den einzelnen Worten oder Sätzen längere oder kürzere Pausen machte:

»Ich wurde hin und her gewälzt, wachte aber nicht auf. – Ich fühlte fremde Hände in meinen Taschen, konnte mich aber nicht wehren. – Man hatte uns schon drüben auf dem Bergkämme stehen sehen, wo wir die Pferde ausruhen ließen. – Man beschloß, uns nicht zu überfallen und nicht zu töten, sondern mit Esjuhn wehrlos zu machen. – Dann war es Tag geworden. Ich hörte die Hufe der Pferde und dachte an unsere Hengste. Das gab mir Kraft, die Augen aufzuschlagen. Ich sah, daß die Diebe fort wollten. Eben schwangen sich zwei auf unsere Rappen. Der Grimm darüber machte mich sofort gesund, leider nur für einen Augenblick. Ich rief zweimal das Wort und gab den Pfiff. Die Hengste gehorchten sofort. Sie gingen in die Luft, und die beiden Kerle flogen in weitem Bogen auf die Erde nieder. Der eine stand wieder auf. Der andere aber konnte das nicht thun; er mußte aufgehoben werden. Allah gebe, daß er ein Bein gebrochen hat, noch besser aber alle beide! – Dann schlief ich wieder ein, doch nicht auf lange Zeit, denn ich sah sie fortreiten, da grad hinauf; jenseits verschwanden sie. Die helle Morgensonne schien. Nun aber kam der tiefste Schlaf, aus welchem mich der Donner weckte. Ich setzte mich auf und lehnte mich hierher. Mehr zu thun, hatte ich nicht die Kraft. – Ich träumte allerlei, bis ich von dir aufgerüttelt wurde. – Das, Sihdi, ist es, was ich dir sagen kann, weiter nichts!«

Wie kam es wohl, daß er nicht so tief wie ich geschlafen hatte? Hatten die in seinem Körper thätigen Krankheitserreger die Wirkung des Opiums abgeschwächt? Wohl möglich! Da umzuckte uns ein Blitz, als ob wir mit der Umgebung in einer einzigen Flamme ständen; es folgte ein betäubender Donnerschlag, und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder. Ihr Stand sagte uns, daß es Nachmittag gegen drei Uhr sei. Uhren hatten wir nicht mehr.

Es war, als ob uns mit der Sonne die volle Lebenskraft zurückgegeben worden sei. Halef behauptete, er sei vollständig gesund und wohl und fühle nicht das geringste Unbehagen. Er wurde, wie sich später herausstellte, getäuscht. Ich hatte Kopfschmerzen und vermißte sowohl die körperliche als auch die geistige Elastizität. Das konnte mich aber nicht hindern, zu thun, was nötig war. Zu überlegen gab es nichts. Wir konnten nichts anderes thun, als den Dieben folgen. Der Regen hatte zwar alle ihre Spuren weggewischt, aber wir wußten doch, nach welcher Richtung sie sich entfernt hatten. Eigentlich war es lächerlich, daß wir ohne alle Waffen und zu Fuße wohlbewaffnete Reiter verfolgen wollten, um ihnen ihren Raub wieder abzunehmen; aber sie konnten doch nicht wochenlang in einer Tour fortreiten. Sie mußten einen Ort haben, an welchem sie wohnten, und dieser konnte nicht wohl jenseits der Grenzen dieser Berge liegen. Wir mußten uns auf unsern Scharfsinn verlassen und unserem alten, guten Glück Vertrauen schenken. Die größte Mißlichkeit unserer Lage bestand darin, daß wir ohne Lebensmittel waren. Aber verhungern konnten wir nicht, denn nur eine Tagesreise von hier gab es am oberen Quran bewohntes Land, wo wir wohl bekommen würden, was uns nötig war. Uebrigens trug ich auf der Brust die Brieftasche mit den Geldwerten, welche mich gegen jeden späteren Mangel sicher stellten. Es fiel mir nicht im geringsten ein, gleich von vornherein an unserem Erfolge zu verzweifeln. Wenn Halef munter blieb, konnte sich sehr wohl ein guter Ausgang einstellen. Er behauptete, bereit zu sein, und so traten wir in dem scheinbar hilflosen Zustande, in welchem wir uns befanden, an eine Aufgabe heran, zu deren Lösung mehr, viel mehr gehörte, als uns zur Verfügung stand.

Das Trocknen unserer höchst mangelhaften Anzüge ganz einfach der Sonne überlassend, verließen wir das Wasserbecken und stiegen in der Richtung bergan, in welcher sich die Nomaden entfernt hatten. Es war eine Art Bergsattel, auf dessen anderer Seite sie verschwunden waren. Gebahnte Wege gab es natürlich nicht. Jeder konnte die ihm beliebige Richtung einschlagen; aber es verstand sich ganz von selbst, daß er sich den bequemsten Ab- oder Aufstieg suchte. Wenn das Terrain mehrere bequeme Richtungen bot und es keine Spuren gab, so war es freilich für uns schwer, zu bestimmen, wohin die Gesuchten sich gewendet hatten. Das war hier oben der Fall. Gegenüber lagen nackte Höhen, hinter denen im Osten Berge emporstiegen, welche bewaldet oder doch wenigstens mit Gebüsch bestanden zu sein schienen. Es war anzunehmen, daß die von uns Verfolgten dorthin geritten seien. Gerade vor uns ging ein breiter, sanft geneigter Felsenhang hinab, an dessen Fuße drei verschiedene, nach Osten gehende Thäler mündeten. Welches von diesen dreien war gewählt worden? Das wußten wir nicht. Jammerschade, daß der Regen jede Spur verwaschen hatte.

Wir stiegen hinab und begannen, das Terrain abzusuchen, obgleich wir keine Hoffnung auf Erfolg hatten. Aber das Glück, von dem ich vorhin sprach, war uns günstig. Das mittlere dieser Thäler war das breiteste und, wie es schien, bequemste. Darum gingen wir zunächst eine Strecke weit in dasselbe hinein. Da sahen wir den zwei Finger starken Ast eines Strauches liegen. Er war gewiß erst heut früh abgeschnitten und gehörte derselben Buschgattung an, welche oben am Wasser gestanden hatte. Er war an dem einen Ende zersplittert und zwischen diesen Splittern hingen zwei lange schwarze Pferdehaare. Er lag ganz nahe an einem hoch und glatt aufragenden Felsenstück, dessen Vorderseite fast ganz trocken war, weil der Wind den Regen von Süden her gebracht hatte. Es gab da in fast Manneshöhe eine feuchte, rote Stelle am Gestein, und unten auf dem Erdboden war ein mehrere Hände großer Flecken geronnenen Blutes zu sehen, welches der Regen nicht getroffen und also auch nicht aufgelöst hatte.

»Ob das ein Beweis ist, daß unsere Spitzbuben hier gewesen sind?« fragte Halef.

»Ja. Und zwar ein sicherer Beweis,« antwortete ich. »Um welches von unseren Pferden es sich handelt, das weiß ich nicht; aber man hat eines von ihnen hierher an den Felsen gedrängt, um es zu zwingen, sich besteigen zu lassen. Es hat sich gewehrt und ist dafür mit diesem Aste gezüchtigt worden. Man hat ihn an dem edlen Tiere in Splitter geschlagen und diesem dabei diese Haare aus dem Schwanze gerissen. Aber der Hengst hat die Missethat sofort vergolten und den Betreffenden so getroffen, wahrscheinlich an die Brust, daß aus seiner Lunge ein Bluterguß erfolgt ist. Sie sind also in diesem Thale aufwärts geritten, und wir wissen nun, welche Richtung wir einzuschlagen haben, wenn wir ihnen folgen wollen.«

»Wie? Was?« fragte Halef zornig. »Unseren Barkh oder unseren Assil Ben Rih geschlagen? Mit diesem Knüppel hier? Das muß hundertfach gerochen werden! Das erste Gebot für uns ist, Allah zu lieben; das zweite ist, die Menschen zu lieben, und das dritte ist, die Tiere und überhaupt alle Geschöpfe zu lieben, welche uns dienen sollen, weil Allah sie uns anvertraut hat. Wer gegen eines dieser drei Gebote handelt, der ist ja gar nicht wert, daß sie ihm gegeben worden sind! Ich will nicht etwa sagen, daß das Schlagen überhaupt verboten sei, denn warum hätte man sonst die Peitsche erfunden, und wozu wäre da ganz besonders auch meine eigene Kurbatsch vorhanden, welche in diesem Augenblick allerdings nicht mehr vorhanden ist? Ich hoffe aber, daß ich sie sehr bald wiederbekomme, um die Hiebe, mit denen die edle Haut unseres Pferdes entweiht worden ist, mit Zinsen und wieder Zinseszinsen von diesen Zinsen zurückgeben zu können! Wer ein Pferd schlägt, durch dessen Adern reines Blut und edler Wille fließt, der ist ein Schuft, ein Schurke, ein elender Taugenichts, der die größte Verachtung verdient. Und wenn er gar das Pferd vorher gestohlen hat und mit dem Knüppel also eine Stelle bearbeitet, welche gar nicht sein rechtmäßiges Eigentum ist, so – so – so fehlen mir überhaupt die Worte, dir zu erklären, wie unendlich tief der Abgrund der Niederträchtigkeit ist, in dem er diese mir ganz unbegreifliche That begangen hat!«

Das war so recht die Gesinnung und die Ausdrucksweise meines kleinen Hadschi. Er stand mit geballten Fäusten vor mir. Seine Augen blitzten, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck des höchsten Zornes. Ein Vollblutpferd mit dem Stocke zu bestrafen, das ging ihm über alle menschenmöglichen Begriffe. Er riß mir den Ast aus der Hand und fuhr fort:

»Gieb ihn mir! Ich sehe den Rücken schon von weitem, auf welchem ich dieses Werkzeug der Missethat vollends zersplittern werde!«

»Sei ruhig, Halef,« fiel ich ein. »Schau hier das Blut! Die That ist ja schon gerächt worden, und zwar viel strenger, als du sie rächen könntest.«

»Meinst du! Hm! Ja! Der Haupttäter hat seinen Lohn bekommen. Aber es waren elf andere dabei, welche die Mißhandlungen geduldet haben. Traust du mir etwa zu, daß ich sie begnadige?«

Diese Frage war so ernst gemeint, daß ich über sie lächeln mußte.

»Warum lachst du?« fragte er. »Willst du etwa meinen Grimm vergrößern? Soll ich nun auch noch auf dich zornig werden?«

»Nein; das wünsche ich nicht, lieber Halef. Aber schaue dich an, und schenke auch mir einen Blick! Wie stehen wir da! Wie sehen wir aus! Worin besteht unser Besitz und unsere Macht? Und da sprichst du von Begnadigung?«

»Warum soll ich das nicht?« fragte er im Tone des Erstaunens. »Werden wir etwa so, wie wir jetzt aussehen, hier stehen bleiben? Haben wir nicht soeben die Spur derer entdeckt, welche wir suchen? Werden wir ihnen denn nicht alles wieder abnehmen, was sie uns gestohlen haben? Und sind sie dann nicht ganz und gar in unsere Hände gegeben? O, Sihdi, von dir habe ich gelernt, an mich und dich zu glauben, und nun bist grad du es selbst, der keinen Glauben hat! Was soll ich von dir denken! Selbst wenn es aus allen anderen Gründen unmöglich wäre, an diesen Schurken Vergeltung zu üben, so ist doch diese eine Unthat, unser Pferd geschlagen zu haben, so ungeheuerlich, daß sich das Kismet gezwungen sehen muß, uns diese Kerle auszuliefern! Also zweifle nicht! Ich weiß, was kommen wird. Paß auf, was ich jetzt thue!«

Er schleuderte den Ast weit von sich und fügte dann hinzu:

»So wie ich dieses Werkzeug des Verbrechens wegwerfe, so werde ich alle meine Güte und Gnade von mir werfen, wenn diese Spitzbuben mich um Schonung bitten! Sei so gut und komme mir dann ja nicht mit deiner wohlbekannten ›Menschenliebe‹, mit welcher du mir schon so manche unbezahlte Rechnung ausgestrichen hast! Ich will und werde mich rächen, und zwar so, wie ich mich noch nie gerächt habe. Jetzt komm! Wir wollen fort von hier! Wir dürfen keine Zeit versäumen, um Gericht zu halten über alle, die uns beraubt, belogen, betrogen und beleidigt haben!«

Wir gingen, um dem Thale zu folgen, in welchem wir uns befanden. Mein Gesicht schien jetzt einen Ausdruck zu haben, der Halef nicht gefiel, denn dieser sah mich, während wir neben einander gingen, forschend an und sagte dann:

»Du lächelst abermals und doch ist es kein Lächeln. Du lächelst zwar sehr deutlich, aber innerlich. Habe ich recht?«

»Ja,« nickte ich.

»So sag: Was kommt dir spaßhaft vor?«

»Deine Ungnade.«

»Die ist ganz und gar nicht lächerlich. Ich meine doch, daß du mich kennst, Sihdi!«

»Ja, ich kenne dich!«

»Nun? Weiter? Was willst du sagen?«

»Dein Grimm will oft die ganze Welt verschlingen. Dann aber schleicht sich heimlich und leise dein gutes Herz heran, um diese ganze Welt verzeihend zu umarmen!«

»So! Also so stark und so schwach bin ich in deinen Augen?«

»Ja, aber nicht so, wie du es meinst, sondern umgekehrt: schwach im Grimme und stark in deiner Güte.«

»Höre, Sihdi, ich will nicht mit dir streiten. Ich streite ja überhaupt nie mit dir, weil ich dir sonst zeigen müßte, daß du immer und immer unrecht hast. Und diese Kränkung will ich dir ersparen, denn ich bin dein wahrer Freund, und liebe dich. Aber dieses Mal muß ich dir doch sagen, daß du dich in mir täuschest. Es wird meinem Herzen nicht einfallen, geschlichen zu kommen, um hinter meinem Rücken meinen Grimm in Liebe zu verwandeln. Du denkst nie so scharf und empfindest nie so tief wie ich! Ich habe vorhin mit ganz besonderer Absicht gesagt: beraubt, belogen, betrogen und sogar auch noch beleidigt. Diese Beleidigung kannst du freilich nicht so ganz unten in der tiefsten Tiefe des Zornes fühlen wie ich, denn du bist ein Abendländer aus Dschermanistan, wo man es für höflich hält, das Heiligtum des Hauptes preiszugeben. Ihr grüßt, indem ihr dem Kopfe das nehmt, was an jedem Kopfe das Allerwichtigste ist, nämlich die Bedeckung. Ich aber bin ein Scheik des Morgenlandes aus der Dschesireh, wo man es für eine Schande hält, die ehrenvolle Würde des Scheitels zu entblößen. Wer mich zwingt, unbedeckten Hauptes zu erscheinen, der hat schlimmer an mir gehandelt, als wenn er mir hundert Ohrfeigen oder tausend Stockhiebe gegeben hätte. Er hat ein Verbrechen an mir begangen, welches ihm zu verzeihen mir ganz unmöglich ist. Nun schau mich an! Was siehest du? Oder vielmehr, was siehest du nicht?«

»Das Allerwichtigste, was es an deinem Kopfe giebt,« antwortete ich.

»Halt! Lächle nicht etwa schon wieder! Diese Kerle haben mir nicht nur den Fez geraubt, sondern auch das Turbantuch, mit welchem man den obersten und höchsten Teil des Morgenlandes schmückt. Ich bin der hervorragendste Punkt des berühmten Volkes der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Und dieser Punkt ist unbedeckt, der Luft, der Sonne, dem Regen und jedem Auge preisgegeben! Verstehest du das? Kannst du mir das nachfühlen, wenn ich mir Mühe gebe, es dir so deutlich wie möglich vorzuempfinden? Ist es dir möglich, die Größe der Schande zu ermessen, welche mir angethan worden ist? Oder ist es nötig, die Thätigkeit deines Begriffsvermögens durch ein erklärendes Beispiel zu unterstützen?«

»Laß mich dieses Beispiel hören!« forderte ich ihn auf, denn wie ich ihn kannte, war jetzt eine seiner Uebertreibungen, also etwas Drolliges zu erwarten.

»So höre, was ich dir sage! Ihr entblößt aus Höflichkeit das Haupt, wenn aber wir höflich sein wollen, so ziehen wir die Pantoffeln aus. Wieviel Menschen giebt es in eurem Abendlande?«

»Viele, viele Millionen.«

»Aber ist auch nur ein einziger Scheik der Haddedihn dabei?«

»Nein; keiner.«

»So wirst du einsehen, was für eine seltene und wichtige Person ich bin! Also vernimm nun den Vergleich: Daß man mir den Fez und das Turbantuch gestohlen hat, ist eine noch viel größere Missethat, als wenn allen deinen abendländlichen Millionen ihre sämtlichen Pantoffeln gestohlen worden wären. Das siehst du doch wohl ein?«

»Hm!«

»Ich will dieses ›Hm!‹ nicht hören, weil es mich an deiner Einsicht zweifeln läßt. Ich hoffe, es ist dir nun klar geworden, daß ich die Rache für diese Beleidigung unmöglich den Händen meines guten Herzens anvertrauen – höre, Sihdi, was hast du schon wieder zu lächeln?« unterbrach er sich.

»Ich wundere mich über die ›Hände‹ deines Herzens, lieber Halef.«

»So! Ah – hm – Hände! Du willst die schöne, geläufig fließende Sprache meines Mundes mit Fehlern belasten, daß sie stecken bleiben möge? O, Sihdi, verdoppele ja nicht meinen Zorn, denn er ist auch ohnedies schon so groß, daß er, wenn er dich träfe, dich vollständig vernichten würde. Ich will dich aber schonen und darum werde ich schweigen!«

Er rückte um einige Schritte von mir ab, um mir zu zeigen, daß er mit mir schmolle. Das that er immer, wenn ich es für nötig hielt, gegen seine Eigenart eine leise Verwahrung einzulegen; doch war seine Indignation nie von langer Dauer. Er konnte es nicht aushalten, einen trennenden Gedankenstrich zwischen sich und mir zu wissen.

Wir waren noch nicht weit vorwärts gekommen, so hatten wir Veranlassung, wieder stehen zu bleiben. Das Thal stieg hier in fast schnurgerader Richtung nach oben, und es war uns also ein ziemlich weiter Blick in den vor uns liegenden Teil desselben gestattet. Da sahen wir eine Schar berittener Männer, welche uns entgegenkamen und, als sie uns bemerkten, halten blieben, um uns zu beobachten.

»Schau, Sihdi, da kommt Rettung!« rief Halef, schnell seinen Groll vergessend. »Siehst du sie?«

»Rettung?« fragte ich. »Abwarten!«

»Da ist gar nichts abzuwarten! Genommen kann uns nichts werden, denn wir haben ja nichts mehr. Und wer uns nichts Böses thun kann, der muß uns doch Gutes thun. Es sind acht Personen, aber elf Pferde. Wie fangen wir es an, um zwei von den ledigen Tieren zu bekommen? Ich weiß es!«

»Nun, wie?«

»Auf Kredit. Wenn sie hören, wer ich bin, werden sie bereit sein, uns mit zwei Pferden auszuhelfen!«

»Wollen es versuchen. Komm!«

Wir gingen also weiter. Als die Retter dies sahen, setzten auch sie sich wieder in Bewegung. Nach zwei Minuten hielten sie an, und wir standen vor ihnen. Sie waren schwarzhaarige, dunkelgefärbte Männer mit Gesichtszügen, die an Kurdistan gemahnten. Bei derartigen Begegnungen richtet man den ersten Blick auf die Reiter, den zweiten auf die Pferde. Wir sahen, daß wir von diesen Fremden nicht unfreundlich betrachtet wurden. Ihr Pferdematerial war ein mittelmäßiges. Dem entsprachen auch ihre Anzüge und die Waffen, welche sie trugen. Zwei von den ledigen Pferden waren zum Reiten gesattelt. Auf dem Packsattel des dritten sahen wir ein in eine alte, schlechte Decke gewickeltes Bündel festgeschnallt. Der Anführer, ein stark gebauter, vollbärtiger Mann, wartete nicht, bis wir ihn grüßten, sondern er hob seine Rechte bis in die Gegend des Herzens und sagte in höflichem Tone:

»Ni, vro'l ker!«

Das war der gewöhnliche kurdische »Gutentag«-Gruß. Er enthielt keine übertreibende Höflichkeit und klang ebenso aufrichtig, wie er einfach war. Das gefiel uns. Wenn wir bedachten, wie wir vor diesen Leuten standen, so war gewiß anzuerkennen, daß ihr Anführer uns den Gruß zuerst gegeben hatte. Wir dankten ihm mit gleicher Höflichkeit; dann nannte er uns, ohne von uns gefragt worden zu sein, aus eigenem Antrieb seinen Namen:

»Ich bin Nafar Ben Schuri, der Scheik der Dinarun. Wir befinden uns auf der Jagd. Unser Lager ist gegen Osten eine Stunde weit von hier.«

Wir sahen, daß er nun unsere Antwort erwarte. Ich ließ es geschehen, daß Halef sie gab. Er that dies natürlich in der ihm geläufigen Weise, auf welche er grad unter den gegenwärtigen, für uns so mißlichen Umständen am allerwenigsten verzichtet hätte. Was unserer persönlichen Erscheinung mangelte, das mußte unbedingt durch klingende Worte ergänzt werden.

»Ich bin Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Ich hoffe, daß dir dieser Name nicht unbekannt ist!«

Es war allerdings, als der Anführer diesen Namen hörte, wie eine Art von Leuchten über sein Gesicht gegangen. Nun antwortete er:

»Ich habe von dir gehört. Einige meiner Leute sind vor mehreren Tagen von Basra heimgekehrt. Sie haben dich gesehen und mir von dir erzählt.«

Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er reckte seine kleine Gestalt so hoch wie möglich empor und fiel in stolzem, selbstbewußtem Tone ein:

»Von meinen Thaten auch? In der Sahara? In Aegypten? In Arabien? In Kurdistan?«

»Alles nicht, aber vieles,« lächelte Nafar Ben Schuri. »Wenn Allah will, werde ich noch mehr von dir selbst erfahren.«

»Er wird es wollen, hoffe ich! Aber sieh hier diesen anderen Mann, meinen Freund und Begleiter, an! Sein Name ist eigentlich noch viel, viel länger als der meinige; aber er liebt es nicht, daß derselbe von Anfang bis zum Ende vorgetragen wird. Darum will ich ihn einstweilen nur Kara Ben Nemsi aus Dschermanistan nennen. Was ich erlebt habe, hat er fast alles miterlebt. Ich will dir nur die allerwichtigsten unserer Thaten aufzählen, denn wenn ich dir alle nennen wollte, so –«

Er hielt mitten in der Rede inne, denn ich hob die Hand auf, um ihm Einhalt zu thun. Grad die sogenannten »großen Thaten« waren es ja, die er mit den buntesten Blumen auszuschmücken pflegte. Den orientalischen Zuhörern konnte seine überschwengliche Ausdrucksweise freilich nicht auffallen, weil sie meist selbst keine andere gewöhnt waren; aber ich liebte sie nicht und suchte sie darum, so oft dies möglich war, in die richtigen Grenzen zurückzuleiten. So auch jetzt. Er gehorchte zwar sogleich, warf mir aber die bedauernde Bemerkung zu:

»Sihdi, winke mir doch nicht immer grad dann zu, wenn ich spreche! Du weißt ja, daß mich das stört! Winkst du mir, wenn ich schweige, so habe ich ja viel mehr Zeit, deinen Wink zu beachten. Das wirst du wohl einsehen!« Sich hierauf dem Anführer wieder zuwendend, fuhr er fort: »Die letzte und allergrößte unserer Thaten geschieht eben jetzt, indem wir dir begegnen. Wir stehen grad im Begriffe, zwölf Schurken, welche uns ausgeraubt haben, zu verfolgen, zu ergreifen, zu richten und zu bestrafen!«

Nafars Gesicht zeigte einen zwar undefinierbaren, aber leicht erklärlichen Ausdruck, als er hierauf fragte:

»Man hat euch ausgeraubt?«

»Ja. Das siehst du doch!«

»Ihr habt keine Pferde?«

»Nein. Oder siehst du welche?«

»Waren die Räuber beritten?«

»Ja.«

»Und dennoch wollt ihr sie verfolgen?«

»Natürlich! Es kann uns doch gar nicht einfallen, sie entkommen zu lassen.«

»Und ihr glaubt, sie einholen zu können?«

»Ganz gewiß!«

»Etwa mit euren Beinen? Auf diesen euren Füßen?«

»Fällt uns auch nicht ein!«

»Wie denn?«

»Ganz selbstverständlich auf den Füßen eurer Pferde!«

»Maschallah! Ihr glaubt, daß wir euch helfen werden?«

»Es wäre uns wohl lieb, wenn ihr es thätet, aber unbedingt notwendig ist es nicht. Wir brauchen zwei Pferde, zwei Gewehre, zwei Messer, zwei Fez', zwei Haïks und Pulver und Blei. Das kaufen wir euch ab.«

»Du sprichst sehr kurz und bestimmt. Könnt ihr denn dies alles bezahlen?«

»Sogleich freilich nicht; aber ich bin Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, und wenn ich mein Wort gebe, daß ich sogar den doppelten Preis zahlen werde, so frage ich: Wer wagt es, zu behaupten, daß ich es nicht halten werde?«

»Niemand. Ich glaube dir. Aber ich habe euch noch nie gesehen, und ich besitze keinen Beweis, ob ihr wirklich die berühmten Männer seid, deren Namen du genannt hast. Es ist also ein ganz besonderer Handel, auf den ich mit dir eingehen soll. Erlaube uns, o Scheik der Haddedihn, daß wir von unseren Pferden steigen, um uns von dir erzählen zu lassen, von wem und in welcher Weise der Raub an euch begangen worden ist!«

Das klang so vernünftig und so hilfsbereit. Daß er vorher gesprächsweise prüfen wollte, konnten wir ihm nicht im geringsten übelnehmen. Die Dinarun stiegen von ihren Tieren und setzten sich, einen Halbkreis bildend, nieder. Wir nahmen vor ihnen Platz, und dann begann Halef zu erzählen. Er that dabei alles mögliche, unsere Unvorsichtigkeit zu entschuldigen und die an uns begangene Missethat ins grellste Licht zu stellen. Als er geendet hatte, richtete der Anführer die Frage an ihn:

»So wißt ihr also nicht genau, wer diese Menschen gewesen sind?«

»Nein,« antwortete Halef.

»Auch nicht, wo sie wohnen?«

»Auch nicht.«

Da ging ein breites, frohes Lächeln über das dunkle, bärtige Gesicht Nafars, und er sagte:

»Wie gut für euch, daß ihr uns begegnet seid! Was ihr nicht wißt, das könnt ihr von uns erfahren.«

»Von euch?« fragte Halef schnell. »Wißt ihr denn etwas über diese Halunken?«

»Ja,« nickte der Anführer.

»Was und woher?«

»Wir sind ihnen ja begegnet!«

»Ihr? Ihnen? Begegnet?« rief Halef aus, indem er aufsprang. »Hamdulillah! Das ist ja ganz so gut, als ob wir sie schon hätten! Wo und wann ist das geschehen?«

»Um die Mittagszeit, im Nordosten von hier. Ich weiß die Stelle ganz genau. Und da ihr Hadschi Halef und Kara Ben Nemsi seid, so bin ich gern erbötig, euch die Hilfe unseres ganzen Lagers anzubieten. Ja, es stimmt: Es waren zwölf Personen, aber zwei von ihnen schienen krank oder verwundet zu sein –«

»Der vom Pferde Abgeworfene und der vom Pferde Geschlagene!« unterbrach ihn Halef.

»Eure beiden Rappen wurden an den Zügeln geleitet. Es saß niemand auf ihnen, und erst jetzt fällt es mir ein, daß sie sehr aufgeregt zu sein schienen.«

»Habt ihr mit den Leuten gesprochen?«

»Nein. Sie schienen das nicht zu wünschen und ritten, nur kurz grüßend, an uns vorüber. Später sahen wir einen zusammengebundenen Gegenstand an der Erde liegen. Es ist möglich, daß sie ihn verloren haben, aber keineswegs gewiß, denn wir haben nicht auf ihre Fährten geachtet und wissen also nicht, ob er auf ihren Spuren lag. Nachdem wir aber euch hier getroffen und erfahren haben, was euch geschehen ist, so vermute ich, daß die darin befindlichen Sachen euch gehören. Wir öffneten natürlich das Paket und haben also gesehen, was es enthält. Es scheint alles zu sein, was euch an eurer Kleidung fehlt.«

Er winkte einem seiner Leute, welcher das Bündel vom Packsattel löste, um es herbeizubringen, zu öffnen und dann den Inhalt vor uns auszubreiten. Es war zu unserer gewiß nicht unangenehmen Ueberraschung so, wie er gesagt hatte: Da lagen unsere Decken, die Ha ïks, die Fez', die Turbantücher, die Jacken und auch die kleineren, unwichtigen Gegenstände, welche zu unseren Anzügen gehörten. Es fehlte nichts; es war, als ob man mit besonderer Aufmerksamkeit darauf bedacht gewesen sei, gerade diese Kleidungsstücke von den anderen uns geraubten Sachen in der Weise abzusondern, daß ein glücklicher Umstand sie uns vollständig zurückzugeben habe. Später sahen wir freilich ein, daß uns dies hätte auffallen müssen; zunächst aber erregte der willkommene Fund nicht das geringste Bedenken in uns, zumal die Taschen leer waren und es keinen Grund für uns gab, auf irgend eine Absichtlichkeit zu schließen. Das Paket war schlecht festgebunden gewesen. Man hatte es also während des Rittes verloren und dies nicht sogleich bemerkt. Freilich lag die Frage nahe, warum man nicht umgekehrt war, es zu suchen, als man endlich doch gewahrte, daß es abhanden gekommen sei. Das war aber nicht schwer zu erklären: Wer einen Raub begangen hat, der sucht zunächst, sich möglichst weit zu entfernen; zur Umkehr müssen wichtige Gründe vorliegen, und der Wert dieser Kleidungsstücke war doch nicht ein so hoher, daß man ihretwegen eine Zeit von vielleicht mehreren Stunden hätte versäumen mögen. Dazu kam die Begegnung der Diebe mit den Dinarun. Die ersteren mußten sich, sobald sie den Verlust bemerkten, sagen, daß die letzteren das Paket gefunden haben und, wenn man es von ihnen zurückverlangte, gewiß nach der Berechtigung dazu fragen würden. Das konnte sehr leicht zu unangenehmen Forschungen und Weiterungen führen – kurz und gut, es war weder für mich noch für Halef unbegreiflich, daß wir unsere Sachen so hübsch bei einander vor uns liegen sahen. Freilich an den Umstand, daß es für mich überhaupt keinen Zufall giebt, dachte in diesem Augenblick keiner von uns beiden. Halef, der stets Schnellerfertige von uns, rief, als er die Sachen sah, voller Freude aus:

»Maschallah! Was erblicken meine Augen! Da liegt ja die ganze Ehre unserer Häupter und die ganze Zierde unserer Glieder vor uns ausgebreitet! Ich sehe nicht ein einziges Stück, welches sich nicht dabei befindet, sondern es ist alles, alles da! Sihdi, ich fordere dich auf, im Verein mit meinem Munde zu erklären, daß das Kismet ehrlicher und gerechter ist, als diese Spitzbuben es gewesen sind! Das gütige Fatum zeigt uns hier wieder einmal, daß wir in die vorderste Reihe seiner Lieblinge gehören. Und weißt du, warum es uns zunächst die geraubte Kleidung zurücksendet?«

»Nun, warum?« fragte ich.

»Weil wir sie nötiger als alles andere haben und damit wir hieraus erkennen sollen, daß wir auch das, was noch fehlt, zurückbekommen werden. Was sitzest du da und regst dich nicht! Folge doch meinem Beispiele; die Sachen gehören doch uns!«

Er war nämlich aufgesprungen und nun eifrig damit beschäftigt, die Kleidungsstücke so eilig anzulegen, als ob sein ganzes Heil in der vollständigen Umhüllung seines kleinen, schmächtigen, aber außerordentlich sehnen- und nervenstarken Körpers bestehe. Ich folgte nun seinem Beispiele, wenn auch in langsamerer und bedächtigerer Weise.

»So!« sagte er, als er fertig war. »Jetzt bin ich wieder Hadschi Halef Omar, aber weiter nichts. Der berühmte Krieger und Scheik der Haddedihn werde ich erst dann wieder sein, wenn ich mein Pferd und meine Waffen wieder habe. Aber wehe dann allen denen, welche fähig gewesen sind, einen solchen Verrat und Bruch der Gastfreundschaft an uns zu verüben! Ich werde über sie Gericht halten wie der Erzengel Midschaïl, dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Ich werde weder Gnade noch Güte walten lassen! Ich werde so hart sein wie der Kieselstein am Ufer des Tigris und so unnachgiebig wie der Grimm, der sich im Magen eines hungrigen Löwen regt. Ich werde sie packen, wie der schwarze Panther seine Tatzen in das Genick der Kameelstute schlägt, und ich werde sie festhalten, wie das Krokodil seine Beute nie aus den Zähnen läßt! Ihre Qualen werden größer sein als die Qualen aller Höllen, die es giebt, und wenn sie vor Schmerzen stöhnen, wie der Hammel unter der Hand des Schlächters stöhnt, so werde ich lächelnden Mundes dabeisitzen und mich freuen, daß sie der wohlverdienten Strafe nicht entgangen sind!«

Das klang schrecklich genug. Wer ihn nicht kannte, der konnte allerdings glauben, daß er in voller Ueberzeugung spreche. Die Dinarun warfen einander heimlich sein sollende Blicke zu. Das war nicht zu verwundern, wenn man unsere Lage mit den Worten des Hadschi verglich. Nafar blieb ernst, doch hatte seine Stimme einen ungewöhnlich freundlichen, teilnehmenden Ton, als er jetzt sagte:

»Ich sehe, daß diese Sachen allerdings euer Eigentum sind. Wir haben sie gefunden, geben sie euch aber gern. Es freut mich, daß ihr nun als Männer vor mir steht, denen man ansieht, daß sie gewohnt sind, zu befehlen, nicht aber, zu gehorchen. Wir sind bereit, euch Hilfe zu erweisen. Ihr könnt einstweilen diese beiden Pferde, dann aber auch noch bessere bekommen, wenn ihr einwilligt, unsere Gäste zu sein und uns nach unserem Lager zu begleiten. Auch Gewehre, Messer und Pulver werden wir euch geben. Und wenn ihr es für nützlich haltet, bin ich sogar bereit, euch mit einer Anzahl meiner Leute zu begleiten, um den Dieben nachzueilen und ihnen abzunehmen, was sie euch entwendet haben.«

Konnten wir willkommenere Worte hören? Gewiß nicht! Ich wollte ihm sagen, daß ich bereit sei, sein Anerbieten dankbar anzunehmen, doch Halef kam mir zuvor. Er rief begeistert aus:

»Wie glücklich ist der Stamm, dem du angehörst, o Nafar Ben Schuri. Die Weisheit spricht aus deinem Munde, und von deinen Lippen klingen die Töne des Verstandes! Die Großväter deiner Ahnen und Urahnen sind die klügsten Leute ihres Volkes gewesen, und die Urenkel deiner spätesten Nachkommen werden berühmt in allen Ländern und Gegenden des Erdkreises sein. Wir sind gekommen, das Glück deines guten Herzens zu erhöhen, indem wir annehmen, was du uns bietest. Wir werden innige Freundschaft und ein ewiges Bündnis mit dir schließen. Wir sind bereit, dich sofort nach deinem Lager zu begleiten, und ich verspreche dir –«

»Halt!« unterbrach ich ihn, denn er wäre in seiner Freude fähig gewesen, Zugeständnisse zu machen, denen nachzukommen uns später nicht möglich war.

»Was?« fragte er. »Bist du etwa mit dem, was ich sage, nicht einverstanden, Sihdi?«

»Darin, daß wir die uns angebotene Hilfe annehmen, stimme ich dir bei, Halef. Aber nach dem Lager können wir nicht gleich mit.«

»Warum?«

»Es ist nur noch kurze Zeit bis zum Untergang der Sonne. Dann werden die Diebe Halt machen. Ich möchte womöglich erfahren, wo sie die Nacht zubringen. Gelingt uns das, so können wir bis früh schon wieder im Besitze unserer Pferde sein. Wir können also nur eins thun, nämlich jetzt sogleich ihren Spuren folgen.«

»Das ist wahr!« gab er zu.

»Ja, das ist richtig!« stimmte auch Nafar bei. »Und damit ihr seht, daß ich es wirklich freundlich mit euch meine, erkläre ich, daß wir euch begleiten werden. Ihr werdet aber einsehen, daß ich einen Boten in das Lager senden muß!«

»Natürlich! Er hat Nachricht zu geben, daß und warum ihr heut nicht zurückkehrt,« sagte ich.

»Noch mehr!«

»Was?«

»Wir sind nicht so berühmte Krieger, welche, so wie ihr, ohne Waffen und fast in der Minderzahl einen Feind verfolgen, der gezeigt hat, daß er zu allem fähig ist. Ich bin es meinen Leuten schuldig, Vorsicht walten zu lassen, und so –«

»Vorsicht?« fiel da Halef schnell ein. »Minderzahl? Wir waren nur zwei, und wie sahen wir aus – und doch sind wir hinter den Dieben her! Ihr seid acht, mit uns zehn, genau so viel, wie die Feinde zählen, von denen zwei krank sind!«

»Aber ihr habt noch keine Waffen!«

»Die haben wir!«

»Wo?«

»Da – dort – bei den Spitzbuben! Die haben ja unsere Gewehre, und die holen wir uns!«

Da ging ein eigenartiges Lächeln über das Gesicht des Anführers. Er strich sich mit der Hand über den dunklen Bart und sagte in bedächtigem Tone:

»Ja, es ist alles wahr, was ich von Hadschi Halef Omar, dem Scheik der Haddedihn, vernommen habe. Deine Gedanken haben die Schnelligkeit des Blitzes; hierauf folgt sofort der Donner deiner Worte, und wie der Regenguß kommt dann die schnelle That. Aber wir wissen zwar, was jetzt ist und wie es ist, doch wie es sein wird und was noch kommen kann, das wissen wir nicht. Wenn zehn Männer gegen andere zehn Männer stehen und man aber leicht eine größere Schar haben kann, so soll man nicht auf diesen Vorteil verzichten. Habe ich recht oder nicht, Sihdi?«

Diese Frage war an mich gerichtet, und so antwortete ich:

»Ich stimme dir bei, falls dieser Zuwachs an Kriegern nicht mit Verlusten andererseits verbunden ist.«

»Welche Verluste könnten das wohl sein?«

»Ich meine vor allen Dingen die Zeit, welche wir dadurch verlieren könnten.«

»Wir haben keinen Augenblick zu opfern, Sihdi, denn wir folgen ja sofort der Spur der Diebe, während sich nur ein einziger Mann von uns trennt, um nach dem Lager zu reiten und mehr Leute zu holen.«

»Wie folgen uns diese? Auf unserer Fährte?«

»Nein. Denn wenn sie dies thäten, so müßten sie erst wieder hierher, und dann kämen sie freilich zu spät. Sie könnten dann unsere Spuren nicht mehr sehen, weil es inzwischen dunkel werden muß.«

Er sann einige Augenblicke nach und fuhr dann fort:

»Die Reiter hatten die Richtung nach dem Dschebel Ma; das ist der ›Berg des Wassers‹, weil es dort eine Quelle giebt. Ich bin überzeugt, daß sie dort in der Nacht lagern werden. Ich lasse dreißig oder vierzig Krieger holen, welche vor diesem Berge an einer Stelle, wo wir auf sie warten werden, auf uns zu treffen haben. Meinst du nicht, daß dies richtig sein wird?«

Es war ein Glück für uns, diesem Scheik der Dinarun und seinen Leuten begegnet zu sein. Ich hätte freilich gern eine andere Disposition getroffen, fühlte mich ihm aber zu Dank verpflichtet und durfte es nicht zu einer vielleicht möglichen Verstimmung zwischen ihm und mir kommen lassen. Darum erklärte ich:

»Wir kennen diese Gegend nicht; euch aber ist sie wohlbekannt; darum bin ich überzeugt, daß dein Rat der beste ist, der uns gegeben werden kann. Wir werden ihn befolgen.«

»Ich danke dir, Sihdi! Du wirst die Erfahrung machen, daß sich niemand täuscht, der mir vertraut. Wir kehren also mit euch beiden um.«

Er gab einem seiner Leute die nötigen Befehle, und als dieser im Galopp fortritt und das ledige Packpferd mitnahm, stiegen wir auf und schlugen die Richtung ein, aus welcher die Dinarun gekommen waren.

»Brrr!« schüttelte sich Halef, als wir kaum einen Kilometer zurückgelegt hatten.

»Friert dich wieder?« fragte ich ihn.

»Ja. Aber es ist auch noch etwas anderes.«

»Was?«

»Mein jetziges Pferd! O, Sihdi, welch eine Wonne des Paradieses ist es, auf meinem Barkh zu sitzen! Ja, es sind sogar zwei, drei, vier oder fünf solche Wonnen! Aber so ein Gaul wie dieser! Sihdi, bist du einmal auf einem Ziegenbock geritten?«

»Nein.«

»Ich auch nicht; aber ich leide jetzt dieselben Qualen, die man eigentlich nur auf dem Rücken einer Ziege suchen darf. Ich weiß nicht, ist das Pferd schuld, oder giebt es eine andere Ursache: Ich werde schwindelig; mein Herz klopft überschnell.«

»Halef, du bist krank, ernstlich krank!« rief ich besorgt aus.

»Krank? O nein! Wie könnte ich krank sein, wenn es Spitzbuben zu verfolgen und einzufangen giebt! Du mußt doch deinen alten treuen Hadschi kennen!«

»Irre dich nicht! Denke einmal an jenen Unglücksritt von Bagdad auf dem Weg der persischen Todeskarawane!«

»An den werde ich denken, so lange ich nur denken kann. Wir ritten der Pest entgegen, die erst dich, dann mich ergriff.«

»So erinnere dich genau! Vergleiche deinen damaligen Zustand mit deinem jetzigen!«

»Allah! Hast du etwa Grund, jetzt wieder an die Pest zu denken?«

»Nein, sondern einstweilen nur an das Kranksein im allgemeinen. Daß du Schwindel hast, macht mich besorgt.«

»Jetzt ist er wieder weg; aber ich habe Figuren und bunte Fäden vor den Augen, die mich hindern, deutlich und klar zu sehen.«

»Hm! Halef, ich wollte, wir hätten unsere Pferde und überhaupt unser Eigentum wieder und befänden uns an einem stillen, sicheren Orte, an dem wir bleiben könnten!«

»Sihdi, lieber Sihdi, mache mir doch nicht Angst mit deiner Sorge um mich! Ich bin ja ganz gesund! Schau, vorhin fror es mich; jetzt aber ist das völlig weg; es ist mir sogar heiß, ganz heiß geworden. Habe also keine Angst. Ich bin so rüstig, wie ich stets gewesen bin und wie ich bleiben werde, bis ich sterbe!«

Es wäre ein großer Fehler gewesen, ihm diese gute Meinung zu widerlegen; darum sagte ich nichts, und da auch er nicht weiter sprach, so ritten wir nun still nebeneinander her. Nafar Ben Schuri ritt voran; dann folgten wir zwei, und hinter uns kamen seine Leute. Es war eigentümlich, daß der Anführer sich nicht zu uns hielt, aber keineswegs unerklärlich. Wir sahen, daß er der Fährte, welcher wir folgten, große Aufmerksamkeit widmete; das hätte er nicht gekonnt, wenn er gezwungen gewesen wäre, sich mit uns zu unterhalten. Auch lag es für den Scheik, der überdies die Gegend genau kannte, sehr nahe, sich an der Spitze des kleinen Zuges zu halten. Vielleicht war er überhaupt ein schweigsamer Mann, der nur dann sprach, wenn er es für nötig hielt. Oder galt es bei ihm als ein Beweis der Achtung und Höflichkeit, sich nicht zu uns zu gesellen und uns mit neugierigen Fragen und überflüssigen Reden zu belästigen? Wahrscheinlich hielt er sich auch nicht für befähigt oder erfahren genug, auf ein Gespräch mit Leuten einzugehen, denen er sich nicht geistig gleichgesellt fühlte. Kurz, es gab Gründe genug, seine Absonderung von uns zu erklären. Nur an eines dachten wir nicht, nämlich daß ihn das böse Gewissen oder die Vorsicht abhalte, neben uns zu reiten und sich nach Verhältnissen fragen zu lassen, über welche er nicht Auskunft geben wollte. Da hätten wir ihn ja für unehrlich halten müssen, ihn, der doch eigentlich unser Retter war, und dazu fehlte uns, zumal in unserer gegenwärtigen Lage, die Befähigung. Uebrigens kam es zuweilen vor, daß er uns eine Bemerkung über den Weg, die Gegend oder über die Spuren, denen wir folgten, zuwarf, und das genügte uns so vollständig, daß wir gar nicht mehr von ihm verlangten.

Mich beschäftigte der Gedanke an Halef außerordentlich. Mir erschienen seine Wangen jetzt noch tiefer als vorher eingefallen. Ich sah sie bald sich entfärben, bald dunkler werden. Oder bildete ich mir das nur ein? Seine Augen blickten jetzt matt und starr, und gar nicht lange, so schienen sie in ungewöhnlichem Glanz zu strahlen. Auch hierin konnte ich mich täuschen, doch nicht darin, daß er zuweilen tief und seufzend Atem holte, was ich bei ihm noch nie bemerkt hatte. War seine Frage nach dem Sterben einer Vorahnung entsprungen, daß eine schwere Krankheit die fleischlosen, gierigen Hände nach ihm ausstrecke? Fast erschrak ich, denn grad als mir dieser Gedanke kam, wendete er mir sein Gesicht zu und sagte:

»Sihdi, ich komme mit meiner Frage noch einmal: Wie denkst du über das Sterben?«

»Wir haben das ja schon besprochen,« antwortete ich.

»Nein, noch nicht!«

»Wieso?«

»Du hast mir nicht geantwortet. Du warst so klug, wie du immer bist, wenn du meinst, daß ich nach etwas frage, was ich noch nicht verstehen kann. Dann antwortest du mir dadurch, daß du mich selbst antworten lässest. Aber ich wollte doch nicht hören, was ich denke, sondern wie du denkst.«

»Lieber Halef, frage nicht jetzt nach solchen Dingen; es ist nicht Zeit dazu.«

»Warum?«

»Muß ich dir das erst erklären? Was weiß der Mensch vom Sterben? Und wenn er ja darüber nachdenken, oder gar darüber sprechen will, so soll er das in stiller, geräuschloser Stunde thun, in welcher er nicht von dem Leben abgehalten wird, seine Gedanken mit dem Sterben zu beschäftigen. Sei gut, lieber Halef, und laß jetzt diese Frage fallen!«

»Sei gut, lieber Halef! O, Sihdi, wenn du in dieser Weise zu mir sprichst, so könnte ich nicht nur vom Sterben sprechen, sondern selbst und wirklich sterben – für dich, aus Liebe, ja, aus Liebe! Wenn doch alle, alle Menschen nur in diesem Tone zu einander sprechen wollten!«

»Alle?«

»Ja, Sihdi!«

»Auch die guten mit den bösen?«

»Ja, auch; denn dann würden die einen vielleicht durch die anderen gerettet werden!«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

»Hm!«

»Wieder dieses ›Hm!‹ Hinter diesem Brummen steckt stets etwas, was ich begangen habe. Wahrscheinlich auch jetzt. Ich bitte, es mir nicht vorzubrummen, sondern deutlich zu sagen!«

»Denke an den Erzengel Midscha ïl, dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Wer wollte so streng Gericht halten wie er?«

»Hm!«

»Ah, wer brummt jetzt? Ich oder du? Wer wollte weder Gnade noch Güte walten lassen?«

»Hm!«

»Wer wollte wie ein Kieselstein oder wie ein hungriger Löwe sein?«

»Hm!«

»Ein schwarzer Panther, ein Krokodil? Wer wollte alle Qualen der Hölle spenden und sich dann lächelnden Mundes über diese Qualen freuen? Kennst du vielleicht den Mann?«

»Hm!«

Er hatte bei jedem »Hm!« den Kopf immer tiefer sinken lassen. Ich fuhr fort:

»Und jetzt wünscht ganz derselbe Mann, daß alle, alle Menschen nur im Tone der Liebe zu einander sprechen möchten, auch die guten zu den bösen, weil die letzteren dadurch vielleicht gerettet werden könnten!«

Da hob er den Kopf mit einem schnellen Ruck empor, wendete mir das liebe, liebe Gesicht wieder zu und rief aus, indem ein helles seelengutes Lächeln darüberflog:

»Vergieb, Sihdi! Dieser Mann, dieser Mensch, dieser Kerl, dieser Dummkopf ist der größte Esel, den es nur geben kann! Glaubst du das?«

»Nein!«

»So streite ich mich mit dir! Du kennst nämlich deinen Halef nicht!«

»O doch!«

»Nein, noch lange nicht! Auch ich habe ihn nicht gekannt, bis – bis – bis ich einmal ganz plötzlich den anderen kennen lernte.«

»Den anderen?«

»Ja. Hältst du es für möglich, daß ein Mensch aus zwei Personen bestehe?«

Ich sah erstaunt zu ihm hinüber. Welch eine Frage!

»Ja, da schaust du mich groß an!« fuhr er fort.

»Verzeihe mir, daß ich dir bisher die große, wichtige Entdeckung verschwieg, welche ich an mir gemacht habe! Ich bestehe aus zwei ganz ähnlichen und doch unendlich verschiedenen Wesen. Das eine ist gut, das andere schlimm. Beide zusammen heißen Hadschi Halef; stehen sie einander aber kämpfend gegenüber, so ist das schlimme der Hadschi und das gute der Halef. Verstehst du mich?«

»Ja.«

Jetzt war er es, der mich prüfend ansah.

»Du verstehst mich? Sonderbar! Kämpft es etwa auch in dir so wie in mir?«

»Ja, in jedem Menschen. Aber Millionen schenken diesem inneren Kampfe keine Aufmerksamkeit, und darum sterben sie, ohne es zum Sieg zu bringen.«

»Das will ich aber! Ich will siegen, darum kämpfe ich! Kein Mensch bemerkt das, und selbst du hast es nicht bemerkt. Es lebt einer in mir; der ist, als ob er von Allahs Himmel stamme, so freundlich, so gütig, so edel, so aufopfernd, so geduldig. Das ist dein Halef, den du liebst. Und es lebt einer in mir, der nicht vom Himmel stammt, denn er ist stolz, trotzig, unvorsichtig, alles übertreibend, prahlerisch, jähzornig, unversöhnlich, rachsüchtig. Das ist der Hadschi, der dir nicht gefällt und den du meinst, so oft dein ›Hm!‹ sich hören läßt. Du wirst vielleicht fragen, warum ich den guten als den Halef und den schlimmen als den Hadschi bezeichne; aber wenn ich dir sage, daß Halef ein Mann und Hadschi ein Titel ist, so wirst du mich verstehen.«

Für diejenigen, welche es noch nicht wissen, diene die Bemerkung, daß der Anhänger des Islam dann zum Hadschi wird, wenn er eine der heiligen muhammedanischen Städte der Pilger besucht und dort alle seine religiösen Obliegenheiten erfüllt hat. Ein Hadschi in vollstem Sinne ist der, welcher in Mekka, Medina und vielleicht gar noch in Jerusalem zum Besuch der Omarmoschee gewesen ist. Für den Westafrikaner aber genügt es auch schon, das dort für heilig geltende Ka ïrwan besucht zu haben.

Halef hatte nach seinen letzten Worten eine kurze Pause gemacht. Dann fuhr er fort:

»Als du mich damals in der Sahara kennen lerntest, war ich ein junger, unerfahrener und doch sehr eingebildeter Mensch. Ich nannte mich Hadschi, obgleich ich kein Recht hatte, diesen Titel zu führen. Du freilich durchschautest mich und lächeltest über diesen falschen Hadschi, der noch nie an einem der heiligen Orte gewesen war. Ich nannte sogar meinen Vater und auch meinen Großvater Hadschis, obgleich sie noch nicht einmal Ka ïrwan im Lande Tunis gesehen hatten. Das war nicht nur eine Lüge, sondern sogar eine Uebertreibung der Lüge bis auf meine Vorfahren zurück. Ich war eitel und ruhmsüchtig; ich prahlte; ich wollte mehr sein, als was ich war, und aus dieser Unwahrheit entsprangen alle anderen Fehler, welche sich über dein ›Hm!‹ zu ärgern pflegen. Darum habe ich den schlimmen Kerl, der in mir steckt und mir so viel zu schaffen macht, den ›Hadschi‹ genannt. Begreifst du mich jetzt, Sihdi?«

»Sehr gut, mein lieber Halef.«

»Und dieser ›Hadschi‹ ist dir bekannt?«

»Wahrscheinlich besser, als du denkst.«

»So hoffe ich, daß dir auch der andere, der gute Kerl in mir bekannt ist, den ich mit meinem Namen, also mit ›Halef‹ bezeichne. Denn dieser hat mir immer wieder zurückzuholen, was der andere mir von deiner Liebe und deiner Achtung raubt. Diese beiden so verschiedenen Wesen wohnen in mir und streiten sich unaufhörlich nicht nur um den Besitz meiner Persönlichkeit, sondern sogar um jedes meiner Worte und um jede meiner Thaten. Wer von ihnen zuerst dagewesen und wer dann später gekommen ist, der Hadschi oder der Halef, das kann ich nicht sagen, denn ich habe damals nicht aufgepaßt. Seit einiger Zeit aber beobachte ich sie sehr genau, und da bemerke ich, daß sie eigentlich gar nicht zu einander gehören und doch unendlich schwer von einander zu unterscheiden sind. Aber bemerkt habe ich doch, daß der Halef die Wahrheit liebt und von dem andern nichts, gar nichts wissen will, während aber im Gegenteile der Hadschi sich oft die größte Mühe giebt, mich zu belügen und zu betrügen, indem er sich stellt, als ob er der Halef sei. Darum habe ich diesem Hadschi schon hundertmal die Gastfreundschaft in mir gekündigt; aber er hat keinen Gehorsam und kein Ehrgefühl; er bleibt, wo er ist, und wenn ich ihn einmal vorn zur Thüre meines Zeltes hinausgeworfen habe, so ist er im nächsten Augenblicke hinten unter der Leinwand schon wieder zu mir und in mich hineingekrochen. Sihdi, wenn ich den Kerl fassen könnte! Leider aber ist mir das nicht möglich! Er hat weder vor mir noch vor andern Leuten Angst, und es giebt nur einen, vor dem er sich fürchtet.«

»Wer ist das?«

»Das bist du. Ja, du! Vor dir scheint er einen ungeheuren Respekt zu haben, aber weniger vor deiner Gestalt, als vielmehr vor deinen Augen. Erst seitdem ich dies bemerkt habe, weiß ich, daß es Augen giebt, welche der Warnung, und wieder andere, welche der Verführung dienen. Ich habe sehr oft schon in Augen gesehen, bei deren Blick dieser Hadschi sofort zu prahlen und zu übertreiben beginnt. Aber wenn du mich anschaust, weiß du, so ernst und doch so lächelnd, da kann er gar nicht anders, da ist er sofort still. Er schämt sich vor dir; ja er flieht vor dir. Wie das nur kommen mag? Kannst du es mir erklären?«

»Vielleicht. Er flieht nämlich nicht vor mir, sondern vor dem guten Halef in dir. Dieser ist es ja, den ich lieb habe, und wenn die Liebe mein Auge auf dich richtet, ruft sie ihn wach und steht ihm bei, den andern zu besiegen. Das ist ein Rätsel des menschlichen Seelenlebens, welches du nicht lösen kannst. Versuche also nicht, ihm nachzuforschen!«

»Diese Warnung ist gar nicht nötig, denn du weißt ja, daß ich kein Freund von Rätseln bin. Aber über die beiden in mir wohnenden Wesen möchte ich doch gar so gern ins Reine kommen. So oft ich über sie nachdenke, muß ich an die beiden Adamlar denken, von denen du zuweilen gesprochen hast. Es ist in deinem Ahd idsch dschedid von ihnen die Rede. Kannst du dich besinnen?«

»Ja.«

»Das heilige Buch der Christen spricht von einem alten Adam, den man ablegen soll, damit ein neuer, gerechterer und besserer an seine Stelle trete. Ob da wohl der Hadschi und der Halef gemeint sind, welche in mir wohnen?«

»Ja; natürlich sind sie gemeint.«

»Aber, Sihdi, da möchte ich doch beinahe sagen, daß das heilige Buch der Christen das klügste aller Bücher sei! Es schaut in das Innere der Menschen hinein und spricht von Geheimnissen, welche er selbst nicht kennt! Wenn eine Religion von mir mehr weiß, als ich selbst, so muß ich vor ihr Respekt haben, ich mag wollen oder nicht. Wie schade, daß wir von diesem Gespräch abbrechen müssen! Der Scheik der Dinarun scheint etwas Wichtiges zu sehen!«

Wir waren nämlich zuletzt durch eine Art von Engpaß geritten. Er mündete auf eine kleine Hochebene, von welcher aus er wiederum zu Thale führte. Der Scheik hatte seinem Pferde die Sporen gegeben, um uns vorauszukommen. Nun hielt er am Rande der Ebene und deutete uns durch Zeichen an, daß ihm dort irgend etwas in die Augen gefallen sei. Als wir uns ihm bis auf Hörweite genähert hatten, rief er uns zu:

»Ich sehe die Räuber. Sie lagern da unten am Wasser. Kommt her; aber reitet nicht bis ganz an den Rand dieses Platzes, damit ihr nicht von ihnen gesehen werdet! Der Berg da drüben ist der Dschebel Ma.«

An diesem Berge hatte sich die Natur endlich einmal wenigstens einigermaßen grün gekleidet. Seine Hänge waren ziemlich hoch hinauf mit Gras bewachsen, und an seinem Fuße zog sich allerlei Buschwerk hin. Es gab da sogar einen kleinen, schmalen Wasserlauf, an dessen Ufer wir die, welche wir suchten, lagern sahen.

»Wir müssen von den Pferden steigen, wenn wir sie unbemerkt beobachten wollen,« meinte der Scheik, indem er aus dem Sattel sprang, welchem Beispiele wir natürlich folgten. »Ich glaube, daß sie es sind. Oder meint ihr vielleicht, daß ich mich irre?«

Er richtete diese Frage an mich und Halef. Der letztere antwortete:

»Ich sehe gar niemand. Soeben legt sich mir wieder dieser rote Nebel vor die Augen, den mein Blick nicht durchdringen kann. Sihdi, sag, was du erblickst!«

Ich sah zwölf Menschen und vierzehn Pferde. Zwei von diesen letzteren standen von den anderen getrennt. Es waren unsere Rapphengste; ich irrte mich nicht, denn ich erkannte sie ganz deutlich. Als ich dies Halef sagte, rief er aus:

»So wollen wir eilen, schnell hinabzukommen! Diese Schurken sollen keinen Augenblick zu lange das Vergnügen haben, sich für die Besitzer unseres Eigentums zu halten!«

Er wollte sofort wieder in den Sattel steigen.

»Keine Uebereilung, Halef,« warnte ich. »Wir können nicht anders zu ihnen kommen, als daß wir die diesseitige Berglehne hinabreiten, und da müssen sie uns sehen.«

»Du meinst, dann fliehen sie und entkommen uns?«

»Nein, ich bin vielmehr der Ansicht, daß sie bleiben würden, um uns Widerstand zu leisten. Wir wären ohne Deckung; sie aber könnten sich hinter die Büsche stecken. Hast du Lust, dich erschießen zu lassen, ohne dich wehren zu können?«

»Welche Frage! Ich will auf keinen Fall erschossen sein, gleichviel, ob ich mich wehren kann oder nicht. Aber können wir denn nicht von einer anderen, besseren Seite an sie kommen?«

»Das würde uns zu einem Umwege nötigen, für den uns die Zeit mangelt. In einer Viertelstunde wird es dunkel sein. Bedenke das!«

»Was soll ich thun, Sihdi? Denken? Das kann ich nicht! Soeben ist es mir wie ein leiser Hauch der Wüste durch den Kopf gegangen. Mein Hirn ist heiß, und alle Gedanken sind aus ihm hinweggeblasen. Was ist das plötzlich nun? Ich muß mich setzen.«

Er ließ sich auf die Erde nieder und legte den Kopf in die Hände. Ich wollte mich zu ihm niederbrücken; er aber wehrte ab:

»Sorge dich ja nicht um mich! Das ist gar nicht schlimm, sondern nur die letzte Wirkung des giftigen Kaffees, den wir gestern getrunken haben. Es wird schnell vorübergehen. Glaube mir: ich bin so gesund, wie du nur wünschen magst!«

Er schob mich von sich fort, und ich gab mir den Anschein, daß ich beruhigt sei. Ich konnte ja nichts Besseres thun, zumal Nafar Ben Schuri mich jetzt in Anspruch nahm:

»Was du zum Scheik der Haddedihn sagtest, waren Worte der Vernunft. Wollten wir so, wie er es wünschte, zum Angriffe schreiten, so würde keiner von uns lebend an die Feinde kommen. Wir müssen hier warten, bis es dunkel ist.«

»Dann aber wird der Weg nur schwer zu finden sein,« bemerkte ich.

»Nein. Wir sind ihn oft geritten und kennen ihn genau.«

»Aber das Geräusch der Pferdehufe kann uns leicht verraten.«

»So lassen wir die Pferde hier zurück. Auch verfehlen können wir trotz der Dunkelheit die Feinde nicht, weil sie wahrscheinlich ein Feuer anzünden werden. Auch hoffe ich, daß meine Leute kommen, ehe es finster wird.«

»Wo ist die Stelle, an welcher sie zu uns stoßen sollen?«

»Hier diese ist es. Sie werden durch den Paß kommen, durch den wir soeben geritten sind. Ich sage dir, daß uns die Leute da unten gar nicht entgehen können. Erlaube, daß wir uns niedersetzen! Wir können jetzt nichts anderes thun, als warten.«

Er hatte recht. In Beziehung auf die Wiedererlangung unseres Eigentums lagen die Verhältnisse so, daß ich mich beruhigt fühlte. Dagegen war es mir um Halef bang. Ich setzte mich an seiner Seite nieder und versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er gab mir nur ganz kurze Antworten; sein Ton war matt, der Klang fast widerwillig; darum hielt ich es für besser, zu schweigen.

Da auch die Dinarun nicht sprachen, so herrschte hier oben bei uns eine Stille, welche nur durch das jeweilige Schnaufen oder Hufscharren eines Pferdes unterbrochen wurde. Der Tag ging schnell zu Ende. Der Abend senkte sich hernieder, aber die erwartete Verstärkung stellte sich nicht ein. Da der Scheik keine Bemerkung hierüber machte, nahm auch ich diesen Umstand schweigend hin. Wozu über etwas Worte machen, was man durch sie doch nicht ändern kann! Auch brannte unten am Wasser jetzt noch kein Feuer, und uns an die Feinde schleichen, ohne einen solchen Wegweiser zu haben, das wäre doch wohl unvorsichtig gewesen.

Da fühlte ich Halefs tastende Hand, welche meinen Arm berührte und an demselben niederglitt. Er ergriff meine Rechte, nahm sie in seine beiden Hände und lehnte seinen Kopf an meine Seite. So saß er längere Zeit still und unbeweglich. Mir war es, als ob seine Hände ungewöhnlich warm seien.

»Sihdi!« erklang es leise.

»Halef!« antwortete ich ebenso.

»Siehst du die Sterne dort oben?«

»Ja.«

»Man meint, daß das der Himmel sei. Ob euer oder unser Himmel?«

»Meinst du, es gebe verschiedene Himmel, mein guter Halef?«

»Nein. Und wenn! Hätte Allah zehn Himmel, und mir wäre der höchste von ihnen bestimmt. Und hätte der Gott der Christen auch zehn Himmel, und für dich sollte der unterste sein. Weißt du, was ich thäte?«

»Nun?«

»Ich verzichtete auf meinen obersten und ginge mit dir in deinen niedrigsten. Er würde für mich doch der höchste sein, denn wo die Liebe wohnt, da ist die schönste und beste Seligkeit. Wäre ich dir willkommen, Sihdi?«

»Kannst du ungewiß hierüber sein, Halef?«

»Nein. Ich bin wie ein Kind, welches gern den Vater sagen hört, daß er es liebt!«

»So sage ich es dir von ganzem Herzen!«

»Ich danke dir! Ich dachte soeben nach – über dich und über mich. Meinst du, daß wir Freunde seien?«

»Gewiß! Bessere kann es gar nicht geben!«

»Ich denke aber anders.«

»Wie?«

»Solche Freunde, wie wir sind, kann es ja gar nicht geben. Wir sind mehr, viel mehr als Freunde. Es giebt kein Wort dafür. Wenn wir uns als Menschen lieben, welche beide ein gutes und ein nicht gutes Wesen in sich haben, so sind wir Freunde. Aber wenn wir die Liebe nur der beiden guten Wesen in uns meinen, so ist das mehr als Freundschaft; das muß doch wohl der Himmel sein! Das ist es, was ich dachte, und was ich dir sagen wollte! Ich kann dein Gesicht nicht erkennen; aber sag, lächelst du vielleicht?«

»Nein. Ich bin sehr ernst, aber glücklich ernst.«

»Und ich bin so weich. Woher das wohl kommen mag? Sag: Wenn ich dich hier verlassen müßte, um zu sterben, würde ich dich dann wohl auch noch sehen können?«

»Halef! Wie kommst du zu dieser Frage?«

»Das weiß ich nicht. Sie kam mir auf die Zunge und wollte ausgesprochen sein; da habe ich es gethan. Es spricht jemand in mir vom Tode. Ob es der Halef oder der Hadschi ist, das weiß ich nicht; aber ich werde – Horch!«

Es gab in diesem Augenblick allerdings etwas zu hören, nämlich ein plötzliches Geschrei vieler Stimmen, wie es beim Angriffe oder im Kampfe ausgestoßen wird. Die Dinarun sprangen auf, und ihr Scheik rief aus:

»Allah! Das sind meine Krieger!«

»Da unten?« fragte ich, indem ich mich auch schnell erhob. »Du sagtest doch, daß sie hierher kommen würden!«

»Sie sind direkt zu den Räubern geritten und über sie hergefallen.«

»Aber sie wußten doch nicht, wo diese sich befanden!«

»Es wird sie der Zufall oder irgend ein Zeichen zu der Stelle geführt haben!«

»Irrst du dich nicht? Weißt du gewiß, daß es deine Leute sind?«

»Sie sind es. Es ist unser Ruf.«

»So müssen wir hinab!«

»Nein. Jetzt noch nicht. Laß nur einige Minuten vergehen, so werden wir erfahren, wie es steht!«

Ich war nicht ohne Sorge, zwang mich aber zur Geduld. Halef war auch aufgesprungen. Es schien alle Schwäche von ihm gewichen zu sein. Seine Stimme klang sehr energisch, als er den Scheik jetzt fragte:

»Können deine Krieger denn einen anderen Weg als den ihnen anbefohlenen eingeschlagen haben?«

»Ja,« antwortete Nafar Ben Schuri.

»Warum? Sie haben doch zu gehorchen?«

»Man kann doch auch grad aus Gehorsam etwas anderes thun, als was befohlen worden ist.«

»Nein! Das ist gar nicht möglich, denn ein Befehl wird doch gegeben, daß man ihn grad so und nicht anders befolge, als er lautet.«

»Aber wenn der, welcher ihn auszuführen hat, währenddem einsieht, daß er ihn auf andere Weise viel besser und vollständiger erfüllen kann, so ist es doch grad die Pflicht des Gehorsams, nicht darauf zu achten, wie der Befehl ursprünglich geklungen hat!«

»Damit erkennst du also jedem deiner Leute die Berechtigung zu, deine Gebote zu deuten und von ihnen abzuweichen oder nicht, je nachdem sie es für nützlich halten. Meine Haddedihn haben genau nach meinen Worten zu handeln, ohne von ihnen hinwegzunehmen oder hinzuzufügen. Doch schaut hinab. Man hat ein Feuer angezündet, und man ruft. Wer ist gemeint?«

Es leuchtete unten eine Flamme auf, und wir hörten die Worte erklingen:

»Gahlab, gahlab; ta'al, ta'al, ia Scheik – Sieg, Sieg; komm, komm, o Scheik!«

»Diese Worte gelten mir,« antwortete Nafar Ben Schuri. »Meine Leute wissen ja, daß ich hier oben bin, und da sie den Feind überwunden haben, so fordern sie mich auf, zu ihnen hinabzukommen.«

»Hoffentlich haben sie in ihrem eigenmächtigen Handeln nichts gethan, was uns in Schaden setzt! Wie man etwas thut, das ist oft wichtiger, als daß man es thut!«

Die Rufe von unten wiederholten sich, und so stiegen wir auf, um hinabzureiten. Das geschah in einer langen Einzelreihe, einer hinter dem andern. Halef und ich machten die letzten und verließen uns auf unsere Pferde, welche trotz der Dunkelheit und trotz der Beschwerlichkeit des Weges nur selten einmal einen Fehltritt thaten. So kamen wir ganz gut in das Thal hinab und ritten quer über dasselbe hinüber, indem wir uns das Feuer als Wegweiser dienen ließen. Dabei wurden Rufe und Gegenrufe gewechselt, und es gab einen Lärm, der immer größer wurde, je näher wir kamen. Als wir dann anlangten, befanden wir uns inmitten von 50 oder 60 Dinarun, welche alle auf das lebhafteste auf uns einschrieen. Jeder einzelne wollte uns erzählen, durch welche großen Heldenthaten speziell auch er zum Siege beigetragen habe, und so dauerte es ziemlich lange, bis wir erfuhren, wie höchst einfach sich die Sache zugetragen habe.

Der Bote, welcher von dem Scheik in das Lager gesandt worden war, hatte den Anführer gemacht. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, daß die Diebe am Wasser des Dschebel Ma nachtlagern würden. Er hatte unterwegs den Entschluß gefaßt, sich mit dem ganzen Ruhme des Sieges zu schmücken und den Ueberfall also ohne den Scheik und uns zu übernehmen. Darum war er nicht nach dem Stelldichein geritten, sondern einer anderen Richtung gefolgt, welche ihn unten thalabwärts bis an den Fuß des Berges geführt hatte. Dort angekommen, waren die Pferde unter der Aufsicht einiger Leute zurückgelassen worden. Dann hatte man sich leise dem Wasser entlang geschlichen, die Feinde trotz der Dunkelheit entdeckt und sie so unerwartet und mit Uebermacht überfallen, daß an einen Widerstand gar nicht zu denken gewesen war. Sonderbarerweise wurde diesem eigenmächtigen Verfahren von seiten des Scheikes nicht die geringste Rüge erteilt.

Die Räuber lagen mit Stricken und Riemen gebunden an der Erde. Doch noch ehe wir uns mit ihnen beschäftigen konnten, geschah etwas, worüber selbst die pferdekennenden Dinarun in Staunen gerieten. Nämlich kaum war der Schein des Feuers auf mich und Halef gefallen, und kaum hatten wir einige laute Worte gesprochen, so ertönte von der Seite her das überlaute, frohe Wiehern zweier Pferdestimmen, und unsere beiden Rappen drängten sich, ihn gewaltsam auseinandertreibend, durch den Haufen der Beduinen, um uns zu begrüßen. Barkh machte vor Freude die drolligsten Ziegenbockkapriolen, die er nur unterbrach, um seinen Kopf an Halefs Brust zu reiben und ihm das Gesicht zu schnauben, als ob er sehr viel und wichtiges mit ihm zu sprechen habe. Mein Assil Ben Rih benahm sich nicht so laut wie Barkh, aber im höchsten Grade rührend. Er drückte mir sein Maul fest an die Wange – Pferde gehören bekanntlich zu den wenigen Tieren, welche küssen – leckte mir hierauf die Hand und legte sich dann zu meinen Füßen auf die Erde und sah mich an, als ob er sagen wolle: »Du weißt, was ich meine. Sei so gut, und thu es mir zuliebe, damit ich nicht nur sehe, sondern auch höre, daß du wieder bei mir bist!« Er wollte nämlich die gewohnte Sure in das Ohr gesagt haben. Leider durfte ich das nicht thun, weil ich damit eines der Geheimnisse dieses prächtigen Tieres verraten hätte. Aber ich kniete zu ihm nieder, steckte den Arm unter seinem Hals hindurch und hob seinen Kopf empor, um ihn zu streicheln und den Hauch meines Mundes seine Nüstern berühren zu lassen. Da ging sein Atem so laut und so froh, daß es geradezu gefühllos gewesen wäre, zu behaupten, dies sei etwas anderes, aber nur keine Freude.

»Er hat dich lieb, sehr lieb,« sagte da der Scheik. »Ist es sein Geheimnis, daß du ihn so anfassest und ihm deinen Atem giebst?«

»Nein,« antwortete ich kurz, weil es unter den Beduinen als Taktlosigkeit gilt, nach dem Geheimnisse eines edlen Pferdes zu fragen.

»Aber er hat eines oder vielleicht gar mehrere?« erkundigte er sich weiter.

»Allerdings, denn er ist vom echtesten, allerreinsten Blute.«

»Bestehen diese Geheimnisse in Worten oder in Zeichen?«

»Diese Geheimnisse bestehen eben in Geheimnissen, von denen nicht gesprochen wird!«

Ich sagte das in zurückweisendem Tone; dennoch fuhr er fort:

»Bitte, laß mich die Probe machen! Ich will seinen Hals umarmen, grad so wie du, und ihm dann auch in die Nüstern hauchen.«

Das war eine beispiellose Zudringlichkeit, welche mich leicht bewegen konnte, meine bisher gute Ansicht über diesen Mann zu ändern. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Trotzdem knieete er neben mir nieder und sagte:

»Ich habe noch nie ein Tier von dieser Reinheit des Blutes gesehen. Ich muß es liebkosen. Verweigere mir das nicht!«

Da stand ich nun allerdings schnell auf, um ihm Platz zu machen und antwortete:

»Du bist dein eigener Herr und darfst natürlich thun, was dir beliebt. Als deinem Gaste ist es mir verboten, dich zu hindern.«

Jetzt schob er seinen Arm unter den Hals des Pferdes, welches diese Berührung zwar duldete, aber mit unwilligem Schnaufen beantwortete. Als er dann aber Assil anhauchte, schleuderte dieser ihn mit einer kräftigen Bewegung des Kopfes zur Seite, sprang auf und schlug mit den Hinterhufen nach ihm aus, glücklicherweise ohne ihn zu treffen, weil Halef schnell hinzugesprungen war und den Scheik von der gefährlichen Stelle hinweggerissen hatte. Dieser rief, beschämt von der ihm erteilten Lehre, zornig aus:

»Allah verdamme das Vieh, welches im Zeichen des Scheitan geboren worden ist! Man wagt ja förmlich sein Leben, wenn man es berührt!«

»Das thut man allerdings,« antwortete ich. »Warum hörtest du nicht auf mich? Man soll nie versuchen, mit Gewalt in die Geheimnisse anderer Menschen dringen zu wollen!«

»Ist der andere Hengst von derselben Gefährlichkeit?«

»Der eine ist wie der andere. Sie erkennen nur uns als ihre Herren an. Wer dieses unser Recht nicht achtet, der hat es zu bereuen. Schau diese beiden Menschen an! Sie haben sich an unseren Pferden vergriffen und sie bezwingen wollen. Die Strafe ist der That sofort gefolgt.«

Ich zeigte bei diesen Worten auf die beiden Diebe, deren verbundene Gliedmaßen vermuten ließen, daß sie die zwei Unvorsichtigen seien, die sich an unseren Pferden vergriffen hatten. Sie waren, wie auch ihre Kameraden, gefesselt, sagten kein Wort und sahen uns auch nicht an. War das ein Zeichen der Scham, des Schuldbewußtseins? Oder hatte es auch noch einen anderen Grund? Wir konnten ihre Züge nicht deutlich sehen, weil das flackernde Feuer keine ruhige Helle gab.

Ganz selbstverständlich war es nun unser Erstes, nach den uns geraubten Gegenständen zu suchen. Das wurde uns sonderbarerweise viel leichter, als es zu vermuten gewesen war. Wir sahen nämlich unweit des Feuers einen Mantel ausgebreitet, auf welchem alles lag, was wir vermißten, von den Gewehren an bis herunter zum kleinsten Büchschen, welches den Phosphor zur Bereitung der Zündhölzer enthielt. Daß nichts, aber auch gar nichts fehlte, hätte uns wohl auffallen müssen, doch mangelte uns jetzt die Ruhe, diesen Umstand ganz besonders zu beachten. Die Diebe hatten den Raub wahrscheinlich erst später teilen wollen. Das genügte vollständig, zu erklären, warum noch jetzt alles so schön beisammenlag.

Auch Nafar Ben Schuri äußerte seine Freude darüber, daß es uns mit seiner Hilfe gelungen sei, ohne den geringsten Verlust und so vollständig wieder zu unserem Eigentum zu gelangen. Er kauerte sich zu uns hin und nahm ein Stück nach dem anderen in die Hände, um es zu betrachten und seine Bemerkungen darüber zu machen. Ganz besonders interessierte er sich für unsere Gewehre, deren Konstruktion ihm vollständig unbekannt war. Er betrachtete sie mehr als genau, wollte den Zweck jedes einzelnen Schräubchens wissen und wurde uns mit seinen vielen Fragen so unbequem, daß Halef ihm endlich im Tone schlechtverhehlten Unwillens bedeutete:

»Du siehst, daß diese Gewehre grad so wie unsere Pferde ihre Geheimnisse haben, welche jeder zu achten hat, dem sie nicht freiwillig mitgeteilt werden!«

»Verzeih! Aber bei dieser Art von Waffen darf man doch neugierig sein,« entschuldigte sich der Scheik. »Ihr beide wißt, wie oft und viel von ihnen gesprochen wird. Man erzählt sich Wunderdinge von ihnen und eurer Fertigkeit in ihrem Gebrauche. Diese Gewehre sind den Waffen des ganzen Morgenlandes überlegen. Ist es da so unbegreiflich, daß ich gern wissen möchte, wie man sie zu handhaben hat?«

»Ja, es ist unbegreiflich, weil die Neugierde nur eine Eigenschaft der alten Weiber ist. Bei dem Scheik und Anführer tapferer Krieger aber darf sie noch viel weniger als sonst bei einem Mann zu finden sein.«

Das war deutlich gesprochen, wohl auch ein wenig rücksichtslos, weil wir dem in dieser Weise Zurückgewiesenen ja so viel verdankten. Aber daß er sich jetzt wieder, wie vorhin bei den Pferden, so zudringlich zeigte, das legte unserer Dankbarkeit einen Dämpfer auf, der uns selbst am unangenehmsten berührte. Leider schien er das nicht zu empfinden, denn er fügte zu den bisherigen Fehlern einen neuen, indem er im Tone des Vorwurfes sagte:

»Du scheinst nicht zu wissen, was ihr uns schuldig seid! Wo wäret ihr jetzt, und was hättet ihr jetzt, wenn wir nicht bereit gewesen wären, euch in unseren Schutz zu nehmen!«

Halef war eifrig damit beschäftigt, alles, was ihm gehörte, einzustecken, ich ebenso. Jetzt hatten wir nur noch die Gewehre an uns zu nehmen. Wir thaten das, und nun, da wir uns sicher und selbständig fühlen durften, antwortete der Hadschi:

»Du forderst Dankbarkeit? Weißt du noch nicht, daß der wahre Dank nicht genommen, sondern nur gegeben werden kann? Du hast zwar von uns gehört, kennst uns aber nicht. Darum erscheint dir deine Güte zu uns viel größer, als sie wirklich ist. Wo wir wären und was wir jetzt hätten? Wir hätten auch ohne euch die Spuren dieser Diebe gefunden. Wir wären ihnen gefolgt und hätten uns noch während dieser Nacht hierhergeschlichen, um zu bestrafen, was man an uns verbrochen hat. Euch haben wir weiter nichts, weiter gar nichts zu verdanken, als daß wir drei oder vier Stunden eher hier eingetroffen sind. Und für diese paar Stunden sollen wir dir die Geheimnisse unserer Pferde und unserer Waffen verraten? Denke nach, was du da forderst! Wir haben uns als deine Gäste betrachtet; aber wenn du uns mit Fragen von dir treibst, so werden wir jetzt auf unsere Pferde steigen und nach einem Orte reiten, wo man weiß, daß die wahre Freundschaft sich nicht im Ueberfluß der Worte zeigt! – Barkh, ta'ahl

Als sein Pferd diese beiden Worte hörte, kam es herbei und stellte sich so vor Halef hin, daß dieser nur den Fuß in den Bügelschuh zu heben brauchte, um sich in den Sattel zu schwingen. Ich gab dem Freunde innerlich recht, hätte mich aber an seiner Stelle wohl etwas höflicher ausgedrückt. Wir hatten Rücksicht zu nehmen. Wie kam es nur, daß der sonst so gern dankbare Kleine hier so schroffe Ausdrücke fand? Er hob auch wirklich schon den Fuß, um aufzusteigen, da trat der Scheik schnell zu ihm und sagte, indem er ihn am Arme zurückhielt:

»Hadschi Halef Omar, handle nicht zu schnell! Es war ja nicht meine Absicht, euch von hier fortzutreiben! Bedenke, was man von uns sagen würde, wenn man erführe, ihr seiet unsere Gäste gewesen, wäret aber nicht bei uns geblieben!«

»Für uns würde das wohl keine Schande sein!« antwortete Halef streng.

»Nein, aber für uns! Darum bitten wir euch, hier zu bleiben und morgen früh mit nach unserem Lager zu reiten. Ihr könnt diesen Ort wohl auch gar nicht eher verlassen, als bis ihr über die Diebe Gericht gehalten habt!«

Das war freilich ein Grund, welcher sofort wirkte:

»Gericht halten? Allerdings!« antwortete der Kleine. »Wer soll es thun? Willst du dich mit einer Dschemmah deiner Krieger daran beteiligen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil das Urteil derselben wohl nicht mit dem eurigen übereinstimmen würde.«

»Wieso?«

»Jede Dschemmah hat nach dem Gesetze der Wüste zu richten, welches den Pferderaub mit dem Tode bestraft. Euer Urteil aber wird sich dieser Strenge wahrscheinlich nicht bedienen.«

»Nicht?« fragte Halef im Tone der Ueberraschung. »Warum denkst du das?«

Der Scheik dachte nach, wie er sich am besten auszudrücken habe. Leider verhinderte mich sein Vollbart, seine Gesichtszüge zu studieren. Sie kamen mir verlegen und doch auch wieder pfiffig vor. Er wollte unbefangen erscheinen, und doch hätte ich behaupten mögen, daß er grad jetzt befangen sei. Dann antwortete er:

»Man hört von euch, daß ihr ganz anders denkt, als andere Leute denken. Ihr handelt nach einer Gerechtigkeit, welche lieber verzeiht, als daß sie sich den Vorwurf der Härte machen läßt. Und hart wäre es doch wohl, wenn diese zwölf Personen wegen nur zwei Pferden alle sterben müßten!«

»Nur zwei? Ich sage dir, daß diese zwei Hengste mehr wert sind als hundert, als tausend andere Pferde! Die Zahl kommt also hier ganz und gar nicht in Betracht.«

»So, aber doch der Umstand, daß ihr euch schon wieder in ihrem Besitz befindet!«

»Das ist richtig. Wir werden also nicht vom Tode sprechen. Aber eins dieser edlen Pferde ist geschlagen worden. Das ist etwas, was nicht vergeben werden kann!«

»Rechne die zerbrochenen Knochen der beiden Unvorsichtigen ab, welche von den Hufen getroffen worden sind!«

»Abrechnen? Wie kommst du mir vor? Ist es deine Absicht, der Dawa wekeli dieser Missethäter zu sein und sie zu verteidigen? Wer nicht mit richten will, hat auch nicht zu beschönigen. Ich werde also mit meinem Sihdi beraten, und was wir bestimmen, das wird ausgeführt. Jetzt aber – jetzt – o, Sihdi, halte mich! Der Schwindel ist wieder da. Ich sehe nichts und muß mich niedersetzen!«

Er griff nach dem vor ihm stehenden Pferde, um sich festzuhalten. Ich schlang den Arm um ihn und führte ihn an das Feuer. Dort ließ ich seine Decke ausbreiten und legte ihn auf dieselbe nieder. War ich erst besorgt gewesen, so wurde mir nun angst um ihn.

»Was fehlt dem Scheik der Haddedihn?« erkundigte sich Nafar Ben Schuri. »Hat er vielleicht den Suchuna

»Nein,« antwortete ich.

»Oder die Berdija

»Nein.«

»Oder die Chumma mutallati 4)?«

»Auch diese nicht. Er hat gestern vergifteten Kaffee getrunken. Davon ist ihm noch übel. Weiter ist es nichts.«

Ich wußte, daß ich log; aber die Klugheit verbot mir, die Wahrheit zu sagen. Ich war jetzt beinahe überzeugt, es mit einer schweren, typhösen Erkrankung zu thun zu haben, mußte dies aber verheimlichen, um mir die Bedingungen einer wenigstens den Umständen angemessenen guten Krankenpflege zu ermöglichen. Daß es sich um eine ansteckende Krankheit handle, brauchte jetzt noch niemand zu wissen. Später freilich hatte ich es unter allen Umständen für meine Pflicht zu halten, die Dinarun vor Ansteckung zu bewahren.

Glücklicherweise hatten wir unsere Sachen wieder, auch unsere kleine Reiseapotheke. Ich beeilte mich also, Halef Chinin zu geben. Dann lag er still und mit geschlossenen Augen da, als ob er schlafe.

Die aus dem Lager gekommenen Dinarun waren mit Proviant versehen. Es wurde gegessen. Die Portion Halefs bot ich ihm nicht an, sondern hob sie auf. Für unsere beiden Pferde sorgte ich selbst. Dann setzte ich mich zu Halef hin, um das zu thun, was ich auch in der vorigen Nacht mir vorgenommen aber leider nicht gethan hatte – zu wachen.

Für Nafar Ben Schuri war an der anderen Seite des Feuers ein Lager zurecht gemacht worden. Da saß er, rauchte einen Tschibuk und schien in Nachdenken versunken zu sein. Mit wem er sich im stillen beschäftigte, das sagten mir die Blicke, welche er von Zeit zu Zeit zu mir herübersandte. Seine Leute hatten sich so gelagert, wie es in ihrem Belieben lag. Eine gewisse Ordnung schien dabei nicht beabsichtigt zu sein. Einmal stand ich auf, um nach den Gefangenen zu sehen. Ihre Fesseln waren nicht übermäßig streng angelegt, doch brauchte ich nicht besorgt zu sein, daß sie sich losmachen würden, weil sie rings von den Dinarun umgeben waren und ich ja die Absicht hatte, nicht zu schlafen. Sie lagen mir so nahe, daß mir nichts entgehen konnte.

Ich wollte die beiden Verletzten untersuchen, um ihnen, falls möglich, ihre Schmerzen zu erleichtern; sie duldeten das aber nicht. Dann legte ich dem, den wir für ihren Anführer gehalten hatten, einige Fragen vor, die er mir beantworten sollte. Ich wollte ihn durch sie zu der Bitte ermuntern, nicht streng mit ihm und seinen Leuten zu verfahren; er zog es aber vor, sich in ein so trotziges Schweigen zu hüllen, daß ich den wohlgemeinten Versuch aufgab und an meinen Platz zurückkehrte. Da richtete nun der Scheik das Wort an mich:

»Sihdi, halte es nicht für Herzenshärtigkeit! Es ist die Furcht vor dir, die diesem Manne die Worte raubt!«

»Verteidigst du ihn abermals?« antwortete ich.

»Nein. Nur suche ich mir sein Schweigen zu erklären. Welches Urteil werdet ihr wohl über ihn und seine Leute fällen?«

»Das weiß ich nicht. Ich muß darüber mit Hadschi Halef sprechen.«

»Und wo soll es ausgeführt werden?«

»Da wo wir uns befinden, wenn es gesprochen wird.«

»Also daheim in meinem Lager!«

»Warum dort?«

»Weil ich euch eingeladen habe, uns dorthin zu begleiten. Sag, ob ihr uns diesen Wunsch erfüllen werdet!«

»Ich bin bereit dazu, damit ihr seht, daß wir nicht so undankbar sind, wie du zu denken scheinst.«

»Verzeih mir das! Wir, die wir hier zwischen den Bergen wohnen, achten nicht auf die künstlichen Regeln der Städtebewohner, nach denen sich ihre Höflichkeit richtet. Ihr werdet als unsere willkommenen Gäste alles finden, was euch von nöten ist. Und das, was ihr bei uns über diese Diebe beschließet, wird von uns genau so ausgeführt werden, wie ihr es von uns fordert.«

»So bist du erbötig, die Ausführung unseres Urteils zu überehmen?«

»Ja. Nur möchte ich wissen, worin die Strafe bestehen wird. Etwa im Tode?«

»Nein, keinesfalls.«

»Was sonst?«

»Hiebe!«

Dieses Wort sagte ich nicht, sondern es klang aus Halefs Munde. Er hatte also gehört, was von uns gesprochen worden war.

»Hiebe!« wiederholte er, ohne aber die Lage seines Körpers zu verändern.

»Wieviel?« fragte der Scheik.

»Jeder zehntausend!«

»Allah! Das ist zu viel!«

»Nein, sondern zu wenig!«

»Das würde doch schlimmer als der Tod sein. Kein Mensch hält zehntausend Hiebe aus!«

»Das soll er auch nicht! Und von den beiden, die sich an unseren Pferden vergriffen haben, bekommt jeder zwanzigtausend!«

»Höre ich recht?«

»Ja. Aber wenn es dir zu wenig ist, so will ich sagen – dreißigtausend!«

Er richtete sich halb auf, machte mit dem Arme die Bewegung des Schlagens und sank dann wieder nieder.

»Allah beschütze ihn!« sagte der Scheik. »Er ist krank; er hat die Suchuna. Die Glut des heißen Fiebers fließt ihm durch die Adern!«

Ich griff nach Halefs Hand, um nach dem Puls zu fühlen. Ja, er fieberte! Der Scheik fuhr fort:

»Hoffentlich spricht er anders, wenn das Fieber vorüber ist. Die Diebe sollen die ihnen gebührenden Schläge bekommen; aber sie durch die Bastonnade langsam zu Tode zu martern, könnt ihr doch nicht wollen.«

Ich durfte weder ja noch nein sagen, weil ich mich zu hüten hatte, Halef aufzuregen, benutzte aber diese Gelegenheit, eine mir nötig scheinende Vorbereitung zu treffen:

»Das Urteil wird gefällig werden, wenn wir bei euch angekommen sind. Ihr habt doch wohl einen Tachtirwan im Lager?«

»Mehrere. Warum fragst du?«

»Der beiden Verletzten wegen. Es würde unmenschlich sein, sie reiten zu lassen.«

Da fiel der Scheik viel schneller, als ich erwartet hatte, ein:

»Sie sollen im Tachtirwan nach dem Lager gebracht werden?«

»Ja.«

»Meinst du, daß ich einen Boten sende?«

»Ja.«

»Sogleich?«

»Je eher desto besser. Wenn es möglich ist, so laß zwei Sänften kommen!«

Ich hatte es mit einer dieser Sänften auf Halef abgesehen, welcher unmöglich in den Sattel konnte, wenn sein Zustand der jetzige blieb. Das wußte der Scheik nicht, und darum wunderte ich mich nicht über das Lob, welches er mir spendete:

»Die Güte deines Herzens gedenkt sogar, den Feinden größere Erleichterung zu bieten, als eigentlich nötig ist. Ein Tachtirwan genügte wohl für beide, doch da es dein Wille ist, so will ich nach zweien schicken, und zwar sogleich.«

Er gab einem seiner Leute den betreffenden Befehl, worauf dieser Mann zu seinem Pferde ging und von dannen ritt.

»Ich sprach von deiner Güte, nicht von der meinigen,« knüpfte der Scheik das unterbrochene Gespräch wieder an. »Und doch hätte ich auch von dieser letzten reden können. Weißt du, zu welchem Stamm diese Leute gehören, welche euch bestohlen haben?«

»Nein.«

»Sie sind Dschamikun. Allah verdamme sie in die tiefste Hölle hinab!«

»Sind die Dschamikun Feinde deines Stammes?«

»Nicht nur Feinde, sondern Todfeinde! Es ist Blut, unaufhörlich Blut geflossen zwischen uns und ihnen, seit man die Namen dieser beiden Stämme kennt. Erst kürzlich wieder ist an uns ein Verbrechen begangen worden, welches zu Allahs höchstem Himmel schreit. Ich will dir nicht jetzt davon erzählen. Du wirst davon hören, wenn wir heimkommen. Wenn ich solche Leute im Tachtirwan transportieren lasse, um ihnen Schmerzen zu ersparen, so ist das eine Güte, welche sich recht wohl mit der deinen messen kann! Vielleicht darf ich in dieser Angelegenheit auf deinen Rat, wohl gar auf deine Hilfe rechnen.«

»Wenn wir dir in irgend einer Weise von Nutzen sein können, so werden wir natürlich sehr gern thun, was wir vermögen. Warum aber willst du mit deiner Mitteilung warten, bis wir uns morgen in eurem Lager befinden?«

»Weil du jetzt wahrscheinlich schlafen willst.«

»Ich pflege nicht gern etwas aufzuschieben. Was man sogleich erfahren kann, soll man nicht bis später warten lassen.«

»Das ist die Energie, die jedem Krieger wohl geziemt. Ich bin in dieser Beziehung ganz so wie du gesinnt. Darum sollst du schon jetzt hören, was ich dir erst morgen sagen wollte. Wirst du mir glauben, wenn ich dir noch einmal und ganz bestimmt versichere, daß die Dschamikun sich auf den Raub und Diebstahl verlegen?«

»Ich muß es ja glauben, weil sie es persönlich an uns bewiesen haben.«

»Nicht nur an euch, sondern auch an uns. Sie haben uns erst kürzlich wieder im tiefsten Frieden überfallen und einen großen Teil unserer Herden weggeführt. Ich war mit den meisten meiner Krieger abwesend, um mit einem befreundeten Stamme ein Fest zu feiern, zu dem uns dieser geladen hatte. Das war von den Dschamikun beobachtet worden, und darum gelang ihnen der Raub. Sie haben dabei fünf unserer Wächter getötet. Nun kennst du unsere Pflicht?«

»Sie lautet nach euren Gesetzen: Blut um Blut!«

»Ja, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben, Blut um Blut! Auch wollen wir unsere Herden wieder haben. Du wirst es also begreiflich finden, daß wir einen Zug der Vergeltung gegen sie beschlossen haben?«

»Ich halte das nach euern Gesetzen für ganz selbstverständlich. Wann soll er unternommen werden?«

»Wir wollten schon morgen früh aufbrechen.«

»Ah! Das ist nun wohl nicht möglich?«

»Nein. Die Gastfreundschaft steht selbst über der Pflicht der Rache. Wir haben euch eingeladen, zu uns zu kommen, und wir müssen euch also zeigen, daß wir stolz darauf sind, euch bei uns haben zu können. Die Dinarun haben die Gastlichkeit niemals verletzt, sondern sie stets höher gehalten, als dies von den anderen in dieser Gegend wohnenden Stämmen geschieht. Ich hoffe, daß ihr uns die Ehre erweist, euch in jeder Beziehung als unsere Gäste betrachten zu dürfen. Welche Antwort giebst du mir?«

Wer die Gebräuche jener Völker nicht kennt, der erwartet natürlich, daß ich sofort und mit Vergnügen eingestimmt habe. Es schien ja geradezu als eine liebevolle Fügung des Schicksals betrachtet werden zu müssen, daß diese Einladung ausgesprochen wurde. Besonders fiel hier der Umstand ins Gewicht, daß Halef von einer vielleicht schweren und langwierigen Krankheit bedroht war, welche eine Unterbrechung unserer Reise erheischte, damit ihm die so notwendige Ruhe und Pflege geboten werden könne. Aber die Sache hatte noch eine andere Seite, welche ich als vorsichtiger Mann nicht übersehen durfte.

Nach den Gepflogenheiten der Beduinen ist der »Gast« nämlich nicht etwa, wie bei uns, nur ein sogenannter »Besuch«, dem man sich zu widmen und alle mögliche Aufmerksamkeit zu erweisen hat. Er hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, denn er ist für die Zeit seines Aufenthaltes bei dem betreffenden Stamme ein vollgültiges Mitglied desselben. Ja, noch mehr:

Das Wort »Gast« hebt ihn über die Mitglieder des Stammes empor, und wie sie außerordentliche Pflichten gegen ihn zu erfüllen haben, so wird auch von ihm eine größere als die gewöhnliche Hingabe an das Wohl und an die Interessen des Stammes gefordert. Der Gast steht während seines ganzen Aufenthaltes in gewisser Beziehung sogar noch über dem Scheik und hat nicht weniger als dieser an allen Freuden, doch ebenso auch an allen Leiden seiner Gastgeber teilzunehmen. Er würde als ehrloser Mensch betrachtet und behandelt werden, wenn er sich von einer Gefahr zurückzöge, welche denen droht, die ihn bei sich aufgenommen haben.

Die Frage Nafars hatte also einen zweifachen Klang, eine doppelte Bedeutung für uns. Sie lautete: »Wollt ihr zu uns kommen und jede Unterstützung finden, deren ihr bedürftig seid?« Wenn ich hierauf mit einem Ja antwortete, so war es mir dann unmöglich, zu dem hierauf folgenden Schlusse ein Nein zu sagen: »Wollt ihr zu uns kommen, um an dem Rachezuge gegen die Dschamikun teilzunehmen?«

Diese, wenn auch nur sehr kurze Erwägung war der Grund, daß ich nicht augenblicklich die erwartete Antwort gab. Darum warf mir der Scheik sofort die etwas pikiert klingenden Worte hin:

»Du zögerst, anzunehmen? Hältst du uns für Leute, deren Berührung eure Ehre beschmutzen würde?«

Diese Frage würde unter anderen Verhältnissen wohl auch eine andere Wirkung hervorgebracht haben; aber es war auf Halef Rücksicht zu nehmen, und wir hatten den Scheik ja auch schon daran erinnert, daß wir seine Gäste seien. Das konnten wir unmöglich zurücknehmen, und darum sagte ich in beruhigendem Tone:

»Man soll zwar rasch denken, aber nicht zu schnell sprechen, o Scheik! Ihr habt bisher als Freunde an uns gehandelt, und ich bin überzeugt, daß ihr das auch weiter thun werdet. Warum sollte ich euch mißtrauen? Warum an eurer Ehrlichkeit zweifeln? Als ich nicht augenblicklich antwortete, hatte das einen ganz anderen Grund.«

»Welchen?«

»Ich fragte mich, ob es uns wohl erlaubt sei, euch in der Weise zu belästigen, wie es geschehen wird, wenn wir darauf eingehen, für längere Zeit als nur heute eure Gäste zu sein.«

»Belästigen?« wiederholte er mein Wort.

»Ja.«

»Ich weiß, daß du ein Christ bist. Wahrscheinlich kennst du die Forderungen unseres Kuran nicht?«

»Ich kenne nicht nur ihn, sondern auch alle seine Auslegungen.«

»So mußt du auch wissen, daß ein Gast niemals belästigen kann! Allah zu gehorchen, ist das oberste der himmlischen Gesetze und den Gast zu ehren, die oberste der irdischen Vorschriften. Wir gehorchen Allah, und wir ehren unsere Gäste. Hoffentlich genügt es dir, daß ich dir dies versichere!«

Ich muß gestehen: Es lag in dem Wesen, in der Ausdrucksweise und in dem ganzen Verhalten dieses Mannes etwas, wodurch meine erst für ihn gehegte Sympathie verringert worden war. Ich konnte dieses Etwas zwar nicht definieren, aber es war vorhanden und übte eine mich zur Zurückhaltung mahnende Wirkung auf mich aus. Aber die Umstände verboten mir, dies in Worten auszudrücken. Darum antwortete ich:

»Es bedarf dieser Versicherung gar nicht. Aber als Gäste geehrt sein zu wollen und dazu auch noch ganz besondere Opfer beanspruchen zu wollen, das schien mir denn doch zu viel von euch verlangt.«

»Für einen Gast etwas zu thun, kann wie ein Opfer sein. Welche Belästigungen sind es, die du meinst?«

»Schau hin zu meinem Hadschi Halef, dem Scheik der Haddedihn! Ich vermute, daß eine Krankheit sich ihm naht, welche im stande ist, euch ungewöhnliche Sorge und Arbeit zu bereiten. Meine Gewissenhaftigkeit gebietet mir die Frage, ob es uns gestattet ist, diese Last auf euch zu legen.«

»Es ist für uns keine Last; wir werden ihn wie einen Bruder pflegen. Und wenn die Krankheit, von welcher du sprichst, wirklich käme, so bist ja du gesund und – und –«

Er zögerte, weiter zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er einen Gedanken, den ich nicht erraten sollte, wenigstens jetzt noch nicht. Ich vermutete, daß der Satz, wenn er ausgesprochen worden wäre, wahrscheinlich folgendermaßen gelautet hätte: »Wir haben zwar auf eure beiderseitige Hilfe gerechnet, aber falls Halef krank wird, bist ja du noch da, und auf dich rechnen wir dann ganz bestimmt!« Ich fand nicht Zeit, hierüber weiter nachzudenken oder den Scheik zu veranlassen, sich vollständiger und deutlicher auszudrücken, denn kaum hatte er diese Pause eintreten lassen, so begann der bisher bewegungslos daliegende Hadschi plötzlich sich zu regen, und zwar in höchst energischer Weise. Er wickelte sich aus seiner Decke heraus, sprang auf, stellte sich vor mich hin und fragte in einem Tone, der auf nichts weniger als auf Kranksein schließen ließ:

»Was hast du da gesagt, Sihdi? Ich habe alles gehört! Denkst du wirklich und im Ernste an die Möglichkeit, daß ich krank sein werde?«

»Ja,« antwortete ich aufrichtig.

»Was für eine Krankheit wird das sein? Welchen Namen giebst du ihr?«

»Ich sehe sie jetzt nur von weitem. Erst wenn sie da ist, kann ich sie erkennen und dir ihren Namen sagen.«

»Also von weitem! O Sihdi, wie enttäuschest du mich! Ich habe dich für klug gehalten, und sehe nun, daß du dies gar nicht bist!«

»Danke, lieber Halef!«

»Bitte! Fasse doch diesen deinen Gedanken an; stelle ihn vor dich hin und schau ihm in das lügnerische Angesicht! Du siehst meine Krankheit jetzt nur von weitem. Sie ist also noch gar nicht da. Muß ich ihr denn erlauben, vollends heranzukommen und in meinen Körper einzuziehen, um es sich in demselben wie in einem festlich geschmückten Zelt bequem zu machen?«

»Wenn sie will, wird es geschehen!«

»Will, will, will! Auch ich habe meinen Willen, und was ich will, das pflege ich durchzusetzen. Jede Krankheit ist Schwäche. Auch die, welche du von weitem kommen siehst, kann gar nichts anderem gleichen, als einem alten, schwachen, elenden Weibe, welches keinen Zahn mehr im Munde hat. Und ich, der berühmte, tapfere Scheik der Haddedihn, der selbst dem Löwen nie den Rücken zeigte, soll mich vor einem solchen Geschöpf der Schwäche fürchten? Ich sage dir: Ich lasse diese Krankheit nicht heran! Ich weise sie ab! Ich lache sie aus! Du selbst hast mich gelehrt, was ein fester Wille kann, und wie fest und unerschütterlich der meinige ist, das muß ich doch wohl am allerbesten wissen!«

»Halef, bitte, gieb mir deine Hand!«

»Warum?«

»Gieb sie nur!«

»Wozu? Ist's etwa wegen deines Dass innabd

»Ja.«

»Das kann ich selbst!«

Er legte den Daumen der rechten Hand an die Ader oberhalb des linken Handgelenkes, hielt beides an das Ohr, lauschte eine kleine Weile und fuhr dann fort:

»Ich höre nichts, gar nichts; es ist also alles in der schönsten Ordnung! Denn wäre etwas Fremdes in der Ader, so müßte es sich doch bemerklich machen!«

»Man darf nicht hören, sondern fühlen!«

»Das ist ganz gleich, denn ich habe auch nichts gefühlt. Und dieses Gefühl müßte ich doch deutlicher haben als jeder andere, der nicht nach seinem, sondern nach meinem Pulse greift!«

Ich wollte da eine erklärende Bemerkung machen, doch ließ er mich nicht zum Worte kommen und fügte schnell hinzu:

»Ich weiß, Sihdi, daß es deine Liebe ist, welche dich so besorgt um mich macht. Aber ich will dir beweisen, daß deine Gedanken auf einem ganz verkehrten Wege spazieren gehen. Ich frage dich: Ist das Negris eine Krankheit?«

»Ja.«

»Wenn dieses Negris in meiner großen Zehe sitzt, fühlst du es dann etwa in der deinigen?«

»Nein.«

»Ganz recht! Du bist geschlagen! Du bist überführt! Du mußt erkennen, daß du unrecht hast! Das Negris thut nur dem wehe, der es hat, keinem andern. Nur wer die Schmerzen fühlt, weiß, daß er ihr rechtmäßiger Eigentümer und Besitzer ist! Und ganz genau so ist es auch bei allen übrigen Krankheiten. Ich fühle mich gesund, vollständig kerngesund! Aber ich bekomme Angst um dich, Sihdi!«

»Warum?«

»Weil du es bist, der meine Krankheit fühlt und sieht. Sie ist also nicht die meinige, sondern die deinige! Darum befürchte ich sehr, daß wir die Gastfreundschaft dieser guten Dinarun nötig haben, um dich wieder gesund pflegen zu können!«

Wer da meinte, diese Worte seien im Fieber oder aus Unverstand gesprochen worden, der hätte sich geirrt. Ich begriff den lieben, kleinen Kerl sehr wohl. Er machte den Ernst zum Scherze, um mich zu beruhigen, doch gelang es ihm freilich nicht, mich zu täuschen.

»Ihr nehmt es also an, unsere Gäste zu sein?« fiel da der Scheik schnell ein.

»Ja,« antwortete Halef. »Denn wir brauchen vielleicht einige Zeit, um dem alten, zahnlosen Weibe, welches mein Sihdi von weitem kommen sieht, begreiflich zu machen, daß es sich weder schickt noch ziemt, mit Leuten zu verkehren, wie wir beide sind. Und während dieser Frist sind wir natürlich gern bereit, euch so nützlich zu sein, wie es die Pflicht eurer Gäste ist.«

Das war es, was der Scheik hören wollte. Er zauderte nicht, Halef beim Worte zu nehmen:

»Auch gegen die Dschamikun?«

»Jawohl. Das ist's ja grad, was ich meine!«

Da war das Wort heraus, welches auszusprechen ich gezögert hatte! Zwar hätte ich Halef in die Rede fallen können; aber das wäre auffällig gewesen, und, wie bereits gesagt, es blieb uns keine Wahl. Die Schnellfertigkeit des Hadschi hatte in diesem Falle keinen Fehler begangen, sondern nur etwas eher zugestanden, was ich, der Bedächtigere, später doch auch nicht hätte verweigern können. Das Versprechen mußte dem Scheik wertvoll sein, denn er verbeugte sich gegen uns beide, hob die Hände bis zur Brust empor und sprach:

»So ist der Bund zwischen euch und uns geschlossen. Eure Feinde sind auch unsere Feinde und unsere Freunde sind auch eure Freunde. Wir wollen das Brot darüber essen!«

Er zog ein Stückchen dünnen Brotfladen aus der Tasche seines Ha ïk, brach es in drei Teile, schob den seinigen in den Mund und gab uns die beiden anderen. Da war nichts anderes zu thun; wir mußten sie nehmen und essen, worauf wir uns in jeder Beziehung als Dinarun zu betrachten hatten!

Halef war nicht nur vollständig damit einverstanden, sondern er freute sich sogar darüber. Er ging um das Feuer, zu dem Scheike hin, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich habe vorhin nicht etwa geschlafen, sondern alles vernommen, was du erzähltest. Ihr habt uns heut beigestanden, diesen Dschamikun alles, was sie uns raubten, wieder abzunehmen. Nun werden wir euch beistehen, eure Herden wieder zu bekommen und den Tod eurer Wächter zu rächen. Zwar sind wir nur zwei Personen, aber –«

Da unterbrach ihn Nafar:

»Aber ihr zählt für viele. Das wissen wir wohl! Solchen Gewehren, wie ihr sie besitzt, kann kein Feind widerstehen, und ebensowenig kann, wenn ihr eure Pferde reitet, ein Fliehender euch entkommen. Vielleicht ist die Krankheit, von welcher ihr redet, eine Täuschung. In diesem Falle könnten wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen, um den Dschamikun die wohlverdiente Strafe zu erteilen!«

»Ich bin schon morgen bereit dazu,« erklärte Halef, »und mein Sihdi ganz gewiß ebenso! Ihr werdet es nicht bereuen, uns getroffen und hierher begleitet zu haben. Doch ehe wir morgen aufbrechen, muß über diese Diebe hier das Wort des Gerichtes ausgesprochen werden. Es hat mich gewundert, dein Herz so mild gegen sie zu sehen, besonders, nachdem du uns gesagt hast, daß sie zu demselben Stamm gehören, an welchem auch ihr euch zu rächen habt.«

Halef sprach diese Bemerkung gewiß ganz absichtslos aus, doch schien es mir, als ob sie dem Scheik nicht recht gelegen komme. Er antwortete nicht. Da hielt ich es denn für nicht unklug, diesen Eindruck durch die direkt an ihn gerichtete Frage zu verstärken:

»Als diese zwölf Männer euch heut begegneten, habt ihr denn nicht mit ihnen gesprochen?«

»Nein,« antwortete er. »Das sagte ich euch doch schon.«

»Warum habt ihr sie denn nicht angehalten?«

»Weshalb hätten wir dies thun sollen? Wir kannten euch noch nicht, hatten also noch keinen Bund mit euch geschlossen und wußten ebensowenig, daß ihr von ihnen beraubt worden waret.«

»Habt ihr sie denn nicht als Dschamikun erkannt?«

»Nein!« antwortete er auffällig schnell.

»Sonderbar! Dieser Stamm hat euer jetziges Lager überfallen?«

»Ja.«

»Und hierauf wagten sich zwölf einzelne seiner Leute so nahe an dieses heran? Diese Dschamikun scheinen nicht nur kühne, sondern sogar verwegene Krieger zu sein.«

»Das sind sie allerdings!«

»Und du wünschest eine so gelinde Strafe für sie? Wenigstens als Geisel hättest du sie von uns fordern sollen!«

»Das ist es, was ich noch thun werde. Ihr Schicksal ist ja noch gar nicht entschieden.«

Er sah mich forschend an. Er mochte fühlen, daß ich nicht ohne Mißtrauen sei. Dann fuhr er fort:

»Ich wünschte ja nur deshalb, sie nur leicht von euch bestraft zu sehen, damit sie mir für eine schwere Sühne übrigbleiben. Freigelassen werden sie auf keinen Fall!«

»So können wir befriedigt sein, Sihdi,« meinte Halef, indem er an seinen Platz zurückkehrte, um sich niederzulegen. »Wir haben wieder, was uns fehlte. Mit der Strafe brauchen wir ja nicht zu eilen. Damit hat es auch Zeit, bis wir von dem Zuge gegen die Dschamikun zurückkehren. Und da wir ihn, wie ich denke, schon morgen antreten werden, so brauchen wir jetzt Ruhe. Wir wollen also schlafen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte auch Nafar Ben Schuri, indem er sich niederlegte. Vielleicht war es ihm recht lieb, jetzt nicht weitersprechen zu müssen.

Auch ich streckte mich unter meiner Decke aus, doch nur, um zu thun, als ob ich schlafen wolle. Selbst wenn es nicht meine Absicht gewesen wäre, die ganze Nacht wach zu bleiben, hätte ich jetzt doch nicht schlafen können. Sie gaben mir ja beide mehr als genug zu denken, Halef sowohl wie auch der Scheik der Dinarun. Ich schrieb das plötzliche Aufspringen des ersteren und seine eifrige Teilnahme am Gespräche dem Fieber zu. Er hatte, anstatt mich zu beruhigen, meine Sorge um ihn nur vergrößert. Und diese Sorge wurde nicht geringer, wenn ich an Nafar Ben Schuri dachte.

Ich bin von jeher so herzlich gern ein dankbarer Mensch gewesen. Vielleicht ist es einer meiner größten Fehler, das Gute, welches mir erwiesen wird, in der Weise zu vergrößern, daß der, welcher es that, mich für seinen ewigen Schuldner halten muß. So zählte ich auch jetzt im stillen alles auf, was wir heut dem Zusammentreffen mit den Dinarun zu verdanken hatten. Ich verkleinerte nichts und suchte, möglichst viel zusammenzufinden; aber trotzdem wollte es mir nicht gelingen, es zu einem klaren, reinen, fest überzeugten Gefühle der Dankbarkeit zu bringen. Warum das nur? Ich wollte gern lieb und gut über diese Leute denken, aber ich brachte das nicht fertig. Es gab einzelne Beobachtungen, und es gab auch Worte, welche an sich vielleicht ganz unverfänglich waren, aber dadurch, daß ich sie zusammenhielt und miteinander verglich, eine für mich unwillkommene und unerwünschte Bedeutung bekamen. Ja, wir waren am gestrigen Nachtlager beraubt worden und hatten die erlittenen Verluste wieder zurückgewonnen. Nun hätte ich ruhig sein können. Aber ich war es nicht. Es lag ein Ahnen, ein Fühlen, ein Empfinden in mir, als ob der von uns erlittene Schaden doch noch nicht ersetzt worden sei, oder als ob uns ein anderer, neuer Nachteil getroffen habe, der erst später und viel schwerer auszugleichen sei. Solche innere Stimmen scheinen zunächst undeutlich und unbestimmt zu sprechen, aber dann, wenn ihre Warnung zur Wahrheit wird, ist man gezwungen, einzusehen, daß man sie bei etwas größerem Vertrauen gar wohl verstanden hätte.

Es war kein Befehl gegeben worden, das Feuer zu unterhalten. Darum ging es nach und nach aus. Ich that nichts, dies zu verhindern, denn der Himmel stand voller Sterne, und der Schein, welchen sie herniedersandten sandten, war hell genug für mich, die Gefangenen zu beobachten. Es bewegte sich nur selten einmal einer von ihnen, und dann auch nur, um sich von der einen Seite auf die andere zu wenden. Des Gedankens, sich von den Fesseln zu befreien und zu fliehen, schien keiner fähig zu sein.

Halef schlief. Ja, er schlief wirklich, fest und ruhig. Sein Atem ging regelmäßig. Das machte mir Hoffnung. Vielleicht hatte ich doch zu schwarz gesehen. Manchmal freilich ging ein Schauer über seinen Körper und dann bewegte er sich, als ob er im Begriff stehe, aufzuwachen. Das konnte aber auch von der nächtlichen Kälte sein, weil, wie bereits erwähnt, in Persien die Wärmeunterschiede zwischen Tag und Nacht ganz bedeutend und viel größer sind als bei uns.

Erst gegen Morgen wachte er auf, und da fror es ihn allerdings so, daß es ihn schüttelte. Es war schon hell, und so sah er, daß ich munter war.

»Du hast auch schon die Augen offen, Sihdi?« fragte er. »Die Dinarun schlafen noch, obgleich es Zeit zum Morgengebete ist. Ich werde mich also waschen gehen.«

Ich hätte ihn gern gebeten, dies heut nicht zu thun, wußte aber, daß dies vergeblich sein würde. Er stand auf und ging an dem Wasser entlang, bis er hinter einigen Büschen verschwand, um dort seine Morgenandacht zu verrichten. Sein Gang war fest, seine Haltung sicher gewesen. Das beruhigte mich in der Weise, daß ich die Augen schloß, um schnell noch ein Viertelstündchen Schlaf hinwegzunehmen. Wie gedacht, so geschehen: Ich schlief wirklich sofort ein und wachte nicht eher auf, als bis ich von dem Lärm des Aufbruches geweckt wurde.

Niemand wußte, daß ich die Nacht hindurch gewacht hatte. Darum nahm ich es dem Scheik nicht übel, als er mich scherzweise einen Langschläfer nannte. Der abgeschickte Bote war schon mit den beiden Tachtirwans angekommen. Man hatte das frugale Frühstück eingenommen. Auch ich trank einige Schluck Wasser aus dem Bache und aß ein paar Datteln, wobei ich meinen Halef beobachtete, welcher still auf seiner Decke saß, starr vor sich hinblickte und für niemand, auch nicht einmal für mich ein Auge zu haben schien. War es so schnell anders mit ihm geworden?

»Halef!« rief ich ihn.

Er antwortete nicht.

»Halef! Hörst du mich?«

Er nickte nur, sagte aber nichts und drehte sich auch nicht nach mir um.

»Ist dir nicht wohl?« fragte ich.

»Laß mich!« bat er jetzt mit gedrückter Stimme. »Sprich nicht auf mich!«

»Warum nicht?«

»Ich kann nicht antworten. Ich bin so müde, so unendlich matt!«

Da ging ich hin und beugte mich zu ihm nieder. Er legte den Arm um meinen Hals und sagte:

»Sihdi, mein lieber, lieber Sihdi, wie denkst du über das Sterben?«

»Ich denke, daß wir beide noch recht, recht lange darauf warten werden,« antwortete ich.

»Meinst du? Mir aber ist, als ob es sofort beginnen solle. So wie mir jetzt ist, muß es einem sein, der sterben soll!«

»Denke nicht daran! Es ist nichts als Müdigkeit.«

»Aber eine so große, wie ich sie noch nie empfunden habe! Wenn ich mich nicht legen soll, so muß ich dich bitten, mich festzuhalten, damit ich nicht umfalle.«

Soeben wurden die gefesselten Gefangenen auf ihre Pferde gebracht. Die beiden Verwundeten wollte man in die Tachtirwans bringen. Da gab ich dem Scheik die Weisung:

»Die zwei Gefangenen kommen miteinander in eine Sänfte!«

»Für wen ist die andere?« fragte er.

»Für Hadschi Halef.«

»Für den Scheik der Haddedihn?« gab er verwundert zurück. »Wie kann jemand, der ein solches Pferd besitzt wie er, auf den Gedanken kommen, wie ein Weib in eine Sänfte zu steigen!«

»Er ist krank. Er kann nicht reiten.«

Da nahm Halef seinen Arm von meinem Halse, sprang mit einem schnellen, kräftigen Rucke auf, sah mir mit funkelndem Auge in das Gesicht und rief zornig aus:

»Sihdi, bist du toll? Hast du plötzlich die Gabe deines Verstandes verloren?«

Ein einziger Augenblick hatte genügt, ihn in ein Bild der höchsten Energie zu verwandeln.

»Nein,« antwortete ich. »Ich bin sogar sehr bei allen meinen Sinnen.«

»Das kannst du unmöglich sein, wenn du mir zumutest, nicht zu reiten, sondern mich tragen zu lassen!«

»Es muß sein, lieber Halef. Füge dich!«

»Das fällt mir nicht ein. Soll ich zum Gelächter aller Menschen werden, die es gegeben hat, die es jetzt giebt und auch die es einst noch geben wird?«

»Nein. Die Krankheit ist doch nicht etwas, worüber man zu lachen hat!«

»Aber der Tachtirwan. Uebrigens bin ich ja gar nicht krank!«

»Und soeben fühltest du dich zum Umfallen schwach!«

»Jetzt nicht mehr. Das ist vorüber!«

»Es wird wiederkommen!«

»Nein! Dein altes Weib, welches keine Zähne mehr hat, werde ich mir vom Leibe zu halten wissen!«

Es war die Erregung des Stolzes, die ihm die Kraft gegeben hatte, aufzuspringen. Er griff mit beiden Händen nach dem Kopfe. Es schwindelte ihm.

»Sei gut, Halef!« bat ich.

»Ich bin ja gut! Gegen dich kann ich doch gar nicht anders sein!«

»Jetzt bist du es nicht. Du weißt, daß ich dich nie um etwas bitte, was nicht nötig ist.«

»So machst du gegenwärtig eine Ausnahme. Das, was ich thun soll, ist vollständig überflüssig!«

»Streiten wir uns nicht hierüber! Kannst du dich noch besinnen, daß du mir eines Tages etwas schenken wolltest und doch nichts hattest?«

»Ja. Das war zu deinem Geburtstage.«

»Du warst traurig darüber, daß du mir nichts geben konntest. Besinne dich! Was sagtest du da zu mir?«

»Ich bat dich, mir es zu sagen, wenn du einmal einen recht, recht großen Wunsch haben würdest. Ich versprach, ihn dir zu erfüllen.«

»Ja und zwar unbedingt zu erfüllen! Nun, diesen Wunsch habe ich jetzt ausgesprochen, und ich wiederhole ihn! Steig in den Tachtirwan!«

»So forderst du das von mir als nachträgliches Geburtstagsgeschenk?«

»Ich fordere es nicht, sondern ich erbitte es mir. Sei brav; sei willig, lieber Halef!«

»Oh, mein guter, guter Sihdi, wenn du in diesem Tone mit mir redest, kann ich dir nicht widerstehen! Aber, hast du gehört, was der Scheik sagte?«

»Denke nicht daran!«

»Er sagte: ›Wie ein Weib in die Sänfte steigen!‹ Wenn ich es thue, gebe ich meine ganze Würde hin!«

»Nein!«

»Doch! Die Würde des Mannes, die Würde des Kriegers und die Würde des Scheikes!«

»Diese drei Würden werden dir bleiben; aber die Würde meines Freundes würde verloren gehen, wenn du es nicht thätest.«

»So thue ich es. Aber mein Gewehr und alles, was zum Manne gehört, muß ich mitnehmen dürfen!«

»Selbstverständlich! Ich danke dir!«

»Und du hebst mich hinein. Es soll mich kein anderer anfassen als nur der allein, dem zuliebe ich es thue!«

»Gern. So komm!«

Ich war ihm behilflich, einzusteigen, und gab ihm dann seine Waffen hinauf. Als dies geschehen war, kam der Scheik zu mir. Er hatte gespannten Auges zugesehen und fragte nun:

»Sihdi, wer wird jetzt das Pferd Halefs reiten?«

»Niemand,« antwortete ich, von seiner Frage nicht etwa angenehm berührt.

»Würdest du es mir nicht für diese kurze Zeit erlauben?«

»Nein.«

»Sihdi, bedenke, daß wir Brüder sind! Du bist mein Gast!«

»Das weiß ich. Und eben weil ich es weiß, darf ich dir deinen Wunsch nicht erfüllen.«

»Du darfst nicht? Oder willst du nicht?«

»Ich darf nicht.«

»Warum?«

»Das Pferd würde dich abwerfen.«

»Du brauchst ihm ja nur das Zeichen zu geben, so wird es dies nicht thun!«

»Aber dieses Zeichen ist ein Geheimnis, und die Geheimnisse eines Vollblutpferdes werden selbst dem besten Freunde, dem Bruder, dem Gaste nicht verraten. Das mußt du wissen. Grad weil ich dein Gast bin, ist es deine heilige Pflicht, nichts von mir zu fordern, was ich dir nicht gewähren kann. Die Auslegung des Kuran sagt: ›Wer das Antlitz seines Gastes durch eine unerfüllbare Bitte schamrot macht, ist nicht wert, Gäste zu haben.‹ Das scheinst du nicht zu wissen!«

Nachdem ich ihm diese Lehre, und zwar im ernstesten Tone, erteilt hatte, wendete ich mich von ihm ab. Es war mir mehr als unangenehm, ja, es machte mich bedenklich, immer wieder zu bemerken, daß er danach trachtete, die Geheimnisse unserer Pferde zu erfahren. Ich bestieg meinen Assil und nahm Barkh am Zügel, um ihn neben mir hergehen zu lassen. Der Scheik mußte es hinnehmen, daß ich ihn von jetzt an nicht mehr beachtete. Ich wagte dabei nichts, denn im Besitze unserer Hengste und unserer Gewehre hatten wir, so lange wir Vorsicht übten, die ganze Schar dieser Beduinen nicht zu fürchten. Und daß der Scheik dies wußte, das war aus seinem Verhalten mit Sicherheit zu schließen.

Es war ein schöner, frischer Ritt in den jungen, kühlen Morgen hinein. Dann später, als die Sonne über den östlichen Bergen erschien, wurde es schnell warm. Wir hatten nicht unsere gestrige Richtung rückwärts eingeschlagen, sondern wir ritten den Weg, auf welchem der Bote die von ihm geholte Hilfe gebracht hatte. Ich achtete aber weniger auf die Gegend als auf Halef, den ich während der ersten Zeit nicht sah, weil er in dem Grunde der Sänfte lag. Doch später setzte er sich auf und ließ sein Gesicht erscheinen, um nach mir auszuschauen. Als er mich an seiner Seite sah, nickte er mir lächelnd zu und sagte:

»Sihdi, das alte Weib ist wieder fort. Ich bin so munter, daß ich gern aussteigen und lieber reiten möchte.«

»Ich bitte dich aber, sitzen zu bleiben,« antwortete ich ihm.

»Meinst du, daß sie wiederkommt?«

»Ja.«

»Ich glaube es nicht. Die Schwäche ist heraus!«

»Nein, sie steckt noch drin. Sie wird vielleicht sogar noch größer werden.«

»Du irrst, Sihdi. Ich sehe ja, daß sie heraus ist.«

»Du siehst es? Wieso?«

»Ich habe sie jetzt außen auf der Brust.«

Diese Worte erschreckten mich, obgleich ich so etwas erwartet hatte. Ich verstand ihn gleich; ich wußte, was er meinte. Wenn es sich um Petechien handelte, so hatte ich das Richtige befürchtet: Halef war typhuskrank.

»Hast du Flecken auf der Brust?« fragte ich.

»Ja, Sihdi.«

»Wie sehen sie aus?«

»Ich war bei Kindern, welche an der Chassba litten. Das ist eine Krankheit, welche die Haut zu färben pflegt. Genau von dieser Farbe sind die Flecken, die ich jetzt bei mir bemerke.«

Mit diesen Worten hatte er das Kennzeichen des Petechialtyphus angegeben. Daß gewisse Beobachtungen, welche ich seit gestern an ihm gemacht hatte, nicht genau mit den Symptomen dieser Krankheit übereinstimmten, konnte mich nicht beirren. Jedes Leiden pflegt nebenbei seine individuellen Erscheinungen zu haben. Ich wußte nun, daß es sich möglicherweise um das Leben Halefs handeln konnte, daß die größte Schonung, die sorgfältigste Pflege geboten war und daß ich selbst im günstigen Falle an eine Genesung vor Ablauf eines Monates nicht denken durfte. Was das heißt, wenn man sich dabei in fremder Gegend und unter halbwilden Menschen befindet, kann man sich unschwer denken!

»Du bist so still! Worüber denkst du nach?« fragte er nach einiger Zeit, in welcher ich nicht gesprochen hatte.

»Ich fragte mich nach dem Lager dieser Dinarun. So gute, geräumige und bequeme Zelte wie unsere Haddedihn werden sie wohl nicht besitzen.«

»Nein, solche nicht, Sihdi! Die giebt es nur bei uns! Aber das erwarte ich gar nicht. Wozu auch Zelte? Wir bleiben doch höchstens nur einige Stunden dort, weil schon heut gegen die Dschamikun aufgebrochen wird.«

»Das halte ich nicht für so bestimmt wie du.«

»Es ist bestimmt. Du weißt ja, daß ich es dem Scheik versprochen habe, und was ich verspreche, das halte ich!«

»Aber ich? Habe ich es auch versprochen?«

»Nein. Doch mein Wort gilt natürlich auch als das deinige, und ich hoffe, daß du mich nicht Lügen strafen lässest!«

Hierauf sah ich ihn nicht mehr. Er hatte sich wieder niedergelegt. Die Schwäche war also doch zurückgekehrt!

Von nun an geschah nichts Erwähnenswertes, als daß einer der Dinarun voranritt, um unsere Ankunft zu melden. Der Scheik befand sich, wie gestern, an der Spitze des Zuges, und da er vermied, zu mir zu kommen, hatte ich noch viel weniger Veranlassung, ihn da vorn aufzusuchen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn wir ihn und seine Leute gar nicht getroffen hätten. Es wäre uns wahrscheinlich auch ohne ihre Hilfe gelungen, wenn auch nicht so schnell und mühelos, unsere Absicht durchzusetzen.

Nach einigen Stunden gab es wieder Büsche. Wir befanden uns also nicht mehr in wasserloser Gegend, wie vom heutigen Aufbruche an, und ich vermutete, daß wir nun nicht mehr fern dem Ziele seien. Diese Mutmaßung bewährte sich als richtig. Ich sah einen Reitertrupp erscheinen, welcher uns entgegenkam, und nun hielt es der Scheik endlich für geboten, sein Pferd so lange anzuhalten, bis wir ihn erreicht hatten. Dann deutete er mit der Hand vorwärts und sagte:

»Sihdi, da nahen Krieger meines Stammes, um euch willkommen zu heißen. Wirst du erlauben, daß sie euch mit dem gebräuchlichen Lab el Barud empfangen? Eine Fantasia, die wir euch als so lieben Gästen schuldig sind, wird abgehalten werden, sobald wir uns im Angesichte des Lagers befinden.«

Das Lab el Barud besteht gewöhnlich in einer tollen Schießerei, bei welcher sehr viel Pulver verschwendet wird. Bei der Fantasia werden allerlei Reiterkünste gezeigt. Beides hat den Zweck, den Gast zu ehren und ihm zu zeigen, daß die, welche ihn empfangen, als gute Reiter und Schützen seiner Achtung würdig sind.

Ich hätte dem kranken Hadschi diesen Lärm wohl gern erspart, damit aber wahrscheinlich die Dinarun beleidigt, und da durch die Ausführung dieser Gebräuche das gegenseitige Gast- und Freundschaftsverhältnis bestätigt wird, so hielt ich es in Hinsicht auf unsere Sicherheit für geraten, meine Zustimmung zu erteilen.

Als ich dies gethan hatte, gab er den Nahenden mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, worauf sie im Galopp herangesprengt kamen, uns einige Male im Kreise umritten und unter wildem Schreien aus ihren langen Flinten wiederholte Salven und einzelne Schüsse abgaben. Dann sammelten sie sich hinter uns, um sich uns anzuschließen.

»Bist du mit diesem Empfange zufrieden?« fragte mich der Scheik im Weiterreiten.

»Ja,« antwortete ich. »Wir danken euch!«

»Ich glaubte, du habest deine Erwartungen nicht erfüllt gesehen.«

»Warum?«

»Weil du mit keinem einzigen Schusse diesen Empfang erwidert hast.«

Das war ein Vorwurf, der mir nicht gefiel, und dem eine versteckte Absicht zu Grunde liegen mußte. Und diese Absicht konnte sich nur auf die gastliche Treue beziehen. Das wurde mir von jenem Mißtrauen gesagt, welches sich nun einmal nicht in mir niederdrücken lassen wollte und jetzt wieder seine warnende Stimme erhob. Darum antwortete ich:

»Du weißt, o Scheik, daß wir weder Knaben noch Neulinge, sondern erfahrene Männer sind. Wir wissen ganz genau, was so ein Lab el Barud zu bedeuten hat. Aus euren Gewehren hat die Stimme der Gastfreundschaft gesprochen. Diese Schüsse waren eure Versicherung, ja euer Schwur, daß ihr euch Mühe geben werdet, alle eure Pflichten gegen uns zu erfüllen.«

»Weiter nichts?« fragte er.

»Nein.«

»Du irrst! Durch diese Schüsse richteten wir auch die Frage an euch, wie es mit den Pflichten stehe, die ihr gegen uns auf euch genommen habt.«

Da hielt ich mein Pferd an, faßte den Zügel des seinigen, daß es auch stehenbleiben mußte, richtete mich im Sattel auf, sah ihm grad und forschend in das Gesicht und sagte:

»Das würde eine Beleidigung für uns sein!«

»Nein!« behauptete er.

»Doch!«

»So bitte ich dich, es mir zu erklären!«

»Es sollte dieser Erklärung gar nicht erst bedürfen! Die Gastfreundschaft ist zwischen euch und uns bereits geschlossen. Ihr habt uns euer Wort gegeben und dafür das unserige erhalten. Ist das so?«

»Ja,« gestand er ein.

»Haltet ihr uns für Lügner?«

Als ich meinem Blick hierbei einen drohenden Ausdruck gab, senkte er den seinen und antwortete:

»Nein. Ich gebe dir die Versicherung, dies ganz und gar nicht gemeint zu haben!«

»Das ist es, was ich wissen wollte! Wenn wir unser Wort geben, so halten wir es unter allen Umständen. Es bedarf bei uns keiner weiteren Versicherung durch irgendeine That oder gar durch ein bloßes Spiel, bei welchem wir gezwungen wären, unsere Munition zu vergeuden, die viel kostbarer als die eure ist.«

Ich machte eine Pause, um den nächsten Worten eine erhöhte Bedeutung zu geben, und fuhr dann fort:

»Oder sollte es dir vielleicht so außerordentlich wichtig sein, zu sehen, wie unsere Gewehre beim Schießen gehandhabt werden müssen? Wir schießen niemals im Spiele, sondern stets nur dann, wenn der Ernst uns dazu zwingt, wenn wir uns verteidigen müssen. Aber dann sitzt jeder Schuß; das kannst du mir gut glauben! Wenn ihr es für notwendig gehalten habt, euren Worten durch eure Schüsse größere Glaubhaftigkeit zu verleihen, so sage ich dir, daß wir so etwas nicht nötig haben, weil unsere Worte Thaten sind, die nicht erst noch besonders bestätigt zu werden brauchen! Und nun frage ich dich: Sind wir im vollsten Sinne des Wortes eure Gäste oder nicht?«

»Ihr seid es,« versicherte er, indem er mir die Hand herüber hielt.

Es war ihm anzusehen, daß er sich beschämt fühlte. Vielleicht gab es in seinem Innern auch noch etwas anderes als diese Scham allein. Ich schlug ein, gab sein Pferd frei und sprach, indem wir nun weiter ritten:

»Du weißt nun ganz genau, wie wir über die Heiligkeit und Verletzlichkeit des gegebenen Wortes denken. Fordere also nicht von uns, etwas hinzuzufügen, denn so ein Wunsch würde eine schwere Beleidigung für uns sein!«

»Und doch hast du etwas ähnliches von uns gewünscht, ohne daß es mir eingefallen ist, es dir übelzunehmen!«

»Was?«

»Das Lab el Barud und die Fantasia.«

»Soll ich gezwungen sein, dich, unseren Gastfreund, Lügen zu strafen? Du hast uns beides angeboten; ich habe es nicht verlangt. Das ist der Unterschied. Und durch dieses dein Angebot hast du eigentlich gesagt, daß dein Wort erst noch weiterer Bekräftigung bedarf, bevor man ihm Vertrauen schenken kann.«

»Das habe ich nicht gewollt! Bei Allah! Wenn du mich in dieser Weise verstanden hast, so zwingst du mich jetzt, eine Bitte auszusprechen.«

»Welche?«

»Auf die Fantasia zu verzichten!«

»Das thue ich sehr gern!«

»Sie wird also in Wegfall kommen, damit du nicht ferner annimmst, daß sie als Bestätigung des euch gegebenen Wortes nötig sei. Wir wissen ebensogut wie ihr, was so ein Wort bedeutet!«

Ja, das wußte er wohl ganz gewiß. Aber etwas anderes wußte und fühlte er wohl nicht, nämlich daß das gegebene Wort seine ganze Heiligkeit verliert, wenn es Veranlassung giebt, in einer so peinlichen Weise über seine Bedeutung verhandeln zu müssen!

Wir ritten jetzt eine langsam ansteigende, sonnige Höhe empor, welche dicht mit niedrigen Genistenpflanzen bewachsen war. Tausende von weißen Schmetterlingsblumen sandten uns da ihre köstlichen Düfte zu. Dieser Strauch, welchen die Hebräer Retom nannten, ist identisch mit dem »Wachholder« des alten Testamentes, welches von dem Propheten Elias erzählt: Er kam in die Wüste von Bersaba und setzte sich unter einen Wachholder und wünschte sich den Tod und sprach: Es genügt mir, Herr. Nimm meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich nieder und entschlief im Schatten des Wachholderbaumes. Und siehe, ein Engel des Herrn rührte ihn an und sprach: Steh auf, und iß!

Man sah hier und da eine Ziege, welche sich die weichen Spitze der Zweige schmecken ließ, und Kinder, von denen diese Tiere beaufsichtigt wurden. Das war ein Zeichen, daß wir uns dem Lager näherten. Zu den Ziegen gesellten sich fett geschwänzte Schafe mit sonderbar langen, lappigen Hängeohren. Einige magere Rinder kauten seitwärts im harten, scharfen, schilfähnlichen Grase. Dann kamen wir an zerstreut weidenden Eseln und Maultieren vorüber, und endlich sahen wir den Lagerort, nicht oben auf der Höhe, sondern unterhalb derselben sich seitwärts an der Berglehne hinziehend.

Die uns dort erwartenden Dinarun waren benachrichtigt worden, daß die Fantasia zu unterbleiben habe. Dennoch saßen sie alle zu Pferde, weil es für sie eine Schande gewesen wäre, uns zu Fuße zu empfangen. Sie waren so freundlich, wie wir es erwarteten, drückten dies aber mehr durch Gesten und Pantomimen als durch Worte aus. Redselig, wie der Beduine fast immer gegen Gäste ist, zeigten sie sich nicht. Das genierte mich aber nicht. Es gab vielmehr einige andere Beobachtungen, durch welche ich mich enttäuscht fühlte. Doch, davon später.

Es mochten gegen zweihundert Männer hier versammelt sein. Ich überflog den ganzen Plan mit schnellem Blicke. Zelte gab es nur wenige, und diese waren ärmlich. Das beste von ihnen wurde uns von dem Scheik als das bezeichnet, in welchem wir wohnen sollten. Die vorhandenen Pferde waren teils mittel-, teils auch minderwertiges Material, und es gab höchstens zehn oder fünfzehn, für welche man etwas mehr als den gewöhnlichen Durchschnittspreis hätte bieten können.

Außer den Zelten gab es nur niedrige Hütten, welche aus Ginsterzweigen errichtet worden waren. Weiber, Kinder, Maultiere und Esel – man verzeihe, daß ich dies zusammen nenne – waren nur so viele da, wie zum Transporte der geringen Habseligkeiten und der mageren Schlachttiere gebraucht wurden.

Noch ehe wir dieses sogenannte »Lager« erreichten, hatte Halef sich in seinem Tachtirwan wieder aufgerichtet und mir zugerufen:

»Sihdi, mein Herz ist voller Wehmut und meine Seele voller Traurigkeit, daß ich nicht im Sattel sitzen kann. Was werden die stolzen Krieger der Dinarun von mir denken, daß ich meinen Einzug bei ihnen in einer alten Sänfte halte! Sie werden mich nicht für Hadschi Halef, den Scheik der Haddedihn, sondern für die Erzgroßtante aller Urgroßmütter halten. Ich bin wirklich zu schwach, aus diesem Kasten zu steigen. Aber später werde ich ihnen zeigen, daß dies nur ein vorübergehender und von mir unverschuldeter Zustand meiner einzelnen Bestandteile ist, die ich schon wieder zum Gehorsam bringen werde!«

Er wußte ebenso wie ich, daß die Dinarun aus mehreren Familien bestanden, jede wenigstens fünf Personen zählend, und im Besitze ganz bedeutender Herden waren. Darum hatte er sich das Lager derselben ganz anders vorgestellt, als wir es jetzt sahen, und sich unseren Empfang auch ebenso ganz anders gedacht. Diese Enttäuschung schien aber keineswegs deprimierend, sondern ganz im Gegenteile sogar kräftigend auf ihn zu wirken, denn als er einen Blick über die ganze rund umher bemerkbare Aermlichkeit geworfen hatte, begann er mit dem ganzen, lieben Gesichte zu lächeln und sagte:

»Wie schön, wie wirklich schön ich es hier finde! Gefällt es dir nicht auch, Sihdi?«

»Nein!« antwortete ich.

Ich konnte das sagen, weil wir in diesem Augenblicke unbeobachtet waren.

»Nicht? Was bist du doch für ein sonderbarer Mensch! Mir gefällt es außerordentlich. Weißt du, warum?«

»Nun?«

»Weil ich sehe, daß diese Leute arm sind, so arm, daß es mich erbarmt! Wir werden gebraucht, Sihdi; wir werden gebraucht! Das macht mich froh! Du weißt, daß ich tausendmal lieber gebe, als daß ich nehme. Nehmen kann auch der Faule und der Kranke! Aber wer geben und dem andern nützlich sein will, der muß thätig sein und sich zusammenraffen. Als ich die Dinarun vorhin für reich hielt, war ich schwach. Jetzt sehe ich, daß wir ihnen helfen müssen; nun schau, was ich thue!«

Er wollte aus der Sänfte heraus, ohne sich unterstützen zu lassen. Ich war noch nicht abgestiegen, drängte mein Pferd zu ihm hin und warnte:

»Nicht unvorsichtig, Halef! Du bist –«

»Was bin ich?« fiel er mir in die Rede. »Nicht mehr schwach, sondern stark bin ich. Da, paß auf! Willst du es etwa hindern?«

Er wendete sich blitzschnell auf die andere Seite hinüber, stieg über den Rand der Sänfte, hielt sich am Sattelhorne fest, glitt von dem Kamele herab und kam zu mir herüber.

»Nun? Was sagst du jetzt?« fragte er.

»Bin ich noch immer krank?«

»Sogar sehr!« antwortete ich, indem ich mich vom Pferde schwang. »Das, was du thust, kann man nur im Fieber thun!«

»Fieber? Fällt mir gar nicht ein! Hier hast du meine Adern. Greif hin, soviel du willst!«

Ich that, was er wollte. Sein Puls schlug matt, aber regelmäßig – ein wahres Wunder! Seine Augen glänzten und sein Gesicht strahlte, aber nicht in Fieberhitze, sondern vor Freude.

»Nun?« fragte er.

»Halef, sei vorsichtig!« warnte ich. »Du bist jetzt einen Augenblick frei, aber es wird –«

»Was wird?« unterbrach er mich. »Du meinst, jenes alte, zahnlose Weib werde wiederkommen? Mag sie! Sie wird auch wieder gehen müssen! Jetzt aber laß uns essen und mit dem Scheik der Dinarun verhandeln. Du siehst, daß er sich darauf vorbereitet hat.«

Ja, man hatte sich auf unser Kommen eingerichtet. Die Luft trug den Duft bratenden Hammelfleisches von den Feuern zu uns herüber. Einige Frauen breiteten Decken aus, auf denen die Speisenden sitzen sollten, und stellten daneben Gefäße mit Wasser, welches aus einer bergseits hervorfließenden Quelle geschöpft worden war. Nafar Ben Schuri kam, um uns zum Essen einzuladen. Halef erklärte sich sofort bereit und folgte ihm. Mir wurde himmelangst um den kleinen Freund. Typhus – und gebratener Hammel, vielleicht sogar der fürchterlich fette Schwanz desselben, welcher den Gästen stets geboten wird, weil er als das beste Stück des Bratens gilt! Das konnte sein Tod sein! Ich nahm mir gar nicht Zeit, erst unsere Pferde abzusatteln, sondern führte sie hin zur Stelle, wo gegessen werden sollte, pflockte sie dort an und setzte mich zu dem Scheik und Halef nieder, welcher gar nicht säumte, die Hände zu falten und mit einem lauten »Be ism lillahi!« das Essen einzuleiten.

Der Scheik legte ihm wirklich das dickste, vom Fette triefende Schwanzstück vor, und Halef nahm es an. Ich wollte ihn daran hindern; da aber sah er mir einige Sekunden lang still in das Gesicht. Er sagte kein Wort dazu; aber dieser Blick bedeutete mehr als alle Worte: Er verbat es sich, als kranker, unselbständiger Mann behandelt und – blamiert zu werden. Wie ich ihn kannte, mußte ich nun still sein. Er war jetzt Scheik der Haddedihn und Gast der Dinarun. Das wollte er sein, und ich hatte mich zu fügen!

Ich that dies nur mit Anwendung aller meiner Selbstbeherrschung. Dies macht mich zum Reden ungeschickt, während Halef sich um so gesprächiger zeigte. Seit er gesehen hatte, wie arm diese Leute waren, stand sein Entschluß, ihnen zu helfen, fester als vorher. Das ganze, jetzt von ihm geleitete Gespräch hatte den Zweck, sich zu informieren. Er warf eine Menge Fragen auf, von denen keine einzige überflüssig war, und zeigte sich dabei so überlegsam und bedacht, wie ich ihn nur ganz selten gesehen hatte. Ich wußte nicht, was ich denken sollte, und wurde fast irr an mir selbst. Er aß mit dem größten Appetit, doppelt so viel wie ich, und trank keinen Schluck Wasser dazu. War das Fieber? Die von ihm gestellten Fragen verrieten zwar eine fast zudringliche Wißbegierde; aber Nafar Ben Schuri schien sie für ganz selbstverständlich zu halten, nahm sie ihm nicht im geringsten übel und beantwortete sie mit solcher Bereitwilligkeit, als ob er nur darauf gewartet habe, daß sie ausgesprochen würden.

Inzwischen hatten sich die sämtlichen anwesenden Dinarun auch zum Essen gelagert. Es ging bei den verschiedenen Gruppen, welche sich bildeten, sehr lebhaft zu, und allerlei zu uns herüberklingende laute Bemerkungen verrieten mir die allgemeine Ueberzeugung, daß noch heut zum Zuge gegen die Dschamikun aufgebrochen werden sollte. Als auch Halef eine dieser Interjektionen hörte, stieß er ein vergnügtes Lachen aus und sagte zu Nafar Ben Schuri:

»Deine Krieger scheinen sich auf dieses Unternehmen zu freuen, o Scheik der Dinarun, und das ist ein gutes Zeichen. Denn nur das, was das Herz erfreut, wird mit dem Arm und mit dem Verstand vortrefflich ausgeführt. Wir sind bereit, dir beizustehen. Nur darum habe ich dir so viele Fragen vorgelegt. Wir wollen das, was du mir antwortetest, noch einmal kurz zusammenfassen, damit nicht nur ich, sondern auch mein Sihdi weiß, was er zu denken hat.«

Das war wieder einmal einer seiner kleinen diplomatischen Kniffe. Er pflegte gern den eigenen Wunsch mit fremden Wünschen zu maskieren. Nun fuhr er fort:

»Also ihr seid nicht etwa der ganze Stamm, sondern nur ein kleiner Abzweig der Dinarun?«

»So habe ich gesagt, und so ist es wirklich,« antwortete Nafar.

»Ihr weidetet hier in der Nähe und wurdet von den Dschamikun überfallen und derart ausgeraubt, daß von euren Herden und Zelten fast gar nichts übrig geblieben ist?«

»Ja.«

»Ihr wollt sie verfolgen und ihnen das Geraubte wieder abnehmen. Das muß schnell geschehen, und darum könnt ihr nicht auf die Hilfe eures Stammes rechnen, weil eure Genossen sich so weit von hier befinden, daß eine lange Zeit vergehen würde, ehe es ihnen möglich wäre, sich hier zusammenzufinden?«

»Das ist es, was ich dir sagte. Die Dschamikun zählten vielleicht zweihundert Mann, als sie unser Lager überfielen. Ich habe euch schon erzählt, daß wir nicht daheim, sondern auf einem Feste abwesend waren, sonst wäre ihnen der Raub gewißlich nicht gelungen. Wir können ihnen das uns Gestohlene nur dann wieder abnehmen, wenn wir ihnen sofort nachjagen, um sie einzuholen, bevor es ihnen gelungen ist, ihren eigenen, großen Stamm zu erreichen. Kommen wir zu spät, so ist alles für uns verloren. Darum wollten wir schon heut früh aufbrechen. Dies wäre ganz gewiß geschehen, wenn wir nicht gestern euch getroffen hätten. Dadurch haben wir einen halben Tag verloren. Jetzt aber essen wir, und dann werden wir aufbrechen. Ich hoffe, ihr seht ein, daß wir nicht länger warten können.«

»Natürlich sehen wir das ein, aber ehe ihr diesen Ort verlaßt, giebt es noch mehr zu thun, als bloß zu essen.«

»Was?«

»Willst du denn nicht an unsere Gefangenen denken?«

»Maschallah! Das ist richtig. Die können wir doch unmöglich mit uns schleppen!«

»Nein. Sie würden nur hinderlich sein und uns wohl gar entschlüpfen und zu Verrätern werden. Also essen wir vorerst; dann halten wir Gericht über sie, und dann wird sofort von hier aufgebrochen!«

Das klang alles so glatt und selbstverständlich, daß ich es für an der Zeit hielt, nun endlich auch einmal das Wort zu ergreifen.

»Lieber Halef, erlaubst du, daß auch ich mitsprechen darf?« fragte ich.

»Was fällt dir ein, Sihdi!« rief er aus. »Seit wann hast du erst um Erlaubnis zu bitten, bevor du reden darfst?«

»Seit ich höre, daß du der Pascha dieser ganzen Gegend und aller derer bist, die sich in ihr befinden!«

»Ich? Pascha? Fällt mir gar nicht ein! Ich habe nur deshalb so drauflos bestimmt, weil du deinen Mund nur für den Hammelschwanz, nicht aber für den Ausdruck deines Verstandes zu haben scheinst. Wer reden will, der muß das Kauen lassen. Mir ist es überhaupt stets lieber, wenn du sprichst, denn wenn du schweigst, so steckt etwas dahinter! Du siehst doch gewiß ein, daß wir uns entschließen müssen, daß keinen Augenblick gezögert werden darf?«

»Ich sehe zunächst ein, daß wir uns gar nicht so zu übereilen brauchen, denn die Worte Nafar Ben Schuris haben gelautet: ›In diesem Falle können wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen.‹ Hat sich vielleicht etwas zugetragen, wodurch dieses ›Uebermorgen‹ so vollständig ausgeschlossen ist, daß wir uns jetzt nicht einmal von dem heutigen Ritte ausruhen dürfen?«

»Nein. Es ist nichts geschehen. Aber bist du denn so ermüdet? Ich bin es keineswegs, und von dir ist man solche Schwächen ja auch nicht gewöhnt.«

»Vorsichtig und bedacht zu sein, ist niemals eine Schwäche, lieber Halef. Wir wissen über die Dschamikun ja nicht mehr, als wir von ihnen wußten, ehe wir hier diese unsere Freunde trafen. Oder genügt es dir vielleicht, von ihnen nur zu wissen, daß wir jetzt ihre Feinde sind und mit gegen sie ziehen wollen?«

Er sah mich an, nickte dann verständnisvoll vor sich hin und sagte hierauf:

»Ja, daran habe ich freilich nicht gedacht! Und doch haben wir dieser deiner Gepflogenheit alles zu verdanken, was wir jemals erreicht haben. Du pflegst alles auf das reiflichste zu bedenken und mit dem Geiste anzuschauen, ehe du handelst. Du greifst niemals einen Gegner an, ohne genau zu wissen, wer er ist, wo er ist und wie stark er ist.«

»Nun, wissen wir das von den Dschamikun?«

»Nein.«

»Und doch bist du bereit, sofort mit aufzubrechen! Dürfen wir es wie kleine Knaben machen, die aufeinander losschlagen, ohne zu wissen, was es für einen Ausgang nehmen kann?«

Er wollte antworten, wurde aber durch das Erscheinen eines Mannes daran verhindert, welcher langsam den Berg heraufgekommen war und, als er uns sah, seine Schritte zu uns lenkte und sich ohne Wort und Gruß zu uns setzte. Seinem Aeußern nach war er keineswegs eine Person, von der man hätte sagen mögen, daß sie zu dem Scheik und zu uns gehöre. Sein Körper war von um ihn herumhängenden Fetzen nur halb bedeckt. Die hindurchblickenden nackten Stellen hatten ebenso wie das Gesicht, die Hände und die unbekleideten Füße einen dicken Schmutzüberzug. Ein Zeugstück, welches man in Deutschland einen verbrauchten Hader nennen würde, war um seinen Kopf gewunden. Darunter hingen lange Haare heraus, welche wahrscheinlich altersgrau waren, aber derart von fettiger Unreinlichkeit starrten, daß man ihre Farbe unmöglich bestimmen konnte. Trotzdem waren sein Gang und seine Haltung so würdevoll und selbstbewußt, als ob er über uns allen hoch erhaben sei. Seine Gesichtszüge waren außerordentlich regelmäßig, Stirne und Wangen trotz des Alters beinahe ohne Falten. Ich sagte mir, daß er ein schöner Greis sein werde, sobald er sich gereinigt und anders gekleidet habe. Geradezu selten schön waren seine großen sonderbaren Augen. Es schien, als ob eine bisher unberührte Gazellenunschuld in ihren dunklen Tiefen wohne.

Und doch konnten aus diesen Tiefen Blitze aufsteigen, als ob sich da unten plötzlich ein verborgener Krater geöffnet habe. Dann bekam die schwarze Pupille einen hellen, fast möchte ich sagen, gelben Ueberschein, und die Lider öffneten sich hoch und weit, als ob alle Ströme und Fluten einer unbekannten seelischen Welt hervorbrechen wollten. Das sah ich natürlich nicht sofort, im ersten Augenblicke, sondern ich beobachtete es nur nach und nach, denn dieser Mann flößte mir ein so ungewöhnliches Interesse ein, daß ich ihn beobachtete, ohne es mir eigentlich bestimmt vorgenommen zu haben. Es giebt Menschen, zu denen man innerlich hingezogen wird, obgleich die äußeren Verhältnisse dies gar nicht zu gestatten scheinen. Ich will aufrichtig gestehen: der Schmutz dieses Fremdlings wirkte abstoßend, und doch war er unter allen Anwesenden der einzige, dem ich ohne allen Vorbehalt meine Hand hätte geben können. Warum, das wußte ich nicht, aber ich fühlte so.

Der Scheik schien es für ganz selbstverständlich zu halten, daß dieser Mann sich zu uns setzte. Er nickte ihm nicht nur freundlich, sondern mit dem Ausdrucke der Ehrfurcht zu und sagte dann zu uns:

»Das ist Sallab, der Fakir. Wohin er kommt, bringt er den Segen Allahs mit.«

Hierauf kreuzte Sallab die Hände auf der Brust und sprach, nicht etwa mit der gewöhnlichen, widerlichen Salbung dieser stets für fromm und oft sogar für heilig gehaltenen Leute, sondern im Tone ruhiger Selbstverständlichkeit.

»Allah ist ja nur Segen, bloß Segen; er kann gar nichts anderes sein!«

Hierauf nannte der Scheik ihm unsere beiden Namen. Als dies geschah, bemerkte ich zum erstenmal den erwähnten Aufschlag und das ebenso schnelle Niedersinken seiner Augenlieder. Es war nur ein Moment, aber in diesem raschen Blicke lag eine Bedeutung, welche mir erst später klar wurde. Hierauf verhielt er sich genau so, als ob er diese Namen jetzt zum erstenmal gehört habe.

Das Wort Fakir erklärte es zur Genüge, daß er sich hatte zu uns setzen dürfen. Selbst der vornehmste Mann wird es wenigstens öffentlich vermeiden, zu zeigen, daß er sich für etwas Besseres halte, als so ein »Glaubensheld« für den Durchschnittsmuhammedaner ist. Damit wir auch in Beziehung auf unsern Gesprächsgegenstand wüßten, woran wir mit ihm seien, machte der Scheik gegen uns die Bemerkung:

»Wir können weitersprechen. Sallab bekümmert sich nicht um die Angelegenheiten dieser Erde. Er lebt bereits das Leben, welches für andere Leute erst nach ihrem Tode beginnt.«

»So erlaube, daß wir uns nach den Dschamikun erkundigen!« sagte Halef. »Weißt du, wie viel Krieger sie haben?«

»Ungefähr zweihundert, wie ich ja bereits erwähnt habe,« antwortete Nafar Ben Schuri.

»Weißt du auch, wo sie sind?«

»Ich habe ihnen Kundschafter nachgeschickt. Ihr hört also, daß auch ich vorsichtig zu sein verstehe. Sie haben die uns geraubten Herden zu treiben und kommen also nur langsam vorwärts. Aber wenn wir ihnen zuviel Zeit lassen, werden sie einen solchen Vorsprung gewinnen, daß sie ihren Stamm erreichen, ehe wir sie einholen, und dann bleibt uns nichts übrig, als unverrichteter Sache umzukehren. Darum hielt ich es für besser, den Ritt schon heut zu beginnen.«

»Kennst du die Gegend, durch welche wir ihnen zu folgen haben?«

»Sehr genau. Ich hatte die Absicht, sie im Daraeh-y-Dschib einzuholen. Das ist ein langes, enges Thal mit hohen, steilen Felswänden, welches kurz vor seinem Ende von einem sehr schmalen, aber auch sehr tiefen Flußbette quer durchschnitten wird. Es führt eine uralte, jetzt halb eingefallene Brücke darüber. Dieses Thal würde eine Falle sein, in welcher wir die Dschamikun fangen und zur Herausgabe ihres Raubes zwingen könnten, ohne daß ein Kampf stattzufinden brauchte.«

»Sie werden sich hüten, in diese Falle zu gehen!«

»Ich bin überzeugt, daß sie dieses Thal passieren werden, weil sie sonst einen Umweg machen müßten, welcher für sie fast zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Kämen wir eher hin als sie, so könnten wir die Brücke besetzen. Dann ließen wir sie hinein, besetzten hinter ihnen auch das andere Ende des Daraeh-y-Dschib und hätten sie dann so fest im Sacke, daß es ihnen ganz unmöglich wäre, sich zu bewegen oder gar sich zu verteidigen.«

Da schaute Halef mich, im ganzen Gesicht lachend, an und fragte:

»Was sagst du dazu, Sihdi? Das ist ja ganz derselbe Streich, den wir schon wiederholt den Feinden unserer Freunde gespielt haben! Und zugleich wird dadurch das vermieden, was man nicht ohne Not thun soll, nämlich das Blut von anderen Menschen zu vergießen. Ist dieser Plan des Scheikes der Dinarun nicht lobenswert?«

»Er scheint gut zu sein,« antwortete ich. »Wie aber nun, wenn die Dschamikun ebenso klug sind wie wir und uns fangen, anstatt wir sie?«

Da lachte Nafar Ben Schuri laut auf und entgegnete:

»Die uns? Auf einen solchen Gedanken kommen diese Dummköpfe nicht! Und wenn sie ihn hätten, so könnten sie ihn doch nicht ausführen, weil die Herden ihnen im Wege wären.«

»So denke dir die Lage, wie sie sein würde, wenn sie wirklich in die Falle gingen! Sie würden allerdings in dem engen Thale stecken, und wir befänden uns am Eingange und am Ausgange desselben. Wir wären also geteilt. Wäre das vorteilhaft für uns?«

»Ja, denn wir hätten sie zwischen uns und könnten sie mit unsern Kugeln zwingen, sich zu ergeben.«

»Das bezweifle ich. Wir hätten außerhalb des Thales keine Deckung, und folglich würden ihre Gewehre uns gefährlicher werden als die unserigen ihnen.«

»Aber das Thal ist so schmal, daß nur sehr wenige auf uns schießen könnten!«

»Wir aber auch auf nur wenige von ihnen!« entgegnete ich.

»Sie sind aber eingeschlossen und können nicht heraus! Wir haben gar nichts zu thun, als zu warten, bis sie um Gnade bitten!«

»Sie können es länger aushalten als wir, denn die euch geraubten Tiere geben ihnen für längere Zeit Fleisch, als wir haben.«

»Aber das Wasser fehlt ihnen! Das Flußbett ist vollständig trocken.«

»So müssen ja auch wir dürsten!«

Da rief er ungeduldig aus:

»Sihdi, ich habe geglaubt, du seiest ein tapferer Mann, und nun machst du solche Einwände! Denkst du denn gar nicht auch an eure Gewehre?«

»Ah –! Unsere Gewehre – Du rechnest auf sie?«

»Natürlich! Ich weiß, daß ihr sehr viele Male schießen könnt, ohne laden zu müssen, und daß eure Kugeln wenigstens fünfmal weiter gehen als die unserigen. Wir können den Dschamikun also so fern bleiben, daß ihr Blei uns gar nicht erreicht, während sie aber von euch alle nach und nach erschossen werden.«

Sein Gesicht hatte während dieser Worte den Ausdruck einer Pfiffigkeit angenommen, welcher mir nicht gefiel. Ich hatte schon das Wort auf den Lippen, ihm dies verstehen zu geben, aber da kam Halef mir zuvor:

»Sihdi, erlaube, daß ich dich nicht begreife! Bist du plötzlich undankbar geworden? Dieser unser Freund Nafar Ben Schuri hat uns einen großen Dienst geleistet. Wir sind seine Gäste, seine Brüder. Er rechnet auf die Ueberlegenheit unserer Gewehre. Weißt du, was uns die Pflicht des Dankes und der Gastfreundschaft gebietet?«

»Halef!« warnte ich ihn. »Willst du mich beleidigen?«

»Nein! Aber du beleidigst mich! Du bist der beste und der tapferste Mann der ganzen Welt; aber dein Geburtsland ist Dschermanistan und wird es immer bleiben. Ich aber wurde in der Wüste geboren; ich bin ein echter Ibn el Arab und kann es nicht anhören, daß du plötzlich solche Bedenken trägst, die Gesetze der Wüste zu befolgen!«

»Hamdulillah – Hamdulillah!« rief da der Scheik, indem er aufsprang und die Hände zustimmend zusammenschlug. »Das ist ein Wort, wie ich es von einem Manne erwartet habe! Ich höre, daß du Hadschi Halef Omar bist, der berühmte, unüberwindliche Scheik der Haddedihn vom tapferen Stamme der Schammar!«

Das wirkte geradezu elektrisierend auf meinen kleinen, ehrgeizigen Hadschi. Er sprang auch auf und erklärte in seinem bestimmtesten Tone:

»Ja, der bin ich allerdings, und du wirst sogleich hören, was ich beschlossen habe: Wir reiten fort, jetzt, gleich! Wir folgen den Dschamikun bis in das ›Thal des Sackes‹ und zwingen sie dort, sich uns zu ergeben. Das sage ich, und mein Sihdi sagt es auch. Darauf gebe ich dir mein Wort, mein Ehrenwort!«

»Halef!« rief ich ihm zu, indem ich nun auch aufsprang. »Was fällt dir ein! Gieb deinen Puls! Das Fieber spricht aus dir!«

Er trat einen Schritt zurück und antwortete:

»Ob Fieber oder nicht, ich hab's gesagt und werde es auch halten. Mein Puls ging ruhig, wie er immer geht; aber wenn du zauderst, zu thun, was uns die Pflicht und die Ehre gebietet, so muß er freilich schneller gehen! Ich bin mit dir gereist, so weit, so weit! Und ich bin auch bereit, mit dir zu gehen bis an das Ende der Erde. Du aber willst mir nicht einmal den Gefallen thun, den ich unsern Freunden, den Dinarun, zu erweisen habe! Darum gab ich so schnell mein Ehrenwort, um dich zu zwingen. Jetzt thue, was dir beliebt! Ich reite mit, sogleich! Wirst du mich, deinen Halef, verlassen können?«

Der Fakir war von uns der einzige, der noch saß. Jetzt stand er auf, ergriff Halefs Hand und dann die meine, legte beide ineinander und sagte, sich an mich wendend:

»Halte deinen Freund und Bruder nicht zurück! Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm aus; du aber siehst es nicht. Reite gern und schnell mit ihm nach dem Daraeh-y-Dschieb! Dort wird er Rettung finden; hier aber müßte er sterben. Glaub es mir! Es ist so gut, als hätte Allah selbst es dir gesagt!«

Nach diesen Worten wandte er sich ab und ging von uns weg.

»Das ist die Wahrheit,« erklärte der Scheik. »Er sieht Dinge, die kein anderer sehen kann, auch den Tod!«

»Kennst du diesen Fakir so genau?« fragte ich.

»Ja.«

»Seit wann?«

»Gehört habe ich seit langer Zeit von ihm. Gesehen habe ich ihn erst gestern früh, als er in unser Lager kam. Er ist bald hier, bald dort.«

»Wie lange bleibt er bei euch?«

Der Fakir hatte sich schon so weit von uns entfernt, daß er diese meine Frage unmöglich gehört haben konnte. Und dennoch blieb er grad in diesem Augenblicke stehen, drehte sich um und rief uns zu:

»Sallab kam, und Sallab geht. Er hat weder Brot, noch Fleisch, noch Salz, noch Wasser hier genossen; er ist keines anderen als nur Allahs Gast. Doch was er sprach, das war zu eurem Heile!«

Hierauf ging er weiter, bis er in einer Terrainfalte verschwand.

Halef hielt meine Hand noch fest. Jetzt zog er sie noch näher an sich und fragte:

»Nicht wahr, du reitest mit, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich.

»Sogleich?«

»Ja.«

Was wollte oder konnte ich anderes sagen, da der Scheik bei uns stand, in dessen Gegenwart ich doch nicht sprechen konnte, wie ich wollte.

»Ich danke dir, Sihdi!«

Bei diesen Worten gab der Hadschi meine Hand wieder frei.

»Nein, danke nicht mir, sondern dir selbst! Denn du bist die Quelle dieses meines Entschlusses. Ich wollte erst morgen entscheiden. Du hast es schon jetzt gethan, und so wollen wir wünschen, daß wir es nicht zu bereuen brauchen!«

»Es ist zu unserm Heile. Der Fakir hat es gesagt, Sihdi! Und da es denn beschlossen ist, so wollen wir auch nicht lange zögern. Um mich brauchst du keine Sorge zu haben. Das zahnlose Weib ist für immer fort. Ich bin so gesund und stark, daß ich mich schäme, in der Sänfte gesessen zu haben wie eine kraftlose Urahne sämtlicher Großmütter aller kranken Schwiegereltern. Du hast dich um nichts zu bekümmern. Ich werde für alles sorgen, auch für Futter für die Pferde.«

Als er das sagte, sah er so frisch und munter aus, als ob die Sänfte vollständig überflüssig gewesen sei. Der Scheik forderte ihn auf, mit ihm in das Zelt zu gehen; er wolle ihm den Vorrat von Bla ed Dud zeigen. Er folgte ihm, und da ich nun allein war, so schlenderte ich langsam durch das Lager und dann über dasselbe hinaus, um vollends bis auf die Kuppe des Berges zu steigen. Als ich da oben angekommen war, sah ich den Fakir über den jenseitigen Abhang schreiten. Indem ich ihn mit den Augen verfolgte, blieb er stehen, hob den rechten Arm empor, bewegte ihn, als ob er jemand warnen wolle, und ging dann weiter. Wem hatte das gegolten? Mir? Geheimnisvoller Mann! Warum hatte er bei den Dinarun weder gegessen noch getrunken? Und warum hatte er uns noch besonders hierauf aufmerksam gemacht? Gab es für ihn einen Grund, so vollständig auf die Gastlichkeit dieser Leute zu verzichten? Fakire sind ja immer sonderbare Leute; warum sollte grad dieser weniger seltsam gehandelt haben?

Als ich in das Lager zurückkam, waren die Zurüstungen zum Aufbruche flott im Gange. Halef hatte die Pferde getränkt und die Futtersäcke mit Bla ed Dud gefüllt. Er teilte mir mit, daß man in zwei Abteilungen reiten werde. Die Mehrzahl sollte sich beeilen, die Kundschafter, welche den Dschamikun heimlich folgten, so bald wie möglich einzuholen. Die übrigen waren dazu bestimmt, mit den Frauen und Kindern und der Bagage langsamer nachzukommen.

Der gute Hadschi war ganz Feuer und Flamme, und ich hütete mich wohl, seine Begeisterung herabzustimmen. Es mußte vielmehr nun meine Sorge sein, ihm diesen seinen Enthusiasmus möglichst zu erhalten. »Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm aus; du aber siehst es nicht!« Diese Worte des Fakirs wollten mir nicht aus den Ohren. Ich mußte mir ja sagen, daß die jetzige Munterkeit Halefs nicht von langer Dauer sein werde. Der Geist konnte nur solange Herr des erkrankten Leibes sein, als er anregende Sorge und Beschäftigung hatte; dann war der Rückschlag sicher zu erwarten. Ich hatte wohl kaum jemals mich so schweren Herzens in den Sattel gesetzt, wie heute; er aber ritt heiter und unbefangen neben mir her und brachte es sogar fertig, über meine Bedachtsamkeit zu scherzen, die ihn zu dem schnellen Entschlusse gebracht hatte, durch sein Ehrenwort alle meine Weiterungen abzuschneiden.

Wenn ich mich nicht geirrt hatte, sondern die Krankheit, welche ich vermutete, wirklich im Anzuge war, so mußte ich nun die psychische Kraft bewundern, welche jetzt so nachdrücklich und so lange die Herrschaft über die Symptome dieser Krankheit behauptete. Es verging der ganze Nachmittag, ohne daß sich eine Ermüdung bei ihm zeigte. Wir ritten sogar noch einen Teil des Abends weiter, um für heut eine möglichst große Strecke zurückzulegen, und als wir dann zur Nachtruhe anhielten, sprang er so munter vom Pferde, als ob er erst vor kurzem aufgestiegen sei. Ich schrieb diese außerordentliche Widerstandsfähigkeit außer seinem Willen und seinem Enthusiasmus auch seinem südlichen Temperamente zu. Es war Feuer in ihm. Aber wenn es auch wirkte, so lange es möglich war, wenn es verlöschte, hatte ich meines Erachtens mit einem um so schwereren Rückfall zu rechnen. Darum legte ich mich, als wir gegessen hatten, nicht ohne Sorgen an seine Seite nieder. Glücklicherweise bewahrheiteten sich diese meine Befürchtungen nicht, wenigstens nicht in dem Maße, wie ich es erwartet hatte. –


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