Karl May
Khong-Kheou, das Ehrenwort
Karl May

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ERSTES KAPITEL

»Tsching tsching tschin!«

Unter denjenigen unserer lieben Kameraden, welche in einer der an der Nord- und Ostsee liegenden Hafenstädte wohnen, gibt es sicher welche, die den Namen Turnerstick gehört oder wohl gar diesen braven, weitbefahrenen Seemann von Angesicht zu Angesicht gesehen haben.

Kapitän Heimdall Turnerstick, ein echter friesischer Seebär, hatte lange Jahre im Dienste eines New-Yorker Reeders gestanden, es da zumeist mit amerikanischen Topgasten zu thun gehabt und es darum gelitten, daß man seinen allerdings seltsamen deutschen Namen Drechslerstock in das englische Turnerstick verwandelte. Dennoch aber war er ein Deutscher vom reinsten Wasser geblieben.

Er war in allen Meeren bekannt als ein tüchtiger, kühner, gewandter und erfahrener Schiffsführer, welcher außerdem die höchst lobenswerte Eigenschaft besaß, daß er sich stets bemühte, seinen Untergebenen mehr ein freundlich besorgter Vater als ein strenger Vorgesetzter zu sein.

Darum hatte er stets nur zuverlässige und tüchtige Mannen an Bord, die sich alle Mühe gaben, seine Zufriedenheit zu erlangen, und unter Umständen mehr thaten, als die bloße Pflicht von ihnen forderte. Sie liebten und achteten ihn und sahen über manches hinweg, was andere wohl nicht mit denselben Augen betrachtet hätten.

Kapitän Turnerstick besaß nämlich einige Eigentümlichkeiten, welche sehr geeignet waren, die Ironie seiner Untergebenen herauszufordern. Daß man dennoch nicht heimlich über ihn lachte, hatte seinen Grund nur in dem kindlichen Respekt, den man ihm widmete.

Daß er zu allerhand Sonderlichkeiten geneigt sei, war schon seinem Äußeren anzumerken. Er besaß trotz seiner bedeutenden seemännischen Kenntnisse kein sehr geistreiches Angesicht. Mitten in demselben saß das, was der Seemann eine Vorlukennase nennt. Sie war höchst vorwitzig nach oben gerichtet und war durch einen Faustschlag, den der gute Kapitän in seiner Jugend erhalten hatte, ansehnlich weit zur Seite getrieben worden, was seiner Physiognomie ein höchst ordnungswidriges Aussehen gab. Ein gewaltiger Schnurrbart ließ dieses Stumpfnäschen doppelt naiv und lächerlich erscheinen, ein Umstand, welcher keine Verbesserung dadurch erlitt, daß Turnerstick einen ungeheuren indischen Schutzhelm als Kopfbedeckung zu tragen pflegte.

In einem Kampfe mit malayischen Seeräubern hatte er das rechte Auge eingebüßt und trug an dessen Stelle ein künstliches. Doch mußte man ihn sehr genau ansehen, um dies zu bemerken.

Kein Mensch hatte ihn jemals anders als in hohen, geteerten Wasserstiefeln gesehen, welche ihm bis an den Leib reichten. Ebenso unvermeidlich war der mit vergoldeten Ankerknöpfen geschmückte Südkarolinafrack, ohne den er gar nicht leben zu können schien. Dazu trug er unendlich hohe Vatermörder, um welche ein knallrotes Halstuch gelegt und vorn in eine riesige Schmetterlingsschleife geschlungen war.

Dazu kam ein goldener Klemmer, welcher an einem breiten, schwarzseidenen Bande hing, eine sehr begründete Vorsichtsregel, denn die Brille konnte sich niemals länger als einen einzigen Augenblick auf dem ihr angewiesenen Posten erhalten. Sie fiel immer wieder herab, und darum war die eine Hand des Kapitäns unausgesetzt und allezeit damit beschäftigt, den herabgefallenen Klemmer wieder auf das unpraktikable Näschen zu quetschen.

Aufrichtig gestanden, war der gute Heimdall Turnerstick ein ganz klein wenig eitel, auch in Beziehung auf sein Schiff, welches stets, so weit thunlich, ein Muster der Sauberkeit und Ordnung war. Das konnte natürlich auch auf sein Äußeres nicht ohne Einfluß sein.

Seine Sprachkenntnisse reichten für seine Bedürfnisse vollständig aus. Mehr konnte nicht von ihm verlangt werden. Und dennoch gab es einen, welcher in ihm ein wahres Sprachgenie erblickte, und dieser eine war – – er selbst.

Er hatte alle möglichen Küstenländer angesegelt und überall einige Worte der betreffenden Sprache mit davon genommen. Diese Reiseergebnisse lagen in seinem Kopfe so wirr durch einander wie ungefähr die Trümmer eines verunglückten Eisenbahnzuges. Dennoch war er vollständig überzeugt, so einige Dutzend Sprachen und Dialekte zu beherrschen, und brachte bei jeder passenden Gelegenheit diese unglückseligen philologischen Trümmer herbeigeschleppt. Wehe demjenigen, der es wagte, darüber zu lächeln! Er hatte es für immer mit dem Kapitän verdorben und wurde niemals wieder zu Gnaden angenommen.

Heut befand sich Heimdall Turnerstick in einer wahrhaft rosigen Stimmung, und er hatte allen Grund dazu. Unter seinen Füßen lagen die Planken des schnellsten Klipperschiffes, welches er jemals befehligt hatte. Ein prächtiger Backstagswind füllte die Segel. Der Horizont lag als scharf gezeichnete Linie auf der See, und der Himmel lächelte wolkenlos auf die frohen Gesichter der Mannen herab.

Dazu kam, daß man sich dem Hafen nahe befand und daß der Kapitän Kajütengäste bei sich führte, die es verstanden hatten, sich sein ganz besonderes Wohlwollen zu erwerben. Er hatte sie in Singapore aufgenommen und sollte sie nach Kanton bringen.

Das waren prächtige Tage für ihn gewesen. So eine Unterhaltung hatte er seit Jahren nicht an Bord haben können. Die drei Passagiere paßten zu ihm wie Brüder, und die Absicht, welche sie nach Kanton führte, war ihm so sympathisch, daß er beschlossen hatte, sich nicht allsogleich von ihnen zu trennen. Er konnte ihnen eine längere Zeit widmen, denn sein Steuermann war höchst zuverlässig; ihm durfte er das Schiff und die Besorgung aller Angelegenheiten ruhig anvertrauen.

Diese drei Passagiere waren Fritz Degenfeld, der bisherige Student, genannt der blaurote Methusalem, sein Wichsier Gottfried Ziegenkopf, stets Gottfried von Bouillon geheißen, und endlich Richard Stein, der Gymnasiast, welcher sich unterwegs befand, um die chinesische Erbschaft anzutreten.

Sie saßen miteinander auf der Kampanje und schauten vergnügt nach dem vordern Horizonte, an welchem sich mehrere Segel sehen ließen. Aber eigentümlich war die Ordnung, in welcher sie saßen. Die drei Feldstühle, auf denen sie Platz genommen hatten, standen nämlich nicht nebeneinander. Das wäre dem guten Gottfried gegen alle gewohnte Subordination gewesen. Er war jahrelang hinter seinem »Methusalem« hergelaufen und konnte es unmöglich zugeben, daß jetzt eine andere Ordnung eingeführt werde. Darum saß er in der altgewohnten Entfernung von drei Schritten hinter ihm und hielt die Wasserpfeife, deren Schlauchspitze der Student im Munde hatte, in den Händen. Sie war vor der Abreise mit einem neuen Glasballon versehen worden.

Beide, der Herr sowohl wie auch sein Wichsier, waren ganz genau noch so gekleidet, wie man sie daheim in der Humboldtstraße zu sehen gewohnt gewesen war. Richard saß neben dem »Methusalem« und einige Fuß vor demselben der bekannte Neufundländer, welcher es sich also ebenso angelegen sein ließ wie Gottfried, die heimatliche Reihenfolge beizubehalten.

Fritz Degenfeld blies die gewohnten dicken Rauchschwaden aus dem Munde und nickte dem Kapitän freundlich zu, welcher soeben von vorn kam und zu ihnen auf die Kampanje stieg.

»Nun, Kommodore, wie steht's?« fragte er. »Werden wir bald die Küste des himmlischen Reiches zu sehen bekommen?«

»Will es meinen,« antwortete der Gefragte. »Wir werden bereits am Nachmittage vor Hongkong zu Anker gehen. Bald werden sich da vorn die Segel mehren, welche die gleiche Richtung haben.«

»So haben wir eine feine Fahrt gemacht!«

»Unvergleichlich! Wir machen siebzehn Knoten. Das will etwas sagen. In nicht ganz vier Tagen von Singapore bis hierher, das soll dem Heimdall Turnerstick ein anderer nachmachen! Es wird es jeder bleiben lassen!«

»Ja, Sie und Ihr gutes Schiff, da läßt sich etwas erreichen. Ich hätte nicht geglaubt, China so schnell begrüßen zu können.«

»Wissen Sie denn auch, wie man dieses gelobte Land der Zöpfe begrüßt?«

»Nun, wie?«

»Tsching tsching! muß man rufen. Das ist der echt chinesische Gruß.«

»Ach! Sie sprechen wohl auch ein wenig chinesisch?«

Turnerstick setzte den Klemmer auf die Nase, hielt ihn dort fest, weil er sonst gleich wieder herabgefallen wäre, warf Degenfeld einen mißbilligenden Blick zu und antwortete:

»Wie können Sie so fragen! Ein bemoostes Haupt wie Sie hat doch an der Universität ein genug langes Garn gesponnen, um zu wissen, daß man dem Kapitän Turnerstick so nicht kommen darf. Ein wenig chinesisch! Da liegen Sie vor Topp und Takel bei und treiben wohl bis sieben Striche ab! Wenn ich einmal ein Tau in die Hand nehme, so nehme ich es ganz.«

»So sprechen Sie vollständig chinesisch?«

»Natürlich! Wie anders?«

Das war in einem Tone gesprochen, als ob er gefragt worden sei, ob er Wasser trinken könne.

»Das ist mir neu!« gestand Degenfeld. »Sie haben darüber noch kein einziges Wort verloren!«

»Wozu sollte ich davon reden? Von etwas, was sich ganz von selbst versteht, macht man doch kein Geschrei.«

»Nun, desto wertvoller ist mir die Entdeckung, welche ich da an Ihnen mache. Sie haben zugesagt, sich uns für einige Tage anzuschließen. Da ist es für uns natürlich vom größten Vorteile, daß Sie geläufig chinesisch sprechen.«

»Pah! Nicht der Rede wert! Eine wahre Kleinigkeit! Sie haben doch auch chinesisch getrieben, wie Sie mir sagten.«

»Nur zwei Jahre lang.«

»Das ist mehr als genug, denn diese Sprache ist die leichteste, die ich kenne.«

»Und ich habe ihre Erlernung für höchst schwierig gehalten.«

»Da haben Sie freilich ein sehr falsches Segel gesetzt. Sie natürlich müssen mit dem obligaten Latein und Griechisch den richtigen Kurs verlieren. Wem der Kopf mit so klassischer Ware vollgestaut wird, der hat eben zuletzt für das Leichteste keinen Platz mehr übrig. Dann segeln solche überstudierte Leute in der Welt herum und können kein Panzerschiff von einer Heringskuff unterscheiden. Ich sage Ihnen, das Chinesische ist mir geradezu angeboren gewesen. Es ist ganz von selbst gekommen.«

Der »Methusalem« kannte die Achillesferse des Kapitäns. Darum hütete er sich sehr wohl, den geringsten Zweifel hören zu lassen. Er sagte im ernstesten Tone:

»Das kann eben nur Ihnen passieren. Sie sind ein wahrer Walfisch im Meere der Dialekte. Sie schwimmen spielend drin herum und blasen die schwierigsten Paradigmen nur so aus der Nase.«

Turnerstick hielt den Klemmer empor, warf durch denselben einen forschenden Blick auf den Sprecher und fragte sehr ernst:

»Durch die Nase! Soll das etwa eine Hindeutung auf meine Gesichtszüge enthalten?«

»Was fällt Ihnen ein! Ich spreche vom Walfisch, und daß der bläst, das wissen Sie wohl!«

»Ja, und zwar aus der Nase. Sie haben recht. Wie der sich im Wasser wälzt, so wälze ich mich in den Sprachen herum. Und gerad das Chinesische ist mir völlig wurst.«

»Für mich ist es im Gegenteile ein sehr harter Knochen gewesen, an welchem ich mir die Zähne locker gebissen habe. Bedenken Sie nur die Dialekte! Es sind ihrer neun!«

»Da ist wenig genug! So ein Dialekt läuft bei mir hinunter wie ein steifer Grog. Die Hauptsache ist, daß man sich eben an die Hauptsache hält, und das sind im Chinesischen die Endungen.«

»So? Ich bin stets der Meinung gewesen, daß das Chinesische gar keine Endungen habe.«

»Was! Keine Endungen! ja, nun ist's mir freilich sehr erklärlich, daß Sie es trotz zwei voller Jahre zu nichts gebracht haben! Wenn Sie nichts von den Endungen wissen, so ist das gerade so, als wenn Sie ohne Wasser schwimmen oder ohne Flügel fliegen wollen. Ich sage Ihnen, daß ich im stande bin, Ihnen das ganze Chinesische mit allen neun Dialekten in fünf Minuten beizubringen!«

»Unglaublich!«

»Sie werden es gleich glauben müssen. Nennen Sie mir doch einmal die Namen von einigen chinesischen Städten oder Flüssen!«

»Das ist sehr leicht. Da haben wir zum Beispiel Jang-tsekiang, Ma-seng, Pe-king, Hong-kong, Wu-sung – –«

»Halt!« unterbrach ihn der Kapitän. »Das genügt vollständig. Da haben Sie ja gleich fünf Endungen!«

»Endungen? Wohl nicht!«

»Was denn? Sie haben sie ja genannt, ang, eng, ing, ong und ung! Wenn das keine Endungen sind, dann bin ich nicht Heimdall Turnerstick! Diese Endungen sind die wirklichen Kaninchen! Mit ihrer Hilfe schüttelt man das Chinesische nur so aus den Ärmeln. Das ist der wahre Jakob. Die Endungen, die Endungen, die geben den Speck zu den dicken Erbsen. Sie freilich mit Ihrem Griechischen und Lateinischen haben gar keine Ahnung von einer anständigen, brauchbaren und bequemen Endung! Ich glaube, auf allen Ihren Universitäten ist keine einzige ordentliche und mundgerechte Endung zu finden wie so ein chinesisches ing, ang oder ung! Mit fünf solchen Endungen stecke ich ganz China in den Sack. Das werde ich Ihnen in kurzer Zeit beweisen. Da draußen hält ein Kutter auf uns zu. Es ist ein Lotse. Ich werde ihm sogleich das Signal geben, daß er an Bord kommen soll. Dann werde ich chinesisch mit ihm sprechen, und Sie sollen Ihre Freude daran haben. Sie werden sich wundern, daß Sie nicht ganz von selbst auch darauf gekommen sind.«

Er gab den betreffenden Befehl, und bald wehte vom Vortop des Klippers das Zeichen »PT« des internationalen Signalbuches.

Der Lotse sah die Aufforderung und folgte derselben. Er hatte kein chinesisches Boot. Sein Fahrzeug war sehr scharf auf den Kiel gebaut, und der Vorsteven stand fast rechtwinkelig auf. Es führte eine sehr hohe Stenge, horizontal liegendes Bugspriet, Gaffel- und Gaffeltopsegel, Stackfock und großen Klüver. Es war eine Lust, zu sehen, wie schnell und anmutig es herbeigeschossen kam. Es gab den Lotsen an Bord und hielt dann mit der Bedienung von dem Klipper ab.

Der Lotse ging chinesisch gekleidet und trug einen ungeheuer breiten Grashut, welcher sein Gesicht so beschattete, daß es kaum zu erkennen war, auf dem Kopfe.

»Jetzt passen Sie auf!« sagte der Kapitän zu Fritz Degenfeld. »Jetzt geht es los mit dem Chinesischen.«

Er trat auf den Lotsen zu und grüßte:

»Tsching, tsching, tsching – –«

»Insaneness!« unterbrach ihn der Mann grob. »Sagt einfach welcome, Sir! Ein Amerikaner hat es nicht nötig, mit dem chinesischen Zopfe zu wedeln!«

»Ihr seid kein Chinese, loadsman

»Nein. Ich bin ein guter Schottländer aus Greenock am Clyde, wißt Ihr, wo die famosesten eisernen Schiffe gebaut werden. Wir können uns also Eurer Muttersprache bedienen.«

»Ich wollte chinesisch mit Euch reden,« meinte Turnerstick enttäuscht.

»Ach was, chinesisch! Die schlitzäugigen Kerls sind es gar nicht wert, daß man sich um ihre Sprache kümmert. Sorgt lieber dafür, daß ich einen guten Rum zum Willkommen erhalte, sonst gehe ich wieder von Bord, und Ihr könnt Euch dann meinetwegen den Bug an der Lammainsel einrennen.«

Er ging nach der Kapitänskajüte, und Turnerstick mußte ihm wohl oder übel folgen.

»O weh!« sagte Richard Stein. »Da hat er sein Chinesisch leider nicht anbringen können!«

»Ein Glück für uns!« antwortete Degenfeld. »Wir hätten es wohl nicht fertig gebracht, dabei ernst zu bleiben, und dann wäre es um unseren Kredit bei ihm geschehen gewesen.«

»Was er nur mit seinen Endungen wollte!«

»Es dämmert eine leise Ahnung in mir auf; aber die Sache ist so ungeheuerlich, daß ich sie gar nicht für möglich halten kann. Er wird doch nicht etwa ein mit seinen berühmten Endungen versehenes Deutsch sprechen wollen! Das wäre allerdings im höchsten Grade drollig. Und dennoch ist's ihm zuzutrauen. Ich sehe lustige Scenen kommen. Gottfried – – ho su!«

Diese beiden chinesischen Worte bedeuten »gib Feuer!« Seit sich die Drei unterwegs befanden, hatte der Student die beiden anderen in die Lehre genommen. Besonders der Wichsier erhielt seine Befehle und Anweisungen alle in chinesischer Sprache, was manches spaßhafte Mißverständnis hervorgerufen hatte.

»Ki eulh – ich höre!« antwortete er sehr ernsthaft, indem er einen Fidibus aus der Tasche zog, ihn in Brand steckte und sodann seinem Herrn half, die ausgegangene Pfeife wieder anzuzünden. Dann setzte er sich wieder hinter demselben nieder.

Nach kurzer Zeit kehrte der Pilot mit dem Kapitän aus der Kajüte zurück. Er übernahm das Kommando des Schiffes, und Turnerstick hatte also Zeit, sich mit seinen Passagieren zu beschäftigen.

Die Segel, welche rings zu sehen waren, wurden zahlreicher. Weißblaue Rauchstreifen zeigten Dampfer an, welche nach Kanton wollten oder von dort kamen. Die See belebte sich mehr und mehr mit Fahrzeugen, und dann tauchten die Felsenmassen Hongkongs und der anderen vor dem Perlenflusse liegenden Inseln langsam auf.

»Höchst ärgerlich, daß der Lotse kein Chinese ist,« meinte der Kapitän. »Aber wir haben nur noch kurze Zeit zu warten, dann werden wir von Booten förmlich umringt sein und ich kann Ihnen zeigen, wie ich die Sprache der Himmelssöhne beherrsche. Es wird übrigens Zeit, daß Sie Ihre Koffer öffnen.«

»Warum?« fragte Degenfeld.

»Um Ihre chinesischen Anzüge hervorzuholen.«

»Wir haben keine.«

»Was? Sie wollen an das Land gehen und sich mitten in das Treiben der Chinesenstadt begeben, ohne sich nach der Sitte dieses Landes zu kleiden? Sie wollen gerade so gehen, wie Sie hier sitzen, mit der bunten Studentenkappe auf dem Kopfe?«

»Warum nicht?«

»Weil dies grundfalsch ist. Man wird Sie anstaunen und auslachen. Man wird Sie belästigen und einen fremden Barbaren schimpfen. Sie werden allerhand Ärgerlichkeiten erleben und vielleicht sogar in wirkliche Gefahr geraten.«

»Pah! Wer will es mir verbieten, mich so zu kleiden, wie es mir beliebt?«

»Der gesunde Menschenverstand. Wenn Sie China und die Chinesen richtig kennen lernen wollen, so dürfen Sie möglichst wenig verraten, daß Sie kein Chinese sind. Sie kennen dieses Volk noch nicht. Man hat sie gezwungen, uns ihre Häfen zu öffnen, aber sie hassen uns als Fremdlinge, welche mit Gewalt bei ihnen eingedrungen sind. Sie werden als Ausländer nicht einmal im Bereiche der Konsulatgewalt vollständig sicher sein. Begeben Sie sich aber gar darüber hinaus, wie es doch Ihre Absicht ist, so werden Sie nur auf Feinde stoßen.«

»Wollen sehen. Ich habe wenig Lust, aus reiner Angst meine deutsche Abstammung zu verleugnen.«

»Das ist sehr ehrenwert und sehr national gedacht, aber – -hm, streng genommen haben Sie freilich nicht unrecht. Denn selbst wenn Sie sich genau wie ein echter Chinese kleiden, wird man an Ihrer Unkenntnis der Sprache sofort den Ausländer erkennen, während ich für einen Eingeborenen gelten werde. Aber es ist trotzdem besser, wenn Sie sich den hiesigen Gebräuchen fügen.«

»Nun, was das betrifft, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß wir Drei uns auch nach Landessitte kleiden. Zunächst jedoch mag es so bleiben, wie es ist. Wie lange werden Sie von Ihren Pflichten in Hongkong zurückgehalten?«

»Gar nicht. Ich werde dem Steuermann Vollmacht geben. Nur einige kleine Formalitäten sind zu erfüllen, die mich aber kaum eine Stunde lang beschäftigen werden. Den amerikanischen Konsul, welchen ich aufsuchen muß, treffe ich in Kanton.«

»Das ist mir lieb, weil wir uns sonach nicht erst zu trennen brauchen. Ich werde mich nämlich gar nicht in Hongkong verweilen, welches mir gar nichts bietet. Es ist eine auf chinesischen Boden gesetzte europäische Stadt, an welche ich keine Stunde meiner Zeit verschwenden möchte.«

»Mir auch ganz recht. Wir können uns eines Dampfes der China Navigation Compagnie bedienen, aber auch, um uns sofort ins hiesige Leben zu stürzen, auf einer chinesischen Dschunke nach Kanton fahren.«

»Ich ziehe das erstere vor, da ich möglichst schnell dort ankommen möchte. Dann ist es ja noch vollauf Zeit, mit dem chinesischen Drachen anzubinden. Unsere Koffer lassen wir an Bord zurück, da wir uns nicht allzulange in Kanton aufhalten werden.«

Inzwischen hatte sich der Klipper schnell der Mündung des Tschu-kiang (Perlenfluß) genähert. Alle Mannen standen an ihren Plätzen, um die Befehle des Lotsen augenblicklich auszuführen. Das Schiff lenkte in die westliche Lamma-Straße ein, bog um die grüne Insel und steuerte dann dem Hongkong-Kai zu, in das dichte Gewühl der Dampfer, Segelschiffe, Ruderboote und Dschunken hinein. Dort ließ es die Segel fallen, und der Anker ging auf Grund.

»Tsching tsching!« rief Turnerstick, indem er begeistert die Arme ausbreitete, als ob er ganz Hongkong umarmen wolle. »Jetzt sind wir da und werden zeigen, was für Kerls wir sind.«

Der Hafen bot trotz des europäischen Charakters der Stadt immerhin ein genügendes Bild ostasiatischen Verkehrslebens. Von dem wohl 1200 Fuß hohen Viktoriaberge blickte das neben der Flaggenstange stehende Wachthäuschen herab. An seinem Abhange zog sich die Promenade der Kennedyroad hin. Darunter die belebte Stadt mit der von Schiffen bedeckten Bai. Jenseits das chinesische Bergland, ziemlich gut angebaut, und links davon die vielen, sich bis nach Macao hinziehenden, leider kahlen Felseninseln.

Am Landeplatze wimmelte es von Europäern aller Nationen, von Chinesen, Japanesen, Malayen, Hindus, Parsen, Singhalesen, portugiesischen Mestizen und tiefdunkel gefärbten Afrikanern.

Und in der Nähe des Schiffes schossen eine ganze Menge von Kähnen und Flößen durcheinander, beladen mit frischen Erzeugnissen des Landes und allerhand chinesischem Krimskrams. Jeder der Bootsführer wollte der Erste sein, der den Neuangekommenen seine Ware anbot, um den mit den hiesigen Preisen noch Unbekannten die gewöhnliche mehrfache Bezahlung abzunehmen.

Das war ein Schreien, Rufen, Brüllen, Zanken, Fluchen, Loben und Anpreisen, daß einem die Ohren gellten.

»Nur nichts kaufen!« warnte der Kapitän. »Hier wird man riesig übers Ohr gehauen. Am besten ist's, man läßt die Kerls gar nicht heran, sonst wimmeln sie förmlich an Bord, und man ist sein eigener Herr nicht mehr. Ich verstehe, mit diesem Volke zu sprechen. Das sollen Sie gleich sehen.«

Er ließ schnell einige Wassereimer füllen und hart an die Schanzkleidung stellen. Dann bog er sich über die letztere hinaus und brüllte mit laut schallender Stimme in das Bootsgewühl hinein:

»Zurück hier! Wir werdeng nichts kaufang! Fort mit Euch, Ihr Hallunking! Augangblickling fort mit Euch, forteng, forting, fortung! Travaillez, travaillong, travaillang!«

Nicht diese Worte waren es, welche wirkten, sondern seine gewaltige Stimme und seine wilden, drohenden Gesten hatten den Erfolg, daß unten das Geschrei für einige Augenblicke verstummte. Die Blicke der Händler richteten sich erstaunt auf ihn.

»Habt Ihr's gehörengt!« rief er weiter. »Wir können nichts gebrauching! Wir habeng kein Geld. Ihr könnt Euch von danneng trolling!«

Noch waren die erstaunten Kulis still. Sie wußten nicht, was sie denken sollten. Gottfried von Bouillon sah das riesige Sprachrohr in seiner Nähe lehnen. Er ergriff es, hielt es dem Kapitän hin und sagte im ernstesten Tone:

»Alle tausend Teufling, Kapitäng! Da hört mang freiling, daß Sie in den neun Dialecteng etwas los habing. Bitte, das Sprachrohr zu nehmang! Das wird ungeheure Wirking machung!«

»Was höre ich da!« antwortete Turnerstick. »Sie sprechen ja ein ganz unvergleichliches Chinesisch. Sehen Sie, wie schnell meine Lehre von den Endungen gewirkt hat! Gratuliere herzlich! Mit dem Sprachrohre haben Sie recht. Das wird doppelten Effekt machen. Geben Sie mal her!«

Die Bootsinsassen hatten ihre Ruder wieder in Bewegung gesetzt und drängten von neuem herbei. Da hielt Turnerstick ihnen das Sprachrohr entgegen und donnerte sie an:

»Augenblickling halteng, Ihr Schurkang, Ihr Hallunking. Wollt Ihr gleich folgeng und gehorchung! Zurück, zurück mit Euch! Flink, flunk, flank, flink, flink!«

Das Sprachrohr sandte diesen Befehl weit hin über das Wasser. Hunderte wurden aufmerksam auf den Klipper und die sich an denselben drängenden Boote. Turnerstick fühlte, welche Bedeutung seine Person in diesem Augenblicke habe. Er wollte zeigen, daß er auch der Mann sei, seinen Worten Nachdruck zu geben. Darum ergriff er jetzt einen der bereit gestellten Wassereimer nach dem anderen und schüttete den Inhalt derselben auf die Köpfe der zudringlichen Handelsleute.

Diese mußten nun erkennen, daß man hier nichts von ihnen wissen wolle, und zogen sich unter zornigem Geschrei zurück. Geschadet hatte das Wasser ihrer Kleidung nichts. Viele von ihnen trugen nichts als kurze Leinen- oder Kattunhosen, und in Beziehung auf ihr unsauberes Wesen konnte ein solches Sturzbad nur wohlthätig wirken.

Jetzt wendete der Kapitän sich zu Degenfeld und fragte in triumphierendem Tone:

»Nun, Freundchen, was sagen Sie dazu? Bin ich nicht von den Kerls verstanden worden, Wort für Wort und ganz genau?«

»Allerdings,« antwortete der Gefragte ernst. »Ich habe das zu meiner lebhaften Bewunderung erfahren.«

»O, zu bewundern gibt es da nichts. Es ist ganz außerordentlich einfach. Die Endungen sind's, die Endungen allein, mit denen man so etwas fertig bringt. Freilich gehört ein gewisses angebotenes Talent dazu. Wer das aber hat, dem ist das bißchen Chinesisch die reine Buttermilch. Merken Sie sich das! Ich meine es gut mit Ihnen. Wir bleiben ja noch beisammen, und wenn Sie da gut auf mich aufpassen, so werden Sie es in kurzem soweit bringen, daß Sie mit dem Kaiser von Peking in allen Dialekten seines Reiches reden können!«

Da legte der Lotse, welcher dabei gestanden und alles gehört und gesehen hatte, ihm die Hand auf die Achsel und sagte lachend:

»Sir, soll das etwa heißen, daß Sie sich einbilden, chinesisch sprechen zu können?«

»Was beliebt?« fragte Turnerstick schnippisch, indem er den Klemmer empornahm und den Sprecher geringschätzend musterte.

»Ich frage, ob Sie denken, da mit den Kulis chinesisch gesprochen zu haben?«

»Natürlich. Was sonst?«

»All devils! Das ist lustig! Redet der Mann ein Kauderwelsch, daß man meint, es ziehe einem alle Zähne aus, ein dummes Deutsch mit allerlei fing, feng, fung, fang dahinter, und das gibt er für Chinesisch! Da können einem ja alle Haare zu Berge fahren! Mein bester Sir, ich bin so ziemlich der hiesigen Mundarten mächtig, nämlich des Pun-ti, Hakka, Fuh-kian, Fu-tscheu, Nan-tschang und Hoei-tscheu, denn ich treibe mich nun bereits an die fünfzehn Jahre hier herum, aber was Sie da zusammengereimt haben, das würde mir unverständlich gewesen sein, wenn ich nicht zugleich auch nebenbei ein wenig deutsch verstände. Wenn Sie sich mit Ihrem Chinesischen einpökeln lassen und dann die Salzlake weggießen, so bleibt nichts übrig als ein Rippenstück, welches man nicht einmal räuchern kann.«

Turnerstick ließ den Klemmer fallen, spreizte die Beine nach Seemannsart weit aus und öffnete bereits den Mund zu einer geharnischten Entgegnung, da aber schnitt ihm der Lotse dieselbe mit den Worten ab:

»Bitte, keine Rede halten! Ich habe keine Zeit, sie anzuhören. Zahlen Sie mir meine Gebühr, und ich gebe Ihnen meine Quittung; dann scheiden wir in Frieden voneinander.«

»Ja,« stieß der Kapitän hervor, »machen wir uns schleunigst voneinander los, sonst geraten Sie auf Leegerwall und können sich nicht wieder abarbeiten. Wäre ich nicht Kapitän Heimdall Turnerstick, ein Gentleman vom Kopfe bis zur Sohle, so müßten Sie jetzt einen Boxgang mit mir machen, der Ihnen beweisen sollte, daß ich das feinste Mandarinen-Chinesisch nicht nur in dem Kopfe, sondern auch in den Fäusten habe. Ich soll ein Chinesisch reden, welches einem die Haare zu Berge treibt und die Zähne aus dem Munde reißt! Das ist geradezu unerhört! ja, kommen Sie mit mir! Ich werde Sie bezahlen, und dann, wenn Sie es wieder wagen sollten, sich bei mir an Bord erblicken zu lassen, blase ich Sie samt Ihren Dialekten in die Luft, daß Sie in den Wolken hängen bleiben! Warum haben Sie vorhin nicht mit mir chinesisch reden wollen? Weil Sie es nicht können. So ist es! Da ist es Ihnen natürlich ganz unmöglich, einen solchen Sprachgelehrten, wie ich bin, zu verstehen.«

Er ging wie ein beleidigter, seiner Überlegenheit wohl bewußter Held nach der Kajüte ab. Der Lotse folgte ihm und kehrte bald darauf zurück, um das Schiff zu verlassen.

Turnerstick ließ sich noch nicht sehen. Nach Verlauf von fast einer Stunde, während welcher der Steuermann das Bergen der Segel und anderes Notwendige angeordnet und beaufsichtigt hatte, hielt Fritz Degenfeld es doch für geboten, einmal nach dem Beleidigten zu sehen.

Eben als er an die Kajütenthüre klopfen wollte, wurde dieselbe geöffnet und heraus trat – – ein Mann, den der Student für einen Vollblutchinesen gehalten hätte, wenn nicht der goldene Klemmer gewesen wäre, welcher demselben soeben von dem schiefen Stumpfnäschen herabrutschte.

»Kapitän!« rief Degenfeld. »Fast hätte ich Sie nicht erkannt!«

»Nicht wahr!« antwortete Turnerstick, indem er eine höchst befriedigte, selbstgefällige Miene zeigte. »Ja, ich bin der reine Chinamann! Nicht?«

»Allerdings! Gerade wie im kaiserlichen Lustschlosse zu Yuan-ning-yuen geboren und erzogen! Lassen Sie sich doch einmal ansehen!«

Er faßte ihn bei den Achseln und drehte ihn nach allen Seiten, um die Verwandlung, welcher Turnerstick sich unterworfen hatte, genau in Augenschein zu nehmen.

»Fein, sehr fein! Meist alles aus Seide!« erklärte der Kapitän, indem er die Obergewänder öffnete, damit Degenfeld auch die Unterkleider sehen könne.

Er trug eine außerordentlich weite Hose aus roter, weiß geblümter Seide, welche unten über den Knöcheln mit breiten Bändern zusammengebunden war, und darüber eine Weste von demselben Stoffe, welche ihm bis auf die Hälfte der Oberschenkel reichte. Darüber kam ein weißes, ärmelloses Hemd von Seide. Dann folgte ein ziemlich enges, schlafrockähnliches, blaues Gewand, welches fast bis zur Erde reichte. Die Ärmel desselben wurden nach unten außerordentlich weit und hingen bis über die Hände herab. Sie konnten als Taschen gebraucht werden, Um die Hüfte war ein langer, golddurchwirkter Gürtel gebunden, dessen Enden bis über das Knie niedergingen. An demselben hingen nebst der Taschenuhr allerlei Futterale mit den verschiedensten Gegenständen, wie man ihrer in China in jedem Augenblick bedarf. Darüber hatte er noch ein weites, burnusartiges Gewand gezogen, welches etwas kürzer war als das vorige. Es zeigte auf grünem Grund rote Raupen und gelbe Schmetterlinge und hatte Ärmel, welche nicht ganz bis zum Ellbogen gingen.

An den Füßen trug er absatzlose rotseidene Schuhe, deren Spitzen weit nach oben gebogen waren. Die Sohlen, welche aus festem, unten mit Leder belegtem Pappdeckel bestanden, waren gut drei Finger breit hoch.

Den Kopf beschützte ein aus Rohr geflochtener und mit einem weichen Stoffe gefütterter Hut, welcher einer riesigen, umgekehrten Schüssel glich. Er war verziert durch einen großen Busch rot gefärbter Pferdehaare und eine aus dünnem, goldig schimmerndem Blech gefertigte Drachengestalt.

An einem über die Schulter gehenden Wehrgehänge waren zwei krumme Säbel befestigt, deren einer etwas kürzer war, während der andere auf dem Boden rasselte.

Und um die Hauptsache nicht zu vergessen, trug er in der Hand einen Fächer, hinter dem er, als er ihn jetzt entfaltete, seinen ganzen Oberkörper wenigstens zweimal verstecken konnte. Dieses notwendige Stück, welches keinem Chinesen fehlen darf, war mit einer blutigen Kriegsscene bemalt, über welcher in goldenen Zeichen eine chinesische Inschrift prangte.

Die Gewänder waren alle von guter Seide. Der Kapitän hatte kein Geld gespart.

»Nun, wie gefalle ich Ihnen?« fragte er.

»Ausgezeichnet!« antwortete Degenfeld. »Aber wo haben Sie denn diese Kleidung her?«

Die Wahrheit zu sagen, mußte Turnerstick nach chinesischen Begriffen einen höchst stattlichen Eindruck machen.

»In Singapore gekauft,« erklärte er. »Dort habe ich mir auch die Aufschrift auf den Fächer machen lassen. Es war gerade noch Zeit dazu.«

»Können Sie sie lesen?«

»Nein. Mit der chinesischen Schrift stehe ich nicht auf bestem Fuße. Bitte, lesen Sie.«

Degenfeld betrachtete sich die Zeichen genau und erklärte:

»Die Chinesen haben kein r; sie sprechen dasselbe wie l aus. Es ist darum schwer, hier die erste Silbe zu enträtseln. Jedenfalls soll man anstatt Tul Tur sagen?«

»Natürlich. Es ist ja mein Name, ins Chinesische übertragen.«

»Ah, da ist der Zweifel gelöst. Die Inschrift lautet also ›Turning-sti-King Kuo-ngan-ta-fu-tsiang‹. Stimmt es so?«

»Ich denke. Können Sie es übersetzen?«

»Ja. Es lautet: ›Turnerstick, der große Generalmajor Excellenz‹. Sind Sie denn des Teufels, Kapitän! Ein Generalmajor wollen Sie sein, und noch dazu ein großer, das heißt doch wohl ein berühmter?«

»Warum denn nicht?« lachte der Gefragte. »So gescheit wie ein chinesischer Generalmajor bin ich allemal.«

»Aber wenn Sie nun beweisen sollen, daß Sie es wirklich sind?«

»Demjenigen, der dies von mir verlangt, werde ich es sofort beweisen, und zwar mit meinen beiden guten Fäusten. Das ist eine Legitimation, welcher sicherlich kein Chinese zu widerstehen vermag. Und was meinen Sie schließlich nun zu diesem da?«

Er lüpfte den Hut ein wenig, und sofort schlängelte sich ein allerliebster Zopf herab, welchen er bisher unter demselben verborgen hatte.

»Ein Pen-tse,« lachte der Student; »wahrhaftig ein richtiger Pen-tse, ein Zopf, wie er im Buche steht. Wie haben Sie ihn denn befestigt?«

»Er hängt an einem äußerst feinen, fast unsichtbaren Netze, welches ich über mein eigenes Haar ziehe. Sie sehen, daß ich vollständig vorbereitet bin, eine Wanderung zu den Himmelssöhnen anzutreten.«

»Wenn Sie dabei nur nicht zu viel wagen!«

»Wagen? Nicht, daß ich wüßte! Kapitän Heimdall Turnerstick weiß stets, was er thut. Denken Sie nur an meine Sprachfertigkeit, an meine Endungen und Dialekte! Was kann mir geschehen? Übrigens bin ich geborener Deutscher und amerikanischer Staatsbürger. Was kann mir geschehen, wenn ich mich als Gentleman betrage? Nichts, gar nichts! Ich habe mir einen Titel beigelegt, damit die Herren Chinesen nicht etwa denken sollen, daß ich nur von Hollundersuppe lebe. Was können sie dagegen haben? Und wenn ich mich den Kaiser von Lappland nenne, so müssen sie es sich gefallen lassen! Also ich bin zum Aufbruche bereit. Will nur dem Steuermann noch einiges sagen. Wie steht es mit Ihnen? Haben Sie Ihre Vorbereitungen getroffen?«

»Große Vorbereitungen habe ich nicht zu treffen. Wenn Sie mit dem Steuermann fertig sind, werden wir drei uns Ihnen anschließen können. Gepäck nehmen wir ja nicht mit; also sind wir schnell bereit.«

»Nun, ganz so schnell, wie Sie denken, wird es doch nicht gehen. Da kommt das Polizeiboot, dessen Insassen wir Rede und Antwort zu stehen haben. Ein Glück, daß wir nicht aus einer verseuchten Gegend kommen und keine Kranken an Bord haben, sonst würde man uns zu einer Quarantäne zwingen, welche bis zehn Tage währen könnte. Eigentlich hätte uns dieses Boot schon weit draußen ansegeln sollen.«

Das Boot legte an, und der Polizeikommissar kam mit dem Arzte und einem Unterbeamten an Bord. Das waren Engländer, denn Hongkong ist ja englische Besitzung. Sie erstaunten nicht wenig, als Turnerstick sich ihnen als Kapitän vorstellte; aber als sie einige Redensarten mit ihm gewechselt hatten, erkannten sie, wes Geistes Kind er sei, und gaben sich Mühe, ihre amtlichen Fragen in ernster Höflichkeit an ihn zu richten. Sie fanden alles in Ordnung, und da der Steuermann alles Weitere zu besorgen hatte, so stand, als sie sich entfernt hatten, dem wackern Heimdall nichts im Wege, an das Land zu gehen.

Während der letzteren Verhandlung war es dem Besitzer eines der vielen Boote, welche sich vorhin herbeigedrängt hatten, doch gelungen, am Fallreep anzulegen und an Bord zu kommen. Er war ein alter Chinese in schmutzigem Gewande, barfuß und mit einem riesigen Binsenhute auf dem Kopfe. Hinten hing ihm ein mageres, kurzes Zöpfchen wie ein Rattenschwanz herab, und vorn balancierte eine riesige Brille auf dem mongolischen Stumpfnäschen. Als er bemerkte, daß der Kapitän ihn zornig fortweisen wollte, kam er ihm zuvor, indem er ihn in höflichem Tone und zwar in dem hier gebräuchlichen Pitchenenglisch fragte:

»Money, money! To want You money? I am money-exchanger; to be banker. I will exchange!«

Er hatte einen Teil der Unterredung Turnersticks mit den Beamten mit angehört und wußte also, daß der Kapitän trotz seiner kostbaren chinesischen Kleidung kein Eingeborener sei. Sein Anerbieten beseitigte sofort den Unwillen Turnersticks, welcher überzeugt war, daß ein wenig Kleingeld in der Tasche stets von Vorteil sei. Darum hellte sich die finstere Miene des Kapitäns auf; er zog einen langen, dicken, wohlgefüllten Lederbeutel aus der Tasche seiner weiten Hose, öffnete ihn, nahm ein Geldstück heraus und sagte – aber nicht etwa englisch, o nein, denn er wollte ja als Chinese gelten:

"ja, ja! Ich brauching Moneteng, kleinang Moneteng. Wechslung Sie mir eineng Dollaring!«

Er hielt das Geldstück dem Wechsler entgegen. Dieser öffnete die Augen doppelt weit, starrte ihn ob dieses Chinesisch ganz betroffen an und antwortete:

»I can not to understand. I shall exchanger this dollar?«

»Ja, yes, oui! Ich habing doch deutling genung gesprocheng!«

Der Chinese schüttelte dennoch leise den Kopf; aber da er wenigstens das Yes verstanden hatte, so erkundigte er sich:

»Which money to wish You?«

Turnerstick wendete sich an den Methusalem, welcher die Szene mit stillem Vergnügen beobachtete:

»Bitte, wie heißt denn eigentlich die hiesige Scheidemünze? Ich will möglichst Kleingeld haben.«

Um die Lippen des Gefragten spielte ein nicht zu unterdrückendes Lächeln, als er antwortete:

»Die kleinste Münze ist die Sapeke, hier Li genannt. Zehn Li sind ein Fen, zehn Fen ein Tschun und zehn Tschun ein Liang.«

Turnerstick bedankte sich mit einem Kopfnicken für die Auskunft und befahl dem Wechsler:

»Gebeng Sie mir Li, lauter Li! Ich will Li, nichts als Li bekomming!«

Dabei gab er ihm den Dollar in die Hand. Der Wechsler blickte drei, vier Male zwischen dem Dollar und dem Gesichte des Kapitäns hin und zurück, öffnete den Mund noch weiter als vorher, zog die Stirn in solche Falten, daß ihm die Brille über das Näschen rutschen wollte, und meinte bedenklich:

»Li, li, li! I have li, li, li!«

Er trat an die Regeling und rief den beiden Burschen, welche in seinem Boote saßen, einige chinesische Worte zu, worauf sie einen Holzkasten heraufgeschleppt brachten, den sie vor ihn hinstellten. Er legte den Zeigefinger an die Nase, machte in halblautem Tone seine Berechnung und öffnete dann den Kasten.

»Gebeng Sie mir für zwei Dollaring, für drei Dollaring!« gebot Turnerstick, indem er noch zwei Dollars aus dem Beutel zog und sie dem Wechsler reichte. Dieser wiederholte die schon erwähnte Grimasse, griff dann in den Kasten und zog drei Schnüre hervor, an welche je 600 Li gereiht waren.

Es sind dies jene chinesischen Scheidemünzen, welche in der Mitte ein viereckiges Loch haben, durch die man die Schnur steckt. Man pflegt sie wie Ketten um den Hals zu tragen.

»Potztausend!« rief der Kapitän. »So viel soll ich bekommeng für drei Dollaring?«

»Yes, yes!« nickte der Wechsler, der zwar nicht seine Worte, desto besser aber seine Miene verstanden hatte. »I am reasonable. Good bye, Sir!«

Er steckte die drei Dollar ein und eilte das Fallreep hinab. Die beiden Burschen folgten ihm mit dem Kasten in derselben Eile. Turnerstick hielt die Schnüre in den Händen und sagte zu dem Methusalem:

»Sollte man es glauben, daß man für drei Dollar so eine Masse von Geld bekommt?«

»Viele Stücke sind es, jawohl,« lachte der Student; »aber Sie hatten noch mehr zu erhalten.«

»Wieviel denn?«

»Drei Dollar geben 1965 Li. Der Mann hat 165 weniger gegeben, was also neunthalb Prozent Gewinn für ihn macht.«

»Neunthalb Prozent in fünf Minuten! Das ergibt für das Jahr über hunderttausend Prozent! Der Kerl muß zurück! Er muß mir mehr zahlen, sonst hänge ich ihn an der Raa auf, daß er baumelt!«

Er trat an die Regeling und rief zornig hinab:

»Wolleng Sie sofortong wieder heraufkomming, Sie Schurkung, Sie Spitzbubang! Ich kann höchstenfallsing nur zwei Prozentang erlaubeng!«

Aber das Boot war schon vom Schiff gestoßen. Die beiden Bursche ruderten aus Leibeskräften, und der alte Chinese winkte freudegrinsend herauf und antwortete:

»Tsching leao! I have been noble, extraordinary noble. Tsching leao tsching!«

»Da segelt er hin, der Spitzbube!« zürnte Turnerstick. »Hätte ich ihn, wie wollte ich ihn, nämlich verhauen, und zwar mit dem stärksten Tauende! Und dabei ruft er mir noch ein Tsching tsching zu! Wenn der erste Gruß dieses Landes gleich in einem Betruge besteht, so können diese Chinamänner mir alle gestohlen werden. Aber ich will mir diese Lehre zu Herzen nehmen, und es soll mir so etwas gewiß nicht zum zweitenmale geschehen! Aber was mache ich nun mit diesem Gelde? Ich kann es doch unmöglich in den Beutel stecken!«

»Das glaube ich Ihnen gern,« lachte der Student. »Diese Scheidemünze wiegt wenigstens zehn Pfund. Sie müssen die Schnüre um den Hals hängen.«

»Daß sie mich erwürgen! Sind Sie des Teufels?«

»Man trägt sie hier nicht anders.«

»Wirklich?«

»Ja, und wenn Sie für einen echten Chinesen gelten wollen, so müssen Sie sich diesem Gebrauche anbequemen.«

»Gelten wollen!« meinte der Kapitän zornig, wobei er den Klemmer verlor. »Von gelten ist keine Rede. Ich bin ein, ein wirklicher, wahrhaftiger Chinese. Sehen Sie mich doch an! Und denken Sie an meine Sprachkenntnisse!«

»Aber der Wechsler wollte Sie doch nicht verstehen!«

»War auch ganz und gar nicht nötig! So ein Spitzbube soll und braucht mich nicht zu verstehen. Übrigens war ihm das Chinesische vollständig fremd; er sprach englisch, aber wie! Geradezu haarsträubend. Er war ein Hottentotte oder ein Pescherä. Kein Chinesisch kann so deutlich und so einfach sein wie das meinige. Wer das nicht versteht, der hat mitten im Sommer den Kopf und den Verstand erfroren, und kein Chirurg und Physikus kann ihm mehr helfen. Sobald wir an das Land kommen, werden Sie sehen und hören, welche Anerkennung meine Philologie findet. Die achtzehnhundert Li will ich umhängen und dann gehen wir von Bord. Wir wollen unsere kostbare Zeit nicht hier an Deck versäumen.«

Er hing sich die drei Geldschnüre um den Hals und armierte sich mit den Schießwaffen, welche er mitnehmen wollte. Diese bestanden in zwei Revolvern und einer Doppelbüchse. Auch der Methusalem und Gottfried von Bouillon waren mit denselben Waffen versehen, nur daß sie anstatt der Doppelbüchse gute Hinterlader mitgebracht hatten. Die kriegerische Ausrüstung Richard Steins bestand in einem langen Messer und einer Drehpistole. Ein Gewehr verstand er noch nicht zu handhaben.

Die Landebrücke wurde vom Bord aus auf die Höhe des Kais gelegt und dann verabschiedeten sich die vier Abenteuerbeflissenen von der Schiffsmannschaft.

Turnerstick schritt langsam und würdevoll wie ein chinesischer Mandarin hinüber. Ihm folgten die drei andern, ganz genau in derselben Reihenfolge, wie man den Studenten und seinen Wichsier in der Heimat täglich dreimal nach dem »Geldbriefträger von Ninive« hatte hin- und zurückgehen sehen können.

Voran stolzierte der riesige Neufundländer. Er trug wahrhaftig auch hier das große Stammseidel im Maule! Außerdem war ihm eine Art Tornister sattelartig auf den Rücken geschnallt, welcher allerlei notwendige Gegenstände enthielt. An diesem Tornister befand sich ein Futteral, welches bei längeren Touren das Bierglas aufzunehmen hatte.

Hinter dem Hunde schritt in ernster Gravität der Methusalem. Er trug seinen heimatlichen Studentenanzug, hatte beide Hände in den Hosentaschen und die Spitze des Pfeifenschlauches im Munde, dicke Rauchwolken vor sich hinstoßend.

Ihm folgte Gottfried von Bouillon, genau drei Schritte Distanz haltend. Quer über dem Rücken hingen ihm die beiden Hinterlader. In der linken Hand trug er die Wasserpfeife, deren Spitze sein voranschreitender Herr im Munde hatte, und in der rechten Hand hielt er – sollte man es für möglich halten! – seine »Oboe«, welche aber eigentlich ein Fagott war. Das Instrument war aber so überblasen, daß es nur noch quiekende Töne von sich gab, weshalb er es mit dem Namen der höher tönenden Oboe bezeichnete. Der wackere Gottfried war so unzertrennlich von der alten Pfeife, daß es ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, sich zu fragen, ob das Instrument ihm in China nützlich oder lästig sein werde. Er hatte es eben ganz selbstverständlich mit eingepackt, und seinem Herrn war es gar nicht eingefallen, eine Bemerkung darüber zu machen.

Hinter diesem Schild- und Pfeifenträger kam Richard Stein. Er trug die grüne Gymnasiastenmütze und war in Beziehung auf seine übrige Bekleidung das getreue Abbild des Methusalem, der ihn vor der Abreise in genau denselben »\Wichs« geworfen hatte.

Als sie die Landungsbrücke überschritten hatten, wendete sich Turnerstick nach rechts, wo er das Dampfschiff vermutete, mit welchem sie nach Kanton fahren wollten. Aber der Methusalem rief ihm zu:

»Halt! Wohin, Master?«

»Zum Steamer natürlich,« antwortete der Kapitän, indem er stehen blieb.

»Jetzt noch nicht. Erst muß eins getrunken werden. Wir müssen unsern Einzug feiern. In der Sahara trinkt man Wasser, nämlich wenn man welches hat; im Reiche der Mitte aber muß sich das Spundloch befinden, welches ja bei jedem Fasse in der Mitte liegt. Wollen also sehen, welchen Stoff man hier verzapft!«

»Aber wir verlieren Zeit!«

»Pah! Man verliert überall und bei allem Zeit, beim Fahren und Sitzen, beim Kneipen und Arbeiten, beim Lachen und beim Weinen. Übrigens muß ich unbedingt unseren hiesigen Konsul aufsuchen, um mich ihm vorzustellen und mir verschiedene Auskünfte zu holen. Ich führe euch also nach dem Hongkonghotel, wo ihr warten könnt, bis ich zurückkehre.«

»Well! Ist mir auch recht. Aber wie kommen wir durch dieses Gedränge? Was diese Leute nur von uns wollen!«

»Was sie wollen? Ich will Ihnen mit einem schönen Studentenverse antworten und dabei nur den Namen ändern, nämlich:

›Da kommt ein Untier hergerannt,
Turnerstick wird es genannt,
Und's steht ein Haufe Volks davor,
Wie die Kuh vor dem neuen Thor!‹«

Das Bild, welches er anwendete, war gar nicht so übel gewählt, nur daß er anstatt den Namen des Kapitäns seinen eigenen hätte nennen sollen, da man ihn, Gottfried und Richard weit mehr anstaunte als Turnerstick.

Drei so gekleidete Menschen hatte man hier noch nie gesehen. Sobald sie über die Landebrücke waren, hatten sich alle im Gesichtskreise befindlichen Männlein und Weiblein beeilt, herbei zu kommen und einen Halbkreis um sie zu bilden. Männer in allen Farben und Trachten, untermischt mit schmutzigen Kuliweibern und noch viel schmutzigeren Kindern, standen da und starrten die unerhörten Erscheinungen an. Aber ihr Staunen war ein respektvolles. Man sah, daß sie die drei Personen für ganz besondere, hochstehende Leute hielten, wozu die würdevolle Haltung derselben das meiste beitrug.

Während diese thaten, als ob sie die von ihnen erregte Aufmerksamkeit gar nicht bemerkten, erweckte dieselbe den Stolz des Kapitäns. Er war überzeugt, daß die Bewunderung vorzugsweise ihm gelte, und so kam ihm der Gedanke, sich als hohen Mandarin zu zeigen. Darum sagte er zu den andern:

»Es schickt sich nicht für uns, nach dem Hotel zu gehen. Leute wie wir, mit achtzehnhundert Li um den Hals, müssen fahren oder sich wenigstens eines Palankin bedienen. Dort sehe ich Sänftenträger stehen, mieten wir sie!«

Er deutete auf eine Gruppe von Kulis, welche mit ihren Sänften in der Nähe hielten.

»Habe keine Lust,« antwortete der Methusalem. »Bin so lange auf dem Schiffe gewesen, daß ich mich ordentlich darauf freue, mir die Beine einmal vertreten zu können.«

»So fehlt es Ihnen an der standesbewußten Segelkunst. Was mich betrifft, so bin ich Generalmajor und laufe nicht.«

»Ganz wie Sie wollen, Sir. Lassen Sie sich also vorantragen! Wir folgen Ihnen zu Fuße und treffen Sie im Hotel.«

»Schön! Sie werden sich selbst die Schuld zuzuschreiben haben, wenn man Sie dann nicht mit der Hochachtung behandelt, welche uns gebührt.«

Der Methusalem antwortete nicht darauf. Er fragte einen der Kuli nach dem Hongkonghotel, und als er auf die in englischer Sprache ausgesprochene Erkundigung eine in derselben Sprache gegebene Auskunft erhalten hatte, schritten die drei mit dem Hunde in der bisherigen Reihenfolge davon.

Dabei spielte um die Lippen des Studenten ein eigenartiges Lächeln. Er war vielleicht der Ansicht, daß er zu Fuße das Hotel wohl besser erreichen werde als der Kapitän in seiner Sänfte. Und daß er sich da nicht geirrt habe, sollte er schon nach wenigen Augenblicken erkennen.

Turnerstick war nämlich zu der Gruppe der Kulis getreten und hatte zu zweien derselben, welche die hübscheste Sänfte besaßen, gesagt:

»Was kosting es, mich von hier bis zum Hotelung Hongkong zu trageng?«

Sie sahen ihn verwundert an, schüttelten die Köpfe und einer antwortete:

»Yes, Sir; You are in Hong-kong.«

Er hatte nur das Wort Hongkong verstanden und war der Ansicht, Turnerstick wolle wissen, ob er sich in Hongkong befinde. Daß er ihn Sir nannte, war ein sicheres Zeichen, daß er ihn trotz der chinesischen Kleidung nicht für einen Sohn der Mitte hielt. Das erregte den Zorn des Kapitäns; er setzte den Klemmer auf sein Vorlukennäschen, warf dem Kuli durch denselben einen möglichst impertinenten Blick zu und sagte:

»Ich muß mir ausbitting, daß Ihr mit mir chinesisch sprechengt! Ich bin ein Mandaring der obersten Klassong und habe keine Lust, fremde Dialekting zu duldung! Also was habe ich von hier bis ins Hotel zu zahleng?«

»Hotel?« fragte der Kuli, welcher jetzt dieses eine Wort verstanden hatte.

»Ja, Hotel Hongkong.«

»Ah, we shall to bear to Hong-kong-Hotel?«

»Ja, dorthing will ich getrageng seiang. Wieviel habeng ich dafür zu bezahlong?«

Da er bei dem »Ja« zustimmend nickte, so wurde er verstanden. Bei seiner letzten Frage machte er die Pantomime des Geldzählens, welche in aller Herren Länder ganz dieselbe ist. Darum wußte der Kuli, was er meine, und antwortete:

»Fifteen Fen or Candarins.«

»Fünfzehn Fen sind hundertfünfzig Li, also eine ganze Mark; das ist zu viel!« brummte der Kapitän vor sich hin. Und laut setzte er hinzu: »So viel zu bezahling kann mir nicht einfalleng. Ich bin chinesischer Mandaring und lasse mich von keinem Kuli überteuerong. Ihr sollt hundert Li bekommung, aber keinen Pfennig mehr!«

Er knüpfte eine der Schnüre auf, zählte hundert Li ab und gab sie dem einen der Kuli. Dieser zählte nach, schüttelte den Kopf und sagte:

»Hundred-fifty Li, not hundred!«

»Ich gebe hundert; dabei hat's zu bleibing,« beharrte Turnerstick.

Der Kuli sah aus der Miene des Kapitäns, was dieser meinte, und entgegnete:

»Sir, do You are a miser, a niggard, a churl?«

»Was, ich solling ein Geizhals seiung? Ein Knicker? Das ist stark! Das ist im höchsteng Grade beleidigingd! Gebt mir mein Geld zurück! Ich werde mich von andern trageng lassung!«

Er rief das so laut und zornig, daß die zahlreichen Zuschauer sich in Erwartung einer Szene näher herandrängten, Die beiden Kulis wechselten einige halblaute chinesische Sätze, musterten Turnerstick noch einmal, und zwar genauer als vorher, und wollten ihm dann Bescheid sagen. Er aber kam ihnen zuvor, indem er, um ihnen zu imponieren, seinen riesigen Fächer öffnete und, auf die goldenen Zeichen deutend, sie anherrschte:

»Solltet ihr mir nicht anseheng, wer ich eigentlich bing, so lest hier meine Visitingkartong! Turningsticking, kuo-ngan-ta-fu-tslang! Ich bing Generalmajoring! Verstanding? Euch soll der Teufling holang, wenn ihr nicht pariereng wollt! Ihr tragt mich für hundert Li, sonst werde ich euch bei den Ohreng nehmang!«

Um dieser seiner Drohung Nachdruck zu geben, faßte er den Kuli beim Ohre und schüttelte ihn. Die Umstehenden ließen ein Gemurmel des Unwillens hören. Der Kuli aber beruhigte sie mit einigen chinesischen Worten, welche Turnerstick nicht verstand, und sagte unter einer tiefen Verbeugung zu ihm:

»Well, hundred Li; get into, Sir!«

Dabei öffnete er die Thür der Sänfte und lud durch eine Handbewegung den Kapitän ein, sich hineinzusetzen. Turnerstick freute sich über den Sieg, welchen er errungen zu haben meinte. Er beachtete die schadenfroh erwartungsvollen Blicke nicht, welche auf ihn gerichtet waren, und stieg ein.

Kaum hatte er es sich auf dem Polstersitze bequem gemacht, so hoben die beiden kräftigen Kulis die beiden Tragstangen auf ihre Schultern. Zugleich sprangen zwei andere Kulis herbei, einer an die rechte und der andere an die linke Seite der Sänfte. Der Boden der letzteren war beweglich; er konnte, wohl der bequemeren Reinigung wegen, nach unten geöffnet werden, indem man rechts und links je einen Haken aus seiner Öse zog. Die zwei letzterwähnten Kulis thaten dies; der Boden der Sänfte klappte nach unten auf; Turnerstick rutschte natürlich nach und kam auf die Beine zu stehen.

»Alle Teufel!« schrie er. »Was soll das heißing? Die Senftang ist anstatt des Bodengs mit einer Fallthür versehang! Ich will – – –«

Weiter kam er nicht, denn die beiden Träger setzten sich, ohne auf ihn zu achten, in Bewegung. Sie rannten nach dortiger Weise in raschem Trabe davon. Turnerstick steckte in der Sänfte und mußte mit traben, er mochte wollen oder nicht; aber sein Brüllen und Zetern war noch aus der Ferne zu hören. Die Zeugen dieses für ihn nicht sehr ehrenvollen Vorkommnisses lachten im stillen über den gelungenen Streich, ohne aber ihre Befriedigung laut werden zu lassen. Man mußte ja so thun, als ob der Unfall des »Generalmajors« gar nicht bemerkt worden sei.

Jedermann, an dem der seltsame Transport vorüberkam, blieb stehen. Man sah zwei Kulis mit einer verhängten Sänfte daherstürmen, deren Boden niederhing. Unten erblickte man zwei Beine, deren mit rotseidenen Schuhen bekleidete Füße konvulsivisch thätig waren, mit den Kulis gleichen Schritt zu halten. Dabei brüllte der unglückliche Besitzer dieser Beine in einem fort.

»Halt, Halt! Wollt ihr gleich anhalteng! Donner und Doria! Ich kann nicht mehr laufing; der Atheng geht mir aus! Halt, sage ich, ihr Schurking, halt, stopp, au – oh – ah!«

Der Anblick dieses eigenartigen Transportes mußte den ernstesten Menschen zum Lachen bringen. Ein Haufe Jungens und sonstiger müßiger Leute rannte schreiend, johlend und pfeifend hinterher. Am drastischsten wirkten die beiden ernsten Gesichter der Kulis, welche so große Eile zeigten und dabei gar nicht thaten, als ob sie wüßten, daß ihr Passagier zum Laufen gezwungen sei.

Sie mußten auch an dem Methusalem, Gottfried von Bouillon und Richard Stein vorüber. Diese drei hörten hinter sich die scheltende Stimme ihres Gefährten. Sie blieben stehen und blickten zurück. Da sahen sie, in welcher Lage sich ihr Turningsticking kuo-ngan ta-fu-tsiang befand; aber ehe es ihnen möglich war, einzuschreiten, waren die Kulis mit der Sänfte an ihnen vorübergesaust.

»Herrjott!« rief Gottfried von Bouillon. »Wat war das? Wenn das nicht die Beine unseres Seehelden jewesen sind, so kann ich mir nicht mehr auf meine eigenen Augen verlassen. Und seine Stimme war es auch. Wie kommt er dazu, in dieser Weise an uns vorüberzujondeln?«

»Man möchte allerdings seinen Augen nicht trauen,« antwortete der Methusalem. »Turnerstick war es; es ist kein Zweifel möglich. Wie aber ist er in diese lächerliche Lage gekommen? Pyramidale Blamage!«

»Dat is richtig. So eine Palankin-Spinde zu bezahlen und dennoch laufen, dieser Jedanke ist jrad so bodenlos wie die Sänfte selber. Ich habe mal einen Elefanten jesehen, welcher in ähnlicher Weise transportiert wurde. Bei so einem Tiere hat das seine Jründer, bei einem Menschen aber ist es jrundlos zu nennen.«

»Wer weiß, welche Dummheit er begangen hat. Wir werden es ja hören. Wollen uns beeilen, damit er nicht etwa im Zorne noch ärgeres unternimmt.«

Sie schritten schneller aus als bisher und nahmen sich nicht Zeit, auf die Aufmerksamkeit, welche sie erregten, zu achten. Glücklicherweise lag das Hotel in ziemlicher Nähe.

Hongkong hat keine guten Gasthäuser. Das Einkehrhaus gleichen Namens ist das einzige, welches einigermaßen die Bezeichnung Hotel verdient; aber es ist doch nur ein riesiger Kasten, in welchem man sich nicht wohl zu fühlen vermag. Die Zimmer sind ohne allen Komfort; alles andere läßt ebenso zu wünschen übrig, und dennoch hat man ganz außerordentliche Preise zu bezahlen.

Hongkong heißt bei den Chinesen Hiang-Kiang und ist eine bergige Insel, welche rechts vor dem Eingange des Mündungsgolfes des Tschu-kiang liegt. Es besitzt einen der besten Hafen des chinesischen Reiches und kann als das englische Gibraltar des Ostens angesehen werden. Die Hauptstadt ist Viktoria. Sie ist fast ganz europäisch gebaut, hat breite Straßen, schöne große Häuser, großartige Warenspeicher und elegante Villen. Derjenige, welcher chinesisches Leben kennen lernen will, wird sich hier nicht verweilen, sondern die erste Gelegenheit benutzen, nach Kanton zu gehen, was ja auch die Absicht des »blauroten Methusalem« war.

Als dieser mit seinen Begleitern das Hotel erreichte, hörten sie aus dem Innern die laute, zornige Stimme Turnersticks erschallen. Sie traten in die Restaurationsstube und sahen da den Kapitän, umgeben von dem Wirte, dessen in langen, blauen Gewändern steckenden Kellnern und mehreren Polizisten. Diese letzteren stammen meist aus Vorderindien, tragen dunkelblaue Uniformen und rote Turbane und sind mit kurzen Keulenstäben bewaffnet.

Diese Leute hörten die Erzählung des Seemannes an, konnten aber nichts verstehen, da er nicht dazu zu bringen war, englisch zu sprechen. Er war nun einmal darauf versessen, sein Chinesisch hören zu lassen, und da keiner von ihnen deutsch verstand, so konnten sie sich unmöglich in den vorgebrachten Unsinn finden. Darum war er froh, als er die drei Ankömmlinge erblickte. Er stieß die ihm im Wege stehenden beiseite, eilte auf den Methusalem zu und sagte:

»Es ist unerhört, wirklich unerhört! Erst zwingt man mich, in der wohlbezahlten Sänfte zu laufen, und dann, als ich mich darüber beschweren will, kann kein einziger dieser Eingeborenen chinesisch verstehen. Es ist geradezu zum Verzweifeln!«

»Sie irren sich, Kapitän, wenn Sie diese Leute für Eingeborene halten,« belehrte ihn der Angeredete. »Sprechen Sie doch englisch, so wird man Sie verstehen.«

»Englisch? Fällt mir gar nicht ein! Wenn ich mich in China befinde, so bediene ich mich der Sprache des himmlischen Reiches. Ich kann verlangen, daß man mich versteht, mich, einen Mandarin von achtzehnhundert Sapeken!«

»Sie sind noch nicht in China, sondern in England, Hongkong ist englische Besitzung.«

»Das weiß ich wohl; aber ich verlange, daß man auch hier sich meiner Sprachkenntnisse erfreue. Wissen Sie, was mir passiert ist?«

»Ja.«

»Nun, was?«

»Es hat Ihnen beliebt, in einer Portechaise Dauerlauf zu üben.«

»Beliebt? Wollen Sie mich auch noch foppen? Gezwungen hat man mich, hinterlistig gezwungen!«

»Und Sie haben sich nicht gewehrt?«

»Konnte ich mich etwa wehren?«

»Warum nicht?«

»Weil man mir den Kopf eingestoßen hätte, wenn ich nicht mitgelaufen wäre. Ich nahm vergnügt in der Sänfte Platz; da schwand der Boden unter mir, und ich geriet mit den Beinen in die Unterwelt. Das wäre noch gar nicht schlimm gewesen, denn der Boden konnte leicht wieder eingehakt werden; aber anstatt das zu thun, rannten die Kerls wie besessen von dannen, und mir blieb nichts anderes übrig, als mitzurennen.«

»Vielleicht haben die Leute gar nicht bemerkt, daß Sie aus dem oberen Stockwerke ins Parterre geraten waren?«

»Oho! Die haben es gar wohl gewußt. Ich wollte ja stehen bleiben; sie schoben aber aus Leibeskräften; ich bekam Stoß auf Stoß. Mein Kopf brummt mir noch jetzt wie eine Baßgeige; mein Rücken muß in allen Farben schillern, und in den Beinen habe ich eine Empfindung, als ob ich auf dem hohen Turmseile tanzte. Mir zittern alle achtundneunzig Glieder; es ist mir ganz schwindelig zu Mute, und der Schweiß marschiert mir in dicken Strömen und Kolonnen vom Leibe. Soll ich mir das gefallen lassen?«

»Sagen Sie mir vor allen Dingen, wo die beiden Kulis sind!«

»Wo die sind? Ja, wo sind sie denn? Ich weiß es nicht.«

»Aber gerade Sie müssen doch am besten wissen, wo sie sich befinden. Sie haben sich ja von ihnen tragen lassen.«

»Tragen lassen! Tragen lassen! Welch eine Schlechtigkeit von Ihnen! Ich sage Ihnen ja, daß ich nicht getragen, sondern gelaufen worden bin! Ich danke für dieses chinesische Reich, wo man hundert Li bezahlen muß, um Sänfte rennen zu dürfen! Das ging so atemlos rasch, daß ich gar keine Zeit fand, einen rettenden Gedanken zu fassen. Ich weiß nur noch, daß ich gebrüllt habe wie ein Tiger; aber geholfen hat es nichts, denn die Kerls verstanden kein Sterbenswort chinesisch. Und als sie endlich hier vor der Thür anhielten, so schütteten sie die Sänfte um, daß ich dick auf die Mutter Erde zu sitzen kam, und rannten von dannen. ›Tsching leao‹ haben sie mir noch zugerufen. Was bedeutet das?«

»Es ist der chinesische Abschiedsgruß.«

»Danke für solchen Gruß! Ich bin natürlich sofort hier hereingegangen und habe nach Polizei und dem Staatsanwalt verlangt. Statt dessen aber kamen diese Blaukittels, welche nichts thun, als die Mäuler aufsperren. Ist das etwa Zucht und Sitte?«

»Nein, jedenfalls geschieht es aus Bewunderung Ihrer Sprachkenntnisse.«

»Wenn das der Fall wäre, so wollte ich es mir gefallen lassen.«

»Leider scheinen diese braven Leute sich noch zu wenig mit der chinesischen Sprache beschäftigt zu haben. Man bedient sich hier vorzugsweise des Pitchenenglisch. Wollen Sie verstanden werden, so müssen Sie englisch sprechen.«

»Leider scheinen Sie da recht zu haben. Aber ist es nicht eine Schande, hier in Hongkong nicht verstanden zu werden? Freilich ist es gerade wie im Deutschen. Der Plattdeutsche kann den Hochdeutschen nicht verstehen, und weil ich nur das reinste Hochchinesisch mit eleganten Endungen spreche, so können sich diese Menschen nicht in meine Linguistik finden. Ich werde mich also des Englischen bedienen müssen, wenn ich Genugthuung haben will. Denn bestraft müssen die Halunken werden, exemplarisch bestraft. Man muß sie mir ausliefern. Ich transportiere sie auf mein Schiff und lasse sie da auspeitschen, daß sie für ewig und noch länger an mich denken sollen!«

Er hatte noch immer im zornigsten Tone gesprochen. Die Polizisten und Hotelbediensteten standen wartend da, neugierig, wie die Angelegenheit sich weiter entwickeln werde. War das Erscheinen des Kapitäns für sie ein ungewöhnliches gewesen, so doch noch viel mehr das Auftreten der drei studentisch gekleideten Personen. Sie wußten nicht, was sie aus denselben machen sollten, doch zeigten ihre respektvollen Mienen, daß sie keine geringe Meinung von ihnen hatten. Sie verstanden zwar nicht die Worte des Methusalem, aber der Ton, in welchem dieselben gesprochen wurden, und seine ernste, selbstbewußte Haltung imponierte ihnen.

Er hielt es für angezeigt, den Kapitän vor Weiterungen abzuhalten. Darum zog er ihn am Arme zur Seite und sagte zu ihm:

»Auf das Auspeitschen wollen wir doch lieber verzichten, mein lieber Freund.«

»Verzichten? Was fällt Ihnen ein! Wenn Sie mich um meine Satisfaktion bringen wollen, so brauchen Sie mich gar nicht Ihren ›lieben Freund‹ zu nennen. Mein Freund ist nur derjenige, welcher in meinem Interesse handelt.«

»Das thue ich ja!«

»So? Inwiefern dient es denn zu meinem Wohle, wenn ich auf die Bestrafung dieser beiden Schlingels verzichte?«

»Insofern, als Sie dabei auf die Gelegenheit, sich abermals zu blamieren, verzichten.«

»Blamieren – – abermals? Habe ich mich denn schon blamiert?«

»Riesig sogar.«

»Oho, Herr Degenfeld! Wie kommen Sie mir vor! Wollen Sie mich beleidigen? Sie würden mich da zwingen, die Angelegenheit durch scharf geschliffene Säbels mit Ihnen auszumachen!«

»Das könnte für Sie nur eine schlimme Wendung nehmen, denn ich darf wohl sagen, daß man mich daheim für den besten Schläger hielt. Ihr hochgeehrtes sterbliches Gehäuse würde jedenfalls eine ebenso intime wie unliebsame Bekanntschaft mit meiner Klinge machen. Zu einem solchen Verfahren ist übrigens nicht der geringste Grund vorhanden, da ich es nicht bös, sondern herzlich gut mit Ihnen meine. Wenn Sie zweifeln, sich blamiert zu haben, so ist nur zu wünschen, daß Sie Zeuge des allgemeinen Aufsehens, welches Sie erregt haben, hätten sein können. Es sah doch gar zu absonderlich aus, Ihre Beine in so angestrengter Thätigkeit zu beobachten. Konnte doch ich selbst mich kaum des Lachens enthalten.«

»So! Also haben Sie mich gesehen?«

»Ja.«

»Und es fiel Ihnen nicht ein, mir zu helfen, mich aus dieser fatalen Lage zu befreien!«

»Natürlich hatte ich diese Absicht; aber ich konnte sie nicht ausführen, da Sie so außerordentlich schnell vorüber waren. Die Kulis haben unbedingt gewußt, daß der Boden der Sänfte offen war; es muß für sie also ein Grund vorhanden gewesen sein, sich so zu verhalten, als ob sie es nicht bemerkt hätten.«

»Natürlich! Die Kerls haben sich für die fünfzig Li, welche ich ihnen abzog, rächen wollen. Ich sollte nämlich hundertfünfzig bezahlen.«

»Ah! Und Sie haben nur hundert gegeben? Sie haben ihnen lumpige dreißig Pfennige abgezogen? War das eines Mandarins, der Sie doch sein wollten, würdig?«

»Etwa nicht?«

»Nein. Ein General geizt nicht mit fünfzig Li. Durch diese übel angebrachte Sparsamkeit haben Sie verraten, daß Sie weder Chinese noch Mandarin sind. Hätte man Sie für einen solchen Beamten gehalten, so hätte man es sicherlich nicht gewagt, Sie Sänfte wandeln zu lassen. Dringen Sie nun auf die Bestrafung dieser Leute, so wird das für Sie jedenfalls fatale Ereignis noch bekannter, als es jetzt ist; man wird Sie behördlicherseits auffordern, sich als Generalmajor zu legitimieren, und da Sie das nicht können, so dürften Sie in eine Lage kommen, die ich wenigstens mir nicht wünschen mag.«

Turnerstick fuhr sich mit beiden Händen hinter die Ohren, um sich da zu kratzen.

»Sapperlot!« brummte er. »Daran habe ich nicht gedacht. Soll ich etwa als Angeklagter vor diesen Tsching-Tschang-Tschongs stehen? Dazu habe ich freilich keine Lust. Lieber will ich die Halunken laufen lassen.«

»Das ist es eben, was ich Ihnen raten will. Sie meinten, es schicke sich nicht für uns, nach dem Hotel zu gehen. Sie sind dennoch nicht nur gegangen, sondern gelaufen. Sie sprachen davon, daß man mich nicht mit der nötigen Hochachtung behandeln werde. Welche Hochachtung hat man denn Ihnen erwiesen? Ich empfehle Ihnen, sich ferner lieber auf meinen Rat als auf Ihre Eingebungen zu verlassen.«

»Ja, nun können Sie wohl dicke thun! Aber es soll mir so etwas gewiß nicht wieder passieren!«

»Dasselbe sagten Sie, als Sie von dem Geldwechsler geprellt worden waren!«

»Hm, ja! Es ist kein angenehmes Tsching-tsching, mit welchem mich das Reich der Mitte begrüßt, aber ich werde den ›Söhnen des Himmels‹ schon noch die Ehrerbietung abzwingen, auf welche ein Mann von meinen Sprachkenntnissen Anspruch hat. Als guter Diplomat will ich auf die Verfolgung der Kulis verzichten. Aber wehe dem Chinesen, dem es einfallen sollte, sich fernerhin einen ähnlichen Spaß mit mir zu erlauben! Ich würde ihn an seinem eigenen Zopfe aufhängen! Also diese Angelegenheit ist erledigt. Was thun wir jetzt?«

»Das, wozu mein Hund uns das Beispiel gibt: Wir trinken eins.«

Das Zimmer, welches auch als Speisesaal benutzt zu werden schien, war ganz nach europäischer Art mit Tischen und Stühlen möbliert. Der Neufundländer war gleich nach seinem Eintritte nach einem der Tische gegangen und auf einen Stuhl gestiegen; das Glas hatte er vor sich hingesetzt. Da saß er nun, mit dem Tornister auf dem Rücken, sah unverwandt in das leere Bierseidel und ließ dabei ein ungeduldiges Knurren hören. Er war vom »Geldbriefträger von Ninive« her gewöhnt, daß das Glas sofort gefüllt werde.

Der Methusalem erklärte den Polizisten, daß man ihrer Hilfe nicht bedürfe, worauf sie sich entfernten. Dann nahmen die vier Reisenden an dem Tische Platz, den der Hund für sie eingenommen hatte. Degenfeld erkundigte sich, ob man Bier bekommen könne, und erhielt eine bejahende Antwort.

»So bringen Sie uns vier gute Schlucke!« befahl er. »Wir haben Durst.«

Die Kellner rannten alle von dannen, um dieser Weisung Gehorsam zu leisten. Nur der Wirt blieb zurück. Er postierte sich in ehrerbietiger Entfernung und verwandte kein Auge von den vier Leuten, deren Herkommen und Lebensstellung selbst ihm ein Rätsel war.

Da trat ein neuer Gast herein, dessen Person ganz geeignet war, die Blicke der Anwesenden auf sich zu ziehen.

Der Mann war nicht hoch, aber so dick, daß er wohl seit Jahren seine eigenen Füße nicht hatte sehen können. Sein Körper war ein ungeheurer Fleischklumpen zu nennen, welcher sich nur langsam fortbewegen zu können schien. Das glatt rasierte, runde Vollmondsgesicht glänzte in dunkler Röte. Ebenso auffällig wie seine Gestalt war seine Kleidung. Er trug Hose, Weste und Jacke von feinem, weißem Linnen. Die letztere war so kurz, daß die gewaltige Halbkugel des Bauches zur vollsten Geltung kam. Die Füße steckten in niedrigen chinesischen Schuhen mit vier Zoll hohen Filzsohlen. Um den Bauch – denn Taille konnte man unmöglich sagen, und von Hüften war auch keine Rede – trug er eine rotseidene Schärpe, aus welcher der eingelegte, kostbare Griff eines malaiischen Kris hervorblickte. Der Schädel bildete eine einzige große haarlose Platte, welche kaum halb von einer kleinen, schwarz und weiß karrierten schottischen Mütze bedeckt wurde, von der zwei lange, breite, ebenso gefärbte Schleifen bis auf den Rücken herabhingen. Zwei lange Flinten, welche sich hinten und deren Riemen sich vorn über der Brust kreuzten, hingen ihm auf dem Rücken. Über die beiden Läufe dieser Gewehre war eine schwarze, wohlgefüllte und sorgfältig zugeschnallte Ledertasche gehängt, und in der Rechten trug er einen chinesischen Sonnenschirm von solcher Größe, daß eine ganze Familie unter demselben Platz finden konnte.

»Goeden dag, mijne Heeren!« grüßte er in breiter, holländischer Sprache. »Het is tijd, dat wij aan tafel gaan!« Das heißt zu deutsch. »Guten Tag, meine Herren! Es ist Zeit, daß wir zu Tische gehen!«

Das war eine ganz eigene Art und Weise, zumal er die Anwesenden dabei gar nicht anblickte und, ohne sie zu beachten, mit kleinen, gewichtigen Blicken auf den nächsten Tisch zusteuerte. Der Wirt schien ihn zu kennen, denn er stürzte dienstfertig herbei, schob unter mehreren tiefen Verbeugungen zwei Stühle zusammen, da der Gast auf nur einem nicht genügend Platz gefunden hätte, nahm ihm die Tasche, die beiden Flinten und den Regenschirm ab und plazierte diese Gegenstände mit zarter Sorgfalt in die Nähe des Gastes.

Über das Gesicht des Methusalem war beim Anblicke und bei dem Gruße dieses Mannes ein heiteres Lächeln geglitten. Er erhob sich, machte eine Verneigung und antwortete. in lustigem Tone:

»Neemt plaats; maakt geene Komplimenten; doet als of gij thuis waart – setzen Sie sich; machen Sie keine Umstände; thun Sie, als ob Sie zu Hause wären!«

Jetzt erst bückte der Dicke zu den Vieren herüber. Er musterte sie einige Sekunden lang, zog dann die haarlosen Brauen zusammen und sagte zu dem höflichen Methusalem:

»Zij zijn een ongelukkige nijlpaard – Sie sind ein unglückliches Nilpferd!«

Dann krachte er seufzend auf die zwei Stühle nieder und gähnte, als ob er die halbe Atmosphäre einschlucken wolle.

»En zij zijn een dick stekelvarken – und Sie sind ein dickes Stachelschwein!« rief der Student ihm lachend zu.

»Zij schaap – Sie Schaf!« antwortete der Dicke verächtlich.

»Zij neushoorn – Sie Nashorn!« warf der Methusalem zurück.

»Zij – zij – zij papegaai – Sie Papagei!« donnerte der Dicke.

»Zij hooi-hofd – Sie Heukopf!« lachte Degenfeld.

Da stand der Dicke auf, streckte beide Fäuste vor und brüllte mit überschnappender Stimme:

»Zij dor vlammetje, zij droogen kleermaker – Sie dürres Streichhölzchen, Sie trockener Schneider. Zij – zij – zij – – –«

Er kam nicht weiter. Der Neufundländer hatte das feindselige Verhalten des Dicken bemerkt, war von seinem Stuhle gestiegen und kam langsam auf ihn zugeschritten. Bei ihm angekommen, richtete er sich auf, legte ihm die Pfoten auf die Achseln, zeigte die Zähne und knurrte ihm warnend in das rote Gesicht, als ob er sagen wolle:

»Du, nun ist's genug, sonst bekommst du es mit mir zu thun!«

Dem Bedrohten blieb das beabsichtigte Schimpfwort im Munde stecken. Er ließ sich auf seine Stühle niedersinken, wodurch der Hund wieder vierfüßig zu stehen kam, und rief wider alles Erwarten dem Wirte zu:

»Ik heb honger; gevt mij eene soep en kalfsvleesch – ich habe Hunger; geben Sie mir eine Suppe und Kalbfleisch!«

Das sah so komisch aus und klang so drollig, daß die vier anderen in ein lautes Gelächter ausbrachen. Der Hund zog die Oberlippe in Falten, als ob er in dieses Lachen einstimmen wolle, und kehrte schweifwedelnd zu seinem Herrn und auf seinen Stuhl zurück. Als der Dicke sich nicht mehr von dem Tiere bedrängt sah, wendete er sich um und rief in zornigem Tone.

»Mijne heeren, ik zoude mij schaamen, zoo dom de lagchen. Eet gij liefst een vleesch of en eyeren-koek; dit is buiten twijfel beter dan dit ondeugende foeikzen – meine Herren, ich würde mich schämen, so dumm zu lachen. Essen Sie lieber ein Fleischernes oder einen Eierkuchen; dies ist ohne Zweifel besser als dieses nichtsnutzige Feixen!«

Diese geharnischte Rede hatte nur ein vermehrtes Gelächter ,zur Folge, was den Dicken so erboste, daß er, vorher tief Atem holend, die Lachenden mit wahrer Donnerstimme anfuhr:

»Mijne heeren, gij zijt slecht, gij zijt slechter, gij zijt de allerslechtsten; gij zijt myne vyanden; gij – gij – gij zijt vier zuuren aapen – meine Herren, Sie sind schlecht, Sie sind schlechter, Sie sind die allerschlechtesten; Sie sind meine Feinde; Sie – Sie – Sie sind vier saure Affen!«

Es läßt sich denken, daß die Lacher durch diese Donnerworte nicht in eine ernstere Stimmung versetzt wurden.

»Herrlich, herrlich!« rief Gottfried von Bouillon; »dat ist jradezu kostbar; dat ist jöttlich! Sie sind der ausjezeichnetste Mijnheer, der mich jemals vorjekommen ist! Aber ich bitt Ihnen, schonen Sie Ihre fette Konstitution, sonst könnten Sie gar leicht zerplatzen. Man sieht den Leberthran Ihnen schon jetzt aus allen Poren schwitzen!«

Der Holländer wollte auf diese Beleidigung antworten; da aber brachte einer der Kellner ihm die verlangte Suppe, und er zog es vor, dieser seine Aufmerksamkeit zu widmen. Er knurrte nur noch:

»Eene soep is beter dan zoo een bedorven schaap – eine Suppe ist besser als so ein verdorbenes Schaf!«

Er warf dem Gottfried eine verächtliche Handbewegung zu, knüpfte sich die Serviette um den Hals und begann dann, seine Suppe mit so schmatzendem Wohlbehagen zu essen, daß es klang, als ob ein halbes Dutzend »Varken« (Ferkel) am Troge säßen.

Dann wurde das Kalbfleisch gebracht. Er griff mit beiden Händen nach dem Teller, roch die Portion prüfend an, gab durch ein freundliches Nicken zu erkennen, daß der Duft ihm behage, und befahl:

»Gevt mij een stuk ossevleesch met erwten en zuurkool -geben Sie mir ein Stück Ochsenfleisch mit Erbsen und Sauerkraut!«

Den vier Zuschauern war es zweifelhaft, ob man hier in China Erbsen oder gar Sauerkohl bekommen könne. Der Holländer schien aber die Leistungen der Hotelküche genau zu kennen, denn eben als er das Kalbfleisch verzehrt hatte, wurde ihm der verlangte zweite Gang gebracht. Er beroch auch diesen, nickte wieder freundlich und bestellte:

»Gevt mij een gebraden varkenvleesch met mierook en gebaken peeren – geben Sie mir Schweinebraten mit Meerrettich und gebackenen Birnen!«

Als auch dies dann gebracht wurde, verlangte er »hamelsbout met salade«, Hammelsbrust mit Salat, dann »eend met spinazie en knoflook«, Ente mit Spinat und Knoblauch, später »zeevisch met gebaken pruimen«, Seefisch mit gebackenen Pflaumen. Dann zuletzt begehrte er zum Nachtisch »zeekreeften, boter, kaas en een grooten kelk brandewijn«, Seekrebse, Butter, Käse und einen großen Kelch Branntwein.

Die Portionen waren so reichlich, daß eine einzige derselben hingereicht hätte, einen gewöhnlichen Esser zu sättigen; dieser Dicke aber machte, als er fertig war, ein Gesicht, als ob. er noch immer Appetit verspüre. Er legte die Hände an den Leib und betastete denselben prüfend. Und wirklich schien er eine noch leere Stelle entdeckt zu haben, denn er begehrte nach kurzem Nachdenken noch »een brood met worst en mostaard«, ein Brot mit Wurst und Senf.

Die Mahlzeit hatte ihn so in Anspruch genommen, daß seine Aufmerksamkeit nur ein einziges Mal von derselben abgewichen war. Dies geschah, als den vier anderen Gästen das verlangte Bier gebracht wurde.

Der Methusalem hatte für jeden einen guten Schluck bestellt, infolgedessen der Kellner vier ganz kleine Fläschchen brachte, welche nicht einmal ein drittel Liter faßten. Der dienstbare Geist glaubte, seine Sache gut gemacht zu haben; Degenfeld aber öffnete eines, goß den Inhalt desselben in sein Studentenglas, führte dasselbe an den Mund, leerte es in einem Zuge bis auf die Nagelprobe, setzte es ab und befahl, indem er mit der Zunge schnalzte:

»Nicht ganz übel! Das genügte aber nur zur Probe. Bringen Sie für jeden eine solche Portion! Fünf Personen.«

»Fünf?« fragte der Kellner, welcher nach nochmaliger Umschau nur vier Individuen herausbrachte.

»Ja, ich sage es doch!«

»Aber Sie sind nur vier!«

Wir sind fünf. Dieser da hat auch seinen Durst.«

Bei diesen Worten deutete er auf den Hund. Der Kellner zog eine dumm verwunderte Grimasse und fragte, um ganz sicher zu gehen, in seinem Pitchenenglisch:

»Also zwanzig Flaschen, Sir?«

»Ja doch!«

»Aber, Sir, kennen Sie den Preis des Bieres hier in Hongkong?«

Da stieß der Methusalem sein Glas auf den Tisch, daß letzterer krachte, und wetterte den Frager an:

»Kerl, willst du etwa meine Moneten vorher okularinspizieren? Lauf Philister! sonst brenne ich dir zehntausend Füchse auf den Leib!«

Der Kellner rannte erschrocken fort und zwei andere hinter ihm drein, da er nicht zwanzig Flaschen allein tragen konnte. Sie brachten dieselben. Der Methusalem goß abermals viere in sein Glas, schwenkte dasselbe gegen den Kapitän und sagte:

»Ich komme Ihnen dieses Tröpfchen!«

»Wie? Was?« fragte Turnerstick. »Sie kommen? Mir? Wieso? Das nennen Sie ein Tröpfchen!«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, so hatte der Methusalem schon ausgetrunken. Dieser füllte das Glas von neuem mit vier Flaschen, schob es dem Kapitän zu und antwortete:

»Natürlich ist es nur ein Tropfen. Mir wäre es eine große Schande, ein halbes Tröpflein im Glase zu lassen, Sie kommen mir nach, und ich hoffe, daß Sie sich nicht vor uns und diesen staunenden Kulis blamieren werden!«

»Blamieren? Pah! Sind Sie schon einmal durch eine Seemannsgurgel gekrochen? Da sind Sie gewiß nicht stecken geblieben. Ihr Gläschen macht mir keine Angst. Prosit, mein lieber Freund von Bouillon!«

»Re!« nickte der Namensvetter des Eroberers von Jerusalem.

Turnerstick bewies, daß er nicht zuviel gesagt habe. Er trank das Glas aus. Gottfried nahm es ihm sofort aus der Hand, füllte es für sich und leerte es ebenso wie die beiden anderen.

Der Wirt und die Kellner standen von fern und warfen sich große Blicke zu. Solche Trinker sahen sie noch niemals. Der dicke Holländer hatte, obgleich sehr intim mit seinem »Vleesch« beschäftigt, den Vorgang dennoch bemerkt. Er war ein tüchtiger Esser; jetzt sah er Leute, welche im Trinken wenigstens ebensoviel leisteten wie er im Essen. Das imponierte ihm; das ließ seinen Groll sofort verschwinden. Er fühlte sich getrieben, ihnen seine Anerkennung auszusprechen. Darum erhob er sich von seinen zwei Stühlen, kam herbei, wischte sich mit der Serviette den Mund und sagte:

»Mijne Heeren, gij zijt braave en dappere makkers. Gij drinkt tamelijk goed. Ik ben uw vriend en uw broeder; gij wordt het begrijpen. Ik bidd, gevt mij uwe handen – meine Herren, Sie sind brave und tapfere Gesellen. Sie trinken ziemlich gut. Ich bin Ihr Freund und Bruder; das werden Sie begreifen. Ich bitte, reichen Sie mir Ihre Hände!«

Er schüttelte jedem von ihnen die Hand und kehrte dann an seinen Tisch zurück, um weiter zu essen.

Was Richard Stein betrifft, so wagte er sich nicht an das volle Stammglas. Er ließ sich ein kleineres bringen und eignete sich auch nur eine Flasche an. Gottfried griff augenblicklich nach den drei übrigen, leerte sie in das Glas und trank dasselbe aus, nachdem er vorher sich selbst zugerufen hatte:

»Prosit Magen! Es ist zwar kein Wolkenbruch, doch ein angenehmes jelindes Plätscherchen.«

Dann nahm er seine weiße Mütze, welche wasserdicht gefüttert war, vom Kopfe, legte sie verkehrt, also offen auf den Tisch, gerade vor den Neufundländer hin und goß diesem die letzten vier Fläschchen nacheinander hinein. Der Hund nahm den Gerstensaft mit großem Wohlbehagen zu sich und leckte zuletzt die Mütze sehr sorgfältig aus, welche Gottfried sich wieder auf sein Haupt stülpte, um dann zu fragen:

»So! Jeprobt hätten wir. Wat aberst nun? Wollen wir uns nach so langem Entbehren noch een loyales Seidel leisten?«

»Was fällt dir ein,« entgegnete Methusalem. »Wir befinden uns hier nicht im ›Geldbriefträger von Ninive‹, von welchem aus wir nur um die Ecke zu gehen brauchten, um heim zu steigen. Ich vor allen Dingen muß zum Konsul. Auch habe ich eine Anweisung zu präsentieren und mich mit dem unvermeidlichen Mammon zu versehen. Wartet hier, bis ich wiederkomme! Habt ihr Lust, so trinkt meinetwegen inzwischen noch eins, aber nicht mehr! Ich werde es bezahlen.«

»Halt!« fiel da der Kapitän ein. »Das Zahlen ist meine Sache. Wir befinden uns noch in der Hafenstadt, und ich muß Sie also bitten, meine Gäste zu sein.«

»Habe nichts dagegen,« lächelte der Methusalem. »Aber wird Ihnen nicht die Zeche zu hoch sein?«

»Was denken Sie! Sehen Sie doch meine Schnuren! Die reichen jedenfalls noch wochenlang.«

Der Bemooste ließ ihn bei diesem Glauben und entfernte sich, die Pfeife und auch den Hund zurücklassend, welche er unmöglich mit zum Konsul nehmen konnte. Turnerstick bestellte zu den bisherigen vierundzwanzig Flaschen noch sechs, um eine runde Dreißig zu bekommen. Gottfried rümpfte zwar die Nase dazu, sagte aber nichts, weil der Kapitän der Zahlende war und, um einer allzu schnellen Konsumtion vorzubeugen, zwei kleine Gläser kommen ließ.

Mittlerweile hatte der Holländer seine Mahlzeit vollendet. Er band die Serviette ab, trocknete sich mit derselben das von der Anstrengung des Essens schwitzende Gesicht und machte auf seinen Stühlen eine Wendung, daß er die drei anderen nun gegenüber hatte.

Es war ihm anzusehen, daß er nun ein kleines Gespräch im Interesse der Verdauung für nützlich hielt. Er hatte gehört, welcher Sprache sich die anderen bedienten, und sagte daher in leidlichem Deutsch:

»Ik verzoek – ich bitte, mijne Heeren, sind Sie nicht Deutsche?«

»Ja,« antwortete Gottfried.

»Dachte es mir. Auch ich bin in Deutschland gewesen, als Kommis in Köln am Rhein; damals war ich noch jünger als jetzt.«

»Wahrscheinlich!«

»Nein, wirklich! Damals zählte ich twintig Jaaren, und jetzt bin ich fast vijf en veertig. Damals war ich een ongelukkige nijlpaard, en jetzt bin ich een zwaare (schwerer) Mann mit gezouten (gesalzenen) Erfahrungen. Damals habe ich die deutsche Sprache erlernt, und das freut mich jetzt, weil ich mich mit Ihnen unterhalten kann.«

»Die Freude ist beiderseitig, Mijnheer.«

»Sehr schön! Gefalle ich Ihnen?«

»Außerordentlich!«

»Sie mir auch. Ich bin nämlich Mijnheer Willem van Aardappelenbosch und komme von Java, wo ich Pflanzungen von Ryst (Reis) und Tabak hatte. Ich habe verkauft und will nun sehen, ob ich hier in China etwas Ähnliches finde.«

»Etwas Ähnliches? Warum haben Sie dann dort verkauft?«

»Wegen dem Klima, welches mir schädlich wurde. Ich konnte niet mehr essen und niet mehr trinken; ich schwand zusammen, daß ich jetzt nur noch een Gespenst von früher bin.«

»Hallo! Dann möchte ich Sie früher gesehen haben, Mijnheer von Aardappelenbosch!«

»Jawohl!« seufzte der Dicke, indem er sich mit beiden Händen liebkosend über den Bauch strich. »Damals aß ich für twaalf Männer, jetzt aber esse ich niet mehr für eenen halfen!«

»Schrecklich!«

»Nicht wahr! Ich bin ganz sterfelyk (sterblich) geworden. Was nützt mir mein Zilver (Silber), mein Goud (Gold), mein Rykdom (Reichtum), wenn ich niet essen und niet trinken kann? Nur wer tüchtig essen und trinken kann, darf gelukkig (glücklich) und tevreden (zufrieden) sein. Darum habe ich Abschied von dem dortigen Klima genommen und bin nach China gekommen, um mich wieder dick und fett zu essen.«

»Nun, hoffentlich ist dieses Vorhaben von gutem Erfolge. Aber Ihre Haut, Mijnheer, Ihre Haut!«

»Was ist mit der Haut? Nicht wahr, sie hat ein ganz krankhaftes Aussehen?«

»Das möchte ich nicht behaupten; aber ob sie zulangen, ob sie ausreichen wird!«

»Zulangen? Ausreichen?«

»Ja. Wenn Sie noch dicker werden wollen, so muß sie unbedingt platzen.«

»Platzen? O mijn hemelsche Vader! Da hätten Sie rnijne Haut früher sehen sollen! Die glänzte wie eene rosenrote Speckswarte! Wenn ich niet baldige Beterschap finde, so sterbe ich im Handumdrehen.«

»Und diese Besserung suchen Sie in China?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil mijn Geneesheer sagte, das Klima sei in Java zu südlich. Er riet mir, nach Norden zu gehen, und was liegt im Norden? Doch China! Vielleicht werde ich hier wieder gesund. Früher glich ich im Gesicht der hellen Sonne; jetzt aber bin ich nur noch die reine Maansverduisterung

»So müssen Sie wohl an einer abzehrenden Krankheit leiden?«

»An einer, nur einer? Dann wäre ich ganz glücklich! O nein, ich leide an twintig, dertig, veertig, an hondert verschiedenen Krankheiten.«

»Das ist schlimm. Wo liegen dieselben denn?«

»Wo? Überall!«

»Nun, zum Beispiel?«

Am ganzen Ligcham, im Angezigt, im Oogappel, in de Ooren und de Oorlapjes, im Kinnebak, in de Keel und Gorgel, im Elleboog und in de Vingers, im Maag und zwischen den Ribben, in den Beenen und den Vbetzoolen, in de Long und de Lever, in de Gal und de ganze Romp. Ich schwebe stündlich zwischen Leven und Dood, und nur Essen und Trinken kann mij retten. Ich bin ein elendes Schepse und würde gern honderdduizend Gulden geben, wenn ich einen Offizier van der Gezondheit wüßte, der mich retten kann!«

Er zählte seine Leiden in so traurigem Tone auf, und seine Gestalt stand so in Widerspruch mit diesen Klagen, daß es großer Selbstbeherrschung bedurfte, nicht zu lachen. Gottfried machte sein mitleidigstes Gesicht und fragte in teilnehmendem Tone:

»Glauben Sie etwa, daß die chinesischen Ärzte die Kunst besitzen, Sie herzustellen?«

»Vielleicht. Es ist mijn letzter Versuch, den ich mache. Ich habe gesprochen mit Doktors aus Duitschland, aus Nederland, aus Frankrijk, aus Oostenrijk, aus Spanje, aus Zweden, aus Oostindie, aber keiner hat mij helfen konnt. Jetzt will ich es mit China versuchen. Es soll da Leute geben, welche wahre Wunder wirken.«

»Ich hätte zu anderen mehr Vertrauen. Sie sind jedenfalls nur mit Pfuschern zusammengekommen. Hat man Ihnen Arzneien verschrieben?«

»Alle möglichen Boomen und Heesters, alle Bladen und Bloems, die es nur geben kann.«

»Das war verkehrt. Ein einsichtsvoller Arzt würde das unterlassen haben.«

»Warum?«

»Weil Ihre Krankheit durch solche Mittel nur verschlimmert wird.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Ich? Ich bin ja Fachmann.«

»Sie? Fachmann?«

»Ja, Student!«

»Student? Was studieren Sie denn?«

»Was ich jetzt studiere? Nichts, gar nichts mehr,« antwortete Gottfried, indem er sich in die Brust warf. »Ich habe das nicht mehr nötig, denn ich habe studiert, verstehen Sie, ich habe, habe, habe, also Perfektum; das heißt, ich bin perfekt. Ich habe alles studiert, alles ohne Ausnahme. Ich habe mich auf jedes und alles geworfen und bin schon seit Jahren zur allgemeinen Meisterschaft gelangt. Das soll heißen, ich erfreue mich der außerordentlichsten Omnipotenz. Ich pflanze meinen Kohl wie der reichste Rittergutsbesitzer; ich dirigiere die gefährlichsten Eilzüge wie der erfahrenste Lokomotivführer; ich entwerfe Schlachtenpläne wie der berühmteste Feldmarschall; ich spreche in allen Zungen der Erde wie die Poeten des Erdenrundes am Maifeste; ich schlachte Schweine und Kälber wie der meisterhafteste Metzger; ich halte Parlamentsreden wie ein Palmerston; ich gewinne die verwickeltsten Prozesse, leichter als jeder andere Jurist; ich predige trotz einem Bischof oder Konsistorialrat; ich gerbe alle Häute und Tierfelle, am liebsten mit dem Ziegenhainer; ich baue Brücken über die Thäler und Viadukte über die Flüsse; ich fahre mit dem Luftballon, wohin Sie nur wollen und sogar noch einige Meilen weiter; ich schreibe geognostische Werke über die Algen und Tangen und zoologische Bücher über den Venusdurchgang; ich besohle die Pferde und beschlage die Reiter; ich fertige aus Watte die feinsten Chronometer und bediene mich als Ziergärtner des besten Meißener Porzellans; ich tanze Seil; ich laufe Schlittschuhe; ich heize mir und anderen ohne Holz und Kohlen ein; ich entdecke Naphtha am Nordpole und Eis in Arabien; ich – ich – ich – – nun, ich kann eben alles, alles, alles!«

Der liebe Gottfried hatte sich erhoben und brachte dies alles in so begeisterter Schnelligkeit hervor, daß der Dicke nicht die Hälfte der Lobrede verstand. In solchen Augenblicken pflegte er auf seinen märkischen Dialekt zu verzichten und sich in gutem Hochdeutsch auszudrücken. Dies letztere that er überhaupt stets dann, wenn er imponieren wollte.

Mijnheer van Aardappelenbosch hatte den Mund weit geöffnet und machte Augen, als ob er ein wahres Wunder vor sich sehe. Er hatte der schnellen Rede nicht folgen können und nur das behalten, daß er einen hoch und tief studierten Mann vor sich habe. Aber eins hatte er vermißt, und zwar gerade das, was ihm am liebsten gewesen wäre. Darum sagte er jetzt, als Gottfried ihn erwartungsvoll von oben herab anblickte.

»Solche Schulen sind Sie durch, so außerordentlich viele, Mijnheer?!«

»Ja – freilich!«

»Aber die Medizin, die Medizin, die fehlt!«

»Fehlt? Fällt mir gar nicht ein! Das fehlte noch, daß die fehlt! Die Medizin ist ja gerade mein Lieblingsfach!«

»Wirklich? Ist das wahr?«

»Natürlich!«

»Haben Sie schon kuriert, Kranke gesund gemacht?«

»Und wie! Dem Dalai-Lama habe ich ein Bandwurmmittel gegeben, und als das Tier zum Vorschein kam, war es ein Lindwurm, sehr einfach deshalb, weil ich ihn mit Lindenblütenthee behandelt hatte – – –«

»Wie? Mit Lindeboombloesem?«

»Ja, mit Lindeboombloesem, wie Sie es holländisch nennen. Und dem türkischen Großwesir habe ich den Flamingo operiert. Was sagen Sie dazu?«

»Fla – fla – fla –, was ist das für ein Wesen?«

»Ein Vogel, eigentlich viel größer als ein Storch. Die Ärzte hatten die Krankheit für den grauen Star gehalten; aber als dann ich den Kerl herausgeschnitten hatte, zeigte es sich, daß es ein roter Flamingo war.«

»Das – das verstehe ich niet!«

»Ist auch nicht notwendig. Das ist nur Sache für den Ophthalmologen.«

»Aber so ein großer Vogel!«

»Thut nichts! In leichten Fällen nennt man es bloß Star, in schweren aber Flamingo; das sind die wissenschaftlichen Ausdrücke.«

»Aber, Mijnheer, wenn Sie sich auf solche Kuren verstehen, so können Sie ja wohl auch mir helfen!«

»Mit Leichtigkeit sogar!«

»So kennen und heilen Sie alle Krankheiten?«

»Alle, nämlich wenn der Patient nicht allzu dick ist.«

»Mijn Hemel – mein Himmel! Warum diese Ausnahme?«

»Sehr selbstverständlich, weil es dann ganz unmöglich ist, ihm in das Innere zu blicken.«

»So sagen Sie, wie steht es da mit mir?«

»Sie sind zu fett.«

»Dit Ongelukk! Ich war erst viel dicker als jetzt! So können Sie mij also niet kurieren?«

»Schwerlich! Aber es ist einer da, welcher Ihnen sicher Hilfe brächte, wenn Sie sich an ihn wenden wollten.«

»Wer ist das?«

»Mein Kommilitone, welcher vorhin fortgegangen ist.«

»Der mit vier Flaschen Bier in drei Minuten?«

»Ja, derselbe. Ich heile alles, aber bei so korpulenten Patienten ist er mir doch überlegen. Wenden Sie sich also nur getrost an ihn!«

In diesem Augenblicke ging die Thür auf, und der Methusalem trat herein. Sofort sprang der Holländer auf, eilte auf ihn zu, ergriff ihn am Arme und fragte hastig:

»Mijnheer, wat leert het Woordenboek van mijn maag en van mijne zenuwen?«

Fritz Degenfeld maß ihn vom Kopfe bis zu den Füßen herab, schüttelte den Kopf und antwortete.

»Was das Wörterbuch von Ihrem Magen und Ihren Nerven lehrt? Um da zu wissen, woran man ist, bedarf es gar keines Buches.«

»Sehen Sie, Mijnheer! Habe ich es Ihnen nicht vorherjesagt!« rief Gottfried, jetzt wieder in seine Mundart fallend. »Er weiß eben allens, und zwar janz ohne in dat Wörterbuch zu kieken.«

»Du!« mahnte der Methusalem, ihm mit dem Finger drohend. »Da hast du dich wohl wieder einmal gehen lassen!«

»Nicht die Spur von da! Er ist krank an alle innerliche und äußerliche Extremitäten. Mit die äußerlichen wollte ich's schon gern probieren, aberst zu die innerlichen, was man die internen heißt, kann meine Auskultur nicht jelangen, weil da die sojenannte »Dickt« im Wege steht. Darum habe ich mir erlaubt, den Mijnheer an Ihnen zu adressieren, weil Ihr Blick sojar durch Fleisch und Knochen jeht. Jestatten Sie mich aberst vor allen Dingen, ihm Sie vorzustellen, nämlich Mijnheer Willem van Aardappelenbosch aus Java. Dat Klima hat ihn dort so abjemagert, daß er nach hier jekommen ist, um sich da wieder emporzuessen. Der Offizier van der Gezondheit hat es ihm jeraten.«

»Wirklich?« fragte Degenfeld, sich an den Holländer wendend.

»Ja, Mijnheer,« antwortete dieser. »Ik ben seit einiger Zeit ganz und gar vom Vleesch gefallen.«

»Waren Sie früher noch dicker?«

»Ik was een reus – ich war ein Riese; jetzt aber kann man mij nur mit Mitleid betrachten.«

Er begann, seine Leiden gerade so aufzuzählen, wie er sie vorhin genannt hatte. Degenfeld ließ ihn ruhig sprechen; er merkte sehr bald, wen er vor sich hatte. Dann, als die Aufzählung zu Ende war, fragte er Gottfried:

»Habt ihr euch dem Mijnheer denn auch schon vorgestellt?«

»Namentlich noch keineswegs,« antwortete er; »aberst daß ich ein jroßes Lumen bin, das hat er bereits jemerkt.«

»So will ich diese Versäumnis nachholen. Mijnheer, hier sehen Sie zunächst den jungen Herrn Richard Stein, einen deutschen Gymnasiasten. Neben ihm sitzt unser Freund Turning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang – – –«

»Also ein Chinese! Vorhin sprach er doch deutsch!« meinte der Dicke.

»Von Haus aus ist er allerdings ein Deutscher. Da er aber jetzt aus dem Häuschen ist, so dürfen Sie ihn für einen Chinesen halten. Ferner sehen Sie hier meinen Spiritus familiaris, vom heiligen Femgerichte, eingetragen als Gottfried von Bouillon.«

»Ist das niet een tapperer Ritter?«

»Ja. Vor ungefähr achthundert Jahren hat er einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen unternommen; jetzt aber kriecht er vor jedem Gläubiger zu Kreuze, sintemalen alle ihm zur Zahlung präsentierten Wechsel mit dem schönen Namen Gottfried Ziegenkopf querbeschrieben sind. Was nun mich selbst betrifft, so bin ich einfach der allbekannte Methusalem.«

»Von dem die Bibel verhalt?«

»Ja, von dem die Bibel verzählt, der Sohn Henochs und Vater des Lamech. Da ich aber weder Henoch noch Lamech gekannt habe, so möchte ich zuweilen an mir selbst verzweifeln. In solchen trüben Augenblicken nenne ich mich Fritz Degenfeld und nehme an, daß ich in einem deutschen Brauhause dem irdischen Dasein guten Morgen sagte. Ob Sie mich nun Degenfeld oder Methusalem nennen wollen, ist mir gleich; meine intimen Bekannten ziehen das letztere vor, was ich ihnen aus wohl erwogenen Gründen nicht verdenken kann.«

Mijnheer van Aardappelenbosch sah von einem zum anderen. Er wußte nicht, was er denken solle. Hier ein Patriarch aus dem Alten Testamente und dort ein Ritter aus der Zeit der Kreuzzüge, beide nach einer ihm unbegreiflichen Art gekleidet! Der dritte nun gar ein unechter Mandarin, der Bier wie Wasser trank. Über Richard brauchte er sich den Kopf nicht zu zerbrechen; aber die anderen waren ihm rätselhaft, zumal die Ausdrücke des Methusalem und seines Wichsiers so dunkel waren, daß er den Sinn derselben nicht recht zu erfassen vermochte.

Degenfeld sah ihm das an und erlöste ihn aus seiner Pein, indem er ihm wohlwollend sagte:

»Nicht wahr, Sie können nicht recht begreifen, wen Sie vor sich haben? Sie sollen bald Klarheit haben. Wo wohnen Sie?«

»Hier im Hotel, Miinheer.«

»So nehmen Sie bei uns Platz, denn wir werden auch hier logieren!«

Er schob ihm zwei Stühle zusammen, und der Holländer ließ sich auf dieselben nieder.

»Hier logieren?« fragte Turnerstick. »Das fällt mir nicht ein! Wir müssen ja nach Kanton. Wir fahren mit dem Dampfboote.«

»Das geht wöchentlich nur zweimal. Ich habe mich beim Konsul erkundigt. Das nächste geht erst in drei Tagen ab.«

»Was? Wie? Und so lange sollen wir hier warten?«

»Ja, wenn wir es nicht vorziehen, uns auf einer chinesischen Dschunke einzuschiffen.«

»So thun wir das, wenn wir da auch viel langsamer vorwärts kommen.«

»Nun, eine Dschunke läuft ziemlich schnell, wenn sie guten Wind hat und mit der Flut aufwärts geht. Aber wollen Sie es wirklich wagen, sich einem solchen Fahrzeuge anzuvertrauen?«

»Warum nicht? Fürchten Sie sich?«

»Fürchten, nein, obgleich ich gelesen habe, daß man sich möglichst in acht nehmen solle, da es Dschunken gibt, denen nicht zu trauen ist. Aber ich denke an die Unreinlichkeit, welche uns sehr lästig werden könnte.«

»Pah! Werde die Kerls schon zur Reinlichkeit bringen. Bin ja Mandarin!«

»Wird man das glauben?«

»Will keinem raten, daran zu zweifeln! Wird überhaupt gar niemanden geben, der mich nicht für einen Mandarin hält. Ich mit meiner Kleidung, meiner persönlichen Würde, meinen tiefen Sprachkenntnissen und vortrefflichen Endungen. Wenn ich diesen Menschen mit meinem Kang-keng-king-kong-kung angesegelt komme, so verkriechen sie sich aus lauter Respekt in alle Löcher. Die Hauptsache ist nur, schnell eine Dschunke zu finden.«

»Habe mich auch in dieser Beziehung erkundigt. Mit der morgen Vormittag steigenden Flut segelt eine hier ab. Sie heißt Schui-heu, zu deutsch Königin des Wassers.«

»Schöner Name, der etwas verspricht. Eine Königin muß sauber sein. Unreinlichkeit werden wir also nicht zu befürchten haben. Und da eine Regentin sich nicht wohl mit Gesindel befassen kann, haben wir auch Sicherheit vor sonstigen Unbilden. Was hat sie geladen?«

»Allerlei Artikel. Etwas Spezielles konnte ich nicht darüber erfahren. Ich habe sie übrigens schon gesehen.«

»Sah sie schmuck aus?«

»Recht leidlich.«

»Und haben Sie mit dem Kapitän gesprochen? Das ist ja die Hauptsache.«

»Da haben Sie unrecht, obgleich Sie selbst Kapitän sind. Der eigentliche Kapitän oder Pilot, hier Ho-tschang genannt, hat mit der Ladung, mag dieselbe nun aus Gütern oder Menschen bestehen, gar nichts zu schaffen. Er hat sich allein nur mit der Leitung des Schiffes zu beschäftigen. Wer Fracht aufgeben oder selbst mitfahren will, hat sich an den Eigentümer der Dschunke oder dessen Superkargo zu wenden. Und das habe ich gethan.«

»Schon mit ihm abgeschlossen?«

»Nein, denn ich wußte nicht, ob ich Ihre Einwilligung erhalten würde. Übrigens gefiel mir der Mann gar nicht so recht.«

»Warum?«

»Das kann ich eigentlich nicht sagen. Er hatte ein Gesicht, welches mir Mißtrauen einflößte, und seine allzu große Höflichkeit stieß mich ab.«

»Unsinn! Gesicht! Danach darf man gar nicht gehen. Mancher Schurke hat das einnehmendste Gesicht, und mancher Häßliche ist ein Ehrenmann. Und Höflichkeit muß sein. Ich wollte es keinem Sohne der Mitte raten, es daran fehlen zu lassen. Schließen Sie immerhin ab! Morgen segeln wir. Kennen Sie die Höhe des Passagepreises?«

»Das Fahrgeld wird hier sehr drolliger, aber ganz bezeichnender Weise Schui-kio genannt; das heißt wörtlich »Wasserbeine«. Die Geldstücke, welche man bezahlt, sind die Beine, mit denen man über das Wasser läuft. Der Mann verlangte pro Person nur einen Dollar bis Kanton. Auf dem Dampfer hätten wir das Vierfache zahlen müssen.«

»So segeln wir. Speisung ist nicht dabei?«

»Nein. Man hat hier eben für alles zu sorgen, auch für die Betten.«

»Brauche ich nicht. Schlafe so, wie ich es finde. Soll ich, wenn ich nach China will, etwa vorher zweihundert böhmische Gänse und ebenso viele Gänseriche rupfen und monatelang Federn schleißen, um dann hier von Gänseleberpastete nur träumen zu können, ohne sie wirklich verspeisen zu können? Das – – –«

»Oh!« unterbrach ihn der Holländer, indem er seufzend die Hände auf die Gegend seines Magens legte. »Eene knusperene gebraden gans of eend is klein, maar goed – eine knusperige gebratene Gans oder Ente ist zwar klein, aber gut!«

»Da haben Sie recht!« stimmte der Methusalem bei. »Leider haben wir es jetzt mit einer Dschunke, nicht aber mit einer gebratenen Martinsgans zu thun. Die »Schui-heu« ist das einzige Schiff, welches morgen aufwärts geht. Es fragt sich, ob wir es benutzen wollen. Der Superkargo gefiel mir nicht, aber ich füge mich den anderen Stimmen.«

»Wir fahren,« sagte der Kapitän. »Hoffentlich ist Gottfried nicht dagegen?«

»Ich bin dabei,« meinte der Genannte. »Warum sollen wir hier hocken bleiben. Je eher wir abjondeln, desto eher werfen wir um, und dat ist doch auch eine jewisse Art von Vergnüjen.«

»Ja, Onkel Methusalem,« bat Richard. »Wollen hier nicht unsere Zeit verschwenden. Ich möchte gern sobald wie möglich am Ziele sein.«

»Gut, so werde ich nachher gehen, um die Passage fest zu machen und Lebensmittel einzukaufen, mit denen wir bis Kanton reichen.«

»Das ist meine Sache,« fiel Turnerstick ein. »Sie sind ja hier noch meine Gäste, und ich habe noch siebzehnhundert Li, ein wahres Vermögen für die hiesige Gegend.«

Der Methusalem lachte heimlich in sich hinein und antwortete:

»Wenn Sie darauf bestehen, so müssen wir uns freilich fügen.«

»Natürlich stehe ich fest auf meinem Willen.«

»Ohne Rücktritt?«

»Ohne zurückzutreten. Den Anfang will ich jetzt machen. Also wir logieren bis morgen hier im Hotel?«

»Ja, denn es ist das einzige anständige. Die anderen Gasthäuser sind nur Spelunken.«

»Gut, es wird hier geblieben! Und damit der Wirt sogleich bemerkt, daß er feine Gäste hat, will ich jetzt das Bier bezahlen. Wir haben dreißig Flaschen.«

Auf den Tisch klopfend und sich nach dem Wirte umdrehend rief er.

»Heda, Hoteliering, ich will bezahleng. Was kostang dreißing Flaschong?«

Der Wirt kam langsam herbei. Er hatte Turnerstick, nicht verstanden, verbeugte sich tief und fragte:

»What bid you, Sir – was befehlen Sie, Sir?«

»Bezahleng!«

»I can not understand.«

»Was? Sie könning mich nicht versteheng?« rief Turnerstick zornig. »Das ist mir unbegreifling! Ich drücküng mich doch deutling aus. Passeng Sie nur richting auf! Ich will bezahling!«

Der Wirt schüttelte verlegen den Kopf. Da sprang der Kapitän vom Stuhle auf und schrie erbost:

»Habing Sie keine Ohreng? Ich will bezahlang, bezahleng, bezahling, bezahlong und bezahlung!«

Der Wirt fuhr erschrocken zurück. Sein Gesicht verriet, daß er ratlos sei; darum belehrte ihn der Methusalem in halblautem Tone:

»He will to pay.«

»Ja, to pay, to payeng will ich, payeng, verstandung?« rief Turnerstick. »Aber Li, lauter Li will ich geben.«

Bei diesen Worten zeigte er auf die Geldschnuren, welche um seinen Hals hingen. Im Gesichte des Methusalem war der Ausdruck lustiger Spannung zu bemerken. Der Wirt verstand den Kapitän jetzt; er gab sich Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, und sagte sehr höflich:

»Thirty bottles, Sir? I beg, ten thousand Li!«

Turnerstick prallte zurück, als ob er einen Hieb in das Gesicht erhalten habe.

»Wa-a-a-a-as?« fragte er. »Zehntausend Li?«

»Jawohl, zehntausend Li!« bestätigte der Methusalem.

»Das ist doch nur ein dummer Witz!«

»O nein, Kapitän, es ist Ernst.«

»Unmöglich! Bedenken Sie, zehntausend Li! Das ist ja unbegreiflich!«

»Es ist im Gegenteile leicht erklärlich. Zehntausend Li sind nach deutschem Gelde ungefähr sechzig Mark.«

»Also die Flasche zwei Mark?«

»Ja.«

»Die daheim fünfzehn Pfennige kostet!«

»Wir sind nicht daheim. 'Wir haben deutsches Bier getrunken, irre ich mich nicht, aus der Waldschlößchenbrauerei zu Dresden. Dieses Bier muß den Äquator zweimal passieren. Haben Sie denn noch nie so fern von der Heimat unser Bier gekostet?«

»Nein.«

»Nun, dann ist es eben kein großes Wunder, daß Sie sich um die betreffenden Preise nicht bekümmert haben.«

»Wußten Sie es denn?«

»Ja.«

»Und da verlangen Sie vierundzwanzig Flaschen! Das sind achtundvierzig Mark, die in noch nicht fünf Minuten durch die Gurgel gelaufen sind! Ihr Hund allein hat acht Mark vertrunken; das sind zwei Thaler zwanzig Groschen. Welche Verschwendung, da Sie den Preis gekannt haben!«

Der gute Turnerstick war eigentlich ein sparsamer Mann, wenn auch kein Filz. Sechzig Mark, sage zehntausend Li für Bier, das war ihm doch zu viel; darüber hatte ihn der Zorn ergriffen. Der Methusalem berücksichtigte das, indem er in ruhigem Tone meinte:

»Meine Mittel erlauben mir das. Übrigens war es ein Willkommentrunk, den ich nicht zu wiederholen beabsichtige, und ich konnte nicht wissen, daß Sie diese Zeche auf sich nehmen wollten. Jetzt denke ich, daß Sie die Absicht, zu bezahlen, aufgeben werden?«

Der Kapitän antwortete nicht. Er hatte behauptet, nicht zurücktreten zu wollen, aber die Summe war ihm doch zu hoch. Mijnheer van Aardappelenbosch war der Szene mit großem Interesse gefolgt. Seine Kenntnis der deutschen Sprache ermöglichte es ihm, jedes Wort zu verstehen. Um dem Kapitän, welcher vorher den großen Mund gehabt hatte und nun mit der Bezahlung zögerte, einen kleinen Hieb zu geben, sagte er zu dem Kellner, welcher ihn bedient hatte:

»Oppasser, ik zull miin gelag betalen, maar in Li – Kellner, ich will meine Zeche bezahlen, aber in Li!«

»Drie duizend en vijf hondert Li,« antwortete der Markeur.

»Zijn vijf Dollars, twintig Mark en tachtig feningen – sind fünf Dollars, zwanzig Mark und achtzig Pfennige.«

Er griff in die Tasche, zog die fünf Dollars und noch ein Trinkgeld heraus und gab es ihm. Turnerstick hatte alles verstanden, da die holländischen Zahlwörter den deutschen und englischen ähnlich klingen.

»Fast einundzwanzig Mark!« sagte er. »Das nenne ich Preise!«

»Ik heb goed ontbeten en goed gedronken; ik heb mij goed vermaakt en will dus ook gaarne goed betalen – ich habe gut gefrühstückt und gut getrunken; ich habe mich gut amüsiert und will also auch gern gut bezahlen,« antwortete der Dicke.

Turnerstick merkte den Stich. Er fühlte sich an der Ehre gepackt, zog seinen Beutel und sagte in spitzem Tone:

»Das will ich auch, obgleich ich gar nicht gegessen und nur einige Schlucke Lagerbier getrunken habe. Hier sind fünfzehn Dollars! Das macht sogar noch mehr als die Zeche. Der Überschuß mag Trinkgeld sein. Ein chinesischer Mandarin läßt sich nicht lumpen.«

»Ganz recht!« lachte der Methusalem. »Wie lange haben wir uns noch als Ihre Gäste zu betrachten?«

»Bis zu diesem Augenblick; nun aber ist es aus.«

»Also treten Sie doch zurück?«

»Ja. Ich habe keine Lust, in China bankerott zu werden. Ich wollte für Sie bezahlen, so lange wir uns in Hongkong befinden; aber wir bleiben bis morgen hier, und wer weiß, wie hoch da die Pension zu stehen kommt.«

»Hier an der Wand ist es angeschlagen, pro Mann fünf Dollars ohne die Getränke.«

»Das wären zwanzig Dollars, und wenn Sie so forttrinken, wie Sie angefangen haben und sich dabei sogar von dem Neufundländer unterstützen lassen, so müßte ich, Wein und anderes gar nicht gerechnet, nur für Bier dreihundert Mark bezahlen. Danke bestens! Unsereiner hat doch auch eine gute Gurgel, aber bei Euch läuft's ja wie durch Kellerlöcher. Eure Kehle ist das größte Leck, das es nur geben kann. Es zieht die ganze See ein und kann nie verstopft und kalfatert werden.«

»Und anstatt am Lecke pumpen wir unmoralischerweise an den Manichäern herum!« stimmte der Blaurote lustig ein.

»So ist es; geht mich aber nichts an. Übrigens werden Sie am wenigsten an derartigen Pumpen gestanden haben.«

»Habens auch nicht nötig,« bemerkte Gottfried von Bouillon. »Unsere finanzielle Konstitution hat kein Jebrechen aufzuweisen. In dieser Beziehung sind wir anderen stets über jewesen, wat ich mit aller Fourore hiermit konstatieren muß. Also Ihre Leib- und Lieblings-Jäste sind wir nun nicht mehr. Dat ist jut, denn nun können wir uns nach unserem individuellen Jelüste und müssen uns nicht mehr nach Ihrem Jeldbeutel richten. Wie steht es mit das Fäßchen, oller Methusalem? Von wejen dem Salamander ist es freilich nichts; aberst wir könnten zur Abwechslung doch mal versuchsweise einen Turnerstick reiben.«

»Danke!« rief der Kapitän. »Ich mag nicht noch mehr gerieben werden. Ich habe auch ohnedies, wohin ich sehe, meinen grünen Ärger. Habe ich nicht das herrlichste Chinesisch gesprochen, ohne daß der Wirt mich verstehen wollte? Das war die strafwürdigste Auflehnung gegen meine Mandarinenwürde. Aber das Holländische des Miinheer hat der Kellner gleich verstanden!«

»Weil dieser Mann des Niederländischen mächtig ist, wie leicht zu hören war,« erklärte Degenfeld. »Ich rate Ihnen, Ihren Groll schwinden zu lassen, aber – –«

»Aberst dat Fäßchen lassen wir nicht schwinden,« fiel ihm Gottfried, um Turnerstick zu ärgern, in die Rede. »Dat muß anjeschwommen kommen!«

»Bier gibt es hier nur in Flaschen; von einem Faß kann also überhaupt nicht die Rede sein!«

»So soll ich wohl vor Durst zu meinen Ahnen hinüber schmachten? So pflanze mir eine einsame Ranke Hopfen auf mein frühes jrab, und denk dabei, an dich sei alles Malz verloren!«

Während dieser Wortfechterei hatte der Mijnheer dem Wirte heimlich einige Worte gesagt. Infolgedessen brachten die Kellner dreißig Bierflaschen herbei, welche sie in Reih und Glied auf den Tisch pflanzten.

»Wat ist dat?« rief Gottfried elektrisiert. »So einen halben Zug Garde du Korps lasse ich mich jefallen! Welcher ingeniale Stratege hat diese Helden ins Vordertreffen jeschickt?«

»Ik ben deze veldheer,« antwortete der Dicke. »Hier is het slagveld en de belegering, en wij zijn dappere krijgslieden. Jagen wij alzoo onze vyanden buiten veld – ich bin dieser Feldherr. Hier ist das Schlachtfeld und die Belagerung. Wir sind tapfere Kriegsleute. Jagen wir also unsere Feinde aus dem Felde!«

Sein fettes Gesicht strahlte in solcher Freundlichkeit, daß ihm seine Gastlichkeit unmöglich übel genommen werden konnte. Der Kapitän aber hatte ihm den vorhergehenden Stich noch nicht vergeben und sagte:

»Wie, Miinheer, Sie wollen uns traktieren? Das ist doch nur unter guten Bekannten gestattet. Sie aber sind uns völlig fremd.«

»Gerade weil ik Ihnen niet fremd bleiben will, habe ik Sie gebeten,« antwortete der Dicke ohne allen Groll. »Ik möcht so gaarne Ihr vriend sein und mit Ihnen nach Kanton reizen, weil ik sonst niet wieder so goede Gezelschap finde. Werden Sie mij das erlauben?«

»Natürlich, natürlich, lieber Freund!« antwortete der Methusalem. »Ich trinke zwar nicht gern aus anderer Leute Beutel, aber in dieser Weise und unter solcher Voraussetzung angeboten, kann ich die Gastfreundschaft nicht zurückweisen. Wollen's heut mal gelten lassen; deutsches Bier kriegt man in diesem Lande der Zöpfe nicht allemal! Hier meine Hand; wollen gute Kameradschaft halten!«

Er schüttelte dem Holländer die Hand. Auch Gottfried ergriff dieselbe, drückte sie begeistert und rief:

»Hier auch die meinigen fünf Fingern; später drücke ich vielleicht sojar Ihr liebes Anjesicht an mein sanft wallendes Herz. Seien Sie einer von uns, und zwar der Dickste von allen! Ich bejrüße Sie als würdige Masche in unserem Strumpfe. Möge Ihr Wohlthun nie erlahmen und Ihre Einsicht nie versiechen. Empfangen Sie im Jeiste meinen Bruderkuß und überdies die heilige Versicherung, daß Sie sowohl in Beziehung auf Ihr Jemüt wie auch in Betracht Ihres körperlichen Volumens herrlich jeeignet sind, dat jroße Leck zu verstopfen, von welchem unser ruhmesreicher Heimdall Turnerstick vorhin jesprochen hat! Und nun Jläser her, denn dat Jefecht soll bejinnen!«

»Neen, neen,« wehrte der Dicke ab. »Niet kleine Gläser! Ik will ook mal aus deze grooten Stamper trinken. Ik will zeigen, daß ik niet bloß essen, sondern ook trinken kann!«

Dieser Vorschlag wurde gern angenommen. Das Stammglas ging, immer wieder gefüllt, von einem zum anderen; nur Richard wurde verschont, und der Neufundländer durfte fasten. Mijnheer van Aardappelenbosch trank gerade so wie die anderen das Glas bis auf die Nagelprobe aus. Er gab in den wunderlichsten Worten seiner Freude Ausdruck, eine so gute »Reizegezelschap« gefunden zu haben.

»So wird aus dem Saulus ein Paulus!« lachte Gottfried vergnügt. »Erst nannten Sie sich unsern Feind und nun haben Sie uns Ihr janzes Herz zum Präsent jebracht. Wat hat Sie denn mit solche Alljewalt in unseren schönen Kreis jetrieben?«

»Daß Sie so wacker Bier trinken, das hat Ihnen mijne Vriendschap zugewandt, denn ik sage mij, daß Sie ook genau so goed essen können.«

»So viel Vleeschernes wie Sie? Hm!«

»Und sodann heb ik mij gesagt, daß Mijnheer Methusalem mij vielleicht gezond machen kann.«

»Wollen sehen!« nickte der Blaurote. »Dazu aber muß ich Sie erst näher kennen lernen; ich muß Sie beobachten, um den eigentlichen Sitz der Krankheit zu entdecken. Erst dann kann ich sie anfassen und vertreiben.«

»Grad soo wie Mijnheer Gottfried den Lindeboomworm,« nickte der Dicke.

»Wen? Was? Einen Lindwurm? Gottfried, Gottfried, du scheinst dich in meiner Abwesenheit der Zügel zu entledigen! Ich muß sie straffer anziehen! Also in China wollen Sie bleiben, Mijnheer van Aardappelenbosch? Sich völlig da niederlassen!«

»Ja, das will ik, namelyk mijne Gezondheit wegen. Ik will eene Plantage kaufen, und finde ik niets, so lege ik eene an.«

»Aber wo?«

»Das weiß ich nook niet; ich suche derhalve überall.«

»Sprechen und verstehen Sie denn Chinesisch?«

»Weniger als niets.«

»So ist es sehr gewagt von Ihnen, sich in das Innere des Landes zu begeben.«

»O, ik heb keene Furcht. Ik nehme eenen Dolmetscher Mit. Onze Konsul geft mii eenen goeden. Ik brauche niet Sorgen zu hebben. Vor wen soll ik Angst hebben? Mijn Geld heb ik niet bei mij, und auf dem Rug trag ik twe Geweeren; Kruit und Kogels heb ik ook genug. Nun werd ik mij noch een Zwaard, kaufen; das sind Wapens genug, um alle Vyanden in die Flucht zu schlagen.«

»Wissen Sie bereits, wohin Sie von Kanton aus gehen wollen?«

»Neen, ik word den Konsul fragen.«

»Mir scheint, Ihr Arzt hat Sie ins Blaue hineindirigiert. Hat er ein Interesse an Ihrer Entfernung gehabt?«

»Wohl niet, offschoon zijn Schoonvader mij die Plantage abgekauft heeft.«

»Da haben wir es! Sie sind ein lieber, vertrauensvoller Herr. Haben Sie Familie?«

»Ik heb keine Vrouw und keine Kinderen. Aber mijn Grootvader lebt noch in Nederland. Er wohnt bei mijne Zuster und hat eene sehr goede Unterkunft.«

»Wollen Sie denn nicht lieber zu diesen Verwandten in die Heimat gehen?«

»Neen. Nederland ist für mijne Gezondheit niet passend. Ik heb mijn Vaderland lieb, aber es ist dort niet benaauwd genug. Ik kann da niet essen und niet trinken. Mijn geheele Ligchaams wird krank vom Hoofd bis zu den Voeten herab. Was nützt mij het Vleesch, wenn ik es niet essen kann, und de Genever, wenn ik ihn niet trinken darf? Ik werde dünn und immer dünner bis endlich wie eene Breinaald und de Armen und Beenen wie een Draad so schwach. Ik sehe mijn Tod vorher vor de Oogen. Neen, ik wäre een ongelukkige NijlPaard, wenn ik nach Nederland gehen wollte. Ik bleib hier, weil ik niet sterben will.«

»Haben Sie denn alles, was Sie hier zum Reisen brauchen?«

»Ik heb mijn Paspoort und überall Krediet. Ik brauche niet mehr.«

»Nun, wir sind nicht besser ausgerüstet als Sie und wollen es miteinander versuchen. Da wir nun heut doch nicht abreisen können, so schlage ich vor, uns Hongkong anzusehen. Bei dieser Gelegenheit werde ich Ihnen die Dschunke zeigen, und Sie mögen dann bestimmen, ob wir ihr uns anvertrauen wollen. Gottfried, stopfe die Pfeife und fülle neues Wasser in den Ballon!«

»Dat könnte eijentlich der Kellner oder der Hausknecht machen. Hier bin ich anjenehmer und anjesehener Voyageur, mit dessen männlicher Würde sich dat Reinigen der ollen Pipe nicht vertragen dürfte.«

»Ach so! Du willst den Herrn spielen? Habe nichts dagegen, versuche es auf Deine Weise; dann reise ich mit einem anderen Wichsier. Kündigung haben wir nicht, also kannst Du Dich als Regenwurmjäger hier vermieten. Den Vorschuß, welchen Du hast, will ich Dir schenken.«

»Wat? Abjegangen soll ich werden? Dat fehlte mich jerade noch, daß ich hier im fremden Lande der Chinesigen als kindlicher Waisenknabe sitzen jelassen werden sollte. Da will ich mir doch lieber mit die jewohnte Bejeisterung über die jute Wasserpipe hermachen! Ich und meine Fagottoboe janz alleine hinter die chinesische Mauer! Davor soll mir dat alljütige Fatum ewig behüten. Ich verbleibe Ihr treuer Jottfried nebst Bouillon in tiefster Erjebenheit nach wie vor!«

Er öffnete eine der noch übrigen vollen Flaschen, trank sie aus und trollte sich dann mit der Pfeife aus dem Zimmer. Kurze Zeit später machte sich die Gesellschaft auf den Weg.

Es war wie immer: Voran der Hund, dann der Herr, die Spitze des Schlauches im Munde, und hinter ihm Gottfried von Bouillon mit Pfeife und Oboe. Ihnen folgte Richard im schmucken Wichs, und nach diesem schritten Turnerstick und Mijnheer van Aardappelenbosch nebeneinander her.

Der Kapitän hatte seinen kleinen, gegen den Holländer gehegten Groll aufgegeben. Der letztere war überhaupt ein Mann, dem man höchstens nur auf Minuten zürnen konnte.

Eigentlich braucht es gar nicht wieder erwähnt zu werden, daß ihr Erscheinen das größte Aufsehen erregte. Besonders spaßhaft nahm sich der Mijnheer neben dem Talmi-Mandarin aus. Er hatte sich nicht entschließen können, seine Gewehre und den Tornister im Hotel zu lassen; er trug die drei Gegenstände in der schon beschriebenen Weise auf dem Rücken und hatte darüber seinen Riesenschirm gespannt.

So wanderten sie langsam und gravitätisch nach dem Quai, um zu der Dschunke zu gelangen. Sie entfernten sich dabei aus der Gegend, in welcher die europäischen Schiffe vor Ankerlagen.

Die chinesischen Fahrzeuge sind ganz geeignet, das Auge des Europäers, welcher noch keins derselben gesehen hat, auf sich zu ziehen.

Die großen Handelsdschunken sind ungeschlachte Schiffe von bedeutender Größe, deren Vorder- und Hinterdeck bedeutend höher ist als der Mittelbord, was ihnen ein seltsames Aussehen gibt. Sie ragen mit nilpferdartiger Unbehilflichkeit aus dem Wasser.

Ihr Stern ist sehr breit, gleich demjenigen eines altholländischen Linienschiffes, bunt bemalt und zuweilen vergoldet, und das Deck ist mit einem ungeheuren Strohdache, welches das Fahrzeug noch viel schwerfälliger erscheinen läßt, versehen.

Die Masten, welche ungemein dick sind, aus einem einzigen Stücke bestehen und keine Stengen haben, tragen an der Spitze eine Rolle, durch welche ein schweres, starkes Tau läuft, mit dessen Hilfe das gewichtige Mattensegel aufgehißt wird.

Das Vorderteil ist meist rot bemalt. Rechts und links vom Steven erblickt man je ein Auge, oft vier bis fünf Fuß im Durchmesser haltend und in möglichst grellen Farben gemalt. Von diesen beiden Augen, welche einen eigenartig glotzenden Ausdruck zeigen, haben die Dschunken den allgemein gebräuchlichen Namen »Lung-yen« d.i. Drachenaugen erhalten. Sie sollen dem Schiffe jenen drohenden Ausdruck verleihen, durch welchen böse Geister und andere unirdische Ungetüme, welche sich zu gewissen Zeiten zur Erde und besonders in das Wasser niederlassen, vertrieben werden sollen. Das Wort Dschunke bedeutet Schiff und lautet im Hochchinesischen »dschuen«, in der Mundart von Kanton aber »dschonk«.

Die größeren Dschunken haben bis 500 Tonnen Gehalt und sind dreimastig. Sie sind leicht und kunstlos zusammengefügt, so daß sie eine schwere See und die Schüsse von großen Geschützen nicht ertragen können. Dennoch haben selbst Handelsdschunken wegen der mit Recht gefürchteten Flußpiraterie eine oder sogar zwei Kanonen an Bord. Sie können wegen der Einfachheit ihrer Takelage und ihres Segelwerkes nicht lavieren, sondern nur mit günstigem Winde fahren und daher z. B. zwischen China und Java oder Singapore jährlich nur eine Hin- und Rückreise machen, weil dort halbjährige Winde, die sogenannten Monsuns, wehen, welche nur auf einer Tour günstig sind.

Die Kriegsdschunken sind etwas schärfer und besser gebaut, auch nicht so sehr hochbordig. Sie segeln nicht schlecht, eignen sich aber dennoch nur für Flüsse und die Küstenstrecken, da sie schwere See nicht bewältigen können. Sie führen gewöhnlich vier bis sechs Drei- oder Vierpfünder an den Seiten, einen oder zwei Sechs- bis Neunpfünder im Vorderteile und zuweilen auch im Sterne einige kleine Kanonen. Mehrere Gingals oder Wallbüchsen mit einem sechs bis acht Fuß langen Laufe und einer zwei Zoll lichten Mündung drehen sich in Zapfen auf ihren Gestellen, welche an den Seitenborden befestigt sind. Die Mannschaft ist mit Luntenflinten, Lanzen, Säbeln und Schilden bewaffnet, doch haben viele auch noch Bogen und Pfeile im Gebrauche. Erst in der allerneusten Zeit erblickt man hier und da einmal ein Gewehr besserer Konstruktion.

Die Segel werden durch fünfundzwanzig bis dreißig Ruder unterstützt. Die Disziplin ist selbst auf den Kriegsdschunken eine echt chinesische. Täglich wird dreimal ein Gebet zu dem Kriegsgotte gehalten, wobei ein wahrhaft ohrenzerreißendes Klingeln und Pauken, Brüllen und Schreien nebst Abbrennen von Schwärmern, Raketen und anderem Feuerwerke stattfindet.

Erst am 8. Juni 1869 lief das erste nach europäischer Weise gebaute Kriegsschiff in Fu-Tschéu vom Stapel. Heutigestags besitzt China eine kleine Anzahl ähnlicher Schiffe, was aber bei einem Reiche, welches 410 Millionen Einwohner zählt, so viel wie gar nichts bedeutet.

Ist es mit der Disziplin auf den Kriegsdschunken nicht gut bestellt, so sieht es auf den Handelsdschunken in dieser Beziehung noch viel schlechter aus.

Der Eigentümer oder Superkargo des Schiffes hat die unumschränkte Herrschaft über die ganze Schiffsladung; er kauft und verkauft zu und von derselben ganz nach Belieben und führt ebenso die Aufsicht über die etwaigen Passagiere, welche ganz in seine Willkür gegeben sind. Über das Kommando des Schiffes und das Treiben der Mannschaft hat er kein Wort zu sagen.

Das Kommando führt, wie bereits erwähnt, der Kapitän, Ho-tschang genannt, was wörtlich »bejahrtes Licht« bedeutet und für Pilot zu nehmen ist. Ihm liegt bei Tag und Nacht die Führung des Schiffes ob und die genaue Beobachtung derjenigen Punkte, nach welchen er den Lauf desselben zu richten hat. Das ist ein sehr ermüdender Posten, weshalb es Hotschangs gibt, welche es fertig bringen, selbst im Stehen zu schlafen. Obgleich er der Kommandierende ist, gehorchen ihm die Matrosen nur dann, wenn seine Befehle nach ihrem Sinne sind. Im anderen Falle schmähen und schimpfen sie offen auf ihn und thun oder lassen, was ihnen beliebt.

Sein nächster Untergebener ist der Steuermann, To-kung geheißen. Er führt das Steuer und gehorcht bald dem Hotschang, bald den Matrosen, je nachdem es zu seinem augenblicklichen Vorteile ist.

Die Matrosen zerfallen in zwei Abteilungen, die Tau-mu oder Vordermänner und die Ho-keh oder Kameraden. Es ist das eine Unterscheidung ungefähr wie zwischen unseren Voll- und Leichtmatrosen. Von diesen Leuten hat jeder dem anderen zu befehlen, keiner aber will gehorchen. Ist nichts zu thun, so sind sie alle da; soll jedoch eine Arbeit geschehen, von welcher vielleicht vieles abhängig ist, so sind sie verschwunden.

Sodann ist ein Schreiber da, um die Rechnungen zu führen, ein Proviantmeister, welcher den ganzen Tag kaut und schlingt, und diejenigen, denen er nicht wohl will, halb verhungern läßt. In seine Fußstapfen tritt der Koch. Bei seiner Anstellung ist er gewöhnlich spindeldürr; nach kurzer Zeit aber hat er sich gewiß ein ansehnliches Bäuchlein angemästet. Es soll aber auch anderwärts so sein, in anderen Ländern und anderen Branchen. Auch mehrere Barbiere gibt es, unentbehrliche Leute, da der Todestag des Kaisers der einzige Tag ist, an welchem sich kein Chinese rasieren lassen darf.

Um eine Hauptperson nicht zu vergessen, sei noch der Hiang-kung genannt, zu deutsch der Wohlgerüche Streuende. Er ist der Schiffspriester, welcher den Gottes- oder vielmehr Götzendienst versieht. Diese Obliegenheit besteht aber nur darin, daß er an jedem Morgen und Abend eine gewisse Anzahl Räucherstäbchen verbrennt.

Jeder einzelne der Mannschaft betrachtet seine Arbeit als ein Nebengeschäft. Hauptsache dagegen ist für ihn der Handel, welchen er treiben will und zu dessen Zweck er seinen jetzigen Posten eingenommen hat. Jeder darf eine gewisse Quantität Waren an Bord bringen; sobald nun irgendwo gelandet wird, rennen alle mit ihren Waren fort oder locken Käufer herbei, und so liegt jeder seinen eigenen Geschäften ob, ohne sich um anderes zu kümmern. Ob die Dschunke früher oder später ihren Bestimmungsort erreicht, das ist diesen Leuten gleich. Der Ho-tschang muß sich nach ihnen richten; durch Zwang erreicht er nichts, und oft sieht er sich veranlaßt, das, was er eigentlich mit Strenge verlangen könnte, mit kriecherischer Freundlichkeit zu erbitten.

Da kann man sich nun wohl denken, wie Reisende auf so einer Dschunke aufgehoben sind. Ja, es gibt Fahrzeuge, in denen sich die Matrosen sämtlicher Räume bemächtigt haben. Kommt dann ein Passagier, den der Besitzer aufnimmt, so kann er sich nur damit helfen, daß er einen Matrosen überredet, ihm seinen Platz gegen eine Extrabezahlung zu überlassen.

So sind die berühmten Lung-yen beschaffen, und so sah es auch auf der »Schui-heu« aus, mit welcher der blaurote Methusalem und seine Begleiter nach Kanton fahren wollten.

Wehe aber dem Passagier, welcher eine zweideutige Dschunke betritt, um Passage auf ihr zu nehmen! Er glaubt, es mit ganz braven, wenn auch rohen aber doch ehrlichen Leuten zu thun zu haben, und nichts verrät, daß das Gegenteil stattfindet. Unterwegs aber erkennt er zu seinem Schreck, daß er sich an Bord eines Flußpiraten befindet. Dann ist für ihn nur zweierlei möglich; entweder er muß, um sich zu retten, am Räuberhandwerke teilnehmen, oder er wird vollständig ausgeraubt und vielleicht gar getötet, um später nichts verraten zu können.

Und solcher Piratendschunken gibt es noch gar viele. Die Regierung ist fast ohnmächtig gegen sie. Zehn Kriegsdschunken wagen es nicht, eine gleiche Anzahl von Raubdschunken anzugreifen, denn sie wissen, daß die Bemannung jeder Kriegsdschunke, welche kampfunfähig wird und den Piraten in die Hände fällt, über die Klinge springen muß. Man segelt nicht allzuweit hinan, verpafft einige Zentner Pulver, schreit und brüllt sich heiser, wendet um, opfert der Meeresgottheit Mat-su-po einige Tassen Thee und sendet der Behörde den Bericht über einen glorreichen Sieg ein, der gar nicht möglich war, weil überhaupt kein Kampf stattgefunden hatte. So geschieht den Piraten nichts, wenn nicht einmal der Kreuzer einer europäischen Seemacht einige dieser Kiang-lung oder »Flußdrachen«, wie sie dort im Munde des Volkes auch heißen, leck schießt, so daß sie mit Mann und Maus zu Grunde gehen. Es scheint aber ganz so, als ob zehn Lebendige dann an die Stelle eines Toten träten. –

Als die Fünf die Seite der chinesischen Fahrzeuge erreichten, sahen sie Dschunke bei Dschunke liegen, eine so fremd artig und grotesk wie die andere. Aber welch ein Unterschied zwischen diesen Schiffen und den europäischen auf der anderen Seite! Während unsere Seeleute eine Ehre darin suchen, ihr Schiff so sauber und nett wie möglich ab- und aufzuputzen und dafür schon längst vor der Landung eifrig thätig sind, sahen diese Dschunken aus, als ob nie ein Tropfen über die Wasserlinie emporgekommen sei. Von den Borden und Tauen hingen schmutzige Fetzen; von überall blickten schmutzige Männer mit schmutzigen Gesichtern, welche sich mit schmutzigen Händen festhielten. Dabei gab es zwischen Quai und Borden allerlei schmutzigen Verkehr, und auf der Wasserseite hinter den Schiffen machten sich schmutzige Boote mit schmutzigen Insassen zu schaffen. Auf dem Quai selbst gab es schmutzige Verkaufsstände mit schmutzigen Verkäufern, und dazwischen riefen ambulante schmutzige Händler ihre schmutzigen Waren aus.

Ein Zwiebelröster hockte auf der Erde vor seinem kleinen Bratöfchen und schälte Zwiebeln. Der Duft derselben drang ihm in Nase und Augen. Er nieste einen wahren Sprühregen in seine kräftig duftenden Scheiben hinein und brüllte dabei förmlich A – a – abziehhhh, ein Laut, welcher sich auf der ganzen Erdenrunde gleich bleibt. Der Mongole, der Kaffer, der Indianer und der Malaye, die erste Hofdame des Kaisers der Reußen und die koboldartige Frau des Papuaaustraliers, sie alle, alle niesen a – a – abziehhhh. Zuweilen wird eine der beiden Silben aus gesundheitsschädlichem Schicklichkeitsgefühle etwas verkürzt, da ist sie aber stets, wenn auch in Verstümmelung. Hier sollten die Weltsprachfabrikanten der Neuzeit anfassen; ab – zieh oder ha – tzieh sind die beiden Grund- und Ursilben der Menschheit, ihr von der Natur geschenkt, welche, sobald dies einmal vergessen wird, den Vergeßlichen durch einen tüchtigen Schnupfen wieder auf ihren Fingerzeig aufmerksam macht. Was nun speziell diesen Zwiebelröster betrifft, so kam er aus dem Niesen gar nicht heraus, denn so oft ihm die Augen im Wasser schwammen, wischte er sich dieselben, wohl um seine schmutzigen Hände zu schonen, mit einer aufgeschnittenen Zwiebel aus und putzte auch die Nase damit, worauf dann natürlich ein neuer Nieserich explodierte. Die angewischte Zwiebel aber wurde geröstet und dann von den Kunden wohlgemut verzehrt. Käufer hatte er genug.

Solche und noch andere Szenen, welche sich nicht gut in Worte kleiden lassen, konnte man häufig beobachten, doch soll damit nicht ein Urteil über den Chinesen im allgemeinen ausgesprochen sein. In den Hafenorten sammelt sich eben der soziale Schmutz, den beide, das Wasser und das Land, nach der Küste treiben.

Auf einer der schmuckeren Dschunken, die einen ziemlich scharfen Bau und keinen so hohen Vor- und Achterbord hatte, war kein Mensch zu sehen. Die Masten ragten kahl empor, denn die großen Mattensegel lagen zusammengerollt auf dem Deck. Die Drachenaugen zu beiden Seiten -des Vordersteven waren neu gemalt. Auf dem Hinterteile standen einige Kübel mit blühenden Gewächsen; kein schmutziges Wäschestück war zu sehen, und auch sonst ließ sich erkennen, daß der Patron dieses Schiffes etwas mehr auf Sauberkeit und Ordnung halte als andere seinesgleichen.

Ganz ungewöhnlich für ein chinesisches Fahrzeug war ein ebenso hohes wie breites Brett, auf welches blaue Wogen gemalt waren, in denen eine Frauengestalt schwamm, die fünf Pfauenfedern im Haare trug. Darunter waren die beiden Zeichen Schui und Heu mit Silberfarbe in die blauen Wogen gemalt. Diese Dschunke war also »Schui-heu«, die »Königin des Wassers«. Eine schmale, leiterartige Bambustreppe führte vom Lande aus zum Deck empor.

»Das ist das Fahrzeug, welches ich meine,« sagte der Blaurote. »Es scheint kein Mensch zugegen zu sein. Als ich hier war, befanden sich Leute an Bord.«

Turnerstick setzte den Klemmer auf das Näschen, musterte das Schiff mit Kennerblick und meinte:

»Hm, nicht übel! Schlank auf den Kiel gebaut, scharfe Brust, kurzes, aber tief greifendes Steuer und schmale, lange Segel. Das Steuer ist der Schwanz, und die Segel sind die Flügel – gleicht einem Albatros, macht also scharfe, ruhige Fahrt, gehorcht dem Steuer leicht und legt sich nicht unter der Bö. Kann mir gefallen. Hat auch sonst einen netten Anguck und ist die adretteste Schwimmerin unter allen, die hier hegen. Will meinen Dollar gern bezahlen und auch noch etwas mehr, wenn das Innenwerk der Außenseite entspricht. Was sagen Sie dazu, Mijnheer van Aardappelenbosch?«

»Het scheep is fraai,« antwortete der Gefragte. »Ik ben tevreden – das Schiff ist hübsch; ich bin zufrieden.«

»Das denke ich auch, denn ich bin Kenner. Wenn ich zufrieden bin, können andere es auch sein. Die schwimmende Frau soll wohl die Wasserkönigin sein?«

»Ja,« antwortete der Methusalem.

»Was bedeuten denn die beiden Krikelkrakel darunter?«

»Das ist die Unterschrift, eben Schui-heu.«

»Schui-heu? Unsinn. Das sind doch keine Buchstaben, also keine Worte.«

»Buchstaben hat der Chinese nicht, sondern Zeichen. Das erste Zeichen ist der fünfundachtzigste Schlüssel der chinesischen Schrift, besteht aus einer senkrechten Linie, zwei krummen, divergierenden Halbdiagonalen und zwei Quasten an denselben; es ist das Zeichen für Wasser. Das zweite Zeichen besteht aus – – –«

»Um des Himmels willen, halten Sie ein!« rief Turnerstick, sich mit den Händen nach den Ohren langend. »Mir brummt der Kopf schon von diesem einen Zeichen. Wie viele solcher Zeichen hat denn eigentlich die chinesische Schrift?«

»Wohl achtzigtausend.«

»Alle guten Geister – –! Da lobe ich mir unsere Schrift mit den wenigen Buchstaben!«

»Aber Sie, der Sie so ausgezeichnet chinesisch sprechen, sollten wenigstens die zweihundertvierzehn Schlüssel dieser Sprache kennen lernen!«

»Wozu der Schlüssel, wenn ich gar nicht hinein will in die Schrift! Meine Schlüssel sind die Endungen; mit ihrer Hilfe bin ich in die Tiefen der Sprache eingedrungen, die Schrift aber ist mir Leberwurst. Lassen wir das also sein, und steigen wir lieber zum Deck der Dschunke empor. Es wird sich wohl ein Marsgast finden lassen, welcher einem Rede und Antwort steht. Aber, Methusalem, ich bitte mir aus, daß Sie schweigen! Ich selbst will sprechen und die Erkundigung führen. Sie mit Ihrem Bücherchinesisch könnten leicht alles falsch verstehen.«

Degenfeld nickte bescheiden und schickte sich an, voranzusteigen; aber der Kapitän faßte ihn hinten an dem blausamtnen Schnurenrock, zog ihn zurück und sagte:

»Halt, Musenalmanach! Ich bin der Sprecher und muß also voran. Schauen Sie doch, wie Sie sich hinaufschmuggeln wollen, um mir zuvor zu kommen und das erste Wort zu haben! Ich heiße Turning sti-king und mache meine Rechte als Mandarin geltend.« –

»Habe ja gar nichts dagegen, alter Seebär! Aber ich muß Sie warnen: Nennen Sie sich einem Chinesen gegenüber ja nicht Mandarin!«

»Warum nicht? Denken Sie vielleicht, man erkenne den Esel unter der Löwenhaut, und ich werde wegen der Führung eines gestohlenen Titels bestraft?«

»Ist auch möglich; aber ich meine nicht das, sondern etwas anderes. Die Chinesen kennen das Wort Mandarin gar nicht.«

»Nicht? Da sind sie dumm genug! Wenn wir es kennen, muß es ihnen doch erst recht geläufig sein!«

»Eben nicht. Mandarin kommt her von dem Sanskritworte Mantri, ein weiser Ratgeber, ein Minister. Die Portugiesen hörten dieses Wort und machten es sich mundrechter, indem sie es in Mandarin umwandelten. Mit diesem Titel belegten sie dann die chinesischen Beamten. Die Chinesen aber wenden dieses ihnen ganz fremde Wort niemals an. Sie nennen ihre Beamten alle Kuan, welches Wort ein Dach bezeichnet, einen Ort, unter welchem viele beisammen sind. Um nun auszudrücken, wer diese Versammelten sind, setzen sie das Zeichen Fu dazu, welches Vater oder Greis bedeutet, einen erfahrenen, weisen Mann, welcher also zum Beamten geeignet ist. Kuanfu bedeutet also eine Vielheit von klugen Leuten, von Beamten. Hier unterscheidet man nun wieder Zivil- und Militärbeamte. Die ersteren werden Wen-kuan genannt, litterarische Beamte, und die letzteren heißen Wu-kuan, tapfere Beamte. Sie dürfen sich also nie Mandarin nennen, auch nicht Kuan-fu im allgemeinen, sondern weil Sie ein Generalmajor, also ein Militär sind, so gehören Sie zu der Abteilung der Wu-kuan. Merken Sie sich das ja!«

Turnerstick kratzte sich hinten unter dem falschen Zopfe.

»Alle Wetter, ist das eine Not!« seufzte er. »Kuan-tschu, Wäng-Kuan, Wau-kuan. Das ist eine Tschu- und Wäng- und Wau-kuanerei, daß es einem die Ohrläppchen hinten im Genick zusammenzieht!«

»Sie sprechen die Worte ganz falsch aus!«

»Wegen den vielerlei Kuans. Sagen Sie mir noch einmal, was für einer ich bin! Das werde ich mir schon merken.«

»Ein Wa-kuan.«

»Wu, Wu, Wu, Wu-kuan! Nun werde ich das Wu wohl im Kopfe haben, wenn ich dabei nur das Kuan nicht wieder vergesse. Es ist ein sehr schlechtes Chinesisch. Die richtige Endung fehlt; es muß ein ng hintenan, also Wung-Kuang. Das wäre hochchinesisch. Haben Sie vielleicht einen Bleistift bei sich?«

»Ja. Hier ist er.«

»Danke! Will mir dieses Wa-kuan, zu welcher Sekte ich doch nun einmal gehöre, doch lieber aufschreiben, und zwar hierher auf den Fächer, wo ich es stets vor Augen habe. Fällt mir es nicht gleich bei, so öffne ich den Fächer und fächle mir meine Kriegerklasse zu. Prächtiger Gedanke! Man sollte sich eigentlich jedes chinesische Wort, welches man leicht vergessen könnte, auf den Fächer notieren.«

»Wie groß müßte er dann bei Ihnen sein?«

»Wie groß? Ah, Sie wollen mich wohl foppen? Ich denke, mein Kopf faßt ebensoviel wie der Ihrige!«

»O, noch weit mehr. Ihr Zopf beweist das ja.«

»Wieso? Machen Sie sich wirklich über mich zum Lachen?«

»Nein, Kapitän. Wie heißt Zopf in chinesischer Sprache?«

»Jedenfalls Zopfing oder Zopfeng.«

»Nein. Dieses Mal sind Sie leider falsch unterrichtet.«

»Wie denn?«

»Pen-tse, zu deutsch Sohn des Gehirnes. Die Chinesen gehen von der Ansicht aus, daß aus einem gesunden Kopfe auch ein gesunder, also recht langer Zopf wachsen müsse. Demzufolge muß also ein langer Zopf das sichere Zeichen eines guten Gehirnes, eines klugen Mannes sein. Daher lachen sie über unser geschorenes Haar und halten uns für Dummköpfe. Je höher ein Chinese steht, desto länger und dicker wird sein Zopf sein, ob Natur oder Kunst, das ist Nebensache. Da Sie nun so einen gewaltigen Zopf besitzen, während ich leider keinen Pen-tse habe, so müssen Sie mir geistig ungeheuer überlegen sein.«

»Das ist auch gewiß sehr richtig. Wart, den Zopf muß ich mir auch sofort notieren. Also Pen-dse?«

»Nein, denn dse heißt ›vier‹.«

»Also Pen-ße?«

»Auch nicht, denn ße oder sse bedeutet den akademischen Grad eines Doktors.«

»Wohl Pen-se?«

»Bewahre, denn se heißt Liebe, Farbe, Figur, Malerei. Sie müssen ein hartes t vor das s setzen.«

»Folglich Pen-tße?«

»Unmöglich; tße bedeutet nämlich: sich, selbst, Eigenart, innere Beschaulichkeit, Identität und auch Identifikation.«

Turnerstick hielt den Fächer in der Linken und den Bleistift in der Rechten zum Schreiben erhoben; aber er schrieb nicht, sondern zog ein ganz merkwürdiges Gesicht und rief erbost:

»Jetzt hören Sie nun mal auf, Sie Deutschverderber! Es braust mir ja um die Ohren, als ob ich den Niagarafall im Kopfe hätte!«

»Ja, mein Lieber, Sie müssen die beiden Konsonanten genau und scharf unterscheiden. Im Chinesischen ist ein großer Unterschied zwischen se, sse, sze, tse, tze, dse und dze.«

»Ihr Unterschied kann mir gestohlen werden! Warum bringen Sie mir lauter Worte ohne eine meiner Endungen! Peng tseng wäre richtig; warum soll ich da Pen-tse sagen! Ich schreibe mir den unglückseligen Zopf gar nicht auf. Hier haben Sie Ihr Stückchen Bleistift zurück. Mir brauchen Sie mit Ihrem hölzernen Pantoffelchinesisch nicht zu kommen. Da hat das meinige doch mehr Saft und Kraft. Pang, peng, ping, pong und pung, das ist der wahre Jakob; das klingt wie Glockengeläute! Was würden Sie sagen, Mijnheer van Aardappelenbosch, wenn einer von Ihnen verlangte, sieben- oder achterlei dse und tse zu unterscheiden?«

»Ik zoude ihm sagen: Gij zijt een ongelukkige Nijlpaard!« antwortete der Dicke, indem er so tief und ängstlich Atem holte, als ob an ihn das Verlangen gestellt worden sei, den malefikanten Pen-tse zu deklinieren.

»Ja, ein Nilpferd sondergleichen wäre dieser Kerl. Merken Sie sich das, mein bester Methusalem, und sündigen Sie hinfort nicht mehr, sonst zwingen Sie mich, Sie einmal in die linguistische Wäsche zu nehmen. Jetzt aber wollen wir endlich an Bord. Vorwärts!«

Die fünf sonderbaren Personen hatten durch ihr längeres Verweilen an dieser Stelle eine große Anzahl von Neugierigen herbeigezogen. Dennoch zeigte sich oben auf dem Deck der Dschunke kein Mensch. Unser Kapitän schob seinen Fächer zusammen und wendete sich nach der Treppe.

»Vergessen Sie das Tsing-tsing nicht!« ermahnte ihn der Blaurote noch. »Wir wollen höflich sein und grüßen.«

»Soll geschehen! Tsing ist doch wenigstens chinesisch; es hat eine von meinen fünf Endungen und klingt viel peking-, nanking- und kantongähnlicher als Ihr trauriges Tse-dse-sse, welches sich so anhört, wie wenn Ihr Gottfried in seine Oboe fiebt. Mich laßt aus damit!«

Er stieg die Treppe empor. Hinter ihm folgten Richard Stein, der Wichsier, der Dicke und zuletzt der Methusalem. Diese Ordnung der Personen hatte für den dicken Holländer eine kleine Belästigung zur Folge. Da Gottfried den Kopf der Hukah trug und der Methusalem die Spitze des Schlauches im Munde hatte, so führte der letztere an Mijnheer van Aardappelenbosch vorüber und machte ihm das Emporsteigen schwieriger, zumal die Treppe für seine volle Gestalt viel zu schmal war. Er blieb auf der vierten oder fünften Stufe halten, um wenigstens seinen Riesenschirm, welcher ihm sehr beschwerlich wurde, zuzumachen, verwickelte sich aber dabei in den langen Pfeifenschlauch. Der Schirm entging seiner Hand. Um denselben zu ergreifen, machte er eine schnelle Bewegung, verlor den Halt und rutschte von der Leitersprosse ab.

»Gottfried, halte die Pfeife fest!« rief der Methusalem, indem er die Spitze derselben fahren ließ.

Der Dicke stürzte auf ihn, und zwar mit solchem Gewichte, daß der Blaurote sich und ihn nicht zu halten vermochte; beide krachten von der Treppenleiter herab und auf die Erde nieder.

Der Methusalem raffte sich augenblicklich wieder auf; der Dicke aber blieb liegen, hielt die Hände und Füße empor, spreizte alle zehn Finger auseinander und schrie:

»Mijn God, miin hemel, o mijn rug en mijne neus! Daar ligg ik hoe een walvisch in de fontein! Ik ben dood. Goede nacht, gij boose wereld – mein Gott, mein Himmel, o mein Rücken und meine Nase! Da lieg ich wie ein Walfisch im Springbrunnen! Ich bin tot. Gute Nacht, du böse Welt!«

Gottfried hatte die Pfeife fest gehalten, so daß sie ihm nicht entrissen worden war. Er kam herabgestiegen, um den beschmutzten Anzug seines Herrn mit dem Taschentuche zu reinigen. Dabei fragte er denselben:

»Wie nennt man eigentlich im Holländischen das Parterre?«

»Gelykvloers,« antwortete der Bemooste.

»Und Strohsack?«

»Stroozak.«

»Danke!«

Sich nun an den Holländer, welcher noch immer alle vier Extremitäten von sich streckte und die Augen geschlossen hielt, wendend, rief er:

»Mijnheer, wollen Sie hier gelykvioers liegen bleiben wie ein Stroozak? Erheben Sie sich doch in Ihre janze Herrlichkeit!«

»Ik kan niet!« antwortete der Aufgeforderte im kläglichsten Tone.

»Warum nicht?«

»Ik ben dood, muisdood. Ik sterv in deze oogenblik. Ik ben een ongelukkige nijlpaard. Wij worden afschied nemen!«

»Wat, so mausetot sind Sie, dat Sie Abschied nehmen wollen?« lachte der Wichsier. »Wer so weich fällt wie Sie, der kann sich jar nie zu Tode fallen. Sollten Sie aber dennoch bereits nach dem jenseits hinüberjeschlummert sein, so habe ich da meine Posaune des letzten Jerichtes, mit welcher ich Ihnen aus dat Erbbejräbnis blasen werde. Wollen Sie jefälligst auf?«

»Neen! Ik kan niet.«

»Dann werde ich nachhelfen.«

Er hielt ihm die Oboe an das Ohr und blies. Es kam ein so entsetzlicher, lang gezogener Mißton zum Vorscheine, daß sich der Holländer sofort in sitzende Stellung aufrichtete und beide Ohren mit den Händen verschloß.

»Dat hilft! Nicht wahr?« kicherte Gottfried ihn an. »Weiter! Noch einmal!«

Aber obgleich der zweite Ton noch schrecklicher als der erste war, der Dicke blieb sitzen. Er zog zwar das jämmerlichste Gesicht, welches denkbar ist, hielt sich aber die Ohren zu und bewegte sich nicht.

»Will's nicht weiter wirken?« fragte Gottfried. »Die erste Fermate hat doch jeholfen! Warum die zweite nicht? Auf, Mijnheer! Es wird schon jehen!«

»Ik kan niet; ik word sterven!« antwortete der Dicke kopfschüttelnd.

»Laß ihn!« rief der Methusalem, welcher mittlerweile die Leiter empor gestiegen war. »Man soll jedem Toten seine Ruhe gönnen. Möge ihm die Erde leicht werden! Wir aber haben mehr zu thun. Hier oben an Deck riecht es geradezu zum Entzücken. Ich glaube, es wird an Bord ein feines Diner abgehalten. Ich rieche Rumpsteaks mit Schmorkartoffeln; auch nach Selleriesalat duftet es. Man scheint also schon beim zweiten Gange zu sein. Komm also schnell herauf, Gottfried! Ein chinesisches Essen, das dürfen wir unmöglich versäumen!«

»Gebraden rumpvleesch?« rief der Dicke, indem er die Hände von den Ohren nahm. »Selrisalade? Een middageten in een chijnedischen scheep? Ik word ook met eten. Ik kom ook met in't scheep – gebratenes Lendenfleisch? Selleriesalat? Ein Mittagsessen in einem chinesischen Schiffe? Ich werde auch mit essen. Ich komme auch mit in das Schiff!«

Was Gottfried mit seiner Oboe nicht fertig gebracht hatte, das war dem Methusalem mit seiner Ankündigung gelungen. Einem Rumpsteak konnte der Dicke nicht widerstehen. Er sprang vom Boden auf, steckte den Tornister, welcher ihm entfallen war, wieder auf die beiden Gewehrläufe, ergriff auch den Familienschirm und kletterte dann mit einer Beweglichkeit, welche ihm vorher niemand zugetraut hätte, an der Leiter empor.

Gottfried stieg hinter ihm her und rief lachend:

»So erfährt man, wie tote Leichen aufjeweckt und zu Verstand jebracht werden! Hängt man diesem juten Mijnheer einen Bahnzug von sechzig Kohlenwagen hinten an und hält ihm vorn eene saftige Kotelette vor, so zieht er die Lowrys im Jalopp über den Sankt Jotthard hinweg. Es jibt eben Menschen, deren Magen jradezu allmächtig ist.«

Als er oben an Bord anlangte, reichte er dem Methusalem vor allen Dingen die Schlauchspitze hin und zündete ein Holz an, um den Tabak in Brand zu stecken. Er hielt es eben für unmöglich, daß sein Herr als »Nichtraucher« eine chinesische Dschunke besteigen werde, um mit dem Besitzer derselben wegen der Passage in Unterhandlung zu treten.

Zunächst war kein Mensch zu sehen. Das Schiff schien ausgestorben zu sein. Auch von einem Bratengeruche war nichts zu verspüren, was den Dicken zu dem Ausrufe der Enttäuschung veranlaßte:

»Ik ben verschrikt! Hier wordt niets kocht – ich bin erschrocken. Hier wird nichts gekocht.«

Er hielt seine Nase in alle Richtungen der Windrose, und da er von einem Bratendufte keine Spur bemerkte, so stieß er den Schirm zornig auf und rief:

»Ik houd niet van zulk een gedrag; ik loop waarlyk naar mijne herberg – ich halte nichts von so einem Betragen; ich gehe wahrhaftig nach meinem Gasthofe!«

Er wollte sich wirklich wieder nach der Treppe wenden, ließ sich aber durch einen interessanten Anblick, welcher sich ihm bot, daran hindern.

Zunächst war es kein Anblick, sondern ein lieblicher Geruch, welcher plötzlich in seine Nase drang. Es duftete wirklich nach gebratenem Fleische, wodurch der Scherz des »Blauroten« zum Ernste wurde. In der Stützwand des hohen Hinterdeckes wurde eine Mattenthür geöffnet, und es traten vier Chinesen hervor, welche einen Tisch trugen. Auf diesem standen mehrere Porzellangefäße verschiedener Formen mit gebratenem Fleische, Kuchen, Wein und duftenden Blumen.

»Het middageten komt!« rief der Dicke, indem sein Gesicht einen freudigen Ausdruck annahm.

»Dat scheint wirklich so!« nickte Gottfried von Bouillon. »Sollte man unsere Ankunft jemerkt haben und nun mit einem Freundschaftsimbiß feierlichst bejehen wollen? So eine diplomatische Jeschicklichkeit hätte ik bei diese Söhne der Mitte freilich nicht jesucht!«

»Abwarten!« lachte der Methusalem. »Diese Delikatessen sind jedenfalls nicht für uns.«

»Dann könnten mir diese Kinder des Zopfes immer wieder jestohlen werden.«

Es zeigte sich, daß der Methusalem recht hatte, denn die vier Chinesen machten sehr erstaunte Gesichter, als sie die Fremden erblickten. Sie trugen den Tisch bis zwischen den Mittel- und Hintermast, setzten ihn dort nieder und entfernten sich schleunigst, jedenfalls um die Anwesenheit der Europäer zu melden.

Gleich darauf kamen aus derselben Thür zwei Männer, welche sich in langsamen und würdevollen Schritten näherten. Beide waren lang und hager. Sie trugen die gewöhnliche chinesische Tracht, ohne Abzeichen eines litterarischen oder militärischen Ranges und hatten breitkrempige Basthüte auf den rundum kahlgeschorenen Köpfen. Nur auf den Scheitelstellen waren die Haare nicht entfernt worden; sie hingen von dort aus in Gestalt von Zöpfen unter den Hüten hervor. Waffen waren nicht zu sehen; dennoch aber, und obgleich die beiden Männer in diesem Augenblicke ein höfliches Lächeln zeigten, hatten ihre breiten, mongolischen Gesichter einen Ausdruck, welcher nicht auf weichliche Gesinnung schließen ließ.

Als sie herangekommen waren, blieb der eine einen Schritt hinter dem anderen stehen. Der letztere verbeugte sich tief und sagte in ziemlich gutem Englisch:

»Die hochgeborenen Herren beehren mein schmutziges Schiff mit Ihrer glänzenden Anwesenheit. Welchem glücklichen Umstande habe ich, der allerunwürdigste Ihrer Diener, diese leuchtende Gnade zu verdanken?«

Selbst im Verkehr mit seinesgleichen gebietet nämlich die Höflichkeit dem Chinesen, von sich nur in wegwerfenden, von dem anderen aber in erhebenden Ausdrücken zu sprechen.

Der Methusalem verbeugte sich ebenso tief und öffnete bereits den Mund, um diese Frage zu beantworten; da aber trat Turnerstick schnell vor und rief:

»Tsching, tsching, tsching! Wir kommeng als Passagierings und wollang mit der ›Königing des Wassers‹ fahrung. Wir hoffeng, gute Wohnung zu finding und werdeng nobel bezahlang. Fünf Personung und ein Hund. Was habeng wir für den Ramsch zu bezahlung?«

Der Neufundländer war nämlich auch mit über die Treppe heraufgeklettert.

Der Chinese warf einen unbeschreiblich verblüfften Blick auf den Kapitän, schüttelte den Kopf und sah die anderen fragend an.

»Nun!« sagte Turnerstick ungeduldig. »Sie werdeng doch hoffentling Chinesisch verstehang! Ich lasse nur den reinsteng und feinsteng Dialekting hörung. Verstanding? Ich will Antwort habeng!«

Der Chinese stand noch ebenso verwundert wie vorher. Darum fuhr Turnerstick in erhöhtem Tone fort:

»Seid ihr beideng etwa taubstumming? Ich kann verlangung, gehört zu werdeng. Ich bin – bin – bing – – –«

Leider hatte er das Wort nun schon vergessen. Er entfaltete also seinen Fächer, um es abzulesen, und ergänzte:

»Ich hing ein Wu-kuan und heiße Tur-ning sti-king, Schiffskapitäng und chinesischer Obermandaring; ich werde –«

Er wurde unterbrochen. Der Chinese gebot ihm durch eine Armbewegung Schweigen und fragte den Methusalem, sich wieder der englischen Sprache bedienend:

»Wer ist dieser erlauchte Herr? Meine ungehorsamen Ohren vermögen es nicht, seine Worte zu verstehen.«

Der Gefragte antwortete in derselben Sprache:

»Er ist ein Wu-kuan, ein Fu-tsiang seines Vaterlandes, und bedient sich des höchsten Dialektes der Beamten von der Pfauenfeder, welchen andere nicht zu kennen scheinen.«

»So muß es sein, denn ich kenne diese Sprache nicht. Wollen uns also lieber derjenigen der Yan-kui-tse bedienen, in welcher ich die weisen Herren wohl verstehen kann. Ich bin der ganz unwürdige Ho-tschang dieses Schiffes, und mein Kamerad hier ist der To-kung desselben. Unsere Tau-muh haben uns gesagt, daß einige erleuchtete Männer an Bord gekommen seien, und so haben wir uns beeilt, unsere ganz demütigen Dienste anzubieten.«

»Hat der Besitzer dieser Dschunke nicht davon gesprochen, daß ein Tao-dse-kue hier gewesen ist, um für sich und noch vier andere Platz für Kanton zu bekommen?«

»Er hat es gesagt. Wenn ihr diese vom Himmel gesandten Herren seid, so wird es für uns eine ganz unverdiente Ehre sein, euch bei uns aufzunehmen und nach Kuang-tschéu-fu zu bringen.«

»Wir sind es. Wo ist der Schiffsherr?«

»Er befindet sich bei dem Hiang-kung, um mit demselben für das Gelingen unserer Reise zu beten. Wenn das Gebet vollendet ist, werden wir hier auf dem Deck das Kong-pit vornehmen, um ganz sicher zu sein, daß uns unterwegs kein Übel widerfahre.«

»Werdet ihr uns erlauben, dieser Zeremonie beizuwohnen?«

»Ja, da ihr mit uns fahren wollt. Aber da muß ich nach euren berühmten Namen und euren glänzenden Würden fragen, damit ich euch die euren hohen Verdiensten angemessenen Plätze anweisen kann.«

»Ihr sollt sie erfahren. Dieser berühmte Held ist, wie bereits erwähnt, ein Wu-kuan. Sein Titel ist auf seinem Fächer verzeichnet: Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang. Mein Name ist Me-thu-sa-lem-tsiung-wan, woraus ihr ersehen werdet, wen ihr vor euch habt.«

Die Klasse der Tsiung-wan ist nämlich die erste der fünf obersten Klassen des persönlichen Adels, wohin nur die Mitglieder und Abkommen der kaiserlichen Familie gehören. Als die beiden Chinesen diese zwei Silben hörten, verbeugten sie sich so tief, daß ihnen ihre Zöpfe nach vorn über die Köpfe flogen, und der Ho-tschang fragte im Tone tiefster Ergebenheit:

»So sind Sie der Nachkomme eines glänzenden Ahnen?«

»Des glänzendsten, den es gibt. Er hieß A-dam; vor ihm beugten sich alle Geschöpfe der Erde, und er ist der Urvater aller Kaiser und Könige. Mein Name wird also genügen, so daß ich diejenigen meiner anderen Begleiter nicht zu nennen brauche. Jeder von ihnen ist ein Tao-kuang in unserem Vaterlande, und wenn wir mit euch fahren, werdet ihr alle ihre zehntausend Vortrefflichkeiten kennen lernen. Vor allen Dingen aber möchten wir wissen, wie viele »Wasserfüße« wir haben müssen, um mit euch nach Kanton zu gelangen.«

»Der Herr des Schiffes hat mir bereits gesagt, daß er für die Person einen Dollar verlangt hat. Da ihr aber so vornehme Herren seid, denke ich, daß ihr uns beiden außerdem noch ein Kom-tscha geben werdet.«

»Ihr sollt pro Mann einen Dollar bekommen.«

»Herr, eure Gnade ist über alles Erwarten groß. Wenn ihr das Geld sogleich bezahlt, werdet ihr sofort Zeuge des Kongpit sein.«

Turnerstick und der Mijnheer zahlten je zwei Dollar, der Methusalem für sich, Gottfried und Richard vier Dollar, folglich hatten die beiden Schiffsoffiziere drei Dollar Trinkgeld, worüber sie sich außerordentlich erfreut zeigten.

Während des Gespräches hatte sich das vorher so menschenleere Deck bevölkert. Die Bemannung war unter Deck gewesen und nun heraufgekommen. Die Leute standen in der Nähe des Tisches. Von ihnen lösten sich zwei ab, welche langsam herbeikamen. Der Methusalem erkannte den Schiffseigner. Der andere trug eine mönchsähnliche Tracht. Jedenfalls war er der Hiang-kung, der Priester des Schiffes.

Der erstere erhielt von dem Kapitän das Passagegeld, natürlich aber nicht das Trinkgeld. Die vier Chinesen traten beiseite, sprachen eine Weile miteinander und warfen dabei scharf forschende Blicke auf die Passagiere. Der Schiffseigner hatte, wie von Degenfeld ganz richtig bemerkt worden war, kein vertrauenerweckendes Gesicht, der Priester sah noch finsterer aus. Ihre Blicke glichen denen von Händlern, welche eine Ware scharf abschätzen wollen.

»Die Kerls gefallen mir gar nicht,« sagte der Methusalem. »Sie betrachten uns wie Kolli, die in ihren Besitz übergehen sollen. Warum sprechen Sie heimlich miteinander?«

»Das ficht mich nichts an,« antwortete Turnerstick. »Ein Kapitän muß wissen, wen er an Bord hat, und daß wir ihr Befremden erregen müssen, versteht sich ganz von selbst. Lassen Sie die Kerls immer reden. Mir gefallen sie, obgleich sie kein Wort von meinem Hochchinesisch verstehen. Lassen Sie uns nur in das Innere des Landes kommen. Da werden Sie sehen, welchen Effekt ich mit meinen Sprachkenntnissen mache! Überdies ist diese ›Schui-heu‹ ein wahres Prachtschiff, schmuck und sauber im höchsten Grade. Vielleicht läßt man uns auch einen Blick unter Deck werfen. Am liebsten möchte ich gleich hier bleiben. Vielleicht thue ich es auch, wenn sie es erlauben. Warum soll ich im Hotel übernachten und so viel Geld bezahlen?«

Als ob sie die Worte des Kapitäns gehört hätten, kamen die vier jetzt wieder herbei, und der Kapitän sagte:

»Ich habe den Hiang-kung benachrichtigt, daß ihr das Kong-pit mit ansehen wollt. Er würde es gern erlauben, darf aber nicht, weil ihr dann wohl das Schiff verlassen werdet, um erst morgen früh wieder an Bord zu kommen.«

»Das beabsichtigen wir allerdings,« bestätigte Degenfeld. »Aber warum soll dieser Umstand ein Hindernis sein?«

»Weil dann das Kong-pit nicht zutreffen würde. Wer bei demselben gewesen ist, darf das Schiff vor der Abfahrt nicht wieder verlassen, wie sich ganz von selbst versteht.«

»Was ist denn dieses Kong-pit für ein Dings?« erkundigte sich Turnerstick in deutscher Sprache. »Kennen Sie es, Methusalem?«

»Ich habe davon gelesen,« antwortete der Gefragte. »Kong-pit heißt wörtlich: ›das Herabsteigen zum Pinsel‹. Es ist das Geisterschreiben bei den Chinesen, ähnlich wie bei uns der Unsinn des Tischrückens oder des Spiritismus.«

»Geisterschreiben? Das muß ich sehen! Ich habe zeit meines Lebens noch keinen Geist gesehen, auch noch keinen Brief von so einem Wesen erhalten.«

»Ik ook nok niet; ik will ook zien schryven dezen Keerl van ginds – ich auch noch nicht; ich will auch diesen Kerl aus dem jenseits schreiben sehen,« meinte der Miinheer.

Und Richard Stein bat:

»Einen Geist, welcher schreibt? Lieber Onkel Methusalem, den möchte ich auch gern sehen. Können wir nicht gleich hier bleiben?«

»Warum denn nicht?« antwortete Gottfried von Bouillon. »So 'ne Jeisterjeschichte ist mich zwar immer verdächtig. Jeister können mich eben nie imponieren. Der einzige ehrliche Jeist ist doch nur der auf Flaschen je- und wohljezogene. Aberst ich mochte es mich doch mal jenehmigen, eenen Jeist mit Pen-tse, also mit Zopf zu sehen, und so verhoffe ich, dat unser Methusalem es möglich macht.«

»Hm!« zuckte der Genannte die Achsel. »Viel liegt mir gar nicht daran; aber was hindert uns, gleich hier zu bleiben? Das Wenige, was wir am Lande noch zu thun haben, ist bald geordnet, und da ihr mich überstimmt, so will ich mich in eueren Wunsch ergeben.«

Er sagte das dem Kapitän. Dieser ließ sich Instruktion erteilen und sandte dann mehrere Leute ab, welche für die Reisenden einkaufen sollten, was der Methusalem als nötig angegeben hatte. Einer von ihnen mußte in das Hongkong-Hotel gehen, um dort dem Wirte zu melden, daß die Gäste nicht zurückkehren würden; der Mijnheer gab ihm eine schriftliche Bescheinigung mit.

Als diese Veranstaltungen getroffen waren, durften die Passagiere das Innere des Schiffes besichtigen und die Koje oder vielmehr Kajüte in Augenschein nehmen, welche ihnen als Aufenthaltsort dienen sollte.

Die Dschunke machte auch in ihrem Innern ihrem Baumeister und den sie regierenden Offizieren alle Ehre. Sie führte nur zwei Deckkanonen, und der Kapitän versicherte, daß keiner seiner Matrosen bewaffnet sei. Er behauptete, vor den Räubern vollständig sicher zu sein, da die »Königin des Wassers« das am schnellsten segelnde Schiff des chinesischen Meeres sei und von keinem anderen eingeholt werden, im Gegenteile aber jedem leicht ausweichen könne.

Nach Kanton sollte das Schiff in Ballast gehen und erst dort Ladung nehmen, da es hier in Hongkong die bisherige gelöscht hatte. Nur eine Anzahl großer, schwerer Kisten standen im Güterraume. Sie enthielten die Maschinenteile einer großen Brennerei, welche in der Nähe von Kanton gebaut worden war und deren Eigentümer die Maschinen in Europa bestellt hatte. Sie waren von der »Königin des Wassers« in Singapore in Empfang genommen worden.

So erzählte der Ho-tschang und die Reisenden hatten keine nähere Veranlassung, die Wahrheit seiner Angaben in Zweifel zu ziehen.

Nur eins fiel dem Methusalem auf, nämlich die ungewöhnlich große Anzahl der Matrosen, welche mit der Größe des Schiffes und der Einfachheit des Takelwerkes gar nicht im Verhältnisse stand. Das konnte aber, wie Turnerstick meinte, auf chinesischem Brauche beruhen und war also kein Grund, Mißtrauen zu erwecken. Ein chinesischer Matrose bekommt so wenig Lohn und so wenig Essen, welches nur in billigem Reis besteht, daß ein Reeder oder Kapitän sich schon den geringen Luxus einiger überzähliger Mannen gestatten kann.

Der Raum, welcher den Passagieren angewiesen wurde, war wirklich mehr Kajüte als Koje. Sie war zwar leer und nur mit einer Strohmatte belegt, aber so hoch, daß man aufrecht stehen konnte, und so lang und breit, daß die fünf Reisenden gut Platz hatten. Wenn die an das Land geschickten Matrosen die Decken brachten, nach denen sie mitgeschickt worden waren, so ließ sich ein für die Nacht recht bequemes Lager herstellen.

Lieb war es den Reisenden, daß zu ihrer ausschließlichen Bedienung ein Matrose kommandiert wurde, welcher des Englischen ziemlich mächtig war. Er besaß kein mongolisches Gesicht, war klein und schmächtig und teilte ihnen mit, daß er ein Malaie sei und sein Englisch in Ostindien gelernt habe. Er war sehr gefällig, schien ihre Wünsche zu erraten, bevor sie dieselben aussprachen, und brachte ihnen allerlei Gegenstände herbei, welche ihm geeignet erschienen, der Kajüte ein wohnlicheres Aussehen zu geben.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die Schiffsoffiziere mehr zu thun hatten, als sich nur mit ihren Passagieren abzugeben. Diese saßen bei einander an Deck, um die Rückkehr ihrer Boten zu erwarten, welche nach chinesischer Art ungewöhnlich lang ausblieben. Es wurde indessen dunkel, und der Malaie hing eine Papierlaterne in ihrer Nähe auf. Dann ließ er sich so nieder, daß er ihre Befehle gleich hören konnte. Ob er auf ihr Gespräch achtete, war ihnen gleich, da sie sich in deutscher Sprache unterhielten, die sehr wahrscheinlich hier kein Mensch verstand.

Endlich kamen die Matrosen, welche die eingekauften Gegenstände brachten und in die Kajüte bringen mußten. Die Passagiere gingen natürlich auch dorthin. Das gab dem Malaien Gelegenheit, sich von ihnen unbemerkt zum Kapitän zu begeben, bei welchem sich in diesem Augenblicke der Priester befand.

»Nun,« fragte der erstere in englischer Sprache, »hast du etwas erlauscht?«

»Sehr viel. Ich kenne sie nun so genau, als ob ich schon wochenlang ihr Diener gewesen wäre.«

Der Malaie sprach jetzt ein sehr gutes amerikanisches Englisch, während er vorher den Passagieren gegenüber gethan hatte, als ob er es nur radebreche.

»Nun, wo sind sie her?«

»Vier von ihnen sind Deutsche, und der Dicke ist ein Dutchman, ein Holländer.

»Reich?«

»Dem Anscheine nach haben sie viel Geld bei sich.«

»Und was sind sie? Der mit der blauroten Nase sagte, er sei vom höchsten Adel; Adam nannte er seinen Anherrn.«

»Das glaube ich. Adam ist der erste erschaffene Mensch, also der Anherr aller Menschen.«

»So hat dieser Mensch mich belogen?«

»Vielleicht ist die Reihe seiner Ahnen eine berühmte. Er und seine zwei Begleiter tragen die Tracht derjenigen jungen Leute, welche in Deutschland Mandarinen, also Kuan-fu werden wollen.«

»Also sind sie es noch nicht?«

»Nein.«

»Betrüger! Was sind die beiden anderen?«

»Der Dicke ist ein Hong-tse, ein Kaufmann, welcher hier ein Geschäft gründen will und also viel Geld bei sich haben muß. Der chinesisch Gekleidete aber muß ein Ho-tschang sein wie du. Er ist halb verrückt und gibt sich für einen Futsiang aus, was ihm sehr übel bekommen kann.«

»Und was wollen diese Deutschen in China?«

»Sie suchen den Oheim des jüngsten von ihnen, welcher sehr, sehr reich sein muß. Auch suchen sie eine Frau und deren Kinder.«

»Das hast du gehört?«

»Ja, sehr deutlich.«

»Haben sie denn englisch gesprochen?«

»Nein, sondern deutsch, ihre Muttersprache.«

»Und die verstehst du?«

»Ja. Du weißt doch, daß ich geborener Yankee bin und meinem Kapitän davonlief, weil ich einem Matrosen das Messer in den Leib gestoßen hatte und dafür in Eisen gelegt werden sollte. Ich bin da auf die ›Königin des Wassers‹ gekommen, wo mich keiner findet und es mir noch viel besser gefallen wird, wenn ich erst Chinesisch besser verstehe. Ich bin mit deutschen Matrosen gefahren und habe von ihrer Sprache, welche der englischen ähnlich ist, so viel gelernt, daß ich diese fünf Passagiere ziemlich gut verstehe.«

»Das ist vortrefflich! Horche nur weiter; aber laß dir nichts merken! Ich werde dich extra belohnen. Das Geld haben sie einstecken?«

»Natürlich! Aber diese Leute tragen ihr Vermögen nicht in Metall, sondern in Wechseln und andern Papieren bei sich.«

»Davon verstehe ich nichts. Ich werde also ihnen die Münzen abnehmen und die Papiere an den Hui-tschu in Ngo-feu verkaufen.«

»Du willst also nicht nach Kuang-tschéu-fu?«

»Fällt mir gar nicht ein! Während die Kerls schlafen, gehen wir in See.«

»Wir haben aber Flut; da wird es schwer gehen.«

»Wir warten, bis die Ebbe eintritt.«

»Die Leute werden es merken.«

»O nein, denn sie bekommen Opium in das Getränk und der Landwind wird uns ganz geräuschlos in die See treiben, wo wir sie in das Wasser werfen. Meine Papiere sind in Ordnung; ich kann also fort, wenn es mir beliebt.«

»Ertränken willst du sie?«

»Gewiß! Hast du Mitleid mit ihnen? Meinst du, daß ich sie leben lassen soll, damit sie dann verraten, daß meine ›Schuiheu‹ ein Tseu-lung-yen ist?«

»Daran denke ich nicht. Aber jetzt dürfen sie noch nicht sterben, sondern erst später in Ngo-feu bei dem Hui-tschu.«

»Warum?«

»Weil wir ohne sie ihre Papiere nicht verkaufen oder sonst verwerten können. Ich kenne das.«

»Du mußt es freilich besser wissen als ich. Müssen sie denn dabei sein?«

»Ja, sie müssen ihre Einwilligung und Unterschrift geben.«

»Das werden sie nicht thun.«

»Sie werden es, wenn du ihnen sagst, daß sie sonst sterben müssen. Sie werden glauben, sich dadurch vom Tode loszukaufen.«

»Und wenn sie es gethan haben, so töten wir sie dennoch! Das meinst du doch?«

»Ja.«

»Du bist ein kluger Mensch. Ich sehe ein, daß ich dich sehr gut gebrauchen kann. Du wirst es gut bei mir haben. Kehre jetzt zu ihnen zurück und suche noch mehr zu erfahren! Wir werden sie trotz ihrer Waffen leicht überwältigen, denn sie werden schlafen wie die Toten. Nur der Hund macht mir Sorge. Er ist ein gewaltiges, starkes Tier.«

»Gib ihm vergiftetes Fleisch!«

»Da hast du recht. Dein Rat ist gut, und ich werde ihn befolgen. Also gehe jetzt! Wir werden nun das Kong-pit vornehmen und sie dazu einladen. Das gibt uns Gelegenheit, ihnen Sam-chu mit Opium zu trinken zu geben.«

»Da will ich dich noch auf eins aufmerksam machen. Vielleicht kommen sie auf den Gedanken, auch den Geist zu befragen. Nach dem, was ich dir von ihnen mitgeteilt habe, kann er seine Antworten sehr leicht einrichten, wenn er ein Geist der Klugheit ist.«

Er ging und begab sich nach der Kajüte, wo er seine jetztweiligen Herren thätig fand, sich dieselbe möglichst behaglich einzurichten. Während er ihnen dabei behilflich war, bediente er sich wieder des gebrochenen Englisch und achtete auf jedes Wort, welches gesprochen wurde.

Dann kam der Kapitän, um seine Passagegäste zum Kong-pit abzuholen.

Degenfeld, welcher über diesen in China sehr gebräuchlichen Vorgang gelesen hatte, war vollständig überzeugt, daß demselben eine beabsichtigte Täuschung, also ein Schwindel zu Grunde liege, und er fühlte sich sehr wißbegierig, zu sehen, wie man denselben ausführen werde.

In China pflegt man mit Hilfe feiner Pinsel zu schreiben. Der Name »das Herabkommen zum Pinsel« bezeichnet also einen Vorgang, bei welchem ein Geist herabsteigt, um mit Hilfe eines besonders zu diesem Zwecke konstruierten Pinsels die ihm vorgelegten Fragen schriftlich zu beantworten.

Es ist ganz selbstverständlich, daß der Geist nicht in sichtbarer Gestalt erscheint, sondern es ist eine Person, stets von hervorragender Stellung, vorhanden, deren er sich bedient, um sich bemerkbar zu machen. Man hat es also, gerade wie in unseren spiritistischen Versammlungen, mit einem »Medium« zu thun. Dieser angebliche schriftliche Verkehr mit der Geisterwelt besteht in China schon seit Jahrhunderten, und es ist gewiß höchst interessant, zu erfahren, daß das Kong-pit auch zu jenen »Erfindungen« gehört, in oder mit denen die Chinesen uns vorangegangen sind.

Es wird vorher von einem Aprikosenbaume unter gewissen Zeremonien ein dünner Zweig abgeschnitten. Dabei entschuldigt man sich bei dem Baume über die ihm widerfahrene Verletzung dadurch, daß man diejenigen Zeichen in seine Rinde schneidet, welche ihm sagen, daß der Zweig als »Geisterpinsel« gebraucht werden solle. Sodann verschafft man sich ein Stück Bambus, einen Zoll dick und ungefähr einen Fuß lang. Der Aprikosenzweig wird wie ein Pinsel zugeschnitten und rechtwinkelig genau in die Mitte des Bambusstückes gesteckt, so daß beide also folgende Gestalt besitzen: ┬

Das Medium hat diese Vorrichtung mit nach oben gerichteten Händen an den beiden Enden des Bambus so anzufassen, daß der Aprikosenpinsel nach abwärts zeigt, also genau so, wie unsere zweifelhaften Wünschelrutenkünstler ihr Werkzeug anfassen müssen. Der Mann hält dann den Pinsel über einen Tisch, dessen Platte mit feinem, glattgewalztem Sande bestreut ist, und nun kann der Geist, indem er auf die Hände des Mediums einwirkt und den Pinsel über den Sand führt, die ihm vorgelegten Fragen beantworten.

Bei der unnatürlichen Stellung der Hände kommen dieselben bald ins Zittern, dennoch wird es einem geübten Medium nicht schwer werden, lesbare Zeichen in dem Sande hervorzubringen. Ganz selbstverständlich fällt bei verfänglichen Fragen die Antwort stets so aus, daß sie verschiedene Deutungen zuläßt, deren eine wohl in Erfüllung gehen und das Richtige treffen wird.

Da das Kong-pit als eine religiöse Handlung betrachtet wird, so darf es nur unter gewissen Zeremonien vorgenommen werden. Übrigens hat sich der Geist zu legitimieren. Er hat seinen Namen, seinen Stand und die Dynastie, unter welcher er als Mensch auf Erden wandelte, anzugeben. Je älter diese letztere ist, bei welcher Angabe es aber auf einige hundert oder gar tausend Jahre nicht ankommt, desto ehrfurchtsvoller wird der Geist behandelt. Man nimmt an, daß eine Täuschung ausgeschlossen sei, da die Hände des Mediums eine Stellung haben, welche das Schreiben unmöglich macht.

Als die Männer auf das Deck traten, war es dunkle Nacht. Zwischen Mittel- und Hintermast hingen Papierlaternen, welche den Platz leidlich erleuchteten. In der Nähe des bereits erwähnten Tisches, welcher die Weihgeschenke für den Geist enthielt, stand ein zweiter, der mit einer glatten Schicht Sand bedeckt war. Die Mannschaft bildete um diese Stelle einen Kreis, in welchen der Ho-tschang die Deutschen führte. Dort waren mit Hilfe von Kisten Sitze für sie hergerichtet.

Als sie sich unter allgemeinen Verbeugungen da niedergelassen hatten, trat der Priester hervor und begann, natürlich in chinesischer Sprache:

»Wir stehen im Begriff, einen Geist über den Verlauf unserer Fahrt zu befragen. Wir bringen hierzu die ernstesten, weihevollsten Gesinnungen mit und werden unsere Bitte an Matsupo, die erhabene Gottheit des Meeres, richten.«

Er gab einen Wink, worauf zwei Sessel und das Bild der Meeresgottheit gebracht wurden. Er stellte die Stühle eng nebeneinander an eine Seite des mit den Opfergaben bedeckten Tisches und forderte die Gottheit auf, sich auf den Ehrenplatz niederzulassen. Da in China der Vornehmere zur Linken sitzt, so wurde das Bild auf den betreffenden Sessel gestellt, während der jetzt noch leere rechte Stuhl für den zu erwartenden Geist bestimmt war.

Jetzt zog der Priester ein gelbes, beschriebenes Papier hervor und las den Inhalt desselben laut ab. Dieser lautete: »Wir haben an diesem Abende Sam-chu und andere Gaben vorbereitet und ersuchen unseren mächtigen Schutzpatron, uns einen allwissenden Geist zu rufen, welchem wir unsere Fragen vorlegen können. Wir werden denselben dort an der Schiffstreppe empfangen.«

Er verbrannte das Papier und warf die Asche in die Luft. Nun entstand eine mehrere Minuten lange Pause des Wartens, denn man mußte doch dem Schutzpatron Zeit lassen, einen passenden Geist zu finden. Während dieser Pause hatte der Priester das Götzenbild mit einem Tuche bedeckt, um anzudeuten, daß die Meeresgottheit sich auf der »Suche« nach dem Geiste befinde und also abwesend sei.

Dann entfernte er das Tuch. Das Bild stand auf seinem Platze; die Gottheit war also wieder zurück und hatte jedenfalls einen Geist, welcher nun unten an der Schiffstreppe wartete, mitgebracht. Darum gab der Priester dem Ho-tschang und dem To-kung einen Wink, denselben dort abzuholen.

Die beiden Offiziere gingen nach der Treppe und forderten den Geist in lauten, höflichen Worten auf, herauf zu kommen und sich bei ihnen niederzulassen. Höchst wahrscheinlich hatte er dieser Einladung Folge geleistet, denn sie brachten ihn zwischen sich geführt, indem sie sich unaufhörlich gegen ihn verbeugten. Der Priester empfing ihn mit ebenso tiefen Verneigungen und ersuchte ihn ehrerbietigst, auf dem für ihn reservierten Stuhle Platz zu nehmen.

Diese Szene war so wunderlich, daß die Deutschen kaum im stande waren, ihr Lachen zu unterdrücken. Der Geist war natürlich unsichtbar, und darum nahmen sich die Verbeugungen und die an ihn gerichteten Worte außerordentlich komisch aus.

Alle an einen Geist gerichteten Fragen müssen auf ein Papier geschrieben werden, welches man dann verbrennt, um den geschriebenen Zeichen, wie man meint, eine geistige Form zu geben. Jetzt schrieb der Priester zunächst die Frage auf, ob der »wolkenwandelnde« Geist angekommen sei, verbrannte das Papier und streute die Asche in die Luft. Dann ergriff er den Geisterpinsel in der beschriebenen Weise und hielt denselben über den mit Sand bestreuten Tisch. Seine Hände begannen zu zittern; das Werkzeug kam in Bewegung, und der Aprikosenzweig fuhr hörbar durch den Sand. Der Methusalem schaute nach. Da stand deutlich geschrieben:

»To, d. i. angekommen.«

Er war also da. Weil der Priester den Pinsel zu halten hatte, mußte im weiteren Verlaufe der Kapitän die Fragen aufschreiben und die Papiere in Asche verwandeln. Durch die nun an den unsichtbar auf dem zur rechten Hand sitzenden Auskunftgeber gerichteten Fragen und die von ihm mit Hilfe des Priesters in den Sand geschriebenen Antworten erfuhr man, daß er zuletzt Kia-tsong geheißen habe und unter der Dynastie der Wu-ti ein Wang des Ostens gewesen sei. Da die berühmten Wu-ti vor über viertausend Jahren gelebt haben und ein Wang der höchste Beamte des Reiches ist, so war der unsichtbar anwesende Vizekönig jedenfalls ein Geist, auf den man stolz sein konnte.

Das sah der Priester natürlich ein. Er fühlte sich zur größten Höflichkeit verpflichtet, legte seinen Geisterpinsel beiseite, verbeugte sich zur Erde und bat den Geist, doch die Güte zu haben und von dem Weine zu kosten.

Dieser Wein war kein Traubenwein, sondern gegorener Reis, Sam-chu genannt. Ein Geist ist natürlich zu stolz, zu essen oder zu trinken, wenn Leute es sehen, welche noch ungestorben sind. Darum wurden die Laternen mit Matten, welche zu diesem Zwecke bereit gehalten waren, verhängt, so daß es rundum dunkel war.

Der Methusalem war der einzige unter den Passagieren, welcher alles verstand.

Gottfried von Bouillon und Richard Stein hatten sich während der Schiffsreise zwar auch mit der chinesischen Sprache beschäftigt, waren aber noch nicht so weit, einer solchen Zeremonie von Wort zu Wort folgen zu können. Turnerstick und der Dicke verstanden aber gleich gar keine Silbe. Darum benutzte Degenfeld jede eintretende, wenn auch noch so kleine Pause, ihnen mit leiser Stimme das Gehörte zu verdolmetschen und das Gesehene zu erklären.

Der Tisch mit dem Sande war, sobald das Fragen und Antworten begann, an den Opfertisch gerückt worden, so daß nur drei Seiten des letzteren frei blieben. Die erste dieser Seiten nahmen die beiden Sessel ein, auf denen die Meeresgottheit und der Geist thronten; an den beiden übrigen Seiten saßen die fünf Passagiere, und zwar so, daß der Mijnheer sich zur rechten Hand des Geistes befand. Diesem flüsterte, sobald die Laternen jetzt verdunkelt waren, der Blaurote zu:

»Passen Sie auf, Mijnheer, ob der Geist trinken wird! Man wird es doch vielleicht hören.«

Nach einer kurzen Pause berichtete der Dicke in ebenso leisem Tone:

»Hij drinkt, hij drinkt! Ik hoor 't slaarpen – er trinkt, er trinkt! Ich höre es schlürfen.«

»Es ist der Priester!«

»Deze vos! Ik word hijm leeren! Ik wet, wat ik word maken – dieser Fuchs! Ich werde ihm lehren! Ich weiß, was ich machen werde!«

Als dann auf einen Befehl des Priesters die Matten wieder von den Laternen entfernt worden waren, konnte jedermann sehen, daß der Geist getrunken hatte, denn der Inhalt des Gefäßes hatte sich vermindert.

Nun wurde der Geist gefragt, ob man gutes Wetter bekommen, ob die Fahrt glücklich sein und ob man gute Geschäfte machen werde. Die Antworten fielen so glücklich aus, daß der Priester sich verpflichtet fühlte, den Geist aufzufordern, ein Stück des auf dem Tische liegenden Kuchens zu essen.

Das Gebäck sah höchst appetitlich aus und war in acht gleich große Teile geschnitten. Wieder wurden die Lampen verhängt, dieses Mal für längere Zeit, denn selbst ein Geist bedarf mehr Frist, ein Stück Kuchen zu essen als um einen Schluck Branntwein zu nehmen.

Als dann die Laternen wieder enthüllt wurden, staunten alle. Der Geist hatte sich nicht nur mit einem Achtel begnügt, sondern den ganzen Kuchen verzehrt. Er war jedenfalls aus sehr weiten Regionen herabgestiegen, da er einen so großen Hunger hatte. Am meisten erstaunt war der Priester selbst. Seine Augen waren ganz erschrocken auf den Teller gerichtet, auf welchem der Kuchen gelegen hatte. Er wußte nicht, was er denken sollte. Der Zopf wollte ihm vor Schreck zu Berge steigen. Er hatte gemeint, einen Hokuspokus zu begehen. Sollte es doch in Wirklichkeit Geister geben? Sollte das Kong-pit kein Betrug sein? Sollte in Wahrheit dort auf dem scheinbar leeren Sessel ein Geist sitzen, der in so kurzer Zeit die übrigen sieben Achtel verschlungen hatte? Denn das eine Achtel hatte er, der Priester, im Schutze der Finsternis zu sich genommen.

Sein Auftreten war von jetzt an wenig sicherer als vorher. Die Hauptfragen waren beantwortet, und nun wurde es den Matrosen erlaubt, sich mit etwaigen Erkundigungen an den Geist zu wenden. Die abergläubischen Leute machten davon reichlichen Gebrauch. Das war den Offizieren lieb, da sie durch die Aussprüche des Orakels eine gewisse Macht über diese sonst schwer lenkbaren Menschen gewannen.

Der Geist gab auch jetzt so vortreffliche Antworten, daß der Priester ihn bat, die Gnade zu haben, noch einen Schluck zu trinken. Sobald die Laternen verdunkelt worden waren, schlich der betrügerische Geisterbanner sich herbei, um nach dem Kruge zu greifen und einen tüchtigen Schluck zu thun. Wie erschrak er aber, als seine Hand die Stelle leer fand, auf welcher derselbe soeben noch gestanden hatte. Fast hätte er laut aufgeschrieen. Es war also doch ein Geist vorhanden, welcher Kuchen aß und Sam-chu trank. Welch ein Triumph, wenn man das den Leuten zeigen konnte! Welch ein Anblick, einen in der Luft schwebenden Krug zu sehen, ohne aber den Trinkenden erblicken zu können! Er gab sofort den Befehl, die Hüllen von den Lampen zu entfernen. Als das geschah – – – stand der Krug wieder auf seinem Platze, aber vollständig leer. Er war ausgetrunken worden. Der Geist mußte ebenso durstig wie hungrig sein. Der Priester machte ein ganz unbeschreibliches Gesicht. Richard Stein aber, welcher neben dem Mijnheer saß, flüsterte diesem zu-

»Was soll man denken? Ich habe es wirklich trinken hören.«

»Zoo?« lächelte der Dicke. »Ik kan't niet gelooven – so? Ich kann es nicht glauben!«

»O doch! Ich hörte es so glucksen und schlürfen, wie wenn jemand recht hastig trinkt, um schnell fertig zu werden.«

»Zoo is de dorst zeer groot geweest – so ist der Durst sehr groß gewesen!«

Was den Priester und die Offiziere, welche den Schwindel des Kong-pit kannten, in Schrecken versetzte, das erregte den Jubel der Mannschaften, die nun überzeugt waren, daß ein Geist vorhanden sei, und zwar ein sehr vornehmer, der sich nicht mit einem Schluck Reiswein und einem Stück Kuchen abspeisen lasse. Der Geistercitierer faßte sich notgedrungenermaßen und fragte nun die Gäste, ob auch sie vielleicht wünschten, eine Frage an den Geist zu richten. Der Methusalem hatte sich bereits vorgenommen, darum zu bitten, und ging also schnell auf diesen Vorschlag ein. Er ließ die Frage aufschreiben, ob er und seine Gefährten den Zweck ihrer Reise erreichen würden. Als dann der Geist mit Hilfe des Mediums die Antwort in den Sand geschrieben hatte, trat Degenfeld hinzu, um die Antwort selbst zu lesen. Er geriet in das höchste Erstaunen, denn sie lautete:

»Ja. Ihr werdet den reichen Oheim finden, auch die Frau mit den Kindern, und der Holländer wird ein großes Geschäft kaufen.«

Der Methusalem übersetzte seinen Kameraden diese Antwort ins Deutsche, was ihre höchste Verwunderung zur Folge hatte. Es war klar: Der Geist kannte ihr Vorhaben, welches sie so geheim gehalten hatten! Die Genugthuung über ihre sichtbare Betroffenheit war bei dem Priester so groß, daß er die in ihm aufgetauchten Bedenken bezüglich des Geistes ganz vergaß und denselben höflichst aufforderte, den Anwesenden die Ehre zu erweisen, ein Stück Braten zu sich zu nehmen.

Dieser Braten war natürlich kalt geworden. Die sieben oder acht großen Stücke, welche auf dem Teller lagen, sahen recht einladend aus, fast wie recht knusperiger Kalbsbraten. Natürlich wurden die Lichter wieder verhüllt, und der Priester schlüpfte herbei, um heimlich zuzulangen. Da er aber der Sache nicht traute und in Erwartung dessen, daß er als Stellvertreter des Geistes werde tüchtig essen müssen, am Tage gar nichts zu sich genommen hatte, nahm er zwei Stücke weg, um nicht ganz schlecht wegzukommen, falls der Geist nochmals selbst auch zulangen werde.

Diese zwei Stücke verzehrte er mit großem Appetite und gebot dann, die Laternen wieder zu enthüllen. Kaum fiel der Schein derselben auf den Tisch, so konnte man sehen, daß der Teller vollständig geleert sei.

Dem Priester wurde es angst und bange, zumal er die bedenklichen Blicke bemerkte, welche die in seine Kunstgriffe eingeweihten Offiziere auf ihn warfen. Diejenigen Stücke, welche der Geist übrig zu lassen pflegte, waren stets für sie bestimmt. Jetzt mußten sie natürlich meinen, daß sie von dem Medium übervorteilt worden seien; sie mußten annehmen, daß der Priester das Fehlende zu sich gesteckt habe, um es später zu verzehren.

»Alle Wetter!« sagte der Methusalem halblaut. »Dieser Geist eines Vizekönigs muß wirklich seit über viertausend Jahren gehungert und gedurstet haben. Er ißt und trinkt ja wie ein deutscher Bauernknecht beim Dreschen!«

»Kann mich leid thun, der arme, liebe Nante!« meinte Gottfried von Bouillon. »Bei sonne jesegnete Mahlzeit muß sein Magen platzen, und dann ist es mit seine jute Konstitution vorüber. Wenn er sich mit so einer jrassen Indijestion wieder alleine hinauf in die Wolken findet, so soll man mir jetrost Jottfried von Oleum nennen anstatt von Bouillon!«

»Ich hörte ihn essen,« bemerkte Richard. »Das Schnalzen und Schmatzen war ganz deutlich.«

»Zoo?« fragte der Dicke. »Heeft hij gesnaalzen en smaazt?«

»Ganz deutlich. Es war so nahe, als ob Sie es seien.«

Um aus seiner Verlegenheit zu kommen, forderte der Priester nun auch die Offiziere auf, ihre Fragen vorzubringen. Sie lehnten es ab, und so sah er sich veranlaßt, den Geist zu verabschieden. Er schrieb eine höfliche Danksagung auf einen Zettel und verbrannte denselben. Der Geist aber besaß nicht weniger guten Ton, denn er fuhr in den Priester und zwang ihn, mit Hilfe des Pinsels in den Sand zu schreiben:

»Meine Herren, ich war sehr erfreut, Sie kennen zu lernen und danke Ihnen innigst für die Gaben, mit denen Sie mich beglückt und gestärkt haben. Ich muß nun schleunigst fort, denn es warten noch viele andere auf meine Hilfe, und so ersuche ich Sie, mich gefälligst nach der Treppe zu geleiten.«

Nachdem diese Abschiedsworte vorgelesen worden waren, wurde denselben Folge geleistet. Jeder der Anwesenden bekam ein brennendes, gelbes Papier in die Hand, und dann wurde ein Zug gebildet, um dem Geiste das Ehrengeleit nach der Schiffsleiter zu geben. Er ging wieder so, wie er gekommen war, nämlich zwischen dem Kapitän und dem Steuermanne, und obgleich er nicht zu sehen war, verbeugten sich doch alle unaufhörlich, bis er das Schiff verlassen hatte.

Die Deutschen waren auf ihren Plätzen geblieben. Es fiel ihnen nicht ein, den Hokuspokus mitzumachen und dadurch die Meinung zu erwecken, als ob sie demselben Glauben schenkten. Einiges daran war ihnen freilich unverständlich.

»Ein tüchtiger Esser und Trinker war dieser Jeist,« meinte Gottfried. »Er muß sehr lange jefastet haben.«

»Unsinn!« sagte Turnerstick. »Der Priester hat alles getrunken und gegessen.«

»Dieser dürre, kleine Kerl? Dat will mich nicht in den Kopf. Ich habe von hier aus jerochen, dat der Branntwein nicht janz ohne war. Er duftete wie neunzigjrädiger Spiritus. Und so ein Topf voll? Nein, dat ist der Priester nicht jewesen.«

»Ik ben't geweest,« erklärte da der Dicke. »Ik heb den Brandewijn dronken.«

»Sie?« fragte der Methusalem erstaunt. »Sie haben ihm den Krug wegstibitzt?«

»Ja.«

»Und ihn vollständig geleert?«

»Ja; hij was dook zeer klein en de Brandewijn zwak – ja, er war doch sehr klein und der Branntwein schwach.«

»Da geht mir freilich ein Licht auf! Dann haben Sie wohl auch den ganzen Kuchen gegessen?«

»Ik heb hij opefreten – ich habe ihn aufgefressen.«

»Und das viele Fleisch?«

»Heb ik ook opefreten – habe ich auch aufgefressen.«

»Aber Sie haben doch vorher im Hotel so reichlich gespeist! Wie ist es Ihnen denn da zu Mute? Wie befinden Sie sich da?«

»Zeer wel, allerbest; ik heb den koek zeer gaarne en ook het vlesch – sehr wohl, vortrefflich; ich habe den Kuchen sehr gern und auch das Fleisch.«

»Nun, dann brate nicht mir, sondern Ihnen einer einen Storch! Ich glaube, Sie würden auch diesen verzehren!«

»Een ooijevaar? Waarom niet, als hij goed gebraden is -einen Storch? Warum nicht, wenn er gut gebraten ist?«

Er sagte das mit einem solchen Ernste und so unbefangen, daß die anderen ein lautes Gelächter aufschlugen. Soeben kehrten die Chinesen von der Begleitung des Geistes zurück. Die Matrosen zerstreuten sich über das Verdeck; die Offiziere aber nahmen den Priester in ihre Mitte und begannen mit ihm ein sehr erregtes Verhör über den außerordentlichen Appetit, welchen der Geist entwickelt hatte. Er beteuerte seine Unschuld; sie aber glaubten ihm nicht und zwangen ihn, seine Taschen zu zeigen. Wie erstaunten sie, als sie dieselben leer fanden! Sie hatten den Priester nicht aus den Augen gelassen; er konnte also den Kuchen und das Fleisch nicht anderweit versteckt haben, und so gaben sie endlich kopfschüttelnd zu, daß heut einmal ausnahmsweise ein wirklicher Geist dagewesen sei.

Der Methusalem hatte sie von weitem beobachtet. Er erriet aus ihren Bewegungen den Gegenstand und Inhalt ihres Gespräches. Jetzt kamen sie herbei, um sich zu erkundigen, welchen Eindruck das Kong-pit auf ihn und seine Gefährten gemacht habe. Sie waren überzeugt, den Fremden außerordentlich imponiert zu haben. Degenfeld hätte ihnen seine Meinung so gern aufrichtig gesagt, aber damit hätte er sich sofort in Mißkredit gebracht, denn die Sitte befiehlt dem Chinesen, in allen Fällen höflich zu sein, und erlaubt ihm keine Ausnahme von dieser Regel. Darum verheimlichte der Blaurote seinen Unglauben und beantwortete aber die an ihn gerichteten Fragen mit möglichster Gleichgültigkeit. Darüber verwunderten sie sich so, daß der Ho-tschang fragte:

»Hat euch denn die Anwesenheit des Geistes nicht in Verwirrung gebracht?«

»Nein. Wie könnte sie das?«

»Der Geist ist doch ein höheres Wesen als der Mensch.«

»Das sagt ihr; ihr werdet mir aber wohl erlauben, anderer Meinung zu sein.«

»Dürfen wir diese Meinung erfahren?« ja. Welches ist das höchste irdische Wesen?«

»Der Mensch.«

»Woraus besteht er?«

»Aus dem Leibe und dem Geiste.«

»Ganz richtig. Wäre der Leib allein auch ein Mensch?«

»Nein.«

»Oder der Geist allein?«

»Auch nicht.«

»Wenn also weder der Leib allein noch der Geist allein würdig ist, ein Mensch genannt zu werden, so steht ihre Vereinigung, der Mensch, hoch über beiden. Wie könnte daher mich, der ich zu der Klasse der höchsten irdischen Geschöpfe zähle, die Anwesenheit eines Geistes, der unter mir steht, in Verwirrung bringen!«

Diese Logik, gegen welche er nichts zu sagen wußte, verblüffte den Ho-tschang. Dennoch fand er eine Entgegnung, welcher er auch Worte gab.

»Aber dieser Geist ist ein Wang gewesen!«

»Jetzt ist er es nicht mehr, und euer berühmtes Li-king, das Buch, nach welchem ihr euch in allen Lebenslagen zu richten habt, befiehlt euch, jedem die Ehre des Standes zu geben, welchem er augenblicklich angehört. Wie könnt ihr euch vor einem Geiste fürchten, der zwar Wang war, aber nicht mehr ist.«

»Vielleicht hat euer Volk recht, vielleicht das unsrige. Wir wollen uns nicht streiten. Aber da uns eine so glückliche Fahrt prophezeit worden ist, müssen wir uns darüber freuen, und diese Freude wollen wir durch ein Mahl feiern, zu welchem wir euch ehrerbietigst einladen.«

Mir danken euch! Wir wissen, was uns die Höflichkeit gebietet, und bitten euch also, euer Mahl allein zu verspeisen.«

»Ihr versteht mich falsch. Wir meinen unsre Einladung in vollem Ernste.«

»Auch mir ist es völlig Ernst mit meiner Abweisung. Folgte ich eurer Bitte, so müßtet ihr uns für sehr unbewanderte und unhöfliche Menschen halten. Ihr seid so höflich, uns einzuladen, wie dürften wir da so unhöflich sein, euch dadurch zu belästigen, daß wir euern Wunsch erfüllen!«

Der Blaurote hatte nach chinesischen Begriffen vollständig recht. Man darf nur derjenigen Einladung folgen, welche in aller Form und unter Überreichung eines großen, farbigen, dazu hergerichteten Papierbogens geschieht.

»Wir meinen unseren Wunsch wirklich aufrichtig,« drängte der Ho-tschang. »Wir haben keine gedruckten Einladungen an Bord, und da ich englisch spreche, meine ich meine Einladung nicht chinesisch.«

»Darf ich das glauben?«

»Ja, ich bitte sehr darum.«

»So will ich es wagen, die Einladung anzunehmen. Wann wird das Essen beginnen?«

»In einer halben Stunde. Ich selbst werde euch abholen.

Fleisch kann ich euch leider nicht vorsetzen, denn das hat der Geist verzehrt.«

»Ich habe es bisher nicht gewußt, daß Geister Fleisch essen. Vielleicht haben sie eine besondere Vorliebe für denjenigen Braten, welchen ihr ihm vorsetztet. Werdet ihr die Güte haben, mir zu sagen, von welchem Tiere dieses Fleisch gewesen ist?«

»Es war Dschi, das delikateste Essen, welches es nur geben kann. Darum hat der Geist uns leider nichts übrig gelassen.«

Indem der Methusalem zu seinen Gefährten zurückkehrte, welche während dieser Unterredung von fern gestanden hatten, lachte er über dieses Dschi still in sich hinein. Er führte sie nach dem Bug zu, da er ihnen eine Mitteilung zu machen hatte, und unbeobachtet sein wollte.

Dort angekommen, teilte er ihnen mit, daß sie zum Abendessen eingeladen seien, und fügte lächelnd hinzu:

»Aber Mijnheer van Aardappelenbosch wird da wohl nicht viel leisten können.«

»Waarom niet?« fragte der Dicke. »Ik ete en drink zeer gaarne.«

»Aber Sie haben am Nachmittage schon tüchtig gespeist und jetzt am Abende wieder.«

»Immers, doch heb ik evenwel alreeds wederom honger -allerdings, doch habe ich trotzdem schon wiederum Hunger.«

»Mijnheer, ist das möglich? Was für einen Magen müssen Sie haben!«

»Ja, mijn maag is goed, maar miin buik niet. Hij is zoo zwak – ja, mein Magen ist gut, aber mein Bauch nicht. Er ist so schwach.«

Er legte mit der traurigsten Miene die Hände an den Bauch und fragte dann den Methusalem in dringlichem Tone:

»Wat zeggt het woordenboek van de buik?«

»Was das W-örterbuch von dem Bauche sagt? Das wollen wir nicht erörtern. Ich halte es für viel interessanter, Sie zu fragen, ob Sie wissen, was für Fleisch Sie gegessen haben.«

»Gebraden kalfvleesch.«

»Leider nicht. Es war nicht Kalb, sondern Dschi.«

»Dschi? Dat weet ik niet.«

»Sie wissen nicht, was Dschi ist?«

»Neen.«

»So raten Sie einmal!«

»Goed; is't een dier?«

»Ja, es ist ein Tier.«

»Kan't vliegen?«

»Nein, fliegen kann es nicht.«

»Kan't zwemmen?«

»Ja, schwimmen kann es.«

»Kan't ook loopen?«

»Laufen kann es auch.«

»Is het geschoten worden van de Jager?«

»Nein, es ist nicht vom Jäger geschossen worden. Der Jäger schießt es nie, denn er nimmt es als beste Hilfe mit auf die Jagd.«

Das runde Gesicht des Miinheer wurde zusehends länger.

»O mijn Holland en Nederland!« rief er erschrocken aus. »Is het een hond?«

»Ja, Hund ist es. Dschi heißt Hund. Sie haben Hundebraten gegessen. Wissen Sie nicht, daß man in China gewisse Hunderassen, welche schnell fett werden, mästet, um sie dann zu schlachten und zu verzehren?«

»Hondvleesch, Hondvleesch heb ik gegeten!« schrie der Dicke.

Er raffte sich von seinem Sitze auf und wollte davoneilen, besann sich aber doch eines anderen. Er drehte sich wieder um, schlug sehr energisch mit der einen Hand in die andere und rief:

»Neen, en driemal neen, en duizendmal neen! Wat in de maag is, dat moet ook in de maag blijven – nein, und dreimal nein und tausendmal nein! Was in dem Magen ist, das muß auch in dem Magen bleiben!«

»Selbst wenn es ein Hund ist!« lachte der Methusalem.

»Ja, de Hond moet blijven! Ik et nook een gebraden openop – ja, der Hund muß bleiben! Ich esse noch einen Braten obendrauf.«

Alle lachten. Er aber nahm wieder auf seiner Decke Platz, und in seinem fetten, zufriedenen Angesicht war nicht die mindeste Spur des Ekels zu bemerken, den er soeben empfunden hatte.

»So, den Hund haben wir begraben,« fuhr der Methusalem fort. »Nun fragt es sich, ob wir das andere ebenso leicht bewältigen. Haben Sie sich nicht über die Antwort gewundert, welche der Geist auf meine Frage gab?«

»Außerordentlich!« sagte Turnerstick. »Erst, als sie unter so emsigen Verbeugungen den Geist, den man doch nicht sehen konnte, geführt brachten und ihn so höflich einluden, sich niederzusetzen, mußte ich mir alle Mühe geben, das Lachen zu verbeißen. Später aber, als Sie mir die Antwort verdolmetschten, was übrigens nur darum nötig war, weil dieser Geist ein so miserables Chinesisch diktiert hatte, wußte ich wirklich nicht, woran ich war.«

»Aber jetzt, nun wissen Sie es?«

»Aufrichtig gestanden, nein.«

»Aberst ich weiß jenau, wat ich von die Sache zu denken habe,« fiel Gottfried ein. »Dieser Jeist leidet an Schwindel, wat jar nicht zu verwundern ist, da er ja aus die Wolken jekommen ist. Die Schreiberei auf den Sand ist sonner Mumpitz, dat ich dem Priester jewiß wat hinter die Ohren jewidmet hätte, wenn ich nicht als Fremder verpflichtet wäre, nur meine anjenehmen Eijenschaften zu zeijen. Es hat mir die jrößte Mühe jekostet, dem Betrüjer nicht mit die Hände im Jesichte herum zu lustwandeln.«

»Aber seine Antwort auf meine Frage!«

»Ja, die ist mich allerdings auch noch eine unentdeckte Himmelsjejend. Ich kann sie mich unmöglich erklären. Sie vielleicht?«

»Ja. 'Wir sind doch wohl alle darüber einig, daß von einem Geiste keine Rede ist. Der Priester gibt die schriftlichen Antworten nach eigenem Ermessen und nicht infolge der Einwirkung eines überirdischen Wesens. Er muß also wissen, welchen Zweck -wir in China verfolgen. Er hat es erfahren; aber von wem?«

»Von mich kein Wort!«

»Van mij ook niet!« beteuerte der Mijnheer.

»Das glaube ich gern. Wer es ihm verraten hat, muß der chinesischen Sprache mächtig sein. Es ist nur die eine Erklärung möglich, daß wir belauscht worden sind und zwar hier auf dem Schiffe. Wann haben wir von unseren Absichten gesprochen? Als wir beim Eintritte der Dunkelheit vor unserer Kajüte saßen. Und wer von der Schiffsmannschaft war da bei uns? Der Malaie, welcher uns bedient. Er also muß es sein, der das Erlauschte dem Priester verraten hat.«

»Aberst wie sollte dat möglich sein? Wir haben ja deutsch jesprochen.«

»Allerdings. Aus diesem Grunde ist zu vermuten, daß er deutsch versteht.«

»Ein Malaie?«

»Kann ein Malaie nicht mit Deutschen in Berührung gekommen sein? Ist dieser Mann wirklich das, für was er sich ausgibt? Er trägt sein Gesicht zwar rasiert, hat aber dichten Bartwuchs, was bei einem echten Malaien nicht vorkommt. Seine Farbe ist nicht gelbbraun und sein Schädel nicht breit ,wie bei einem solchen. Von vorstehenden Backenknochen ist keine Rede. Dazu kommt, daß sein Englisch einen eigentümlich amerikanischen Beigeschmack hat. Er spricht gebrochen, bringt aber dabei zuweilen Wortverbindungen, welcher sich nur einer, dem die Sprache geläufig ist, bedienen kann. Auf das alles habe ich vorher kein Gewicht gelegt; nun ich aber Verdacht fasse, denke ich daran. Fast möchte ich ihn für einen Yankee halten, und in diesem Falle wäre es kein Wunder, daß er deutsch versteht, da sich in den Vereinigten Staaten Millionen unserer Landsleute befinden.«

»Ein Yankee unter chinesischen Matrosen?« meinte Turnerstick. »Könnte einer sich wirklich so vergessen?«

»Warum nicht. Kann er nicht aus irgend einer Ursache vom Schiffe gelaufen sein?«

»Hm! So etwas kommt freilich öfters vor. Und die Zopfleute nehmen einen befahrenen Matrosen jedenfalls sehr gern bei sich auf. Wenn Sie recht haben, so ist der Kerl ein Deserteur, dem nichts Gutes zuzutrauen ist.«

»Das ist auch meine Ansicht. Warum lauscht er? Warum verschweigt er seine Nationalität? Warum sagt er wieder, was er gehört hat? Warum bekennt er nicht offen, daß er uns versteht? Er verfolgt eine Absicht, welche keine gute ist. Warum hat man gerade ihn zu unserer Bedienung kommandiert? Er steht im Einvernehmen mit dem Kapitän gegen uns. Man hat irgend etwas Böses gegen uns vor.«

»So schlimm wird es wohl nicht sein. Ist er wirklich ein entlaufener Matrose, so hat er Grund, es uns nicht wissen zu lassen. Es ist da keineswegs gleich zu behaupten, daß man im allgemeinen und er im besonderen böse Absichten gegen uns im Schilde führt.«

»Mag sein! Aber wir wollen uns gegen ihn beobachtend verhalten und in seiner Gegenwart nicht wieder von unsern Angelegenheiten sprechen. Ich werde ihm auf den Zahn fühlen und zwar so, daß er sich verraten muß. Am liebsten möchte ich das Schiff verlassen. Die Gesichter gefallen mir hier nicht.«

»Pah! Wer wird da gleich so Schlimmes denken. Ich habe Sie gar nicht für so ängstlich gehalten, wie ich Sie jetzt finde.«

»Ich bin nur vorsichtig, nicht furchtsam. Vielleicht täusche ich mich; aber ich werde mich sehr aufmerksam verhalten. Wäre ich allein, so würde ich von Bord gehen und mein Passagegeld schwinden lassen. Sie aber sind anderer Ansicht, ich muß mich fügen.«

»Wij blijven op uwe scheep,« meinte der Dicke. »Wij bekomen een goed avondeten. Zouden wij daar foort gaan, Zoo zouden wij zeere ongelukkige nijlpaarde zyn – wir bleiben auf unserem Schiffe. Wir bekommen ein gutes Abendessen. Wollten wir da fortgehen, so würden wir sehr unglückliche Nilpferde sein.«

Dies war auch die Meinung der anderen, und so mußte der Methusalem sich fügen.

Während dieser Unterhaltung war der angebliche Malaie nicht zugegen gewesen. Bald darauf kam der Ho-tschang, um seine Passagiere zum Mahle abzuholen.

Die ihnen angewiesene Kajüte lag am Steuerbord des Vorderteiles. Ein direkt am Steven gelegener schmaler Raum wurde zur Aufbewahrung von allerlei Schiffsgerätschaften benutzt. Der daran grenzende breitere Teil des Aufdeckes war in zwei Hälften geteilt, deren jede einen besonderen Eingang hatte. Die rechts liegende Hälfte hatten die Reisenden inne. Ihre Wohnung wurde durch zwei Lukenöffnungen, welche in der Schiffswand angebracht waren, erleuchtet. Diese Fenster waren nicht mit Glas, sondern mit hölzernen Schiebern versehen, um sie bei schlechtem Wetter verschließen zu können.

Das Mahl sollte auf dem Mitteldeck eingenommen werden, an derselben Stelle, an der vorhin die Geisterbeschwörung stattgefunden hatte. Der Platz war jetzt mit vielen Lampen erleuchtet, welche aus gummiertem Reispapier gefertigt waren und einen sehr hübschen Eindruck hervorbrachten. An zwei zusammengeschobenen Tischen standen neue Bambussessel. Die Gedecks bestanden für jeden Gast aus einem Teller, einer kleinen Tasse, welche als Trinkglas zu dienen hatte, einer Art von dickem Porzellanlöffel, welcher aber so unförmlich war, daß er kaum in den Mund gebracht werden konnte, und den elfenbeinernen Eßstäbchen, von den Engländern Chopsticks genannt, während sie bei den Chinesen Kwei-tze heißen.

Der Chinese hat keine eigentlichen Löffel; ebensowenig bedient er sich des Messers oder der Gabel bei Tafel. Alle festen Speisen, Fleisch u.s.w. werden klein geschnitten serviert. Der Ungeübte spießt sich diese Stückchen aus der Brühe heraus, wozu er sich der Kwei-tze bedient, wird aber ausgelacht oder gilt für einen Mann, welcher die gute Sitte mißachtet. Der geübte Esser nimmt das eine Stäbchen zwischen den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das andere zwischen den Mittel- und Ringfinger; stoßen nun die Enden der Stäbchen zusammen, so bilden sie einen beweglichen Winkel, eine Art Zange, mit welcher man alles, selbst dünnen Reis, zum Munde zu bringen vermag. Wer erfahren will, welchen spaßhaften Anblick es gewährt, einen Ungeübten auf diese Weise essen zu sehen, der mag einmal selbst versuchen, mit zwei sechs Zoll langen und fast streichholzdünnen Stäbchen eine Gräubchensuppe zu genießen, ohne vom Teller bis zum Munde alles zu verlieren.

Der Platz, auf welchem die Tische standen, war durch an Schnuren hängende Landkarten von riesiger Größe von dem übrigen Verdecke abgeschlossen. Diese Karten stellten die Länder der Erde vor, aber nach chinesischer Anschauung. Sie hatten eine Größe von wenigstens je vierzig Quadratfuß. Neununddreißig Quadratfuß nahm das Reich der Mitte ein. Die anderen Länder der Erde samt allen Meeren waren auf dem vierzigsten angebracht. Rußland hatte die Größe einer Wallnuß; daran klebte Frankreich haselnußgroß. Jenseits dieser beiden Länder, von ihnen durch einen Fluß getrennt, welcher Tsin-tse, wahrscheinlich Themse, hieß, lagen Deutschland und England in der imponierenden Größe einer Erbse. Spanien war neben die Vereinigten Staaten und Holland neben Java gemalt, und zwar nadelkopfgroß. Dagegen hatte der Jang-tse-kiang eine Breite von zwei Männerspannen, und Peking war dreimal größer dargestellt als sämtliches Ausland zusammen genommen. So hat Gott nach Anschauung der Chinesen die Erde unter die verschiedenen Völker verteilt. Da ist es gar nicht Wunder zu nehmen, daß sie einen außerordentlichen Nationalstolz besitzen und sich für das bevorzugteste Volk der Erde halten. Diejenigen von ihnen aber, welche Gelegenheit finden, fremde Länder zu sehen, fühlen sich gewöhnlich von diesem Irrtum sehr schnell geheilt, beharren aber trotzdem auf der Ansicht, daß sie die gebildetsten Menschen seien.

Außer den fünf Gästen nahmen noch der Ho-tschang, der To-kung, der Hiang-kung oder Priester und der Besitzer des Schiffes an den Tischen Platz. Und nun wurden die Speisen gebracht.

Das erste Gericht bestand aus gesottenen Eiern, welche mit Brennesseln zerhackt und mit Essig gewürzt waren.

»Wat voor eyeren zijn deze eyeren?« fragte der Dicke.

»Es sind Krokodilseier,« antwortete Gottfried von Bouillon, indem er ein sehr ernstes Gesicht machte.

»Foei! En deze eyeren zullen wij eten?«

»Natürlich!«

»Bliksem! Ik ete niets!«

Das Gericht sah ganz appetitlich aus. Er hatte auch schon seinen Löffel ergriffen, um sich davon auf den Teller zu nehmen, legte ihn aber schnell wieder weg.

Gottfried aber langte zu und gebrauchte seine Kwei-tze mit der Geschicklichkeit eines Chinesen. Er hatte ebenso wie der Methusalem und Richard Stein die Eßstäbchen daheim bei Yekin-li kennen gelernt und sich dann während der Seereise im Gebrauche derselben geübt. Indem er tüchtig kaute, meinte er zu dem Mijnheer, welcher neben ihm saß:

»Dat mundet mir. Krokodilseier sind doch eine jroßartige Delikatesse.«

»Denderslag, ik dank! Gij scherts, lieve vriend – Donnerschlag, ich danke! Sie scherzen, lieber Freund!«

»Nein; es ist mein Ernst. Versuchen Sie doch nur!«

»Neen; ik ete niet krokodil-eyeren.«

Er hielt sein Wort und rührte diese Speise nicht an; doch schien ihm sein Verzicht schwer zu werden, als er sah, wie gut es den andern schmeckte.

Dann wurde eine Brühe gebracht, in welcher kleine Fleischstückchen schwammen. Als er alle andern zulangen sah, fragte der Dicke vorsichtig:

»Is dit Hond?«

»Nein,« antwortete Gottfried.

»Dan ete ik ook!«

Er füllte sich den Teller und aß mit dem unförmlichen Löffel, ohne sich der Kwei-tze zu bedienen. Auch bekümmerte er sich gar nicht um die Blicke, welche die Chinesen ihm ob dieser Verletzung des Anstandes zuwarfen. Als er fertig war, nickte er dem Gottfried freundlich zu und sagte:

»Neen, dit is niet Hond.«

»Hund nicht, aber Katze!« antwortete Gottfried.

»Wat? Katenvleesch?«

»Freilich!«

»Mijn Himel! O mijne gorgel, mijn maag en mijne darmen! Mijnheer Methusalem, wat zeggt het woordenboek van den darmen?«

»Was das Wörterbuch von den Därmen sagt? Daß sie sieben Meter lang sind,« lachte der Gefragte, denn der Dicke hielt sich mit beiden Händen den Bauch und schnitt ein jämmerliches Gesicht dazu. »Fühlen Sie sich in den ihrigen krank?«

»Ja, zeer! Ik heb smart en ontsteking.«

»Was? Schmerz und Entzündung haben Sie? Warum?«

»Ik heb katenvleesch gegeten.«

»Unsinn! Lassen Sie sich von dem Gottfried nicht so dummes Zeug weismachen! Der weiß selbst nicht, was er gegessen hat.«

Da machte der Mijnheer seinem Nachbar eine Faust und raunte ihm zornig zu:

»Schaap! Gij zijt een ongelukkige nijlpaard!«

Der nächste Gang bestand in einer durchsichtigen und doch nicht dünnen Suppe mit sehr fein geschnittenem Wurzelwerk. Sie duftete sehr einladend.

»Soup of salangans!« rief der Ho-tschang seinen Gästen zu, indem er eine sehr bedeutungsvolle Miene machte, um ihnen anzudeuten, daß es sich hierbei um eine ganz besondere Delikatesse handle.

Das war also Suppe von den berühmten Schwalbennestern! Die fünf Europäer griffen sehr schnell zu; sie waren begierig, diese Speise kennen zu lernen.

Über diese sogenannten indischen Vogelnester ist viel Unwahres verbreitet worden. Richtig ist nur folgendes:

Die Salangane (Collacalia nidifica) sind 12 cm lange Segler, welche ungefähr 30 cm klaftern. Oben dunkelbraun, sind sie an der unteren Seite heller gefärbt und kommen in Vorder- und Hinterindien und den Sundainseln vor, wo sie in großen Scharen vorzugsweise an unzugänglichen Felsenklippen nisten. Sie heben besonders solche Stellen, wo die hohe Küste senkrecht aus der kochenden Brandung strebt.

Kurz vor der Brutzeit, also zur Zeit des Nestbaues, sondern die stark anschwellenden Speicheldrüsen dieser Tiere einen zähen Schleim ab, welcher einer dicken Gummilösung ähnlich ist. Diesen Schleim kleben sie in der Weise an die glatte, senkrechte Fläche des Felsens, daß der Vogel unzählige Male und immer wieder gegen dieselbe Stelle fliegt und dabei ein wenig des Sekrets mit dem Schnabel oder der Zunge andrückt. Dadurch entsteht ein fest-gallertartiger Unterbau von der Gestalt einer hohlen Viertelkugel, auf welchem aus Gras, Federn, Moos und Seetang das eigentliche Nest errichtet und mit demselben Schleime befestigt und kalfatert wird. Nicht dieses Nest, wie man irrtümlicherweise gemeint hat, sondern nur der aus erhärtetem Schleime bestehende Unterbau wird als Nahrungs- oder vielmehr Genußmittel verwandt.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß das Einsammeln dieser Nester sehr gefährlich ist. Der Salanganjäger muß sich an einem Seile von der Höhe der Klippe herablassen und schwebt über der Brandung in steter Todesgefahr. An gewissen Fundorten hat man dem dadurch abgeholfen, daß ganze Küstenstrecken durch ausgespannte Seile und Strickleitern zugänglich gemacht worden sind.

Die Salangane kommen in solcher Menge vor, daß von Java allein jährlich gegen neun Millionen Nester ausgeführt werden. In China, wo jährlich durchschnittlich für sechs Millionen Mark eingeführt werden, wird das Stück mit ungefähr einer Mark bezahlt, was bei den Geldverhältnissen dieses Landes keineswegs billig ist, da ein gereinigtes Nest oft ein Gewicht von nur wenigen Grammen hat. Nur die Wohlhabenden können sich diesen Genuß bieten. In Europa aber ist nur der wirklich Reiche im stande, den Speichel indischer Schwalben zu verzehren.

Übrigens ist ein solches Nest an sich nicht etwa eine Deliziosität. Unzubereitet kann es gar nicht gegessen werden, und gekocht schmeckt es nur fade. Wer das aus der Rinde tretende Harz eines Kirschbaumes, welcher am Gummiflusse leidet, kaut, hat ganz denselben Genuß. Diese zweifelhafte Delikatesse muß vielmehr erst durch die Zubereitung schmackhaft gemacht werden. Der Chinese kocht sie in Wasser oder Fleischbrühe und thut Wurzelwerk, Gewürz, Fleisch, Fischrogen, Holothurien, zerschnittene Früchte und anderes dazu. Nur diese Beimengsel sind es, welche den Nestern Geschmack und Nährwert verleihen.

Mijnheer van Aardappelenbosch schien, trotzdem er so lange Zeit auf Java gelebt hatte, diese Speise noch nicht gekostet zu haben. Er aß auch sie mit dem Löffel und machte dabei ein außerordentlich wonnevolles Gesicht.

Turnerstick wollte sich weder mit dem großen Löffel den Mund aufreißen, noch hatte er das Geschick, sich der Kweitze zu bedienen. Er machte also kurzen Prozeß und trank die Suppe aus dem Teller, was ihm heimliche Verachtungsblicke der Chinesen zuzog. Die drei andern aber brachten es fertig, die fremdartige Brühe mit den Stäbchen bis auf den letzten Tropfen auszulöffeln.

»Fein, außerordentlich fein!« meinte der Kapitän, indem er mit der Zunge schnalzte.

»Ja wel!« nickte der Dicke vergnügt. »Ongemeen heerlijk, op mijn woord!«

»War es wirklich so herrlich, so vortrefflich?« fragte ihn der Methusalem.

»Gewis, op mijne eer!«

»Und wissen Sie, was Sie gegessen haben?«

»Natürlich!« fiel Turnerstick ein. »Salangannester!«

»Unsinn! Diese Kerls werden uns mit indianischen Vogelnestern traktieren! Das würde ihnen, selbst wenn sie welche hätten, gar nicht einfallen.«

»Nun, was soll es dann gewesen sein?«

»Rindshaut, fein geschnitten und zu Gallerte versotten. Das gibt eine Brühe, welche derjenigen der Vogelnester leidlich ähnlich ist.«

»Alle Wetter! Wenn das wäre! Verzehrt man denn in China auch die Felle der Ochsen und Kühe?«

»Allerdings. Es gilt das sogar als ein ganz vorzügliches Gericht.«

»O mijn god, o mijn schepper!« jammerte da sofort der Dicke, indem er mit den Händen nach dem Leibe fuhr. »Ik ben ziek, ik ben ziek!«

»Siech sind Sie? Krank? Was fehlt Ihnen denn?«

»Ik heb een gezwel in de maag.«

»Ein Geschwür im Magen? Hm!«

»En een aanval in de lever. Wat zeggt het woordenboek van de lever?«

»Ihr Leberanfall wird wohl nicht von solcher Bedeutung sein, daß er uns zwingt, ein medizinisches Wörterbuch zu Rate zu ziehen. Lassen wir die gekochte Kuhhaut also auf sich beruhen, und essen wir weiter. Da kommt ein neues Gericht. Das sind Seekrebse, wie es scheint.«

Sofort hellte sich das Gesicht des Dicken wieder auf.

»Zeekreeften?« rief er. »God dank, deze ete ik!«

Er nahm sich den größten Hummer, welcher vorgelegt wurde und schien vor Freude über diesen »Zeekreeft« das »Gezwel« und den »Aanval« vollständig vergessen zu haben.

Nach diesem Gange gab es noch gesottene Fische als letzte Nummer des Speisezettels. Es waren also nicht allzu viele Gerichte gewesen. Die Gastgeber schienen es mehr auf das Trinken als auf das Essen abgesehen zu haben, denn zwischen jedem Gange wurden die Tassen zweimal mit Sam-chu gefüllt, und da der Ho-tschang die seinige immer schnell austrank, mußten die andern folgen und die Gäste auch dasselbe thun. Dieser Sam-chu ist, gut zubereitet, ein leicht berauschendes, dem Arak ähnliches Getränk, welches die Chinesen sehr zu lieben schienen, da sie es tassenweise tranken.

Durch die Seemannskehle Turnersticks war mancher starke Rum und steife Grog gerollt, und Mijnheer van Aardappelenbosch hatte so viele Genevers genossen, daß der Sam-chu diesen beiden nicht wohl gefährlich sein konnte.

»Wir trinken mit und wollen sehen, ob sie uns oder wir sie unter die Tische trinken,« sagte der erstere.

»Ja, wij drinken tapper met!« nickte der Dicke. »Ik drink als een nijlpaard.«

Der Methusalem und Gottfried von Bouillon hatten gar manches Fäßchen Gerstensaft mit ausgestochen; auch sie fürchteten sich vor dem Sam-chu nicht. Aber Richard fühlte sich der Stärke desselben nicht gewachsen. Er hatte von der ersten Tasse nur einmal genippt und das Zeug dann nicht wieder berührt. Auf die wiederholte Aufforderung Turnersticks, doch noch einen Schluck zu versuchen, antwortete er:

»Ich mag nicht. Ich mag überhaupt keinen Schnaps und diesen nun schon gar nicht. Er ist mir zu bitter.«

»Zu stark, wollen Sie wohl sagen.«

»Nein. Er hat einen bittern Nebengeschmack, der mich anwidert. Mir scheint, dieses Bittere gehört gar nicht eigentlich in das Getränk.«

»Hm! Marzipan wird freilich nicht dazu genommen.«

Er glaubte ebenso wie die andern, daß der Sam-chu diesen Beigeschmack haben müsse. Auch achtete er ebensowenig wie sie darauf, daß die geleerten Tassen nicht am Tische, sondern hinter den Landkartenvorhängen wieder gefüllt wurden. Wäre er im stande gewesen, es zu sehen, so hätte er bemerkt, daß dort aus zweierlei Gefäßen eingegossen wurde. In dem einen befand sich Sam-chu mit Opium, welchen nur die Gäste bekamen.

Der Neufundländer saß zwischen seinem Herrn und Richard Stein. Er wich keinen Augenblick von ihnen und beobachtete jede Bewegung der Chinesen mit feindlichen Blicken. Nahte sich ihm zufällig einer, so fletschte er die Zähne und knurrte ihn grimmig an. Ja, als der Ho-tschang ein Stück Fleisch bringen ließ, angeblich um den Hund mit Hilfe desselben auf freundlichere Gesinnungen zu bringen, biß dieser nicht nach dem Fleische, sondern nach der Hand des Gebers. Er nahm es auch dann nicht, als der Methusalem selbst es ihm hinreichte. Das Mißtrauen des Hundes war glücklicherweise ebenso groß wie die Unvorsichtigkeit seiner Herren. Später versuchte der angebliche Malaie es noch einmal, ihn zur Annahme des vergifteten Fleischstückes zu bewegen, jedoch mit ganz demselben Mißerfolge. Die Hoffnung der Chinesen, den Hund auf diese Weise töten zu können, erwies sich also als vergeblich.

Desto größere Mühe gaben sie sich, die Gäste zum Trinken zu bewegen, und das gelang ihnen freilich weit besser. Nur hatten sie sich getäuscht, als sie glaubten, denselben gar so leicht einen tüchtigen Rausch beizubringen. Die vier Personen blieben trotz des bedeutenden Quantums, welches sie vertilgten, vollständig nüchtern.

Dagegen zeigte sich bei den Chinesen sehr bald die Wirkung des Sam-chu. Der Sohn des Reiches der Mitte besitzt überhaupt nicht die Eigenschaft, starke geistige Getränke vertragen zu können, und so bemerkte der Ho-tschang, daß der starke Reisbranntwein eine nicht wünschenswerte Wirkung auf ihn äußere. Das Benehmen seiner Kameraden verriet, daß auch sie begannen, duselig zu werden. Das mußte verhindert werden, da er mit betrunkenen Leuten seinen Plan nicht auszuführen vermochte. Er ließ also für sich und sie einen schwachen Thee in die Tassen gießen, was die Gäste nicht bemerken konnten, da dieser Aufguß fast genau die Farbe des Sam-chu hatte.

Aber diese List war nicht von langer Dauer. Der Methusalem hielt seinen Gastgebern, um ihnen seinen Dank auszudrücken, eine kurze Rede und forderte dann den Ho-tschang auf, mit ihm eine Freundschaftstasse, das heißt, mit gegenseitig verschlungenen Armen zu leeren. Er schob seinen linken Arm in den rechten des Chinesen. Dabei mußte die Tasse des letzteren so nahe an der Nase des Blauroten vorüber passieren, daß dieser den Theegeruch bemerkte. Er griff sogleich nach der Tasse, zog sie aus der Hand des Ho-tschang und kostete von dem Inhalte.

»Thee! Brrrrr!« rief er aus. »Schämt euch doch! Ich habe wohl gesehen, daß ihr uns einen Rausch antrinken wollt, aber wenn ihr dabei so unehrlich handelt, so trinkt euern Tscha allein. Wer nicht mit gleichen Waffen mit uns kämpft, mit dem haben wir nichts zu schaffen. Nehmt unsern Dank, und laßt uns gehen!«

Die Chinesen widersprachen nicht. Sie glaubten, ihre Gäste hätten genug getrunken, daß das genossene Opium die beabsichtigte Wirkung thun werde. Die Reisenden zogen sich in ihre Kajüte zurück. Dabei kamen sie hinter den Landkarten an der Stelle vorüber, an welcher die Tassen gefüllt worden waren. Der Mijnheer sah den Krug stehen, in welchem sich noch ein ziemliches Quantum des Sam-chu befand, roch daran und sagte:

»Ik nem den brandewijn met; bij is zeer goed.«

Er ergriff den Krug und trug ihn, als ob er das größte Anrecht auf denselben habe, nach der Kajüte.

Die Chinesen waren über diese Unverfrorenheit nicht etwa zornig; o nein, sie freuten sich vielmehr derselben, denn wenn die Gäste den Krug vollends leerten, so mußten sie mit vollster Sicherheit in einen tiefen Schlaf verfallen und konnten um so leichter überwältigt und ausgeraubt werden.

Der Methusalem wußte nicht, ob er über die Formlosigkeit des Dicken lachen oder schelten solle. Er versuchte es mit dem letzteren, denn er ahnte nicht, daß ihm der Sam-chu noch vom größten Vorteile sein werde, kam aber nicht weit, denn der Mijnheer schnitt ihm die Strafrede mit den Worten ab:

»Deze Keerls hebben thee gedronken en ons dezen brandewijn gegeven; daarom is hij onze brandewijn; wij worden hern drinken. Hij is goed, zeer goed. Ik word hern niet staan laten!«

Gegen dieses Argument war nichts zu machen, zumal es in einer so drolligen Weise vorgebracht wurde, daß man darüber lachen mußte.

Turnerstick holte zwei der draußen noch brennenden Laternen herein, um die Kajüte zu erleuchten, was ihm nicht verwehrt wurde, und darauf verriegelte Gottfried von Bouillon die Thür. Die Reisenden hüllten sich in ihre Decken, um sich schlafen zu legen.

Sie fühlten sich jetzt von einer ganz außerordentlichen Müdigkeit ergriffen, und doch vermochten sie nicht, sofort zu schlafen. Sie waren innerlich erregt. Ihr Blut kreiste schneller als gewöhnlich, und ihre Pulse befanden sich in einer Anspannung, welche dem Reisbranntwein unmöglich zugeschrieben werden konnte. Das fiel ihnen natürlich auf.

»Dieser armselige Sam-chu!« raisonnierte Gottfried. »Dat ist ein janz hinterlistiges Jetränk.«

»Bist du berauscht?« fragte ihn Degenfeld.

»Berauscht? Fällt mich jar nicht ein! Aber es ist ein ziemlich ähnlicher Zustand. Ich habe mal von einem jelesen, welcher das Opiumrauchen versuchte. Er beschrieb die Wirkung des Jiftes jenau. Mein jetziger Zustand ist janz der seinige, als er sich im ersten Stadium dieser Wirkung befand. Sollte sich Opium in dieses Sam-chu befunden haben?«

»Hm! Auch ich befinde mich in einer eigentümlich heimtückisch dumpfen Aufregung. Aber ich sehe keinen Grund, den Branntwein mit Opium zu versetzen. Wie ist es dir zu Mute, Richard?«

»Ich befinde mich ganz wohl,« antwortete der Gefragte.

»Weil du nicht getrunken hast. Also ist unser Zustand gewiß eine Wirkung des Sam-chu. Wollen es abwarten.«

Es verging eine halbe Stunde, während welcher sich die vier Männer ruhelos von einer Seite auf die andere drehten. Dann schien einer nach dem andern einzuschlafen.

Richard war noch wach. Er hörte zahlreiche Schritte draußen auf dem Deck; dabei klang es, als ob Taue über Rollen bewegt würden; eine Kette rasselte längere Zeit. Mehreremal wurde von draußen an die Thür der Kajüte gestoßen, als ob man etwas an dieselbe schiebe. Der Neufundländer knurrte, beruhigte sich aber wieder, als niemand den Versuch machte, hereinzukommen.

So verging abermals eine halbe Stunde und noch eine. Es kam Richard vor, als ob der Boden der Kajüte jetzt eine abschüssige Lage habe. Durch die zwei offenen Fenster strömte ein frischer, sehr fühlbarer Luftzug herein, was vorher nicht der Fall gewesen war.

Richard stand auf und sah hinaus. Die Lichter des Hafens waren verschwunden. Das konnte dadurch erklärt werden, daß dieselben wegen der späten Stunde ausgelöscht worden seien. Aber auf jedem Schiffe muß doch wenigstens eine Laterne brennen, und jetzt war keine einzige zu sehen, obgleich so viele Dschunken in der Nähe der »Schui-heu« gelegen hatten. Der Himmel war klar und rein; die Sterne blinkten hell herab. Ihr Schimmer war hinreichend gewesen, die Umgebung des Schiffes erkennen zu lassen, und doch war keine Dschunke, kein Haus zu sehen. Vielmehr dehnte sich vor dem Auge Richards eine weite, sanft bewegte, durch nichts unterbrochene Fläche aus, in welcher sich die Sterne spiegelten, das war die See.

Es wurde dem Knaben angst. Sollte die Dschunke sich vom Anker losgerissen haben und von der Ebbe aus dem Hafen getrieben worden sein? Obgleich er kein Seemann war, wußte er doch, wie oft die Gezeiten wechseln. Von einer Gezeit zur anderen vergehen zwölf und eine halbe Stunde. Morgen am Vormittage hatte die »Schui-heu« mit der Flut nach Kanton gehen wollen; jetzt war es vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, folglich stand die See jetzt höchst wahrscheinlich am Beginn der Ebbe. Da war es möglich, daß das losgerissene Schiff aus dem Hafen getrieben worden war, ohne daß die Besatzung desselben, welche vielleicht bis zum letzten Mann schlief, etwas davon bemerkt hatte.

Richard beschloß, den Onkel Methusalem zu wecken.

Aber dieser schlief so fest, daß er den Zuruf des Knaben nicht hörte und es auch nicht fühlte, als dieser ihn kräftig rüttelte. Die Angst des Knaben vergrößerte sich. In der Nähe von Hongkong gibt es viele und gefährliche Felsen. Wenn die Dschunke an einen derselben getrieben wurde, so war sie verloren; das sagte sich der Knabe in seinem Landrattenverstande. Er wollte hinaus auf das Deck, um Lärm zu machen, und schob den Riegel von der Thür. Aber er vermochte dieselbe nicht zu öffnen; sie war von draußen verbarrikadiert.

Jetzt begann ihm eine Ahnung aufzugehen, welche noch viel schlimmer als seine erste Vermutung war: die Chinesen waren keine ehrlichen Leute; vielleicht war die »Königin des Wassers« gar eine Raubdschunke. Man hatte den Europäern Opium in den Sam-chu gegeben, um sie einzuschläfern und dann auszurauben und zu töten!

Bei diesem Gedanken erwachte die ganze Energie des Knaben. Er versuchte noch einmal, den Onkel Methusalem oder einen der anderen aus dem Schlafe zu rütteln, doch vergebens.

»Sie schlafen fort,« sagte er. »Sie wachen vielleicht erst nach Tagesfrist auf. Ich und der Hund sind allein munter. Wir werden die Kajüte verteidigen. Diese Halunken sollen erfahren, daß ein deutscher Gymnasiast sich nicht vor ihnen fürchtet! Nicht wahr, mein tapferer Kerl?«

Er streichelte dem Hunde das schöne, langhaarige Fell; dieser blickte ihn mit seinen hellen Augen an, schlug mit der Rute wedelnd auf den Fußboden, drehte dann den Kopf nach der Thür und ließ ein leises, tiefes Knurren hören, als ob er sagen wolle:

»Weiß schon! Habe aber keine Angst, denn ich bin da!«

Dann holte Richard die Gewehre seiner Gefährten aus der Ecke und untersuchte sie. Er war kein Schütze; er wußte nicht, ob die Hinterlader geladen seien und hätte sie im Verneinungsfalle auch nicht laden können; aber die Konstruktion der beiden Flinten des Mijnheer war eine so einfache, daß er sich dieser Gewehre leicht bedienen konnte. Er öffnete die Hähne und erkannte an den Zündhütchen, daß die Läufe geladen seien. Übrigens waren ja auch die Revolver vorhanden, mit deren Konstruktion er vollständig vertraut war. Er zog sie aus den Taschen der Schläfer und hatte nun ein Arsenal beisammen, mit welchem er seiner Meinung nach die Kajüte für längere Zeit verteidigen konnte.

Es währte auch gar nicht lange, bis er Gelegenheit fand, seinen Mut zu beweisen. Der Hund horchte auf, ging zur Thür, schnoberte an dieselbe und begann zu knurren. Es mußte sich jemand draußen befinden.

Richard hörte, daß man draußen etwas Schweres wegschob; dann wurde versucht, die Thür leise zu öffnen. Dies gelang aber nicht, da sie verriegelt war. Der Knabe winkte den Hund zu sich und gebot ihm durch eine Pantomime Schweigen.

Draußen wurde geflüstert; dann vergingen einige Minuten, bis ein neues Geräusch zu hören war. Es klang, als ob man mit einem Bohrer an der Thür arbeite. Richard trat nahe an dieselbe heran und sah wirklich die Spitze eines starken Bohrers erscheinen. Man wollte ein Loch machen, um in die Kajüte blicken zu können.

Als dasselbe fertig war und der Bohrer zurückgezogen wurde, wich Richard zur Seite, damit man ihn nicht sehen könne. Der Blick desjenigen, welcher jetzt herein sah, konnte nur die vier Schläfer und den Hund erreichen. Höchst wahrscheinlich glaubte man nun, Richard liege in der Ecke und schlafe auch. Der Neufundländer saß mitten in der Kajüte und hielt die Augen scharf auf das Loch gerichtet. Das kluge Tier schien die Bedeutung desselben zu kennen. Es war ihm anzusehen, daß er sich auf den Ersten, welcher es wagen werde, einzutreten, stürzen werde. Bei der Stärke des Tieres war der Betreffende dann jedenfalls verloren und darum sagte sich Richard, daß man zunächst trachten werde, den Hund unschädlich zu machen.

Aber wie? Er war nicht anders als durch einen Schuß zu erreichen. Sollte man das versuchen? In diesem Falle war es nötig, noch ein Loch zu bohren, eins für die Schießwaffe und eins für das Auge, um zielen oder wenigstens sehen zu können, wohin dieselbe zu richten sei.

Der Knabe hatte, indem er dies dachte, sich nicht geirrt, denn er hörte jetzt das bohrende Geräusch von neuem. Da er sich sagte, daß eine Revolverkugel wohl durch die schwache Thür dringen aber den draußen Stehenden nicht verletzen werde, so griff er nach den beiden Gewehren des Mijnheers, spannte die Hähne und stellte sich so, daß er von draußen nicht gesehen werden konnte. Das eine Gewehr neben sich gelehnt und den Lauf des andern nach der Thür gerichtet, wartete er auf das, was man nun thun werde.

Der Bohrer drang durch die Thür, und Richard sah beim Scheine der beiden an der Decke hängenden Laternen, daß es eine Art Zentrumbohrer war, welcher ein weit größeres als das erste Loch geschnitten hatte. Es war so groß, daß man den Lauf eines Gewehres hindurchstecken konnte.

Was Richard geahnt hatte, das geschah. Man steckte den Lauf einer Pistole herein. Der Hund hatte den klugen Blick noch immer scharf auf die Thüre gerichtet. Er sah die Waffe und wich schnell zur Seite. In demselben Augenblicke drückte Richard ab. Er hatte, da sich das Auge des Attentäters jedenfalls am oberen Loche befand, den Lauf ungefähr fünfzehn Zoll tiefer gerichtet, wo sich die Brust desselben befinden mußte. Der Schuß krachte, und draußen ertönte ein lauter Schrei. Der Knabe griff schnell nach der zweiten Flinte und gab einen zweiten, mehr seitwärts gehenden Schuß ab, denn er sagte sich, daß jedenfalls mehrere Personen draußen seien. Ein zweiter Schrei erscholl, und dann ertönten die Rufe vieler Stimmen, in welche sich das wütende Gebell des Hundes mischte, durcheinander.

Der umsichtige Knabe zog schnell sein Notizbuch aus der Tasche, riß einige Blätter los, befeuchtete sie mit der Zunge und klebte sie auf die vier Schuß- und Bohrlöcher, damit man nicht mehr hereinsehen könne. Derjenige, welcher sich der Thür wieder in der Absicht nahte, hereinzublicken, mußte eins der Papiere wegstoßen, und dann wußte Richard ganz genau, wohin er die Verteidigung zu richten hatte. Es schien aber keiner der Chinesen daran zu denken, sich in die so gefährliche Nähe der Thür zu wagen. Auch wurde die Aufmerksamkeit des Knaben zunächst von derselben ab- und auf seine Gefährten gezogen.

So tief die Betäubung war, in welcher sich dieselben befunden hatten, das Krachen der beiden Schüsse war doch in ihr Gehör gedrungen. Sie bewegten sich, doch freilich in sehr verschiedenem Grade.

Der Dicke regte sich nur ein wenig und murmelte, ohne die Augen zu öffnen:

»Hem! Imand schiet. Dat gevt gebraden kater – hm! jemand schießt. Das gibt Katerbraten.«

Er dachte also sogar in seinem jetzigen Zustande an das Essen, und zugleich erinnerte er sich an Gottfrieds schlechten Witz vom Katzenfleisch. Dann sank er wieder in seine Betäubung zurück.

Turnerstick wendete sich langsam auf die andere Seite und sagte:

»Nochmals Feuer, Jungens! Und gut gezielt! Gebt es ihm!«

Er schien zu glauben, daß sein Schiff sich mit einem andern im Kampfe befinde.

Gottfried von Bouillon richtete den Kopf in die Höhe, lauschte bei geschlossenen Augen einen Augenblick und raisonnierte dann:

»Dummkopf, wat fällt dich ein! Wie kannst du denn mit meine Oboe schießen! War sie denn jeladen?«

Dann senkte er den Kopf wieder und schlief weiter.

Eine größere Wirkung als auf diese drei hatten die Schüsse auf den Methusalem geübt. Er richtete den ganzen Oberkörper auf und öffnete die Augen. Stier vor sich hinblickend, fragte er:

»War das geschossen? Wer – – wo – – – warum – – – wa -wa – – wa – –!«

Weiter kam er nicht. Er schloß die Augen und sank wieder zurück. Richard trat zu ihm, faßte ihn bei den Schultern und zog an denselben.

»Onkel, wach auf, Onkel Methusalem!«

Diese Aufforderung des Knaben fand kein Gehör. Er richtete mit Mühe den schweren Oberkörper des Betäubten wieder auf und rief:

»Onkel, so höre doch! Ich habe zwei Chinesen erschossen. Man will uns ermorden!«

»Laß – laß – – laß mich!« antwortete Degenfeld, welcher abermals umsinken wollte.

Richard aber hielt ihn fest und bat:

»Wach auf, wach auf! Wir befinden uns in großer Gefahr!«

»Ge – – – fahr?« lallte der andere.

»Ja. Öffne doch wenigstens die Augen!«

»Au – au – – Augen!«

Man sah, daß er sich Mühe gab, die Lider zu heben; aber es gelang ihm nicht. Da verfiel Richard auf ein Mittel, von welchem er sich Wirkung versprach. Er rief dem Studenten in zornigem Tone zu:

»Sonderbarer Mensch! Hörst du denn nicht, dummer Junge!«

Diese doppelte Beleidigung zeigte sofort den gewünschten Erfolg. Der Methusalem riß die Augen auf und schrie:

»Schandfuchs! Ich haue dir eine horrible! Scharfe Schläger her, Gottfried!«

Er erkannte Richard trotz der geöffneten Augen nicht.

»Selber Fuchs!« antwortete dieser. »Dreimal relegierter Affe!«

Dieser Vorwurf erwies sich stärker als die Betäubung. Der Methusalem schleuderte den Knaben von sich, richtete sich auf die Kniee empor und donnerte:

»Wie? Was? Rele – – rele – – – ich – – – ich?«

»Ja, du! Infam relegiert!«

Da sprang der Blaurote vollends auf, streckte beide Hände nach dem Beleidiger aus und rief mit fast überschnappender Stimme:

»Mir das! Mir das! Hündischer Knochen, ich zermalme dich!«

Er wollte auf Richard einspringen, taumelte aber gegen die Wand und blieb, die Augen wieder schließend, an derselben lehnen. Mit beiden Händen an den schweren Kopf greifend, wäre er wohl wieder niedergesunken, wenn Richard nicht auf ein neues Mittel gekommen wäre, auf seine Energie zu wirken. Er rüttelte ihn an der Schulter und sagte:

»Methusalem, wache doch auf! Es gilt dein Ehrenwort. Willst du dich hier abschlachten lassen und dann nicht dein Ehrenwort halten können? Hörst du, dein Ehrenwort, dein Kong-kheou, dein Kong-kheou!«

»Ehrenwort – Kong-kheou! Das – das – – halte ich! Was -was – – – ah du, Richard?«

Er richtete sich stramm auf, öffnete die Augen und erkannte nun den Knaben.

»Ich bitte dich um Gotteswillen,« sagte dieser, »denk an das Kong-kheou! Denk an meine Mutter, und denk auch an Yekin-li daheim, denen du dein Wort verpfändet hast.«

Da trat der Blaurote zu ihm heran, legte ihm die Hand auf die Achsel und antwortete:

»Knabe, habe ich jemals mein Wort nicht gehalten?«

»Stets! Aber wenn du dich jetzt nicht aufraffst, wird dein Kong-kheou zu schanden werden.«

»Warum?«

»Weil man uns sonst hier ermorden wird.«

»Er – mor – – den?!«

»Ja. Hast du meine Schüsse nicht gehört? Ich habe zwei Chinesen erschossen.«

»Alle Wetter! Träume ich? Mein Kopf, mein Kopf! Was ist mit mir und mit meinem Kopfe? Warum liegen diese drei wie tot am Boden?«

»Weil man euch Opium gegeben hat, um euch zu betäuben. Die Halunken haben zwei Löcher dort in die Thür gebohrt, um zunächst den Hund zu erschießen; ich aber habe ihnen zwei Kugeln gegeben, welche sicherlich getroffen haben.«

»Du – hast – – geschossen! Wer – wer sprach vorhin vom Relegieren?«

»Ich. Es war das einzige Mittel, dich wach zu bringen.«

»Ah – – ah – – braver Kerl! Kluger Bursche! Aber mein Kopf, mein Kopf!«

Er legte sich die Hände an die Schläfen und gab sich Mühe, ohne Taumeln fest zu stehen.

»Bleib munter, bleib munter, Onkel! Es hängt unser Leben davon ab!«

»Ja, Leben – Ehrenwort – Kong-kheou – Relegatio cum infamia! Kerl, das war ein starker Tabak, aber er soll geraucht werden. Opium! Richard, mir ist's zum Umsinken, dumm im Kopfe. Du mußt mir helfen!«

»Gern! Aber wie?«

Degenfeld wankte noch immer hin und her. Er stemmte eine Hand gegen die Wand und antwortete.

»Du mußt es aber auch thun, unbedingt!«

»Kann ich denn?«

»Ja. Gieb mir dein Wort!«

»Ich gebe es.«

»Gut! Du wirst es halten; ich weiß es. Stecke mir also eine Ohrfeige, aber eine aus Herzensgrund!«

»Onkel!«

»Pah! Warte nicht ewig! Es muß sein; es geht nicht anders, mein junge. Nicht ich, sondern das Opium bekommt den Hieb. Also vorwärts!«

»Wird's denn wirklich helfen?«

»Ich denke es. Alle Wetter, mach rasch, sonst setze ich mich wieder nieder!«

»Na, denn gut, so setze dich!«

Richard holte aus und gab ihm die verlangte Ohrfeige, und zwar so »aus Herzensgrund«, daß der Getroffene wirklich sogleich zum Niedersitzen kam. Er sprang aber augenblicklich wieder auf, griff nach seiner Wange und rief:

»Hol's der Kuckuck, junge! Gar so kräftig hatte ich es nicht gemeint! Aber es schadet nichts. Viel hilft viel, sagte der Bauer, da sprang er ins Bett und brach durch. Jetzt ist mir's wohler. Nun sage schnell, was ist geschehen?«

Richard gab ihm kurz Bericht. Der Methusalem trat an das Fenster und sah hinaus, ging dann zur Thür, um die Beschädigungen derselben zu betrachten, und sagte dann:

»Richard, hier hast du meine Hand! Du bist ein kluger und auch tapferer Bursche und hast uns das Leben gerettet. Halte nur noch kurze Zeit aus, bis ich wieder im vollen Besitze meines Kopfes bin. Sobald ich laß werde, gibst du mir wieder eine Backpfeife; das hilft; ich fühle es. Wir haben jetzt kein anderes Mittel. Ich will zunächst nach den Gewehren sehen und die Flinten des Dicken wieder laden. Behalte die Thür scharf im Auge. Ich werde mein Gewehr laden und es dir geben. Sobald du siehst, daß jemand von draußen das Papier entfernt, schickst du augenblicklich eine Kugel nach der betreffenden Stelle.«

Er schob zwei Patronen in den Hinterlader und gab diesen dem Knaben. Eben als das geschah, wendete sich der Hund knurrend gegen die Fenster. Der Blaurote warf einen Blick nach dieser Gegend, riß sofort Richard das Gewehr aus der Hand und legte an.

Man sah erst die Beine und dann den Leib eines Mannes, welcher dort erschien. Jedenfalls wurde derselbe vom Bord aus an einem Seile niedergelassen.

»Jetzt wollen sie es von dort aus versuchen; das soll ihnen aber auch verleidet werden,« flüsterte der Student.

Jetzt, wo es galt, stand er ohne Wanken. Das Opium hatte keine Gewalt mehr über ihn.

»Willst du ihn erschießen?« fragte Richard.

»Ja.«

»Ein Menschenleben! Sollten wir es nicht schonen?«

»Hast du die beiden andern geschont? Ich bin nun überzeugt, daß wir uns unter Seeräubern befinden; die geben kein Quartier; wir können uns nur dadurch retten, daß wir an keine Milde denken. Leben gegen Leben. Vielleicht will der Kerl einen Stinktopf hereinwerfen. Gelingt ihm das, so sind wir verloren.«

Jetzt war der Mann so weit niedergeglitten, daß sein Gesicht an der Fensteröffnung erschien. Der Methusalem drückte los, und das Gesicht verschwand. Man hörte zornige Rufe erschallen.

Degenfeld trat an das Fenster und sah hinaus.

»Richtig!« sagte er. »Da neben dem Seile sehe ich einen Strick, an welchem ein Topf hängt. Das ist auf jeden Fall ein Hi-thu-tschang, wie diese Kerls die Stinktöpfe nennen, ein ›Gefäß der wohlriechenden Kräuter‹. Wehe dem, in dessen Nähe so ein Topf zerplatzt! Die chinesischen Seeräuber werfen solche Töpfe auf das Deck derjenigen Schiffe, welche sie kapern wollen. Der entsetzliche Gestank, den dieselben entwickeln, betäubt die ganze Bemannung des Fahrzeuges. Gib nun auch acht auf die Fenster!«

»Willst du sie nicht zumachen?«

»Das nützt nichts, denn man kann die Schieber auch von draußen zurückstoßen. Übrigens denke ich, daß sich nicht gleich wieder einer herabwagen wird. Ich will den abgeschossenen Lauf wieder laden.«

Während er das that, fiel sein Blick auf seine drei Gefährten, welche den Schuß wieder gehört hatten. Gottfried von Bouillon hatte sich in sitzende Stellung aufgerichtet und lehnte an der Wand, doch war er gleich wieder eingeschlafen. Turnerstick lag mit halb emporgerichtetem Oberleibe auf dem Ellbogen und starrte die beiden mit seelenlosem Blicke an. Der Mijnheer hatte sich umgewendet, jedoch falsch; er lag auf dem Bauche, was ihn verhindert hatte, wieder in den Schlaf zu sinken. Er gab sich vergebliche Mühe, auf die Seite oder den Rücken zu kommen, und stöhnte dabei:

»Imand heeft weder geschoten. Hij heeft mij getroffen. Ik ben dood – jemand hat wieder geschossen. Er hat mich getroffen. Ich bin tot!«

Er war der munterste von den dreien, obgleich er ebensoviel wie sie getrunken hatte. Vielleicht wirkt das Opium bei Fettleibigen nicht so sehr oder nicht so schnell. Der Methusalem drehte ihn auf den Rücken, richtete ihn mit Mühe zum Sitzen auf, schob ihn an die Wand, damit er sich anlehnen könne, und sagte zu ihm:

»Sie sind nicht tot, Miinheer; Sie leben. Sehen Sie mich einmal an!«

»Neen,« behauptete der Dicke, »ik ben gestorven.«

»Nein, Sie sind nicht gestorben, sondern nur betäubt.«

»Goed, soo slape ik!«

»Sie sollen aber nicht schlafen! Wachen Sie auf 1 Öffnen Sie die Augen!«

»Ik heb geene oogen!«

»Freilich haben Sie Augen! Geben Sie sich nur Mühe, sie aufzumachen!«

Der Dicke wollte dieser Aufforderung gehorchen. Er zog die Brauen möglichst hoch empor, brachte aber die Lider nicht auf.

»Het gaat niet – es geht nicht,« meinte er, indem er gähnte.

Da nahm Richard sich der Sache an. Er dachte an den Erfolg, den er beim Onkel Methusalem gehabt hatte, und packte nun auch den Dicken bei seiner hervorragenden Eigentümlichkeit, indem er ihm zurief:

»Miinheer, haben Sie keinen Hunger? Wollen Sie nichts essen?«

»Eten?« fragte Aardappelenbosch. »Wat hebt gij?«

»Was wir haben? Was essen Sie denn am liebsten?«

»Gebraden gans met koolsalade.«

»Das haben wir, Gänsebraten mit Krautsalat!«

»Heiza! Ik wil hem hebben!«

Die List gelang. Der Dicke machte die Augen weit auf und streckte beide Arme nach dem verheißenen Gänsebraten aus. Degenfeld mußte, obgleich die Situation keine behagliche war, laut auflachen. Er sagte:

»Noch ein wenig Geduld, Mijnheer. Sie bekommen ihn nicht eher, als bis Sie aufgestanden sind.«

»Ik word opstaan!«

Indem er sich mit beiden Händen an der Wand festhielt, gelang es ihm wirklich, sich aufzurichten. Durch diese Anstrengung mehr zur Besinnung gekommen, sah er die beiden verwundert an; dann griff er nach seinem Kopfe und sagte:

»Mijn hoofd, mijn hoofd (Haupt)! Ik heb een Nijlpaard tußchen mijnen hersenen – mein Kopf, mein Kopf! Ich hab ein Nilpferd zwischen meinem Gehirn!«

»Aber Sie sehen und erkennen uns?«

»Ja wel.«

»So sagen Sie zunächst, wo Sie Ihre Munition haben!«

»Daar – dort!«

Er deutete nach dem Tornister. Der Methusalem öffnete denselben und erblickte eine beträchtliche Anzahl verschiedenfarbiger Tüten, welche sich in demselben befanden. Er nahm eine derselben heraus und fragte:

»Was ist der Inhalt dieses Papieres?«

»Hooizaad,« lautete die Antwort.

»Heusamen! Und hier?«

»Driekleurigviooltjetee.«

»Also Stiefmütterchenthee. Und hier?«

»Kruizemuntentee.«

»Krausemünzthee! Und in dieser Tüte?«

»Lindeboombloesemtee.«

»Lindenblütenthee! Weiter hier?«

»Seringatee.«

»Also Fliederthee. Aber, Miinheer, das sind zwanzig Tüten, also eine ganze Apotheke! Wozu schleppen Sie denn diese verschiedenen Thees mit sich herum?«

»Voor mijne gezondheid. Ik heb vele ongesteldheiden – für meine Gesundheit. Ich habe viele Krankheiten.«

Degenfeld nahm die Tüten alle heraus, bis er ganz unten auf die Munition kam und die beiden abgeschossenen Gewehre nun laden konnte. Dies brachte den Dicken vollends zu sich. Er erkundigte sich, weshalb man seine Gewehre lade, und erhielt die nötige Auskunft. Als er hörte, in welcher großen Gefahr er sich befand, wurde er äußerst beweglich. Er packte nun selbst die Tüten wieder ein, um seine sieben Sachen beisammen zu haben, zog sich dann mit den Gewehren, dem Schirme und dem Tornister in eine Ecke zurück und erklärte, jeden durch und durch zu schießen, der es wagen werde, ihm wenn auch nur ein finsteres Gesicht zu machen.

Nun galt es, auch den Kapitän und Gottfried von Bouillon zur Besinnung zu bringen. Es gelang, wenn auch nur schwer. Sobald sie hörten, daß man ihnen nach Eigentum und Leben trachte, flog der Rausch von ihnen. Aber auf wie lange, das war die Frage. Für jetzt hielt die Energie den Körper aufrecht und die Augen offen; aber vielleicht war das Gift noch gar nicht in seine volle, eigentliche Wirkung getreten; vielleicht begann es erst noch, dieselbe zu entfalten. Dem mußte vor allen Dingen vorgebeugt werden. Aber wie und womit? Ein Gegenmittel gab es ja nicht hier in der Kajüte.

Als erstes Mittel hat der Arzt das Erbrechen und, wenn nötig, die Magenpumpe anzuwenden, um das etwa noch im Magen vorhandene Gift zu entfernen. Deshalb riet Degenfeld seinen Genossen, ihre Magen durch mechanische Mittel zum Erbrechen zu reizen. Dies reichte aber natürlich nicht aus, da das Opium bereits ins Blut übergetreten war. Die sonst anzuwendenden Medikamente wie Kaffein oder Quaranaabkochung gab es nicht. Eine Tanninlösung – ah, das brachte den Methusalem auf einen guten Gedanken.

»Mijnheer, Ihr Tornister muß uns retten!« sagte er zu dem Holländer.

»Mijn ransden (Ranzen)?« fragte dieser erstaunt. »Welt gij hem als Medizin opvreten – wollen Sie ihn als Medizin auffressen?«

»Nein, ich habe es nicht auf den Ranzen, sondern nur auf dessen Inhalt abgesehen. Die verschiedenen Thees, welche er enthält, sind wohl alle mehr oder weniger gerbsäurehaltig.

Wenn wir sie stark einkochen und diesen Aufguß trinken, werden sich die Alkaloide des Opiums im Körper in unlösliche Tannate verwandeln. Es ist ein Glück, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind, den Branntwein mitzunehmen. Wir können ihn jetzt als Brennmaterial benutzen. Eine Theemaschine haben die Matrosen uns am Nachmittage besorgt; so haben wir alles Nötige beisammen.«

»Ja,« meinte der Dicke, »mijne tee's ziin goed; wij worden ze drinken.«

Er war stolz darauf, daß die Heilmittel seiner vielen Krankheiten sich jetzt als so nützlich erwiesen. Für Trinkwasser hatte der vermeintliche Malaie gesorgt; so konnte man mit dem Kochen beginnen.

Außer Richard bekam jeder die gleiche Portion des heißen, übel schmeckenden Getränkes. Außerdem war es nötig, dem Opium durch unausgesetzte Körperbewegung und tiefes Einatmen frischer Luft zu begegnen. Auf den Vorschlag des Methusalem wurden darum Exerzitien vorgenommen, Turnfreiübungen, bei denen sich der Dicke außerordentlich komisch ausnahm. Er ahmte aber alle Bewegungen und Stellungen, welche der Blaurote als Vorturner kommandierte, mit wahrer Begeisterung nach, denn er fühlte an sich selbst, daß dieses Mittel den gewünschten Erfolg hatte, obgleich es für ihn sehr anstrengend war. Er schwitzte aus allen Poren.

Wären die vier Personen nicht so tüchtige Trinker gewesen, so hätte das Opium eine noch viel größere und nachhaltigere Macht auf sie geäußert. So aber milderte sich die Herrschaft des Giftes mehr und mehr, bis endlich nur noch eine leicht zu ertragende Benommenheit des Kopfes zurückblieb.

Während sie aus Leibeskräften exerzierten und während der Pausen den starken Absud des Thees tranken, hielt Richard treulich Wache. Er stand mit geladenem Gewehre bereit, dem ersten, der sich an die Thür oder eine der Luken wagte, eine Kugel zu geben. Dabei mußte er sich mehr auf sein Gesicht als auf sein Gehör verlassen. Einen, der sich draußen an die Thür schlich, hätte er nicht hören können, weil die Turnenden zu viel Geräusch verursachten. Aber als sie einmal ruhten und es infolgedessen still in der Kajüte wurde, vernahmen sie alle ein leises Klopfen an der Thür.

»Schui nguái – wer ist draußen?« fragte der Methusalem.

»Gu-ten A-bend!« erklang die Antwort, leise und indem die einzelnen Silben langsam und mit Bedacht ausgesprochen wurden, damit man die Worte deutlich verstehen könne.

»Was!« flüsterte der Student seinen Gefährten zu. »Das ist ja deutsch!«

»Ja,« nickte der Gottfried erstaunt. »Dat ist der traute Abendjruß unserer jehebten Muttersprache. Wie hat der sich in die olle Dschunke verirrt?«

»Jedenfalls handelt es sich um eine Falle, welche man uns stellt. Man kennt zufällig diese beiden deutschen Worte. Werden ja sehen!«

Und lauter antwortete er, gegen die Thür gerichtet:

»Guten Abend! Wer ist draußen?«

»Ein Freund,« antwortete es ebenso leise wie vorher.

»Gut! Aber wer?«

»Ein Unglücklicher, der auch gefangen ist.«

Diese Worte wurden wieder so wie vorhin in ihre Silben abgeteilt und sehr langsam ausgesprochen, wie einer thut, welcher der betreffenden Sprache nicht ganz mächtig ist und doch gern verstanden sein will.

»Das glaube ich nicht,« sagte der Methusalem. »Was wollen Sie?«

»Hinein zu Ihnen.«

»Pah! Bleiben Sie in Gottes Namen draußen!«

»Ich bin wirklich Ihr Freund, das hören Sie ja daraus, daß ich deutsch spreche!«

»Ein Verräter sind Sie! Sie sind jedenfalls der Lump, welcher sich für einen Malaien ausgegeben hat.«

»Der Amerikaner, Ihr Diener? O nein! Ich bin ein Chinese.«

»Und sprechen doch deutsch!«

»Mein Herr hat es mich gelehrt.«

»Wer ist das?«

»Herr Sei-tei-nei in Hu-nan.«

»Das ist Schwindel,« bemerkte Degenfeld leise zu seinen Gefährten. »Sei-tei-nei ist kein chinesisches Wort und kein chinesischer Name.«

»Kenne das Wort auch nicht,« antwortete Turnerstick selbstbewußt. »Und einer, welcher alle chinesischen Dialekte so innehat wie ich, müßte es doch kennen, wenn es wirklich chinesisch wäre. Sei-tei-nei hat keine einzige von meinen fünf Endungen.«

»Sehr richtig!« lächelte der Student. »Man will es auf diese Weise mit uns versuchen, uns zutraulich machen. Das soll ihnen aber nicht gelingen. Freilich, wie so ein Halunke zu unserer ehrlichen deutschen Sprache kommt, das kann ich nicht begreifen. Darum bin ich überzeugt, daß es der Yankee ist. Er gibt sich für einen Gefangenen aus und fordert Einlaß. Sobald wir aber öffneten, würden sich so viele hereindrängen, daß wir gar keinen Raum zur Gegenwehr fänden. Ich werde hören, was er weiter sagt. Die Chinesen würden einen Gefangenen wohl nicht frei umher laufen lassen, so daß er Gelegenheit fände, sich hierher zu schleichen und heimlich sich mit uns zu unterhalten.«

Gegen die Thür gewendet, fragte er weiter:

»Wie kommen Sie denn in die Gefangenschaft der Seeräuber?«

»Ganz so wie Sie: Ich hielt sie für ehrliche Leute.«

»Wo trafen Sie die Dschunke?«

»Im Hafen von Schang-hai. Ich wollte in Geschäften nach Kanton und fuhr mit der ›Schui-heu‹, weil man mir sagte, daß sie dorthin gehe. Erst unterwegs sah ich, unter welche Leute ich geraten war. Man ließ mir die Wahl zwischen dem Tode und dem Beitritt.«

»Hm! So sind Sie Seeräuber geworden?«

»Nur zum Scheine!«

»Und man läßt Sie frei umhergehen?«

»Nur auf hoher See, im Hafen aber nicht. In Hongkong bin ich in den Unterraum geschlossen worden; sobald man aber den Anker gezogen hatte, durfte ich herauf.«

»So! Wer ist bei Ihnen draußen vor der Thür?«

»Niemand.«

»Wirklich?«

»Kein Mensch. Ich bin ganz allein.«

»Aber man muß es doch sehen, daß Sie mit uns reden!«

»Nein. Die Laternen wurden ausgelöscht. Es brennt keine einzige, da kein uns begegnendes Schiff uns sehen oder gar anrufen soll.«

»Hm! Wo ist der Ho-tschang?«

»Der schläft. Die anderen Offiziere auch. Nur der To-kung steht hinten am Steuer.«

»Und die Matrosen?«

»Es sind nur drei Wachen an Deck. Die andern sollen alle ruhen, weil es mit Tagesanbruch viel zu thun geben wird.«

»Werden Sie von diesen Wachen nicht beobachtet?«

»Nein. Einer steht oben am Innenbug; er kann mich also nicht sehen. Der zweite hält am Hintermast; seine Augen reichen nicht bis hierher. Und der dritte schläft am Mittelmast. Jedenfalls schlafen die beiden andern auch.«

»Sonderbar! Fühlt man sich denn vor uns so sicher, daß man uns nicht einmal einen Posten vor die Thür gibt?«

»Es wollte keiner her, weil Sie schießen. Man hat Ihre Thür so verrammelt, daß Sie nicht öffnen können.«

»Und da fordern Sie uns auf, Sie zu uns herein zu lassen? Sie widersprechen sich.«

»Nein, denn ich kann ja die Bambusstützen, welche man gegen die Thür gestemmt hat, wegnehmen. Sie dürfen mir vertrauen.«

»So! Was wollen Sie denn eigentlich bei uns?«

»Ich wollte Sie um Ihre Hilfe bitten, denn ich allein, ich selbst, bin zu schwach, um die Freiheit wieder zu erlangen.«

»Wir sind ja ebenso, wie Sie gefangen!«

»Freilich wohl! Aber nach dem, was ich von Ihnen gehört habe, besitzen Sie genug Mut, Entschlossenheit und Waffen, sich wieder zu befreien. Darum wollte ich mich so gern in Ihren Schutz begeben.«

»Das klingt alles sehr gut, aber ich darf Ihnen nicht trauen.«

»Sie dürfen es. Ich meine es ehrlich. Glauben Sie mir das!«

Da legte Gottfried dem Studenten die Hand auf den Arm und flüsterte ihm zu:

»Dat klingt so jut und erbärmlich. Der Kerl kann mich leid thun. Wenn es wirklich an demjenigen ist, wie er sagt, so müssen wir uns seiner annehmen. Lassen Sie ihn also rin in die Bude, oller Methusalem!«

»Es ist zu gefährlich!«

»Jefährlich? Dat will mich nicht einleuchten. Wat kann uns so ein einzelner Mann anhaben?«

»Wissen Sie so genau, daß er allein ist?«

»Jenau freilich nicht; aberst es ist wat in seine Rede, wat mich ins Herze jeht. Und wenn er nicht allein wäre, wenn die janze Sippschaft bei ihm stände, so fürchte ich als Jottfried. von Bouillon mir noch lange nicht. Habe ich damals Jerusalem erobert und den Seldschuken mein Jebiß jezeigt, so sollen die paar Chinesigen mich ooch nicht bange machen. Jewehre haben wir jenug. Wenn wir ihnen eine volle Salve jeben, reißen sie aus wie die Dorfjungens, wenn der Herr Kantor kommt.«

»Du magst recht haben; aber ich möchte nicht noch mehr Blut vergießen.«

»Und vorhin haben Sie selbst jesagt: Auge um Auge, Schinken um Schinken, Schmer um Schmer!«

»Das war notwendig, um ihnen zu zeigen, was sie von uns zu erwarten haben.«

»Jut, so haben sie auch jetzt, wenn sie uns überrumpeln wollen, nur blaue Bohnen von uns zu erwarten. Ich bin übrigens überzeugt, daß der arme Teufel es wirklich ehrlich meint. Und wat verhindert Ihnen, dat Papier wegzunehmen und dann hinauszuschauen, wat für Jeister draußen sind?«

»Das ist richtig. Wollen sehen.«

Er trat leise an die Thür, entfernte eines der Papiere und blickte durch das Kugelloch. Es war so sternenhell auf dem Verdeck, daß er sich genau orientieren konnte. Es war niemand da. Erst als er das unterste der Papiere wegnahm, sah er den Mann, welcher draußen am Boden lag, das Gesicht nahe an die Thür gelegt. Er klebte die beiden Papiere wieder auf die Löcher und sagte zu dem Wartenden:

»Ich will es versuchen. Entfernen Sie also die Stützen!«

Gleich nach diesen Worten wurde draußen ein stoßendes und schiebendes Geräusch hörbar, und dann öffnete der Methusalem die Thür, welche sich nur nach außen in ihren ledernen Angeln bewegte. Der Mann kam schnell herein, und der Student verriegelte die Thür sofort wieder. Dann musterte er den Eingetretenen.

Dieser war ein junger Mann von vielleicht vier- bis fünfundzwanzig Jahren. Er trug eine bessere Kleidung als die Matrosen und sogar deren Offiziere. Waffen sah man bei ihm nicht. Er ergriff die Hand des Methusalem und sagte in herzlichem Tone:

»Ich danke Ihnen, mein Herr! Nun darf ich doch Hoffnung haben, wieder frei zu kommen.«

»Hm!« meinte der Student kopfschüttelnd. »Ein Chinese, welcher deutsch spricht und unter solchen Verhältnissen sich uns vorstellt, das ist ungewöhnlich. Sie sind doch Chinese?«

»Sogar Vollblutchinese!«

»Und weshalb sprachen Sie uns deutsch an? Wie erfuhren Sie, daß wir Sie verstehen würden?«

»Ich hörte, daß der Amerikaner zu dem Ho-tschang sagte, daß Sie Deutsche seien.«

»Haben Sie auch gehört, welche Absichten man mit oder vielmehr gegen uns hegt?«

»Sie sollen getötet werden.«

»Wann?«

»Sobald es Tag wird.«

»Und wie?«

»Man wird das Dach Ihrer Kajüte einschlagen und Stinktöpfe hineinwerfen.«

»Alle Wetter! Gut, daß wir das erfahren! Bis dahin aber will man nichts unternehmen?«

»Nein. Wenn Sie dann ja ausbrechen, so glaubt man, am Tage sich besser gegen Sie verteidigen zu können.«

»Also haben die Kerls doch Angst vor uns?«

»Sogar große Angst. Sie haben doch bereits mehrere getötet.«

»Also sind sie nicht nur verwundet, sondern wirklich tot! Nun, wir werden uns auch ferner unserer Haut wehren. Jetzt müssen wir uns zunächst mit Ihnen beschäftigen. Was sind Sie denn eigentlich?«

»Kaufmann.«

»Was verkaufen Sie?«

»Kohlen.«

»Kohlen? Hm! Hier in China ein Kaufmann, welcher Kohlen verkauft! Das könnte mich wieder mißtrauisch machen, wenn Sie nicht ein so ehrliches Gesicht hätten. Sie gefallen mir, und ich möchte Ihnen gern mein Vertrauen schenken, wenn nur dieser sogenannte Herr Sei-tei-nei nicht wäre!«

»Was haben Sie gegen ihn?«

»Dieser Name ist nicht chinesisch!«

»Das ist richtig. Sprechen Sie vielleicht chinesisch?«

»Ja.«

»Nun, so werden Sie wissen, daß wir fremde Worte nach unserer Weise aussprechen. Es fällt uns schwer, gewisse Konsonanten, wenn sie nebeneinander stehen, richtig hervorzubringen. So sagen wir zum Beispiel statt Christus Chi-Ii-sutu-su und anstatt Spiritus Su-pi-Ii-tu-su.«

»Das weiß ich; aber Sie selbst sprechen diese beiden Worte doch richtig aus!«

»Nur weil ich mich jahrelang habe üben können. Der Name Sei-tei-nei ist auch deutsch, aber mit chinesischer Zunge ausgesprochen. Er heißt eigentlich ...«

»Halt!« unterbrach der Methusalem ihn schnell. »Sollte das möglich sein! Was ahne ich! Sie sprachen von Kohlen. Sie sprachen ferner von einem Herrn Sei-tei-nei, welcher in der Provinz Hu-nan wohnt! Sei-tei-nei! Da haben Sie ein ›ei‹ zwischen die Konsonanten und dann noch eines an das Ende des Wortes gesetzt, weil der einzige und eigentliche Vokal des einsilbigen Wortes eben auch ein ›ei‹ ist?«

»So ist es.«

»Der Name lautet also Stein?«

»Ja, Stein. Herr Stein ist mein Pi-li-ni-zi-pa-la, mein Prinzipal.«

»Wie ist sein Vorname?«

»Da-ni-ne-le, also Daniel.«

Da stieß Richard einen Schrei des Entzückens aus, eilte auf den Chinesen zu, faßte ihn an der Hand und rief:

»Stein – Daniel – ein Deutscher – in der Provinz Hu-nan –Sie kennen also meinen Oheim, den guten Onkel Daniel? Welch eine Überraschung, welches Entzücken! Das ist eine Fügung Gottes, welche mich außerordentlich glücklich macht. Wie gut, daß wir Sie herein gelassen haben!«

Der Chinese sah den Jüngling ganz erstaunt an und fragte ihn:

»Wie? Was? Sie kennen den Herrn?«

»Natürlich! Er ist ja mein Oheim!«

»So sind Sie ... so haben Sie seinen Brief empfangen?«

»Ja. Wissen Sie von diesem Briefe?«

»Alles! Ich selbst habe ihn ja nach Kanton zu unserm Agenten gebracht.«

»Sie selbst, Sie selbst!«

»Ja, und jetzt wollte ich diesen Agenten besuchen, um ihn im Auftrage meines Prinzipals zu fragen, ob vielleicht eine Antwort eingelaufen sei! Dabei bin ich unter die Piraten geraten.«

»Ich selbst bin die Antwort. Ich bin, anstatt zu schreiben, sofort selbst abgereist. Onkel Methusalem hier that es nicht anders. Wir wollten nach Kanton zu dem Agenten, um uns zu erkundigen, welche Reisegelegenheit zu wählen sei.«

»Methusalem? Auch ein Onkel?« fragte der Chinese. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

»Er ist sehr selten,« antwortete der Rotblaue lachend. »Es hat, seit die Erde steht, nur ein einziger außer mir noch so geheißen und der ist nun leider endlich tot. Aber wer hätte so etwas denken können, als Sie heimlich an die Thür klopften! Nun soll mir jemand daran zweifeln, daß heut noch Wunder geschehen! Wir heißen Sie natürlich auf das herzlichste willkommen. Zwar befinden wir uns gegenwärtig in keiner angenehmen Lage, aber wir werden schon Mittel und Wege finden, uns aus derselben zu befreien, und dann werden wir sofort nach Hu-nan aufbrechen, oder genauer nach Ho-tsing-ting. So heißt doch wohl der Ort?«

»Ja, Herr.«

»Er scheint früher anders geheißen zu haben?«

»Er hat seinen jetzigen Namen erst, seit Herr Stein sich dort befindet.«

»Dachte es mir. Ting bedeutet eine kleine Stadt, und Ho-tsing heißt soviel wie Feuerbrunnen oder Feuerquelle. Der Ort würde also zu deutsch Feuerbrunnenstadt heißen. Wir wissen, daß Herr Stein eine Petroleumquelle entdeckt hat. Darum, als Sie seinen Namen nannten und von Kohlen sprachen, begann ich zu ahnen, daß Sie den meinen, welchen wir aufsuchen wollen.«

»Nicht nur Petroleum haben wir gefunden, sogar, Gas. Das reine Brenngas strömt aus der Erde.«

»Aber nicht freiwillig, sondern infolgedessen, daß Herr Stein nachgebohrt hat?«

»Ja. Dem Bohrloche entströmte eine Luft, welche man verbrennen kann. Sie leuchtet viel besser als Lampen. – Aber gehören Sie alle zusammen? Sind Sie alle miteinander verwandt? Werden Sie alle nach Ho-tsing-ting reisen?«

»Alle, diesen einen Herrn ausgenommen, welcher uns wohl nicht so weit begleiten wird.«

Er zeigte auf den Dicken, welcher ebenso wie der Kapitän und der Gottfried der Szene mit größtem Interesse gefolgt war. Die Begegnung mit diesem Chinesen, welcher ein Beamter des Onkels Daniel war, war eine so ungewöhnliche, daß man zunächst fast gar nicht an die Gefährlichkeit der Lage dachte, in welcher man sich befand. Es gab so viel zu fragen und zu beantworten. Der Kapitän meinte kopfschüttelnd:

»Es hat doch schon manches Schiff sehr unerwartet meinen Kurs gekreuzt, aber eine so seltsame Begegnung ist mir noch nicht vorgekommen!«

»Mich auch nicht,« stimmte Gottfried bei. »Ich bin janz jerührt von diese Jüte des Schicksales. Ich möchte das Fatum beim Kopfe nehmen und mich von ihm einen Kuß jeben lassen. Kommen Sie her, oller Chinesige! Ich schüttele Sie die Hände und rufe Sie ein herzliches Tsching-tsching-tsching entjegen, wat in diesem Land soviel heißt wie ›du bist mich erjebenst willkommen, oller Schwede!‹ Ich bitte um ihre Freundschaft und stelle mir selbst nebst Oboe Ihnen zur jeneigten Disposition.«

Er umarmte den Chinesen und küßte ihn auf die Wange. Darüber war der Dicke so gerührt, daß er sich eine Thräne aus dem Auge wischte und beinahe schluchzend sagte:

»Ik ben ook uw vriend. Hebt gij eene goede gezondheid?«

Der Chinese sah ihn fragend an, denn er hatte ihn nicht verstanden. Der Methusalem erklärte ihm:

»Mijnheer von Aardappelenbosch versichert, daß er auch Ihr Freund sei, und erkundigt sich, ob Sie eine gute Gesundheit besitzen.«

»O, meine Gesundheit ist ausgezeichnet,« antwortete nun der Chinese.

»En mijne gezondheid is niet goed. Ik ben altijd onpasselijk – und meine Gesundheit ist nicht gut; ich bin immer krank (allzeit unpäßlich).«

Der Chinese wußte nicht recht, wie er zu dieser intimen Mitteilung komme. Er wollte eine Frage aussprechen, welche den Holländer vielleicht beleidigt hätte; glücklicherweise aber kam dieser ihm mit der Versicherung zuvor:

»Gij alle zijt mijne vrienden. Ik reiz met naar Ho-tsing-ting. Gij zufit rnij niet verliezen – Ihr alle seid meine Freunde. Ich reise mit nach Ho-tsing-ting. Ihr sollt mich nicht verlieren.«

Er reichte allen die fetten Hände und empfing von ihnen die Versicherung, daß dieser sein Entschluß ihnen außerorjentlich angenehm sei. Darüber war er so erfreut, daß sein Gesicht vor Vergnügen glänzte.

Darauf kam man nun wieder auf die Gegenwart zu sprechen. Man befand sich ja in einer Lage, welche die größte Vorsicht und Aufmerksamkeit erforderte. Der Methusalem wagte es, die Thür zu öffnen und hinauszutreten. Als er wieder hereingekommen war und den Riegel vorgeschoben hatte, berichtete er:

»Es ist wirklich kein Mensch zu sehen, diese Menschen sind außerordentlich nachlässig. Meinen sie denn, uns so sicher zu haben, daß sie sich gar nicht um uns zu kümmern brauchen?«

»So ist es,« antwortete der Chinese. »Wir befinden uns auf hoher See und können ihnen also nicht davonlaufen.«

»Aber sie uns auch nicht! Aus wie vielen Köpfen besteht die Bemannung?«

»Es sind über sechzig Leute.«

»So viele habe ich nicht gesehen.«

»Sie hielten sich verborgen.«

»Und wie sind sie bewaffnet?«

»Nach Ihren Begriffen herzlich schlecht, nach den unserigen aber sehr gut. Daß sie mit Stinktöpfen versehen sind, haben Sie ja schon bemerkt?«

»Ja, und zwar zum Schaden dieser Leute.«

»Sodann sind Kanonen vorhanden.«

»Wir haben doch keine gesehen!«

»Sie stecken in den Kisten, welche sich unten im Raume befinden. Sobald der Tag anbricht, sollen sie aus diesen Hüllen genommen und aufgewunden werden. Erst dann wird die ›Wasserkönigin‹ als Raubdschunke zu erkennen sein.«

»So ist sie jetzt auf Raub ausgelaufen?«

»Ja. Erst sollen Sie ermordet werden, dann will der Ho-tschang auf Handelsdschunken Jagd machen. Der Raub wird dem Hui-tschu, dem Obersten der Genossenschaft gebracht.«

»Welcher Art sind diese Kanonen?«

»Von derjenigen, welche bei uns Pao genannt wird. Eine jede hat ihren Namen. Nach diesen Bezeichnungen müssen die Geschütze außerordentlich gefährlich sein. Es gibt da einen ›speienden Drachen‹, einen ›verschlingenden Tiger‹, einen ›fürchterlich imposanten Pao‹, einen ›siegerzwingenden‹, einen ›himmelstürmenden‹ und einen ›menschenfressenden Pao‹. Mit Ihren Geschützen aber sind diese Kanonen nicht zu vergleichen.«

»Und die Handwaffen?«

»Da gibt es Schwerter, Lanzen, Beile, Messer, Pfeile, Bogen und alte Pistolen. Außerdem Flinten verschiedenster Art.«

»Sind diese letzteren gut?«

»Nein. Man hat alte Luntenflinten. Diese werden Niaotsiang genannt, was soviel wie Vogelflinte bedeutet. Dann dreiläufige alte Gewehre. Sie führen den Namen San-yantschung, ›Flinte mit drei Öffnungen‹, ferner gibt es Schloßflinten. Man nennt sie Tse-Iai-ho-tsiang, ›von selbst losgehende Gewehre‹. Auch Schrotflinten hat man. Sie führen die Bezeichnung Sian-tsiang, ›dünne Flinten‹. Und endlich habe ich noch Windbüchsen gesehen. Man nennt sie Fung-tsiang, was soviel wie ›Windgewehr‹ bedeutet. In der Mandschusprache heißen sie Tschirgabuku miootschan, was man als ›Flinte mit eingesperrter Luft‹ übersetzen muß.«

»Nun, das ist ja eine ganze Masse von Mordwerkzeugen. Man möchte sich wirklich fürchten,« lachte der Blaurote.

»Und fürchten Sie sich wirklich?« fragte der Chinese besorgt.

Er sah den Studenten dabei ängstlich an. Die Chinesen sind keineswegs wegen ihres persönlichen Mutes berühmt, und dieser hier machte sehr wahrscheinlich keine Ausnahme. Er hatte zwar ein ganz ehrliches und vertrauenerweckendes Gesicht; aber er war klein und schmächtig und hatte keineswegs das Aussehen eines furchtlosen Mannes oder gar eines Helden. Es war von ihm schon eine sehr mutvolle Handlung gewesen, sich von den Piraten loszusagen und zu den Deutschen zu gehen. Das wäre wohl nicht geschehen, wenn er nicht von den letzteren Rettung erwartet hätte. Sollte diese Hoffnung etwa getäuscht werden? In diesem Falle hätte er es wohl für besser gehalten, bei den Chinesen zu bleiben. Um ihn in dieser Beziehung auf die Probe zu stellen, antwortete der Methusalem:

»Ganz geheuer ist es mir natürlich nicht. Über sechzig Feinde, welche in dieser Weise bewaffnet sind! Was können wir gegen die Kanonen thun?«

»O wehe, Herr! halten Sie es für gefährlich?«

»Sehr!«

»So raten Sie mir wohl, mich lieber wieder fortzuschleichen, damit die Piraten gar nicht erfahren, daß ich bei Ihnen gewesen bin?«

»Ich kann Ihnen weder zu- noch abraten. Thun Sie, was Ihnen beliebt. Aber ich denke, daß Ihr Platz bei dem Neffen Ihres Prinzipals ist.«

»Da werde ich ja erschossen!«

»Pah! Glauben Sie das nicht! Ich habe Sie nur prüfen wollen und da leider erfahren, daß wir im Falle eines Kampfes auf Sie nicht allzusehr rechnen dürfen. Aber es kann nicht jeder ein großer Krieger sein; es muß auch Männer des Friedens geben, Kaufleute, Kohlenhändler und andere. Ich denke, daß wir Sie mit durchschleppen werden. Angst zu haben, fällt mir gar nicht ein. Wir sind zwar nur fünf Personen, aber mit sechzig Chinesen nehmen wir es schon noch auf. Oder, sagen Sie, Mijnheer, wollen wir etwa auch, um unser Leben zu retten, Seeräuber werden?«

»Ik niet,« antwortete der Gefragte. »Ich heb geweeren en een mes. Ich ben een groote veldheer – ich nicht. Ich habe Gewehre und ein Messer. Ich bin ein großer Feldherr.«

»Und du, Gottfried?«

»Na, wenn Sie mir fragen, so können Sie mich leid thun!« antwortete der Pfeifenträger zornig. »Eine Handvoll Chinesen werden doch mir nicht aus der Fassung bringen. Wenn die mit mich nach dem Monde wollen, so werfe ich sie alle runter in die Wolken. Diese Kerls blase ich mit meine Oboe an, daß sie nur so durch die Lüfte fliegen. Jottfried und Seeräuber! Wer mich so wat zumutet, der verdient die hellen Prüjel, und aber wat für welche!«

»Schön! Und Sie, Kapitän?«

»Auch mich fragen Sie?« meinte Turnerstick. »Wollen Sie mich kränken oder gar beleidigen?«

»O nein, ich halte es für meine Pflicht, Sie zu fragen, bevor wir einen Beschluß fassen, dessen Ausführung jedenfalls mit Gefahren verbunden ist.«

»So kann ich Ihnen weiter nichts sagen, als daß ich ein Seemann bin, der in Gefahren groß geworden ist.«

»Gut, so sind wir also einig. Was nun thun? Wir haben zwar noch Zeit, doch ist es besser, schon jetzt zu einem Plane zu kommen. Wo schlafen die Matrosen?«

Diese Frage war an den Chinesen gerichtet. Er antwortete.

»Unten im Raume bei den Kanonen.«

»Schlafen sie stets da unten?«

»Ja.«

»So ist die Einrichtung hier eine ganz andere als auf unsern Schiffen. Drei Wachen und der Steuermann auf Deck und die andern alle unten. Das ist eine heillose Wirtschaft, besonders für einen Piraten. Ich habe gesehen, daß die Segel gesetzt sind, und da wir ruhiges Wetter und konstanten Landwind haben, so sind zwar keine Deckhände notwendig; aber wenn plötzlich eine Bö kommen sollte, was in diesen Gewässern häufiger vorkommt als anderwärts, so würde sich die Dschunke ganz gemächlich umlegen und mit uns in die Tiefe gehen. Wo schläft der Kapitän?«

»Gewöhnlich hier nebenan,« antwortete der Chinese. »Heute aber wagte er das nicht, da er Ihre Gewehre fürchtete. Die Kugeln dringen durch die dünne Wand. Er befindet sich mit dem Schiffsherrn und dem Priester in der hinteren Kajüte.«

»Das ist gut. Aber sagen Sie mir zunächst, wie ich Sie nennen soll. Sie haben uns Ihren Namen noch nicht gesagt.«

»Mein Titelname ist Liang-ssi.«

Auf die Frage des Methusalem hatte der Chinese seinen Titelnamen genannt: Liang-ssi, zu deutsch: ›gute Geschäfte‹. Dieser Name ließ sehr leicht auf die Eigenschaften seines Trägers schließen; derselbe war jedenfalls ein tüchtiger Kauf- oder überhaupt Geschäftsmann. Kriegerischer Sinn war da nicht zu erwarten.

»Mich,« sagte der Student, »können Sie verschieden nennen. Ich heiße Degenfeld, zuweilen auch Methusalem. Wollen Sie sich aber lieber des Chinesischen bedienen, so rufen Sie mich ›Tsing-hung‹.«

»Tsing-hung?« fragte der Chinese erstaunt. »Das heißt ja der Blaurote!«

»Allerdings.«

»Nennt man Sie so?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Wegen meiner Nase.«

»Sonderbar! Ist das Ihr Titelname?«

»Nein, sondern mein Scheng ming.«

»Ihr Studentenname? Was haben Sie studiert?«

»Das, was Sie Tschu nennen.«

»Das heißt alles?«

»Ja. Ich hatte wenig Lust, aber sehr viel Zeit. Darum lernte ich alles, und kann nun nichts. Doch erlauben Sie mir Ihnen auch die Namen der andern Herren zu nennen! Dieser Herr ist Kapitän Turnerstick, welcher Name von einem Chinesen, der unsere Sprache nicht kennt, wie Tu-ru-ne-re-si-ti-ki ausgesprochen würde. Hier mein Diener Gottfried, welches letztere Wort wie Go-to-to-fi-ri-di lauten müßte. Eigentlich heißt er auch noch Ziegenkopf, womit ich Sie aber nicht behelligen darf, da ich sonst Zi-ge-ne-ko-po-fo zu sagen hätte. Und nun dieser, mein lieber Freund, heißt Aardappelenbosch. Wie würden Sie da als Prachtchinese sagen?«

»A-ra-da-pa-pe-le-ne-bo-scho,« antwortete der Chinese.

»Danke sehr, bin jetzt froh, daß ich nicht in Ihrem Reiche der Mitte geboren wurde! Und nun, mein lieber Kapitän, möchte ich auch von Ihnen etwas wissen. Wie viele Hände braucht so ein Ho-tschang, um mit oder auf der Dschunke ein Manöver ausführen zu lassen?«

»Da muß ich wissen, welches.«

»Wenden.«

»Wenden? Hm! Das kommt sehr auf den Wind an.«

»Ich meine den jetzigen.«

»Also Landwind. Wir gehen vor dem Winde. Eine solche Dschunke ist ein sehr ungehorsames Ding. Ankreuzen kann man nur ganz wenig. Warum fragen Sie?«

»Wir fahren nach Hong-kong zurück.«

»Nach – Hong – kong?« dehnte Turnerstick. »Sind Sie verrückt?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Die Chinesen werden sich hüten, umzukehren!«

»Das denke ich auch. Wir fragen sie aber gar nicht.«

»Alle Teufel! Ich verstehe! Master Methusalem, das ist kühn!«

»Wenn auch! Dem Kühnen gehört ja die Welt.«

»Richtig! Welch ein Streich! So etwas wäre noch nie dagewesen.«

»Desto besser! Ich thue gern etwas, was andere nicht fertig bringen. Also, wie viele Hände brauchen Sie, wenn Sie das Kommando der ›Königin des Wassers‹ übernehmen?«

»Will sehen.«

Er öffnete leise die Thür, trat hinaus und sah sich um. Sein scharfes Seemannsauge erkannte den Wächter, welcher schlafend am großen Maste saß. Er prüfte das Schiff, die See, den Wind, kehrte dann in die Kajüte zurück und sagte:

»Landwind und Ebbe, da ist bei dieser Takelung und mit den wenigen und schweren Mattensegeln nichts zu machen.«

»Wirklich gar nichts?«

»Ja. Höchstens könnte man die Segel fallen lassen, aber dennoch würde man durch die Ebbe weiter in See getrieben werden.«

Können Sie nicht wenigstens beidrehen?«

»Ja, wir können uns eben vor Topp und Takel legen, aber es nützt uns nichts. Zwar ist die Dschunke in ihrer Art sehr gut gebaut. Ich müßte es doch versuchen, indem ich die Segel killen lasse und sie dann lähnlich brassen. Nehme ich, da Sie das nicht verstehen, dann selbst das Steuer, so kann ich es vielleicht fertig bringen, daß wir wenigstens keine Fahrt machen. Wir treiben dann nicht weiter in See und können warten, bis früh der Seewind aufkommt und nachher die Flut eintritt. Mit beiden können wir dann nach Hong-kong zurück.«

»Gut, machen wir es so! Also wie viele Leute soll ich Ihnen zur Verfügung stellen?«

»Zur Verfügung? Können Sie denn die Matrosen so aus den Ärmeln schütteln?«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Und doch ist es so leicht. Unser Freund Liang-ssi geht hinunter zu den Chinesen und schickt uns unter irgend einem Vorwande so viele, wie Sie brauchen, herauf. Er muß sie einzeln wecken und ebenso einzeln schicken, damit unten keiner von dem anderen etwas weiß. Die übrigen dürfen nicht erwachen. So wie die Kerls einzeln kommen, überwältigen wir sie. Dann sind sie gezwungen, zu thun, was wir wollen. Die anderen nageln wir ein, damit sie nicht herauf können.«

»Herrlicher Gedanke! Methusalem, Sie sind ein Prachtkerl!«

»Ja,« stimmte der Dicke bei, »hij wil het gaanze scheep muisen – ja, er will das ganze Schiff mausen!«

»Ja, dat wollen wir!« fiel Gottfried lustig ein. »Donner und Doria, wat werden die daheim im Jeldbriefträger von Ninive für Jesichter machen, wenn wir ihnen erzählen, daß wir fünf Personen eine janze Dschunke mitsamt die Bemannung jestohlen und in die Westentasche davonjetragen haben! ja, so wird es jemacht! Wat ich dabei thun kann, dat wird jern jeschehen!«

»Ist es nicht zu gefährlich?« fragte der Chinese.

»Nein,« antwortete der Methusalem.

»Aber ich soll die Leute heraufschicken?«

»Die werden Sie nicht fressen!« beruhigte ihn der Kapitän. »Sinnen Sie sich nur einen guten Vorwand aus!«

»Aber sie werden sich an mir rächen wollen!«

»Pah! Wir sorgen schon dafür, daß sie unschädlich gemacht werden und Ihnen nichts thun können. Gibt es Stricke hier in der Nähe?«

»Genug, in dem Behältnisse da vor dieser Kajüte.«

»Dahinein aber kann man nur von oben gelangen?«

»Ja.«

»Und da steht der Vorderposten! Das ist unangenehm!«

»Gar nicht!« sagte der Methusalem. »Ich werde gleich ein Wort mit dem Mann sprechen.«

»Sie wollen hinauf zu ihm?«

»Ja. Jedenfalls schläft auch er. Ich nehme ihn ein wenig bei der Kehle. Passen Sie 'mal auf! Gottfried mag mitgehen und sein Taschentuch als Knebel bereit halten.«

Die beiden verließen die Kajüte. Sie sahen die Leinen, an denen am Abende die Laternen gehangen hatten. Der Methusalem schnitt eine derselben ab, um sie als Fessel gebrauchen zu können. Er sah den schlafenden Mann im Großmaste sitzen.

»Komm, Gottfried,« sagte er. »Wir wollen erst diesen unschädlich machen.«

Sie schlichen sich zu ihm hin und kamen ganz an ihn heran, ohne daß er aufwachte.

»Ich fasse ihn bei der Kehle,« flüsterte der Student. »Er wird den Mund öffnen, um zu schreien oder Atem zu holen. Da steckst du ihm dein Taschentuch so weit wie möglich hinein.«

»Schön! Werde ihm jut bedienen!«

Sie nahmen sich noch Zeit, die lange Leine in kürzere Stücke zu schneiden; dann legte Degenfeld dem Manne die Hände um den Hals. Er wollte erschrocken auffahren und schreien. Im Nu schob ihm der Wichsier das Tuch in den Mund.

»So!« nickte der letztere. »Der singt uns nun keine Quadrille vor. Soll ich ihn binden? Halten Sie ihm jetrost fest!«

Der so unzart Überraschte schlug mit den Händen und stieß mit den Füßen um sich, konnte aber nicht verhüten, daß Gottfried ihn so fesselte, daß er sich nicht mehr zu bewegen vermochte.

»Mit dem sind wir fertig,« meinte Degenfeld. »Nun nach vorn!«

Dort führte eine schmale Treppe neben der Kajüte auf das Dach derselben. Sie stiegen leise die Stufen hinan und sahen den Posten schlafend oben sitzen. Es erging ihm genau so, wie seinem Kameraden. Der Methusalem hatte sein Taschentuch herausgezogen, um ihn mit demselben zu knebeln; aber Gottfried sagte:

»Lassen Sie es in der Tasche! Wir brauchen unsere Jelegenheitstücher selber. Ich schneide ihm ein Stück von seinem Schlafrocke ab. Dat wird dieselben Dienste thun.«

So geschah es. Dann stiegen die beiden wieder hinab, um den Kameraden zu sagen, daß ihr Vorhaben glücklich ausgeführt worden sei.

»Nun haben wir noch zwei,« meinte Turnerstick, »den Hinterposten und den Steuermann. Dabei muß ich sein, des Steuers wegen. Es ist geraten, es festzubinden. Wir können keinen Mann entbehren.«

Jetzt wurde zunächst Liang-ssi in das kleine Kämmerchen nach Stricken geschickt. Dann begaben sie sich alle nach dem Hinterteile des Schiffes, hier führte auch eine Treppe hinauf auf das hohe Quarterdeck. Auf den Stufen derselben saß die Wache und – – schlief. Sie wurde leicht und ganz in derselben Weise wie die beiden anderen bewältigt.

Dann galt es noch dem Steuermanne, welcher jedenfalls wach war. Deshalb konnte man seiner nicht so leicht Herr werden, und doch mußte alles Geräusch vermieden werden, da der Ho-tschang unter ihm schlief.

»Wie fangen wir es an?« fragte Turnerstick. »Wenn wir -ah, ich bin ja als Chinese angezogen; er wird mich also für einen der Leute halten. Passen Sie auf! Sobald ich ihn habe, kommen Sie mit den Stricken nach.«

»Greifen Sie aber ja fest zu, daß er nicht schreien kann!«

»Keine Sorge! Die Kehle, welche ich in meine Hand bekomme, bringt sicherlich keinen Laut hervor.«

Während die anderen zurückblieben und nur heimlich über die Kante des Quarterdeckes lugten, stieg Turnerstick die wenigen Stufen hinan und ging stracks auf den To-kung zu. Dieser fragte ihn in mürrischem Tone, was er wolle. Er hielt ihn wirklich für eine der Wachen.

»Das kangst du noch frageng?« antwortete der Kapitän. »Ich will 'mal deinen Hals untersuching, Bursche. Da, warte, du erbärmlicher spitzbübischer Halunking!«

Während er diese prachtvolle chinesische Antwort gab, legte er ihm die Seemannshände um den Hals und drückte denselben so fest zusammen, daß der Steuermann lautlos zusammenbrach. Er wurde gefesselt und geknebelt wie die anderen.

»Das geht gut,« meinte Liang-ssi. »So leicht habe ich es mir nicht vorgestellt.«

»Na, so leicht, wie es den Anschein hat, ist es freilich nicht,« antwortete Gottfried. »Wenn Sie etwa dat Jejenteil behaupten, so versuchen Sie es nur einmal mit dem Ho-tschang, welcher nun wohl an die Reihe kommt. Da können Sie beweisen, daß Sie Mark und Enerjie besitzen.«

»Ich danke, ich danke! ich würge keinen ab!«

»Wir auch nicht. Wir säuseln ihnen nur so ein bisken um die Gurjel, aberst leben lassen thun wir ihnen doch. Ich wenigstens habe keine Lust, mir als Mörder an dem Galjen offknobeln zu lassen. So wat ist meine Passion nie nicht jewesen, weshalb ich mir noch jetzt des besten Wohlseins erfreue.«

Der Methusalem forderte den Chinesen auf, ihm zu zeigen, wo der Ho-tschang mit dem Eigentümer des Schiffes- schlafe. Das war unterhalb des Steuers in der Achterkajüte. Auch der Priester befand sich dort.

Es waren Stellen da, an denen die dünne Wand nicht schloß. Ein Lichtschein drang durch die Fugen. Degenfeld trat hinzu und blickte hinein. Er konnte nicht den ganzen Raum sehen, erkannte aber doch die drei Männer, welche auf dicken Strohdecken schliefen, die auf dem Fußboden lagen. Von der niedrigen Decke hing eine Papierlaterne herab.

»Die Dummheit und Sorglosigkeit dieser Menschen sind wirklich fast noch größer als ihre Schlechtigkeit,« sagte er. »Sie müssen vollständig überzeugt sein, uns fest im Sacke zu haben. Uns so zu behandeln und dennoch wie die Ratzen zu schlafen, das ist stark! Sie verlassen sich allzu sehr darauf, daß sie unsere Thür verrammelt haben. Schläft die Mannschaft unter ihnen?«

»Nein,« antwortete Liang-ssi. »Die Leute liegen im Mittelraum, also mehr nach vorn.«

»So können wir immerhin ein wenig Lärm riskieren, welcher sich auch gar nicht vermeiden läßt, da sie sich eingeriegelt haben. Gibt es starke Nägel und einen Hammer?«

»Ja, da wo die Stricke lagen.«

»Holen Sie das, während wir hier diesen Herrschaften einen guten Morgen sagen!«

Der Chinese ging. Degenfeld probierte, an welcher Stelle der Thür sich innen der Riegel befand. Dann stemmte er sich gegen dieselbe und sprengte die Thür auf. Die drei Schläfer erwachten und richteten sich halb auf. Der Blaurote hatte seine beiden Revolver gezogen, Gottfried ebenso, Richard den seinigen auch. Turnerstick folgte diesem Beispiele, und der Dicke, welcher seine beiden Flinten um keinen Preis verlassen hatte, hielt dieselben drohend in beiden Händen.

»Bleibt sitzen, oder ihr bekommt die Kugeln!« herrschte der Methusalem die Erschrockenen an, natürlich in ihrer Muttersprache. »Wer einen Laut hören läßt, ohne daß ich es ihm erlaubt habe, der ist verloren!«

Die Gesichter, welche sie zeigten, hätte kein Maler wiedergeben können. Sie starrten die Eingetretenen so entsetzt an, als ob sie Geister vor sich hätten.

»Sie – Sie sind es?« stammelte endlich der Ho-tschang. »Was wollen Sie?«

»Uns für das Opium bedanken, welches ihr uns beigebracht habt.«

»Opium? Was meinen Sie?«

»Stellen Sie sich nicht unwissend! Sie haben uns Opium in das Getränk gethan, um uns zu betäuben!«

»Das ist nicht wahr! Wir wissen nichts davon.«

»Es ist wahr!«

»Nein, Herr! Aus welchem Grunde hätten wir das thun sollen?«

»Um uns zu ermorden.«

»Tien-na! Himmel! Halten Sie uns für Mörder?«

»Allerdings. Meint ihr, wir wissen nicht, daß eure ›Schui-heu‹ eine Piratendschunke ist?«

»Herr, was sagen Sie! Ich werde sofort alle meine Leute kommen lassen, welche bezeugen können, daß wir ehrliche Menschen sind.«

Er wollte aufstehen. Der Methusalem hielt ihm den einen Revolver gegen die Stirn und gebot:

»Sitzen bleiben, sonst schieße ich! Ich glaube wohl, daß Sie Ihre Leute gern rufen möchten, aber nur, um uns zu überwältigen.«

»Herr, Sie irren sich wirklich! Der Himmel und die Erde sind meine Zeugen, daß Sie sich irren. Wir sind Ihre Freunde, haben wir Sie nicht höflich und gastlich bei uns aufgenommen und Sie sogar zum Kong-pit eingeladen?«

»Eingeladen haben Sie uns, aber nur in der Absicht, uns das Opium mit guter Manier beizubringen. Wir wissen das sehr genau.«

»Das ist nicht wahr. Wer hat uns gegen Sie verleumdet? Wir haben es gut gegen Sie gemeint; aber Sie sind es, welche unsere Freundschaft mit Undank vergolten haben. Sie haben drei meiner Leute erschossen und dabei noch einen vierten verwundet!«

»So hat die eine Kugel sogar zwei getroffen; das freut mich außerordentlich. Und wenn wir Ihre Leute erschießen, legen Sie sich ruhig schlafen? Zeugt das nicht gegen Sie? Wären Sie wirklich die ehrlichen Menschen, für welche Sie sich ausgeben, so hätten Sie uns als Mörder behandeln müssen und nicht eher ruhen dürfen, bis Sie sich unser bemächtigt hatten.«

»Das haben wir ja gethan! Sie befinden sich doch in unserer Gewalt, und wir haben Ihre Thür verrammelt.«

»Wie sehr wir uns in Ihrer Gewalt befinden, das sehen Sie jetzt. Und wann haben Sie die Thür verrammelt? Ehe wir schossen oder später? Warum haben Sie Löcher in unsere Thür gebohrt?«

»Um zu sehen, ob Sie schliefen.«

»Woher brauchten Sie das zu wissen? Auch das zeugt gegen Sie. Und warum schickten Sie dann einen Mann an der Schiffswand herunter nach unserer Luke?«

»Weil Sie uns nicht erlaubten, durch die Thür zu sehen.«

»Alberne Ausrede und Lüge! Der Mann sollte einen Hithu-tschang zu uns hereinwerfen! Warum sind Sie nicht bis zum Vormittage in Hongkong geblieben?«

»Sind wir denn nicht mehr dort?«

Er machte zu dieser Frage ein so dreist-dummes Gesicht, daß der Methusalem ihn empört anfuhr:

»Verstellen Sie sich nicht! So ein Kerl wie Sie bringt es nicht fertig, uns zu täuschen. Wäre Ihre Dummheit nicht so sehr groß, daß ich geradezu Mitleid mit derselben fühle, so würde ich Ihnen mit den Händen in das Gesicht schlagen. Sie sind von Anfang an darauf ausgegangen, sich unser zu bemächtigen. Warum haben Sie uns durch den Amerikaner belauschen lassen?«

»Amerikaner? Wen meinen Sie?«

»Den Menschen, welcher sich für einen Malaien ausgeben mußte.«

»Das ist er ja auch!«

»Er wird uns das beweisen müssen! Denn als er Ihnen unsere Reden mitgeteilt hatte, konnte Ihr Geist meine Frage allerdings leicht sehr beantworten.«

»Das kann er stets, der Geist ist allwissend.«

»Wirklich? Nun, ich habe es ja in der Hand, Ihnen das Gegenteil zu beweisen. Er hat Ihnen gesagt, daß Sie und wir alle glücklich nach Kanton kommen werden. Darin hat er sich nun leider doch geirrt, denn zwar wir werden Kanton sehen, Sie aber kommen nie im Leben wieder hin.«

»Wieso?«

»Weil man Sie in Hongkong ein wenig aufhängen wird, wie man mit Seeräubern zu verfahren pflegt.«

Der Ho-tschang blickte seine beiden Nachbarn an, als ob er Hilfe bei ihnen suche; sie wichen aber seinen Blicken aus und wagten auch nicht, ein Wort zu sprechen. Diese Menschen waren feig. Als er sah, daß sie ihm die Verteidigung überließen, beteuerte er:

»Herr, alles, was Sie uns vorwerfen, beruht auf einem großen Irrtum, welcher sich sofort aufklären läßt, wenn Sie mir erlauben, meine Leute zu rufen.«

»Ich brauche nur einen einzigen von ihnen, und der ist hier. Wollen Sie leugnen, daß er Ihr Gefangener ist?«

Liang-ssi war eingetreten, nachdem er erst vorsichtig hereingesehen hatte. Als der Ho-tschang ihn erblickte, verstummte er, warf aber einen wütenden Blick auf ihn.

»Nun, antworten Sie doch? Wozu sind die Kanonen unten in den Kisten?«

»Sollen denn Kanonen in den Kisten sein?« lautete die freche Gegenfrage.

»Allerdings!«

»Führen Sie uns hinab, so werde ich Ihnen beweisen, daß dies eine Lüge ist!«

»Dazu habe ich keine Lust, weil Ihre ehrlichen Matrosen dort schlafen. Übrigens brauche ich meine Worte gar nicht an Sie zu verschwenden; Sie antworten doch nur mit Lügen. Aber in Hongkong wird man Sie schon zum Geständnisse bringen.«

»Gut, so lassen Sie mich hinaus! Das Schiff scheint sich losgerissen zu haben und mit der Ebbe in See gegangen zu sein. Ich werde es zurückführen, und dann bringen Sie Ihre Klagen bei dem Hing-kuan an!«

»Diesen Rat werde ich nicht befolgen. Um die Dschunke nach Hongkong zurück zu bringen, brauchen wir Sie nicht. Und wenn wir dort angekommen sind, werden wir zwar Klage erheben, aber nicht bei Ihrem Kuan, sondern bei unsern Konsuls. Ihnen werden wir auch das Schiff ausliefern.«

Die Kerls erbleichten.

»Herr, das dürfen Sie nicht!« rief der Ho-tschang.

»Warum nicht? Weil es Ihnen dann schnell an den Hals geht? O, wir kennen das Rechtsverfahren Ihres Landes! Wir haben keine Lust, auf die Entscheidung von sechs Untergerichten zu warten und dann noch zu erfahren, daß der Tu-tscha-yuen oder der Ta-li-sse Sie doch noch laufen läßt. Sie sind Räuber; das beweisen wir. Sie haben uns, die wir Ausländer sind, ermorden wollen, also gehört die Angelegenheit vor die Vertreter der Länder, deren Bürger wir sind. Und diese Konsuls werden dafür sorgen, daß Ihnen der Strick bald um den Hals zu liegen kommt! Gottfried, Kapitän, binden Sie die Kerls!«

Diese letztere Aufforderung wurde natürlich in deutscher Sprache gesprochen.

»Ik bind ook met!« sagte der Mijnheer. »Ik ben ook daaraan – ich binde auch mit. Ich bin auch dabei.«

Und als die drei sich wehren wollten, hielt er dem Priester den Flintenlauf vor die Nase und rief:

»Sluit den mond, gij heidensch geestelyke! Wilt gij eene kogel in het aangezigt hebben – schließe den Mund, du Heidengeistlicher! Willst Du eine Kugel in das Gesicht haben?«

Das klang freilich drohend genug. Daneben stand der Methusalem mit den Revolvern und versicherte, bei einem etwaigen Hilferuf augenblicklich den Betreffenden zu erschießen. Das schüchterte die Chinesen so ein, daß sie sich binden und sogar auch knebeln ließen.

Nun galt es, sich der Mannschaft zu versichern. Turnerstick sagte, daß er höchstens zehn Mann zur Bedienung des Schiffes brauche. Die sollte Liang-ssi einzeln heraufschicken. Da bis jetzt alles so gut abgelaufen war, erklärte er sich dazu bereit und stieg durch die Mittellucke in den Raum hinab. Von seiner Klugheit hing das fernere Gelingen des Handstreiches ab. Hoffentlich war seine Verschlagenheit größer als sein Mut. Da er erklärt hatte, daß er die Leute zum Ho-tschang schicken werde, der ihn nach ihnen geschickt habe, so verbargen sich die Fünf hinter mehreren großen Körben und leeren Kisten, an denen die Leute vorüber mußten. Stricke waren nach Bedarf vorhanden.

Der Erste kam. Als er vorüber wollte, wurde er von Degenfeld und Gottfried gepackt. Der Schreck ließ ihn verstummen, und das übrige thaten die Drohungen, welche er zu hören bekam. Er wurde mit beiden Händen an den Vordermast gebunden.

Ebenso erging es den andern. Liang-ssi entledigte sich seiner Aufgabe auf das vortrefflichste. Er sagte einem jeden, daß er heimlich zum Ho-tschang kommen solle, ohne daß jemand es bemerken dürfe. Auf diese Weise schickte er nach und nach zehn Personen herauf, ohne daß die andern aufgeweckt wurden. Diese zehn wurden auf die beschriebene Weise festgenommen und an die Masten oder das Geländer gebunden.

Nach dem letzten kam er selbst wieder auf das Deck. Er fragte den Methusalem, ob dieser mit ihm zufrieden sei.

»Sie haben Ihre Sache weit besser gemacht, als ich es Ihnen zutraute,« antwortete Degenfeld. »Wie viele Ausgänge hat der Raum?«

»Nur diesen einen.«

»So nageln wir die Luke zu und wälzen einige von diesen schweren Körben darauf. Dann soll es keinem gelingen, den Deckel aufzusprengen.«

Nägel hatte der Chinese vorhin geholt. Als die Hammerschläge ertönten, erwachten natürlich die im Raume befindlichen Matrosen. Sie kamen die Lukentreppe herauf, um zu erfahren, was der Lärm zu bedeuten habe. Als sie nun erfuhren, daß die Luke vernagelt wurde, erhoben sie ein wildes Geschrei und versuchten, sie aufzusprengen, was ihnen aber nicht gelang. Sie konnten sich den Grund, weshalb der Ho-tschang dieses Experiment machte, nicht erklären, sagten sich aber, daß er jedenfalls eine Veranlassung dazu habe, und beruhigten sich durch den Gedanken, daß sie das Nähere bald erfahren würden. Ihr Rufen und Klopfen verstummte. Sie hatten sich wieder niedergelegt.

Dennoch beorderte der Methusalem Richard Stein an die Luke, um da als Wache zu bleiben, wozu der Knabe am besten verwendet werden konnte.

Jetzt war man so weit, daß der Kapitän seine Manöver beginnen konnte. Er stieg hinauf an das Steuer, um dieses zu regieren und von da aus seine Befehle zu erteilen, welche, wie er überzeugt war, den Matrosen sehr verständlich sein würden.

Diese letzteren sollten die Ausführung übernehmen und dabei von Degenfeld, Gottfried, dem Mijnheer und Liang-ssi überwacht werden. Wer sich nicht gehorsam zeigte, sollte augenblicklich erschossen werden. Dies wurde ihnen gesagt. Keiner von ihnen hatte eine Waffe, und die Fesseln wurden ihnen nur so weit gelockert, als unbedingt notwendig war. Darum sahen sie ein, daß sie sich fügen müßten, und verzichteten auf allen Widerstand. Jedenfalls war nebenbei ihre Verblüffung so groß, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, sich zu wehren.

Turnerstick hatte dem Methusalem bedeutet, drei Matrosen an den Vor-, drei an den Hinter- und vier an den Großmast zu postieren. Diese Kräfte waren genügend, die Taue zu regieren, welche an die beiden Enden der Raaen, also an die Oberecken der Segel befestigt sind. Diese Taue werden bei uns Brassen genannt. Sie dienen dazu, die Segel horizontal zu bewegen, damit der Wind mehr oder weniger auf die Fläche derselben trifft. Die Brassen nach der Windseite heißen Luvbrassen; die andern werden Leebrassen genannt. Voll brassen heißt, die Segel so richten, daß sie den Wind senkrecht auf sich auffangen; in den Wind brassen oder lähnlich brassen heißt, die Segel so stellen, daß der Wind sie nur am Rande trifft.

Als der Kapitän sah, daß die Leute ihre Plätze eingenommen hatten, kommandierte er:

»Hoiho, ihr Jungengs, aufpasseng, aufpassing, aufpassong!«

Sie blickten nach ihm hin, verstanden ihn aber nicht. Als er die Gesichter der Hinterbordmannen auf sich gerichtet sah, fuhr er fort:

»All Hand an Steuering-bording! Nehmt die Leebrasseng! Holt scharf an! Fest ziehen, zieheng, ziehing, ziehung!«

Sie standen da und wußten nicht, was sie machen sollten.

»Alle Teufling, könnt ihr nicht höring! Könnt ihr nicht chinesisch verstehung! Gebt die Luvbrasseng frei, und holt im Lee fest an! Anholeng, anholing, anholung!«

Jetzt nahmen Degenfeld und Liang-ssi sich der Sache an, indem sie die Befehle des großen Sinologen verdolmetschten. Die Befehle wurden ausgeführt, und zwar so leidlich, daß Turnerstick vom Steuer her fragte:

»Nun, Master Methusalem, was sagt man jetzt zu meinem chinesisch: Tüchtiger Kerl, der Heimdall Turnerstick, nicht? Kann in allen Dialekten kommandieren!«

»Ja, es ist erstaunlich!« antwortete Degenfeld.

»Habt mir's so gar nicht zugetraut, weiß es schon. Habe aber da mal Leute gefunden, welche das richtige Hochchinesisch im Kopfe haben. Paßt nur mal auf!«

Und mit donnernder Stimme gebot er weiter:

»Jetzt ganz in den Wind die Brasseng, ganz, ganz, vollständig, vollständang, vollständung! Legt sie fest, festlegang, festleging – leging – legang!«

Da der Befehl den Leuten wieder verdolmetscht wurde, was Turnerstick entweder gar nicht hörte oder doch nicht beachtete, so wurde er vollzogen.

»So ist's brav; so ist's gut!« rief er. »Fällt schon ab nach Steuerbord, die alte Dschunke. Macht so fort, ihr Bursche, Bursching, Burscheng, Burschung!«

Ganz ebenso ging es bei den folgenden Kommandos. Er brachte es wirklich so weit, daß das Fahrzeug ohne Fahrt zu biegen schien, band das Ruder fest und kam dann herabgestiegen, um die Matrosen wieder anbinden zu lassen.

Er klopfte Degenfeld auf die Achsel und sagte in vergnügtem Tone:

»Gar keine üblen Kerls, diese Chinesen! Habe es bisher gar nicht gedacht. Aber freilich ein deutliches Chinesisch muß man mit ihnen reden, sonst ist's eben nichts.«

»Dazu sind Sie ja der richtige Mann!«

»Will's meinen! ja, meine Endungen, meine Endungen, bester Methusalem. Wenn doch auch Sie sich mit ihnen befreunden wollten! Dann könnten Sie sich diesen Leuten später auch mal verständlich machen.«

»Werde mich bemühen! Aber wie steht es? Die Dschunke macht doch einen Bogen?«

»Scheint nur so, scheint nur so. Sie liegt bei, ganz fest bei. Nun warten wir den Morgenwind, welcher bekanntlich nach dem Lande bläst, und die Flut ab. Dann geht's nach Hongkong zurück.«

»Sind wir weit davon entfernt?«

»Weiß es nicht genau. Habe keine Instrumente mit und kann mich auf die Karten dieses Ho-tschang nicht verlassen. Habe auch unser »In die See stechen« ganz verschlafen. Vermute aber, daß wir uns noch vor der Mirs-Bai befinden. Muß den Morgen abwarten.«

»So wollen wir, da es nichts zu thun gibt, uns um unsere vier ersten Gefangenen bekümmern.«

»Ja, sie liegen ohne Aufsicht und könnten sich losmachen. Schaffen wir sie alle in die Kajüte, in welcher der Ho-tschang liegt. Da genügt ein Mann, sie zu bewachen.«

Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Dann wachte Richard an der Luke, Gottfried bei der Kajüte, und die andern beaufsichtigten die im Freien angebundenen Matrosen.

Was Hunderte für unmöglich gehalten hätten, war gelungen. Sechs Personen, Liang-ssi eingerechnet, hatten sich einer Piratendschunke bemächtigt, deren Bemannung eine zehnmal stärkere war. Die Freude darüber wirkte besser als alle Medizin. Die Reisenden fühlten keinen Kopfschmerz mehr; sie befanden sich so wohl, als ob es weder Sam-chu noch Opium gegeben habe.

Degenfeld ging auf dem Deck hin und her. Er kam an Liang-ssi vorüber, blieb bei ihm stehen und sagte:

»Vorhin, als Sie zu uns in die Kajüte kamen, gab es keine Zeit zu eingehenden Erkundigungen. Jetzt ist die Gefahr hoffentlich vorüber, und nun möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unserem Landsmanne Stein bekannt geworden sind. Wie lange befinden Sie sich bei ihm?«

»Nach Ihrer Rechnung genau seit vier Jahren.«

»Ist die Provinz Hu-nan Ihre Heimat?«

»Nein. Ich stamme aus der Nachbarprovinz Kwéi-tschou.«

»Ah, das ist mir höchst interessant!«

»Das glaube ich, denn Kwéi-tschou ist die interessanteste Provinz des ganzen Reiches.«

»Warum?«

»Weil dort die Seng und Miao-tse wohnen.«

»Das ist richtig. Man hält sie für Überreste der Urbevölkerung von China, und sie sind seit mehr als drei Jahrtausenden dem spezifisch chinesischen Volkselemente fern und fremd geblieben. Aber das war es nicht, was ich meinte. Ich interessiere mich für diese Provinz, weil ich hin will.«

»Sie nach Kwei-tschou? Herr, das ist gefährlich!«

»Mag sein, aber ich muß hin, denn ich habe es mit meinem Ehrenworte versprochen. Sind Sie dort bekannt?«

»Nicht allzu sehr, da ich die Heimat seit acht Jahren meiden mußte. Ihr Ehrenwort haben Sie gegeben?«

»Ja, mein Kong-Kheou.«

»Sogar Ihr Kong-Kheou? Wo ist das geschehen? Hier in China?«

»Nein, sondern in Deutschland, meiner Heimat.«

»Ist das möglich? Sind dabei auch Tsanhiang angebrannt worden?«

»Räucherstäbchen, ja.«

»Herr, so ist es ein wirklicher Chinese gewesen, welcher Ihnen das Kong-Kheou abgenommen hat!«

»Allerdings. Er war Kaufmann und hatte in der Stadt, in welcher ich lebte, einen Laden für alle möglichen chinesischen Artikel errichtet.«

»In Deutschland? Das ist seltsam. Bisher habe ich geglaubt, daß meine Landsleute nur nach dem Süden und Osten, also nach Indien, den Sundainseln und Amerika, nicht aber nach Europa gehen. Er muß sein Vaterland unfreiwillig verlassen haben.«

»Sie raten das Richtige. Er hat China als Flüchtling verlassen müssen.«

»Hatte er Familie?«

»Ja. Leider mußte er sie zurücklassen.«

»Dann wehe ihr, denn sie hat jedenfalls für ihn büßen müssen! Ich habe ganz dasselbe Unglück auch erfahren.«

»Sie? Mußte ein Verwandter von Ihnen fliehen?«

»Ja, mein Vater.«

»Wann?«

»Vor nunmehr acht Jahren. Ich war damals sechzehn Jahre alt.«

»Was hatte er gethan?«

»Nichts. Er war unschuldig. Sie werden vielleicht wissen, daß die Taipings eine neue Religion gründen und die herrschende Dynastie stürzen wollten. Fast wäre ihnen das gelungen. Es dauerte lange Zeit und kostete blutige Kämpfe, bis sie überwunden wurden. Sie lösten sich endlich in Banden auf, welche raubend das Land durchzogen und bis in die südlichen Provinzen kamen. Eine derselben warf sich auch nach Kwéi-tschou. Einer der Unteranführer war ein früherer Freund meines Vaters, suchte uns auf und wohnte einige Tage bei uns, ohne daß wir ahnten, daß er zu den Taipings gehörte. Man fand ihn bei uns. Er wurde arretiert und mein Vater mit ihm, obgleich derselbe seine Unschuld beteuerte und der Freund ihm bezeugte, daß er nichts gewußt habe. Beide wurden in das Sing-pu gebracht und dort wie wilde Tiere in Käfige gesperrt. Einer der Beamten wollte meinem Vater wohl, weil dieser ihm viel Gutes gethan hatte. Er schlich sich des Nachts zu ihm, öffnete den Kerker und ließ ihn entkommen. Der Vater kam für einige Augenblicke zu uns, um Abschied von uns zu nehmen. Seit dieser Stunde haben wir nichts von ihm gehört.«

Der Methusalem hatte diesen Bericht mit ungewöhnlicher Teilnahme vernommen.

»Sonderbar!« sagte er. »In welcher Stadt ist das geschehen?«

»In Seng-ho.«

»Und wie ist Ihr Geschlechtsname?«

»Pang.«

»Pang, in Seng-ho! Werden Sie mir erlauben, Sie nach Ihrem Milchnamen zu fragen, obgleich das eigentlich eine Unhöflichkeit ist?«

»Gern! Ich habe Ihnen meine Freiheit zu verdanken; wie könnte ich Ihnen da wegen dieser Frage zürnen! Mein Milchname ist ›Fuk-ku‹, was ›Ursache des Glückes‹ bedeutet. Die Eltern waren bisher kinderlos gewesen; darum gaben sie mir, ihrem Erstgeborenen, diesen Namen, um anzudeuten, daß sie nun glücklich seien.«

»Welch ein Zusammentreffen! Nicht wahr, Ihre Mutter hieß Hao-keu, lieblicher Mund?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Sie hatten noch einen Bruder und zwei Schwestern. Der erstere hieß Yin-Tsian, Güte des Himmels, und die beiden letzteren Méi-pao, schöne Gestalt, und Sim-ming, Herzenslicht?«

Der Chinese fuhr einen Schritt zurück und rief:

»Herr, was höre ich! Sie kennen die Namen meiner Verwandten!«

»Noch mehr! Nicht wahr, Ihr Vater heißt Ye-kin-li?«

»Ja, ja! Wer hat Ihnen diese Namen genannt?«

Da legte Degenfeld ihm die Hand auf die Achsel und antwortete:

»Sagen Sie mir zunächst, ob Sie stark genug sind, so ganz unvorbereitet eine für Sie hochwichtige und überraschende Neuigkeit zu hören.«

»Ist es eine traurige?«

»Nein, eine beglückende.«

»Nun, dazu bin ich stark genug. Die Stimme des Glückes vernimmt man stets gern.«

»Sie fragten, von wem ich die Namen gehört habe, und ich antworte Ihnen: Von Ihrem Vater.«

»Von – – ist's wahr, ist's wahr?«

»Ja. Er ist es, dem ich mein Kong-Kheou gegeben habe, daß ich nicht eher zurückkehren werde, als bis ich im stande bin, seine Familie oder wenigstens sichere Kunde derselben zu bringen.«

»Er lebt also, er lebt?«

»Er befindet sich wohl, und es geht ihm sehr gut.«

»O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch eine Botschaft!«

Er war ganz außer sich vor Entzücken. Er dachte zunächst nicht daran, sich nach dem Näheren zu erkundigen. Es war ihm einstweilen genug, zu wissen, daß sein Vater noch lebe. Er rannte fort und eilte zwei-, dreimal um das Deck. Dann endlich blieb er wieder vor dem Methusalem stehen und sagte:

»Herr, fast kann ich es nicht glauben. Acht volle Jahre habe ich vergeblich auf eine Nachricht von dem Verschollenen gewartet; ich mußte ihn für tot halten. Und nun höre ich so plötzlich, so ganz unerwartet, daß er in Deutschland lebt! Es ist ein Wunder! Es ist ein ebenso großes Wunder wie dasjenige, daß Sie zu Sei-tei-nei wollen, dessen Untergebener ich bin. Wie herrlich trifft beides zusammen! Mir ist, als ob ich träume!«

»Auch ich bin tief ergriffen, mein Freund. Ich fühle mich sehr glücklich, Sie gefunden zu haben, denn dadurch erspare ich eine lange Zeit des Suchens.«

»O, suchen werden Sie, werden wir doch noch müssen!«

»Wieso?«

»Sie sollen doch nicht nur mich, sondern auch die Mutter und die Geschwister finden?«

»Natürlich! Hoffentlich aber wissen Sie, wo sie zu treffen sind?«

»Nein, eben das weiß ich nicht.«

»Wie? Sie wissen das nicht? Sie sind von ihnen getrennt worden!«

»Ja. Ich habe ebenso lang, acht Jahre lang, sie weder gesehen noch etwas von ihnen gehört.«

»Wie ist das möglich?«

»Es ist sehr einfach. Sie wissen wohl, daß in China die Verwandten eines Übelthäters sein Vergehen mit zu büßen haben?«

»Ja.«

»Es ist das wenigstens in den meisten Fällen so üblich. Als der Vater entkommen war, bemächtigte man sich unserer. Wir wurden eingesperrt, aber einzeln, damit wir nicht miteinander verkehren könnten. Ich und der Bruder sollten getötet werden, also die Strafe der Aufrührer erleiden. Man wollte unsere Köpfe auf die Mauer stecken. Die Mutter und die Schwestern aber sollten als Sklavinnen verkauft werden. Dieses Urteil wäre sofort vollstreckt worden, wenn es den Beamten nicht nach unserem Gelde gelüstet hätte.«

»Das war aber vergraben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von Ihrem Vater.«

»So muß er Ihnen sein ganzes Vertrauen geschenkt haben!«

»Er hat mich mit seiner Freundschaft gewürdigt, und ich werde mir alle Mühe geben, die Hoffnungen, welche er in mich gesetzt hat, zu erfüllen. Ich weiß, daß er Ihnen nur so viel Geld gelassen hatte, wie Sie zum Leben brauchten.«

»Das hat man uns abgenommen. Da aber mein Vater reich war, so wußte man, daß unser Vermögen beiseite gebracht worden sei. Wir sollten gestehen, wo es sich befände.«

»Das konnten Sie nicht, da Ihr Vater Ihnen den Ort nicht gesagt hatte.«

»Ja. Das war sehr vorsichtig von ihm, hat uns aber große Qualen verursacht, da wir gefoltert wurden.-

»Aber es hat Ihnen auch das Leben gerettet. Hätte man das Vermögen gefunden, so wären sie dann wohl sofort hingerichtet worden.«

»Jedenfalls. Also habe wenigstens ich mein Leben der Vorsicht meines Vaters zu verdanken; die andern aber werden wohl zu Tode gefoltert worden sein.«

»Wollen das nicht befürchten. So wie Sie gerettet worden sind, können auch sie die Freiheit wieder erlangt haben. Wie ist es Ihnen denn gelungen, aus dem Gefängnisse zu entkommen?«

»Durch denselben Freund, welcher meinen Vater befreit hatte. Er öffnete auch mir den Kerker, gab mir Geld, wies mich über die Grenze von Kwéi-tschou und nannte mir einen Ort, an welchem ich auf die Meinigen warten sollte. Sie sind nicht gekommen. Darum vermute ich, daß es ihm nicht gelungen ist, sie zu befreien.«

»Warum öffnete er nur Ihnen die Thür und nicht auch den Ihrigen zugleich?«

»Das war unmöglich, da wir zu weit voneinander getrennt waren.«

»Haben Sie nicht später Erkundigungen eingezogen?«

»Viel später, ja. Aber da war eine zu große Zeit vergangen, als daß ich etwas hätte erfahren können.«

»So hätten Sie es eher thun sollen.«

»Das ging nicht an. Ich konnte mich doch keinem Menschen anvertrauen, und selbst durfte ich mich so bald nicht nach Kwéi-tschou wagen. Als ich nach fünf Jahren mich so verändert hatte, daß ich glauben durfte, nicht erkannt zu werden, reiste ich nach Seng-ho. Der Freund war gestorben, und von den Meinen wußte kein Mensch etwas.«

»Das ist traurig für Sie und unangenehm für mich. Ich muß mein Wort halten und werde also unbedingt nach Seng-ho reisen, um zu versuchen, etwas zu erfahren. Auch habe ich den Auftrag erhalten, das Geld auszugraben und Ihrem Vater zu bringen.«

»\Wissen Sie denn, wo es liegt?«

»Ja.«

»Das ist gut! Aber wird es sich auch noch dort befinden?«

»Ich hoffe es.«

»Darf ich den Ort erfahren?«

»Jetzt möchte ich noch nicht davon sprechen; doch zur geeigneten Zeit werde ich Ihnen ganz gewiß das Nötige mitteilen. Sind Sie bereit, Ihren Vater in Deutschland aufzusuchen?«

»Sofort! Das versteht sich ja ganz von selbst, zumal ich so glücklich bin, ganz leidlich deutsch sprechen zu können.«

»Das haben Sie bei Herrn Stein gelernt?«

Ja. Er wollte seine Muttersprache hören. Er wollte einen Menschen haben, mit welchem er sich in derselben unterhalten könnte. Ich hatte mir seine Zufriedenheit erworben, und so wählte er unter allen seinen Leuten mich aus und gab mir Unterricht.«

»Ist er wirklich reich?«

»Sehr reich. Er ist der reichste Mann in Ho-tsing-ting.«

»Das kann nicht viel heißen, da diese ›Feuerbrunnenstadt‹ jedenfalls nur ein kleiner Ort ist.«

»Er war klein, ist aber, seit Herr Stein dort das Petroleum entdeckte, schnell groß geworden.«

»Und er will dort bleiben?«

»Er muß, wenn er nicht seinen ganzen Besitz verlieren will. Zwar sehnt er sich nach der Heimat, aber er findet niemand, welcher ihm die Quellen und alles, was dazu gehört, abkaufen würde. Fände er einen Käufer, so würde er sofort nach Deutschland gehen.«

»Ist er chinesischer Unterthan geworden?«

»Nein. Wäre dies der Fall, so hätte er sich nicht solchen Reichtum erworben. Die Mandarinen verstehen es, dafür zu sorgen, daß der Gewinn der Geschäftsleute zum großen Teile in ihre Taschen fließt. Er ist als nordamerikanischer Bürger gekommen und ist das noch. Er steht also unter dem Schutze der Vereinigten Staaten.«

Gottfried von Bouillon hatte gesehen, daß die beiden so angelegentlich miteinander sprachen. Er schloß daraus, daß sie etwas sehr Wichtiges miteinander zu verhandeln hätten, und so trieb ihn die Neugierde von seinem Posten weg und zu ihnen herbei.

»Wat gibt's denn da für eine Konferenz?« fragte er. »Darf ich mich erlauben, mal herzuhorchen?«

»Ja, alter Gottfried,« antwortete Degenfeld. »Auch du wirst dich freuen. Wir haben, ohne es zu ahnen, einen großen Schritt zur Erreichung unseres Zieles gethan.«

»Etwa mit den jewissen Siebenmeilenstiebeln?«

»Fast ist es so. Es hat sich nämlich soeben herausgestellt, daß dieser junge Mann der älteste Sohn unseres Freundes Yekin-li ist.«

»Wat? Wie? Wo? Unsers alten Ye-kin-li mit dat Kong-Kheou, der mir als Nieou-chi-tchin-chi-nieou geschumpfen hat? Liegt da nicht vielleicht ein Irrtum vor?«

»Nein, es stimmt.«

»Hat er seinen Impfschein vorjezeigt?«

»Ist nicht nötig. Er hat das Legitimationsexamen vollständig bestanden.«

»Dann jeschehen noch Zeichen und Wunder alltage und auch noch jetzunder! Sollte man es denken! Sie Chinesige sind der kleine Ye-kin-Ii! Wie ist dat denn eijentlich entdeckt worden?«

Er sprach vor Freude seine Frage so laut aus, daß der Dicke auch herbei kam und sich erkundigte:

»Wat krijscht de Godfrijd want zoo – was kreischt der Gottfried denn so?«

»Wat ich kreische?« meinte dieser. »Dat fragen Sie noch, Dicker? Sehen Sie sich mal diesen Sohn der Mitte an! Er ist janz derjenige, den wir hier suchen, nämlich der leibhaftige Isaak von dem Abraham, welchen wir daheim Ye-kin-li genannt haben!«

»Deshalve zijn zoon?«

»Ja, mithin sein Sohn! Wat sagen Sie dazu?«

»Wat ik zeg? Zull ik dat gelooven – was ich sag? Soll ich es glauben?«

»Natürlich! Er ist der Sohn unseres chinesischen Händlers. Wir haben ihn jefunden, ohne ihn noch jesucht zu haben!«

»God zij geprezen! Goeden morgen, mijn vriend! Ik ben Mijnheer van Aardappelenbosch. Ik heb gewild u ook met zoeken – Gott sei gepriesen! Guten Morgen, mein Freund! Ich bin Mijnheer van Aardappelenbosch. Ich wollte Sie auch mit suchen.«

Er schüttelte ihm beide Hände und war so erfreut, als ob ihm persönlich ein großes Glück widerfahren sei. Er hatte, wie die meisten dicken Leute, ein sehr gutes Herz und ein weiches Gemüt.

Auch Turnerstick und Richard kamen, um zu erfahren, warum so große Freude vorhanden sei. Der Methusalem aber trieb die unvorsichtige Gesellschaft schnell wieder auseinander. Es gab jetzt keine Zeit zu solcher Unterhaltung, da es galt, den Gefangenen die größte Aufmerksamkeit zu erweisen.

Zu diesem Zwecke ließ Degenfeld alle auf dem Verdeck vorhandenen Laternen anbrennen. Das war eine so große Zahl, daß die Beleuchtung dann fast einer richtigen Illumination glich.

Die Matrosen waren so fest angebunden, daß sie sich nicht losmachen konnten. Die Gefangenen in der Kajüte vermochten auch nicht, sich von ihren Stricken zu befreien, und unter Deck herrschte die vollständigste Ruhe. Die Leute schliefen ohne Ahnung, daß das Erwachen ihnen den größten Schreck bringen werde, den es für sie geben konnte.

Unter solchen Umständen wurde den sechs Personen ihr Wächteramt nicht schwer. Sie mußten auf den Schlaf verzichten; das war alles.

Der Landwind blieb bis gegen Morgen stet; dann holte er nach und nach um und schlief für eine kurze Weile ein. Als er wieder lebendig wurde, hatte er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Er blies von der See nach dem Lande und nun war es für Turnerstick Zeit, die Matrosen wieder an die Brassen zu kommandieren, um das Schiff mit dem Seewinde nach dem Hafen zurückgehen zu lassen.

Der Tag graute und die Laternen wurden ausgelöscht. Man band die Matrosen los, und sie waren, wie schon in der Nacht, gezwungen, die Befehle des Kapitäns, welche ihnen in derselben Weise verdolmetscht wurden, auszuführen. Dann wurden sie wieder angebunden.

Freilich waren die Gesichter, welche sie dabei machten, keineswegs freundlich. Sie gehorchten nur, weil sie die Waffen auf sich gerichtet sahen. Malaiische Seeleute, die es ja in jenen Gegenden häufig gibt, hätten sich ganz anders verhalten; diese hätten selbst den Gewehren und Revolvern getrotzt. Der Chinese aber ist nur dann ein Held, wenn es keine Gefahr für ihn gibt, oder wenigstens wenn er mit ziemlicher Sicherheit auf das Gelingen rechnen kann.

Es wurde bald so hell, daß man den ganzen Gesichtskreis überblicken konnte, und da sahen die Männer denn, daß die Dschunke nicht das einzige Schiff war, welches sich in demselben befand. Hinter ihnen stieß ein Dampfer seine Rauchwolken aus den mächtigen Schloten.

Degenfeld stieg zu dem Kapitän hinauf, welcher am Steuer stand, und fragte:

»Was für ein Schiff mag das wohl sein, Master?«

»Das kann Ihnen jedes zweijährige Kind sagen. In einer Viertelstunde hat es uns eingeholt und wird uns ansprechen. Es ist ein Kriegsschiff.«

»Sehr scharf gebaut, wie es scheint.«

»Was heißt scharf bei dieser neuen Sorte von Seejungfern! Es ist ein Kreuzer, aus Stahl gebaut. Möchte mit dem Kerl nicht in Konflikt geraten. Kommt uns aber eben recht.«

»Wieso?«

»Wieso? Was für eine Frage! Habe so meine Sorge gehabt, wenn ich es auch nicht sagte. Sie sind nicht Seemann und wissen nicht, was es heißt, wenn sich unter den Kerls da im Raume der Dschunke ein einziger gescheiter und unternehmender Kopf befände. Gelänge es ihnen, die Luke aufzubrechen, so wären wir verloren.«

»Mit so mathematischer Sicherheit, wie Sie meinen, doch wohl nicht!«

»Pah! Wer's nicht kennt, der unterschätzt natürlich die Gefahr. Wir brauchen noch Stunden, um in den Hafen zu kommen. Wer weiß, was indessen geschehen könnte. Wenn die Halunken munter werden, werden Sie etwas zu hören bekommen. Darum ist mir's lieb, daß dort der Gepanzerte kommt. Wir werden uns natürlich in seinen Schutz begeben. Dann sind wir aller Sorgen los.«

»Ja, wenn Sie so meinen, so gebe ich Ihnen vollständig recht. Dann ist für uns nicht die geringste Gefahr mehr vorhanden.«

»Wenn es hier einen Signalkasten gäbe, würde ich den Kreuzer ersuchen, sich mehr zu beeilen. Wie es scheint, schenkt er uns ohnedies seine Aufmerksamkeit. Er hielt erst nach Luv, ist aber, als er uns erblickte, so weit nach Lee abgefallen, daß er uns, wenn es ihm behebt, mit dem Ellbogen streifen wird. Sehen Sie jetzt die Rauchwolken? Er gibt mehr Dampf. Das ist ein sicheres Zeichen, daß er uns nicht traut. Wir befinden uns jedenfalls nahe der Küste, und er denkt, daß wir ihm zwischen den Untiefen entkommen wollen. Dazu will er uns nicht die Zeit lassen. In zehn Minuten ist er da.«

»Welche Flagge führt er?«

»Hat noch keine, wird sie aber in dem Augenblicke zeigen, an welchem er uns guten Morgen sagt. Passen Sie auf!«

Das Panzerschiff näherte sich mit großer Schnelligkeit. Noch waren nicht fünf Minuten vergangen, so kräuselte von seinem Decke eine helle Wolke auf und dann ertönte der Schuß.

»Können leider nicht antworten,« sagte Turnerstick. »Haben kein Geschütz oben; stecken alle in den Kisten. Will ihm aber doch zeigen, daß wir seine Sprache verstehen. Nehmen Sie das Steuer und halten Sie es genau so wie ich bisher. Ah, ein Engländer!«

Er deutete nach dem Kriegsschiffe, auf dessen Flaggenstock jetzt die großbritannische blaue Divisionsflagge gehißt wurde; dann sprang er die Treppe hinab zum Hintermaste, ließ die chinesische rotgelbe Handelsflagge, welche auf demselben wehte, herab, band sie der Länge nach zusammen, und zog sie wieder auf. Man nennt dies »die Flagge weht im Schau«, und es gilt das als internationales Notzeichen.

Dann zog er sein Messer und zerschnitt die beiden Brassen des Besansegels, welches sofort im Winde gierte. Dasselbe that er auch mit dem Groß- und Focksegel. Die schweren Matten schlugen an die Masten, daß diese erklangen; aber das Schiff stoppte. Als er nun wieder zum Steuer kam, sagte er:

»Eine schwere und gewagte Sache! Aber bei dem jetzigen Winde geht es. Wollte die Matrosen nicht wieder losbinden. Sehen Sie ihre Gesichter an! Die helle Angst schaut ihnen aus den Augen. Sie wissen, daß für sie der jüngste Tag gekommen ist.«

Jetzt rauschte der Dampfer heran, ging hart vorbei, gab dann Gegendampf und legte bei.

Die ganze Deckwache stand an Steuerbord und sah herüber. Der Kommandierende stand auf der Brücke und musterte mit scharfem Blicke die Dschunke. Der Deckoffizier aber rief chinesisch herüber:

»Dschuen ahoi! Nan-tao Schui-hen?«

»Mein Himmel!« sagte Turnerstick. »Soll das etwa chinesisch sein? Dann mag er sich einpappen lassen! Es ist keine einzige Endung dabei!«

»Natürlich ises chinesisch,« antwortete Degenfeld. »Er ruft: ›Schiff ahoi! Ist's wirklich die Königin des Wassers?‹ Er ist erst an uns vorüber gegangen, um den Namen der Dschunke zu lesen.«

Und sich nach dem Kreuzer wendend, rief. er:

»Piratendschunke Schui-heu, aufgebracht von uns fünf Europäern. Stecken sechzig Mann im Raume, haben die Luke vernagelt. Bitten um schnelle Hilfe!«

Der Deckoffizier wendete sich zu dem Kommandanten auf der Brücke, wechselte einige Worte mit ihm und fragte dann in englischer Sprache, deren sich Degenfeld auch bedient hatte:

»Wer sind Sie?«

»Drei deutsche Studenten, ein holländischer Pflanzer und Heimdall Turnerstick, amerikanischer Handelsschiffskapitän.«

»Turnerstick, Turnerstick! All devils! Wo ist der alte Swalker?« fragte da der Kommandierende schnell.

»Hier bin ich, hier!« antwortete der Kapitän, mit einer Hand am Steuer und mit der andern seinen Rohrhut schwenkend. »Ah, ist's möglich! jetzt sehe ich erst das Gesicht. Kapitän Beadle, ist's möglich!«

»Hallo! Turnerstick, Ihr seid es wirklich! Aber welcher Teufel reitet Euch denn, daß Ihr auf den Gedanken kommt, Euch in dieses heidnische Gewand zu stecken?«

»Geschieht meinem jetzigen Range gemäß. Bin Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang.«

»Der Kuckuck mag Euch verstehen! Gewiß wieder 'mal so eine linguistische Marotte! Habe auf die Dschunke, gleich als ich sie sah, acht gehabt. Traute ihr nicht. Muß sie schon kennen. Traute auch der Angabe Eures Nachbars nicht. Da ich aber Euch am Steuer sehe, glaube ich alles. Müssen einmal hinüber zu Euch!«

»Ja. Wir haben jetzt die Morgenwache. Schickt die Vormittagswache herüber.«

»Was? Die halbe Mannschaft!«

»Ist notwendig. Haben über sechzig Piraten im Raume.«

»Gut! Bin begierig, zu hören, wie sich das zugetragen hat. Jedenfalls wieder 'mal ein Meisterstück von Turnerstick!«

Der Deckoffizier rief das bekannte »Rise out, Quartier in Gottes Namen!« und bald strömten die kräftigen Blaujacken aus den Luken. Das Boot und das Fallreep wurden herabgelassen, und auch Turnerstick bat den Gottfried und Richard, die Treppe der Dschunke niederzulassen. Kapitän Beadle übergab seinem Offizier das Kommando des Schiffes, um sich selbst mit auf die »Königin des Wassers« zu begeben.

Turnerstick stand am Steuer und jauchzte ihm entgegen. Sie kannten einander von früher her; sie hatten sich schon oft getroffen und schüttelten einander erfreut die Hände. Der Kommandeur lachte trotz des Ernstes der Situation laut auf, als er nun die Kleidung Turnersticks genau betrachtete. Dieser aber blieb sehr ernst und sagte:

,»Was gibt's da zu lachen, Sir? Ich bin jetzt chinesischer Generalmajor, und daß ich mein Fach verstehe, beweise ich Euch dadurch, daß ich Euch über ein halbes Hundert Piraten samt ihrer Dschunke in die Hände liefere!«

»Weiß schon! Kenne Euch ja! Aber nur fünf Mann, wahrhaftig nur fünf Mann! Sagt, wie ist das möglich!«

»Werde es Euch erzählen. Eigentlich gehört der Ruhm nicht mir, sondern unserm blauroten Methusalem da.«

»Blaurot? Methusalem? Hm!« sagte Beadle, indem er Degenfeld musterte.

Es war ihm anzusehen, daß ihm nicht nur Turnerstick drollig vorkam; er gab sich aber Mühe, ernst zu bleiben.

Turnerstick erzählte ihm in kurzen Worten das erlebte Abenteuer. Der Kommandant wurde jetzt ernst, ohne sich Mühe geben zu müssen, es zu sein.

»Bei Gott,« sagte er, »das ist wirklich eine That, weicher man alle Ehre geben muß! Im Studentenwichs nach China zu kommen, ist – – hm! Aber Sie haben sich so verhalten, daß ich Ihnen allen die Hände drücken muß.«

Er that es auch und fuhr dann fort, indem er einen prüfenden Blick über das Deck warf:

»Ich sagte bereits, daß ich denke, diese Dschunke zu kennen. Darum ließ ich fragen, ob es wirklich die ›Schui-heu‹ ist.«

»Natürlich ist sie es.«

»So? Hm! Ich möchte wetten, daß ich da vielmehr einen alten Bekannten vor mir habe, der mir leider schon einigemal zwischen Untiefen, wo ich ihm nicht folgen konnte, entkommen ist. Ein Seemann kennt ein Schiff wieder, mag man ihm zehn andere Namen geben. Ich bin überzeugt, daß dieses Fahrzeug der berüchtigte ›Hai-lung‹ (Seedrache) ist. Wollen doch einmal sehen.«

Seine Leute standen in Reihe und Glied bewaffnet aufgestellt. Er winkte Turnerstick, ihm zu folgen, stieg auf das Vorderdeck und bog sich über die Bugbrüstung nach außen.

»Dachte es mir! Falsches Bild! Man braucht es nur umzukehren, so sieht man den gemalten Drachen und unter demselben jedenfalls die beiden Schriftzeichen, welche Hai-lung, also Seedrache bedeuten. Das Bild ist angeschraubt. Hätten wir einen Schraubenschlüssel, so ...«

»Unten an der Kajüte steht ein Kasten, welcher allerlei Werkzeuge enthält,« fiel der Methusalem ein. »Auch die beiden Bohrer, mit denen sie die Löcher in unsere Thür gemacht haben.«

Richard ging, den Kasten zu holen. Er enthielt einen Schraubenzieher. Der Kapitän befahl zwei seiner Leute herbei, welche hinaussteigen und das Bild umdrehen und so wieder festschrauben mußten. Da war wirklich ein häßlicher Drache, welcher den Rachen aufsperrte, mit der Unterschrift »Hai-lung«, abgebildet.

»Das genügt,« sagte Beadle. »Weitere Beweise brauchen wir eigentlich gar nicht. Der Hai-lung ist in diesen Gewässern so berüchtigt, daß man mit seiner Bemannung sehr kurzen Prozeß machen wird. Aber wie uns nun dieser Leute bemächtigen? Was meint Ihr, Kapitän?«

»Hm!« brummte Turnerstick. »Eine böse Frage!«

»Allerdings. Ich möchte meine Jungens nicht geradezu in den Tod schicken. Die Kerls haben genug Waffen unten, um uns, wenn wir durch die Luke eindringen wollen, mit Salz und Pfeffer zu empfangen. Und die Pulverkammer ist auch unten. Wenn sie auf den Gedanken kämen, sich und uns lieber in die Luft zu sprengen, als sich uns zu ergeben!«

»Dazu fehlt ihnen die Kourage.«

»Denkt Ihr? Ich halte es doch für besser, List anzuwenden. Aber wie? Mein Leutnant hat zwar bereits unsere Geschütze herüber aufs Deck gerichtet. Er kann es mit einigen Salven leer fegen. Aber die Halunken sind doch nicht oben, sondern unten.«

»Lassen Sie mich einige Worte hier mit Liang-ssi sprechen!« bat der Methusalem. Und sich zu dem Chinesen wendend, fragte er diesen:

»Es gibt noch eine Vorder- und Hinterluke hier. Sind diese beiden Räume unten mit dem Mittelraume verbunden?«

»Nein.«

»Die Piraten befinden sich also nur in dem letzteren?«

»Ja.«

»Auf welche Weise kommandiert der Ho-tschung alle Mann auf Deck?«

»Mit seiner Pfeife.«

»Wo ist dieselbe?«

»Er hat sie stets am Halse hängen.«

»Ja, ich besinne mich, sie gesehen zu haben.«

»Dann denke ich, brechen wir die Mittelluke wieder auf. Wenn wir pfeifen, so kommen die Leute herauf.«

»Daß sie dumm wären. Meinen Sie etwa, daß sie noch schlafen?« sagte Beadle. »Die stehen unten an den Fenstern und sehen, daß sie neben einem Kriegsschiffe hegen. Sie wissen also bereits, woran sie sind. Und der erste von ihnen, welcher an Bord steigen wollte, würde meine Leute sehen, sogleich wieder verschwinden und seine Genossen warnen.«

»Gut, so gibt es noch ein Mittel, nämlich wenn wir zu demselben kommen könnten. Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen. Ich meine die famosen Hi-thu-tschangs.«

»Was ist das?«

»Die Stinktöpfe.«

»Das wäre freilich ein Prachtmittel. Aber wo befinden sich dieselben?«

»Im Vorlukenraume,« antwortete Liang-ssi.

»So können wir dazu. Führen Sie uns!«

Er winkte noch einige seiner Leute herbei und stieg mit ihnen hinab. Turnerstick und der Methusalem folgten. Der Mijnheer wollte sich ihnen anschließen, aber es zeigte sich leider, daß die Luke nicht für seinen Körperumfang berechnet war. Er mußte oben bleiben.

Sie gelangten in einen nicht sehr großen Raum, welcher vollständig leer war. Er hatte jedenfalls den Zweck, die geraubten Güter aufzunehmen. Eine noch schmalere Treppe führte weiter hinab in den Kiel- oder Ballastraum. Dort war es vollständig dunkel. Beadle brannte ein Wachshölzchen an, und beim Scheine desselben sah man mehrere Reihen verschlossener Töpfe im Sande stehen, welcher den Ballast bildete.

»Da sind sie,« sagte Turnerstick. »Schaffen wir eine Anzahl hinauf!«

Das Hölzchen verlöschte. Es war wieder dunkel. Aber man wußte nun, wo die Töpfe standen und stieg nun im Sande zu ihnen hin. Während dieser Pause, in welcher niemand sprach, ertönte ein lauter, stöhnender Seufzer.

»Ist jemand hier?« fragte Beadle.

»Ngái ya!« erklang es von der Seite her.

»Das war chinesisch. Was bedeutet es?«

»O wehe!« antwortete der Methusalem.

»Sollte sich einer der Piraten hier befinden?«

»Vielleicht zur Strafe!«

»Kieu schin,« ertönte es abermals.

»Was heißt das?«

»Zu Hilfe!« antwortete der Blaurote.

»Vielleicht ist's doch ein ehrlicher Mensch, der in die Gewalt dieser Piraten geraten ist. Wollen es untersuchen.«

Er gebot seinen Leuten, inzwischen eine Anzahl von Töpfen hinauf zu schaffen, und brannte abermals ein Hölzchen an. Als er sich mit Turnerstick und Degenfeld nach der Seite wandte, von welcher her die Seufzer hörbar gewesen waren, gewahrten sie einen niedrigen Bretterverschlag. Beadle klopfte an denselben und fragte:

»Ist jemand hier drin?«

»Hu-tsi – o wehe!« antwortete es.

»Schui tschung-kian – wer ist da drinnen?« fragte der Methusalem.

»Ngo-men-ri – wir zwei,« hörte man es erklingen.

»Schui ni-men – wer seid Ihr?«

»Ngo Tong-tschi, t'a Ho-po-so – ich bin der Tong-tschi und der andere ist der Ho-po-so.«

Degenfeld mußte dem Kapitän diese Antworten übersetzen.

»Alle Wetter!« meinte dieser. »Sollte das möglich sein? Ho-po-so heißen die beiden Beamten, welche alle Schiffer im Hafen von Kanton zu beaufsichtigen haben. Sollte einer von ihnen in die Hände der Piraten geraten sein? Was der zweite ist, weiß ich nicht. Tong-tschi ist mir unbekannt. Wissen Sie es vielleicht?«

»Ja. Tong-tschi und Tong-pan sind sehr hohe Magistrats-Personen, mit deren Obliegenheiten ich mich oft beschäftigt habe, da sie sehr viel zu thun haben müssen. Das Gesetz trägt ihnen auf, die Abgaben an Geld oder Naturalien zu erheben, das Militär zu überwachen, die Polizei zu leiten, die Poststationen zu revidieren, für die Verbesserung der Pferderassen Sorge zu tragen, die Domänen des Staates zu beaufsichtigen, Dämme und Kanäle in Stand zu halten, auf die noch nicht ganz unterworfenen Bergvölker acht zu geben und endlich und vor allen Dingen auf die Fremden an den Grenzen und im Innern des Reiches zu vigilieren und das Paßwesen in Ordnung zu halten!«

»O wehe! So ein armer Teufel möchte sich doch in Stöcke zerreißen!«

»Ja, das Amt eines Tong-tschi ist ein schwieriges und bedeutungsvolles. Wo ist der Verschluß dieses Kastens?«

Man konnte es nicht sehen, da das Hölzchen wieder verlöscht war.

»Lassen wir das einstweilen!« sagte Beadle. »Wir haben Nötigeres zu thun. Die beiden Kerls können noch eine Viertelstunde stecken, mögen sie nun sein, wer sie wollen. Wir müssen uns vor allen Dingen der Mannschaft versichern.«

Es waren inzwischen wohl zehn bis zwölf Stinktöpfe an Deck gebracht worden. Das genügte für den beabsichtigten Zweck. Die drei stiegen wieder nach oben, und nun wurden die schweren Körbe von der Luke weggenommen. Unter derselben regte sich nichts. Man hätte versucht sein können, zu bezweifeln, daß so viele Menschen sich unterhalb derselben befanden. Sie wurde aufgesprengt.

Wer gedacht hätte, daß die Piraten nun heraufspringen würden, der hätte sich in einem bedeutenden Irrtume befunden. Sie ließen von sich weder etwas hören noch sehen. Natürlich aber hütete man sich, der offenen Luke nun nahe zu kommen. Man hätte leicht eine Kugel bekommen können.

Nun wurden die Stinktöpfe herbeigebracht. Sie schienen sehr dünnwandig zu sein und hatten fast die Gestalt und auch die engen Öffnungen unserer thönernen Wärmflaschen. Natürlich waren sie luftdicht verschlossen.

Einer der Matrosen warf, sich aber von der Luke so fernhaltend, daß er nicht von unten gesehen werden konnte, den ersten Topf hinab. Seine Kameraden hielten ihre Gewehre schußbereit. Man hörte, daß der Topf in Scherben ging.

»Ngu-hu, hi-thu-tschang – o wehe, Stinktöpfe!« ertönte unten ein lauter Schrei.

Ein zweiter und dritter flog hinab. Die Wirkung war eine solche, daß man sie auch oben spürte.

»Macht schnell,« gebot Kapitän Beadle, »sonst müssen wir selbst auch ausreißen!«

Man gehorchte diesem Befehle, und dann wurde die Luke wieder zugemacht.

Unten erhob sich ein vielstimmiges Geschrei, ein wüstes Lärmen und Klagen. Es wurde an die Luke gestoßen, um sie zu öffnen, aber man hatte die Körbe wieder darauf gestellt. Dann hörten die auf dem Decke befindlichen, daß an den Schiffsseiten die Fenster aufgerissen wurden. Die Piraten schnappten nach frischer Luft.

Das Mittel war außerordentlich drastisch. Es wirkte nicht nur auf die Patienten, sondern auch auf die Ärzte. Der schreckliche Gestank, welcher jeder Beschreibung spottet, drang durch die Fenster herauf auf das Deck. Kapitän Beadle zog sich auf das Quarterdeck zurück, Turnerstick mit ihm.

Die Marineleute wären gern auch ausgerissen, mußten aber stehen bleiben.

»Na, wer diese Erfindung jemacht und vorher jeprobt hat, der muß eine Nase jehabt haben mit Nerven, so dick wie ein Heubaum!« rief Gottfried von Bouillon. »Wat soll mein Fagott denken! Es wird mich in die schönste Seelenverstimmung jeraten. Ich retiriere es und mir mit. Wat sagen Sie dazu, Mijnheer?«

»Wat ik zeg? Foei! Donder ein bliksem! Dat ruikt waarachtig na honderd duizend ongelukkigen nijlpaarden – was ich sage? Pfui! Donner und Wetter! Das riecht wahrhaftig nach hunderttausend unglücklichen Nilpferden!«

Er ergriff schleunigst die Flucht und retirierte sich an das äußerste Ende des Vorderschiffes.

Nur der Chinese kann auf eine solche Erfindung verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt sein Leben. Der chinesische Pirat besiegt seine Gegner mit Gestank!

Es dauerte eine geraume Zeit, bevor dieser Geruch sich so verflüchtigt hatte, daß Kapitän Beadle wieder auf das Mittelschiff herabkam.

»Was nun?« fragte er abermals. »Ich möchte wissen, wie die Kerls sich da unten befinden. Versuchen wir, die Luke zu öffnen!«

Einige seiner Leute machten sich daran, diesen Befehl auszuführen. Kaum war es geschehen, so ergriff der Kapitän die Flucht schleunigst wieder. Die Luke glich einer Esse, aus welcher die Dämpfe der Hölle entstiegen. Man mußte wohl zehn Minuten vergehen lassen, ehe man ihr wieder nahen konnte.

Nun galt es, nachzuforschen, welche Wirkung die Stinktöpfe gehabt hatten. Beadle wollte Freiwillige vortreten lassen. Da aber meinte Gottfried von Bouillon:

»Nein, Sir, dat ist nicht nötig. Ich habe auch die meinige Ehre im Leibe und lasse mir nicht lumpen. Ich binde mir an einen Strick und nehme meine Oboe mit. Sobald ich blase, ziehen Sie mir wieder ans joldene Tageslicht. Die Oboe soll dat Zeichen jeben, dat da unten nicht allens in jutem Zustande ist. Wer Opium jetrunken hat, kann wohl auch Ammoniak vertragen. Mijnheer, halten Sie mir am Seile fest!«

Er band sich einen Strick um den Leib, hielt sich das Taschentuch an die Nase und stieg mit dem Fagotte in die Tiefe. Niemand hatte ihm abgeraten. Was er unternahm, war doch eine Heldenthat. Er hatte nicht nur die Gase zu fürchten, sondern wohl noch mehr die Piraten, welche vielleicht nicht betäubt worden waren.

Der Mijnheer hielt das andere Ende des Strickes und horchte. Da, wirklich, da hörte man unten einen ganz unbeschreiblichen Triller auf dem Fagott erschallen.

»Ziehen Sie, Mijnheer, ziehen Sie!« rief Turnerstick. »Er ist umgefallen. Er ist ohnmächtig!«

Der Dicke zog aus Leibeskräften.

»Het is zoo zwaar – er ist so schwer!« keuchte er.

»So helfe ich mit. Aber ziehen Sie nur, sonst erstickt er.«

Die beiden zogen fürchterlich. Ihre Gesichter wurden rot und immer röter, aber sie brachten den Verunglückten um keinen Zoll vorwärts. Da erschien in der Lukenöffnung erst das Fagott und dann der Gottfried selbst. Er hatte den Strick nicht mehr um den Leib und fragte im Tone der größten Verwunderung:

»Aber Mijnheer, wat ziehen Sie denn so entsetzlich? Wat echauffieren Sie Ihnen denn so außerordentlich?«

Der Dicke sah ihn verwundert an, ließ den Strick fallen, nahm die schottische Mütze ab, wischte sich den Schweiß von seinem Kahlkopfe und antwortete:

»Ik dacht, gij zijt daaraan!«

»Nein, ich hänge nicht mehr daran, sondern ich habe das andere Ende unten an einen Balken gebunden.«

»Nijlpaard!«

Er warf ihm dieses Wort mit einem zornigen Blick in das Gesicht und ging davon.

»Herr Ziegenkopf, ich habe auch mit gezogen!« rief Turnerstick. »Ich verbitte mir solche Jungenstreiche!«

»Jungenstreiche? Wieso?«

»Sie haben gesagt, daß wir sofort ziehen sollen, wenn Sie blasen!«

»Ja, dat ist meine Rede jewesen. Aberst habe ich denn jeblasen?«

»Ja, und wie!«

»Nein, sondern ich habe jetrillert. Dat ist wat janz anderes! Dat ist wat für een jeübtes musikalisches Jemüt. Mit dieses Trillern habe ich anjedeutet, daß meine Seele voller Jubel ist über dat, wat ich da unten jesehen habe. Jetrillert ist niemals jeblasen; merken Sie sich dat. Blasen kann mancher, auch den Kaffee; aberst trillern Sie ihn mich einmal!«

»Sie sind ein unverbesserlicher Schlingel! Was haben Sie denn gesehen?«

»Die janze Janitscharenmusik. Sie liegen kreuz und quer über- und durcheinander und wissen nicht, wohin ihre Jeistesjegenwart jeraten ist. Sie sind von die Stinktöpfe hypnotisiert worden.«

»Wirklich?«

»Wenn Sie es nicht glauben wollen, so jehen Sie jefälligst näher! Dann können Sie auch den Strick wieder vom Balken knüpfen, wofür er Ihnen sehr dankbar sein wird. Wegziehen haben Sie ihn doch nicht können.«

Das war eine Botschaft, welche man so gern hörte, daß man ihm den kleinen Streich gern verzieh. Kapitän Beadle kommandierte seine Leute hinab. Es war so, wie der Gottfried gesagt hatte. Die Chinesen lagen besinnungslos und halb erstickt im Raume, in welchem es noch jetzt eine Luft gab, welche zum Husten und Niesen reizte.

Zunächst wurde der Raum genau untersucht. Da standen die Kisten mit den Kanonen. Da hingen Waffen aller Art an den Wänden. Auf dem Boden lagen Strohmatten, welche die Lagerstellen gebildet hatten. Hinten gab es eine verschlossene Thüre, von welcher Liang-ssi sagte, daß sie zur Pulverkammer führe.

Eine etwas engere Luke führte noch tiefer hinab, in die mittlere Abteilung des Ballastraumes. Dorthin, so befahl Kapitän Beadle, sollten die Gefangenen geschafft werden, nachdem man ihnen alle Waffen und den Inhalt ihrer Taschen abgenommen hatte.

Das mußte aber schnell geschehen, damit sie nicht vorher wieder zum Bewußtsein kommen konnten. Es wurden Laternen angebrannt und dann ließ man die Piraten, einen nach dem andern, die untere Lukentreppe hinabgleiten, wo sie in Empfang genommen und in den feuchten Sand gelegt wurden.

Als das geschehen war, wurde die Luke verschlossen. Nur die im Boden angebrachten kleinen Luftlöcher blieben offen. Die zehn Chinesen, welche noch oben an Deck angebunden waren, blieben da. Sie sollten auch weiter die Segel bedienen, bis die »Schui-heu« oder vielmehr der »Hai-lung« den Hafen erreichte.

»Wollt Ihr uns nicht ins Schlepptau nehmen?« fragte Turnerstick den Kapitän des Kriegsschiffes.

»Wozu? Das Überholen des Taues macht Mühe und erfordert Zeit. Wenn Ihr das Kommando der Dschunke übernehmt, so weiß ich sie in den besten Händen. Leute zur Bedienung der Segel habt Ihr genug und außerdem lasse ich Euch für unvorhergesehene Fälle einige meiner Burschen da. Ich dampfe Euch voran und werde Eure Ankunft melden.«

»Schön! Da gibt's wohl einen Empfang?«

»Gewiß! Der ›Hai-lung‹ muß mit der nötigen Feierlichkeit eingebracht werden. Alle ehrlichen Leute werden sich darüber freuen, daß er endlich ausgesegelt hat. Und zumal wenn man erfährt, daß er von nur fünf Personen gewonnen wurde, so stehe ich nicht dafür, daß man Euch nicht eine Ehrenpforte baut.«

»Pah! Fünf Männer! Ihr seid doch noch dazugekommen!«

»Habe aber nichts thun können als eine kleine Handreichung, welche Eure Verdienste nicht im mindesten zu schmälern vermag. Die Prisengelder fallen natürlich Euch zu.«

»Ich brauche sie nicht.«

»So werden Eure Freunde klüger denken.«

»Auch ich verzichte,« meinte der Methusalem.

»Ik ook,« stimmte der Dicke bei.

»Ich ebenso,« lachte Richard.

»Aberst ich nicht!« sagte Gottfried von Bouillon. »Dem Verdienste seine Kronen, und wenn es keine Kronen sein können, so nehme ich es ebenso jern in Silber und sonstige Scheidemünze. Wer hat dat Schiff jenommen? Ich, denn ich bin's jewesen, der den Balken anjebunden hat. Darum will ich mein Teil vom Prisenjelde haben, zumal ich als Wichsier und Pfeifenräumer mit meine Oboe nicht auf Rosen jebettet bin. Ich will nun endlich auch mal für meine Zukunft Sorje tragen. Habe ich mich zu Lande nichts sparen können, so soll mich wenigstens zur See jeholfen werden.«

»Sehr schön!« lachte der Methusalem. »Ich trete dir meinen Anteil ab.«

»Ik ook,« erklärte der Dicke, welcher zu gutmütig war, als daß er an den Strick gedacht hätte, an welchem er sich vorhin vergeblich abgemüht hatte.

»So mag er alles nehmen!« rief Turnerstick. »Eine Landratte, ein Fagotttrillerer und Prisengelder! So etwas ist noch nie dagewesen!«

»Oho! Ich selbst bin auch noch nicht dajewesen, bin also ein Unikum! Sollte mich die olle Dschunke jenug einbringen, so kaufe ich mich auch eine Wasserpipe und suche mir einen Jottfried den Zweiten. Dann rauche ich mit dem Methusalem voran, und hinter mich trägt Bouillon second die Hukahs alle beide.«

»Wollen sehen, was sich thun läßt,« nickte Kapitän Beadle. »Wir haben es hier mit einem Falle zu thun, welcher allerdings ohnegleichen ist; aber vielleicht erhalten Sie doch eine Gratifikation. Ich werde mir später Ihre Adresse ausbitten, denn ich beabsichtige sehr, einige fröhliche Tage mit meinem braven Turnerstick in Hongkong zu verleben, und hoffe dann auch die Herren, welche mir jetzt geradezu ein Rätsel sind, näher kennen zu lernen. Der Wind lebt auf, Turnerstick. Ihr habt die Brassen durchschnitten. Das war sehr gewagt. Splißt sie baldigst wieder zusammen. ihr dürft die schweren Segel nicht so hängen lassen. Kommt eine Bö, so seid Ihr samt der Dschunke verloren.«

»Keine Sorge, Sir! Turnerstick weiß stets, was er zu thun hat.«

»Das mag sein. Also ich verlasse Euch nun. Sobald wir uns wiedersehen, werdet Ihr mir erzählen, auf welche Weise Ihr es so plötzlich zum Generalmajor gebracht habt. Im übrigen gratuliere ich den Herren allen. Das war ein Stück, von welchem man sich noch lange Zeit und nicht bloß hier erzählen wird. Seht auch nun bald nach den beiden Männern, welche unten im Kielraume in dem Kasten stecken. Und nun, auf Wiedersehen!«

Er reichte Turnerstick die Hand, auch den anderen, wie er es bereits vorhin gethan hatte, und verließ das Schiff auf dem Wege, auf welchem er gekommen war, nachdem er vorher einem Seekadetten befohlen hatte, mit zwanzig Mann zurückzubleiben und Turnersticks Anweisungen genau zu befolgen.

Dann gab das Orlogschiff wieder Dampf und setzte sich in Bewegung. Mit lautem Hurra grüßte die Mannschaft desselben herüber; dann warf der scharfe Kiel die Fluten vor sich auf. Das kurze, den fünf Helden so interessante Intermezzo war vorüber.

Jetzt ließ Turnerstick die zehn Chinesen wieder losbinden, damit sie die Brassen durch Splissungen wiederherstellen sollten. Sie hatten gesehen, was vorgegangen war, und wußten, daß ein Widerstand jetzt Wahnsinn gewesen wäre. Man konnte sehen, daß sie geradezu mit Zittern und Zagen gehorchten.

Die Segel wurden wieder voll gebraßt; der Kapitän beorderte den jungen Kadetten an das Steuer und befragte ihn um die Höhe des Ortes, was diesem nicht wenig schmeichelte; dann setzte sich auch die Dschunke in Bewegung.

Als sie volle und stete Fahrt genommen hatte, kam Turnerstick auf das Mitteldeck herab, beorderte einige der Marineleute als Wachen in das Unterdeck und sagte dann, daß es Zeit sei, nach den beiden Männern im Kasten zu sehen. Es wurden Laternen angebrannt, worauf er mit dem Methusalem, Gottfried, Richard und Liang-ssi hinabstieg. Dabei wurde der letztere von Degenfeld gefragt, ob er nicht wisse, wer die Personen seien.

»Nein,« antwortete er. »Ich habe nicht geahnt, daß sich Leute da unten befinden, bin auch nie in den vorderen Kielraum gekommen, da das den Matrosen verboten war.«

Als sie unten anlangten, konnten sie mit Hilfe der Laternen die Örtlichkeit deutlich erkennen. Der Raum war niedrig und nach dem Kiele zu sehr schmal, erweiterte sich aber nach der anderen Seite hin. Er war so hoch mit feuchtem, dumpfig riechendem Sande angefüllt, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Links von der Treppe standen die Stinktöpfe, von denen wohl noch über sechzig vorhanden waren. Man sah, daß sie erst mit Sand überdeckt worden waren, jedenfalls um von dem das Schiff im Hafen besichtigenden Beamten nicht bemerkt zu werden. Rechts war die Scheidewand, welche diesen Ort von dem Mittelkielraume trennte. An derselben stand der betreffende Kasten. Er war aus hartem Holze gefertigt, oben mit kleinen Luftlöchern versehen, nicht viel über zwei Ellen lang, ebenso tief und nicht ganz so hoch. Die Decke bildete zugleich die Thür, welche mit einem sehr starken Querriegel verschlossen war. Wenn sich zwei Personen in diesem Behältnisse befanden, so hatten sie jedenfalls große Pein zu erleiden, da sie zu einer gebückten, sitzenden Stellung gezwungen waren und sich kaum bewegen konnten.

»Jetzt will ich selbst mal mit ihnen reden,« meinte Turnerstick. »Wenn die Kerls vom Ho-tschang zu dieser Strafe verurteilt wurden, so sind sie zehnfach gefährliche Subjekte, mit denen man nicht vorsichtig genug sein kann. Da muß einer mit ihnen reden, welcher Haare auf den Zähnen hat und die Sprache sehr genau versteht.«

»Es sind keine Piraten,« entgegnete der Methusalem. »Sie haben uns ja vorhin gesagt, wer sie sind.«

Ja, gesagt haben sie es; aber ich bin nicht so dumm, es zu glauben. Also mal los mit unserer Sprachwissenschaft! Haben ihre zehn Kameraden beim Segelbrassen mich so ausgezeichnet verstanden, so werden wohl auch diese sofort bemerken, daß sie es mit einem tüchtigen Sprachkenner zu thun haben.«

Er klopfte an den Kasten und fragte. »Hallo, halling, hallung! Wer ist da dring im Kastong?«

Zwei Seufzer und ein kratzendes Geräusch waren die Antwort.

»Nun, köngt ihr nicht antworting? Wer ist da in dem Hühnerkäfing?«

»Ngot kieu schin tsa!« lautete die flehende Antwort.

»Was sagen sie? Wie heißt das?«

»Heda, helft uns! heißt es,« antwortete der Methusalem.

»Unsinn! Aus welcher mongolischen Provinz sind denn diese Kerls, daß sie mich nicht verstehen und mir da einen Dialekt bringen, bei welchem man Zahnschmerzen bekommen kann!«

»Ja, der Dialekt ist schauderhaft,« Stimmte Degenfeld bei, um die armen Teufel nicht länger schmachten zu lassen. »Ich will sehen, ob ich besser mit demselben vorkomme.«

»Möglich, da Ihr Chinesisch auch nicht mehr wert ist als dasjenige dieser Leute!«

Der Blaurote handelte zunächst anstatt zu sprechen. Er zog den Riegel fort und schlug den Deckel des Kastens zurück. Zunächst wurden nur zwei rasierte Schädel sichtbar. Die dunkeln Haarstummeln auf der Mitte derselben bewiesen, daß sich da Zöpfe befunden hatten, welche aber abgeschnitten worden waren, bei den Chinesen eine ebenso große Schändung wie bei einem Indianer, dem man die Skalplocke raubt.

Die beiden Männer blickten nach oben. Ihre Gesichtszüge waren wegen des dick darauf haftenden Schmutzes nicht zu erkennen. Sie wollten sich erheben, um aus dem Kasten zu steigen, fielen aber zurück. Die Einsperrung in diesen entsetzlichen Kasten hatte sie des Gebrauches ihrer Glieder beraubt. Degenfeld griff in den Kasten, hob sie nacheinander aus demselben und setzte sie in den Sand. Sie waren ganz der Kleider beraubt. Der eine von ihnen starrte vor Schmutz, der andere sah reinlicher aus, doch verbreiteten beide einen Geruch, welcher kaum auszuhalten war.

»Mok put, ni-men put kian – nicht wahr, ihr seid keine Piraten?« fragte der Methusalem in mitleidigem Tone.

»Yu, yu – nein, nein!« antworteten sie sofort im Tone des Abscheues und der eine fügte hinzu: »Tsa-men put tsche fam-fu-suk-tsi – wir gehören nicht zu diesem Gesindel!«

»Ni-teng kuan-fu – ihr seid Mandarinen?«

»Tsche, tsche, ta kuan-fu – ja, ja, hohe Mandarinen. Ngo ho-po-so, tsche tong-tschi tsai Kuang-tschéu-fu – ich bin Hopo-so und dieser ist Tong-tschi in Kanton.«

»Ngo ko ni-tschai yen – ich werde eure Aussage prüfen!«

»Tsa-men ko tsän – wir werden die Prüfung bestehen.«

Das sagte der Mann in so zuversichtlichem Tone, daß Degenfeld ihm nun geglaubt hätte, wenn er vorher noch zweifelhaft gewesen wäre. Er setzte seine Fragen fort, um zu erfahren, auf welche Weise diese beiden Beamten auf die Dschunke und dann in den schrecklichen Kasten gekommen seien, und erfuhr da folgendes:

Der Tong-tschi hatte auf einer Kriegsdschunke nach Kam-hia-tschin gewollt, einer kleinen Stadt an der Hong-hai-Bai, und war da von der Piratendschunke überfallen worden. Die Seeräuber hatten die Mannschaft des Kriegsschiffes durch Stinktöpfe überwältigt. Auch der Tong-tschi war betäubt worden. Als er erwachte, befand er sich in diesem Kasten. Wie lange er da gesteckt habe, wußte er nicht genau. Es war hier dunkel und er konnte die Zeit nur nach dem Knallen des Feuerwerkes bemessen, welches bei jedem Sonnenuntergange auf jedem Schiffe abgebrannt zu werden pflegt. Nach dieser Rechnung war er schon über eine Woche hier. Es war ihm unmöglich, seine Beine auszustrecken.

Da er nach europäischen Begriffen Inspekteur der in der Provinz Kuang-tung stehenden Militärmacht war, wozu auch die Marine gehört, so waren ihm die Piraten ganz besonders feindlich gesinnt. Er hatte ihnen ein bedeutendes Lösegeld geboten; der Ho-tschang aber hatte ihm geantwortet, daß er die Sonne niemals wiedersehen und hier in diesem Kasten langsam sterben werde. Man hatte ihm täglich nur einen Schluck Wasser und dazu nur wenige, halb faule Früchte gebracht. Da er sich, seiner Schätzung nach, schon über eine Woche hier befand, so war er so abgemattet, daß er nur mit Anstrengung sprechen konnte. Als ganz besonderen Schimpf hatte man ihn seines Zopfes beraubt.

Der Ho-po-so befand sich erst seit vorgestern in der Gewalt der Piraten. Er schien ein sehr pflichttreuer Mann zu sein, denn er erzählte, daß er ganz allein, und zwar am Abende, die »Königin des Wassers« bestiegen habe, um nach deren Papieren und sonstigen Verhältnissen zu fragen. Die Mandarinen pflegen sonst ihres Amtes nur mit dem gewohnten Gepränge zu warten. Niemand außer ihm wußte, daß er auf diese Dschunke gegangen sei. Über diesen Umstand hatte er eine unvorsichtige Bemerkung gemacht und war dann sofort festgenommen worden.

Sein Amt brachte es mit sich, jedes unredliche Treiben zur See mit der Strenge des Gesetzes zu verfolgen. Da verstand es sich von selbst, daß die Piraten ihn haßten. Sie hörten, daß niemand von seiner Anwesenheit auf der Dschunke wisse, und daß man ihn also auch nicht auf derselben suchen werde. Darum hatten sie kein Bedenken, sich des Unvorsichtigen zu bemächtigen, ihn seines Zopfes und seiner Kleider zu berauben und zu dem Tong-tschi in den Kasten zu stecken. Er sollte mit diesem das gleiche Schicksal erfahren.

Eine solche Behandlung zweier Menschen darf nicht allzu sehr wunder nehmen. Unter den schlechten Eigenschaften des ungebildeten Chinesen steht neben der Feigheit die Grausamkeit obenan. Er ist im stande, ein Huhn lebendig zu rupfen und zu braten, und zwar die Beine zuerst, damit diese stark anschwellen und einen knusperigen Leckerbissen geben. Dieselbe Gefühllosigkeit hat er auch dem Menschen gegenüber, sobald es sich um seinen Vorteil oder um eine That der Feindschaft handelt. Gegen seine Angehörigen aber zeigt er eine desto größere Milde.

Der Ho-po-so vermochte seine Glieder noch leidlich zu bewegen. Er konnte, wenn auch mit Anstrengung, an das Deck steigen, während sein Leidensgefährte getragen werden mußte. Das geschah selbstverständlich erst dann, als man die nötigen Kleidungsstücke für sie herbeigeschafft hatte. Ihre eigenen Anzüge waren vernichtet worden. Sie mußten sich mit den gewöhnlichen Gewändern begnügen, die man in den Kajüten der Dschunke fand.

Nun saßen sie oben auf dem Verdecke und sogen die frische Morgenluft mit wonnigen Zügen ein. Es wurde im Vorratsraume und der primitiven Küche nach Speisen für sie gesucht. Als Reis und auch noch ein Fleischrest gefunden wurde, sagte der Mijnheer:

»Ik il voor ze kochen en braden; een vuurhaard is daar, ook een ketel, hout en de vuurschop – ich will für sie kochen und braten; ein Feuerherd ist da, auch ein Kessel, Holz und die Feuerschaufel.«

»Wat Sie denken!« lachte Gottfried. »Sie und kochen! Ich möchte mal den Pudding sehen, den Sie zusammenwürgen würden! Nein, dat Kochen ist die meinige Anjelegenheit. Sie würden zu viel Fett in dat Kasserol schwitzen, wat janz soviel wie ein jelinder Selbstmord wäre.«

Er ließ es sich nicht nehmen, das Essen zu bereiten; der Mijnheer aber stand dabei und erging sich in allerlei kulinarischen Bemerkungen, welche zu seinem unendlichen Mißbehagen von Gottfried leider nicht beachtet wurden.

Indessen beschäftigten sich der Methusalem und Turnerstick mit den beiden Mandarinen, welche von Dankbarkeit für ihre Rettung überflossen. Leider konnten sie ihre Freude nicht ohne einen Wermutstropfen genießen: Sie hatten keine standesgemäßen Anzüge und – keine Zöpfe mehr. Wie durften sie sich in Hongkong ohne beides sehen lassen! Nach längerem Hin- und Herreden kamen sie mit Degenfeld dahin überein, daß er ihnen Kleider und falsche Zöpfe, aber recht lange und starke, in Hongkong, wo das alles zu haben war, besorgen solle. Das dafür ausgelegte Geld sollte er in Kanton erhalten. Aus letzterem Grunde und auch aus Dankbarkeit wurde er von ihnen eingeladen, mit seinen Gefährten ihr Gast zu sein.

Er nahm diese für seine Zwecke so vorteilhafte Aufforderung sofort an. Er konnte ihnen den eigentlichen Zweck seiner Reise freilich nicht sagen; von ihnen nach demselben befragt, erklärte er, daß er aus der fernen Heimat gekommen sei, um in der Hauptstadt von Hu-nan einen dort wohnenden weltberühmten Gelehrten zu besuchen, Er sei von dem Han-lin yuen, Deutschlands extra zu dem Zwecke abgesandt worden, diesem großen Kenner der klassischen Bücher die Hochachtung der westlichen Länder zu erweisen.

Das schmeichelte ihrem nationalen Selbstgefühle so, daß der Ho-po-so erklärte:

»Das freut mich sehr. Ich ersehe daraus, daß die Tao-tsekue ein gebildetes Volk sind, würdig, von uns Unterricht zu empfangen. Ich werde, soviel ich kann, dieser Reise allen Vorschub leisten.«

»Auch mir gefällt dieser Auftrag, den Sie erhalten haben,« stimmte der Tong-tschi bei. »Ich ersehe aus demselben, daß Ihre Landsleute vernünftige Menschen sind, welche die Überlegenheit unserer Litteratur anerkennen. Diese Bescheidenheit ist der erste und sicherste Schritt zur wissenschaftlichen Größe. Die Fu-len, Flan-ki und Yan-kui-tse sind schon so lange mit uns in Verbindung, ohne zuzugeben, daß wir ihnen überlegen sind. Sie werden also nichts lernen und zu Grunde gehen. Zwar ist es meine Pflicht, darüber zu wachen, daß sich nicht Ausländer unnötig in unseren Distrikten bewegen und gar durch fremdländische Kleidung und ungewöhnliche Manieren unserem Volke ein schlechtes Beispiel geben; aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen, weil ich aus Ihrer Bescheidenheit ersehe, daß Sie nicht beabsichtigen, die loyalen Unterthanen zu anderen Sitten und Gebräuchen zu bewegen. Auch gegen Ihre Kleidung will ich nichts einwenden, obgleich dieselbe diejenige eines Landes ist, welches noch nicht durch die Kleiderordnung des Herrn des Reiches der Mitte‹ beglückt worden ist. Ich bin überzeugt, daß Ihre Anzüge Ihnen durch die heimatlichen Fakultäten vorgeschrieben worden sind, so daß Sie gegen den Kaiser Ihres Landes sündigen würden, wenn Sie hier andere tragen wollten. Darum werde ich Ihnen schriftlich gestatten, in dieser Kleidung bei uns einherzuwandeln. Auch werde ich Ihnen einen Ta-kuan-kuan, ausstellen, welchen Sie nur vorzuzeigen brauchen, um überall als ein Mann behandelt zu werden, welcher die höchsten Ehren verdient. Sie brauchen in keinem Tien einzukehren, sondern steigen, wohin Sie kommen, beim Kuang-kuan ab und zeigen dem höchsten Beamten, welcher da wohnt, meinen Paß vor. Sie werden dann seine Gäste sein, nichts zu bezahlen haben und bis zum nächsten Reiseziele Sänften oder Pferde bekommen, ganz wie es in Ihrem Belieben steht. Alle diese Beamten sind verpflichtet, allen Ihren Befehlen, welche nicht gegen die Gesetze und Vorschriften dieses Landes verstoßen, Gehorsam zu leisten, und müssen für Ihre Sicherheit und diejenige Ihrer Begleiter haften.«

Das waren Worte und Anerbietungen, wie Degenfeld sie sich nur wünschen konnte. Wie mußte ihm dadurch seine Reise erleichtert werden! Und welchen Vorschub mußte diese Erleichterung den Zwecken dieser Reise gewähren! Er hätte den Mandarin vor Freude umarmen mögen.

Dieser aber saß bleicher und matter als vorher da. Die lange Rede hatte ihn angegriffen. Dennoch fuhr er bereits nach kurzer Zeit fort:

»Wenn ich das alles für Sie thue, hoffe ich, daß auch Sie mir eine Bitte erfüllen.«

»Gewiß, wenn es in meiner Macht liegt.«

»Sie können es. Verschweigen Sie, daß Sie uns hier gefunden haben! Kein Mensch darf wissen, daß wir gefangen waren und so geschändet worden sind. Wenn das vor die oberste Behörde käme, würde man uns sicher unseres Amtes entsetzen. Wollen Sie mir versprechen, daß auch Ihre Gefährten schweigen werden?«

»Sehr gern! Hier ist meine Hand.«

»Ich danke Ihnen! Alles übrige können wir später besprechen. Jetzt bin ich zu ermüdet. Ich muß ruhen und schlafen, vorher aber essen. Ich werde, wenn wir nach Hongkong kommen, mich mit dem Ho-po-so in die Kajüte zurückziehen, damit wir nicht gesehen werden. Am Abende werden wir dann in den Anzügen, welche Sie uns besorgen und die ich Ihnen ganz genau beschreiben werde, die Dschunke verlassen. Vor allen Dingen dürfen Sie die Knöpfe auf unseren Hüten nicht verwechseln. Ich habe die Würde eines Staatsrates und trage einen blauen Stein. Der Ho-po-so hat den Rang eines Assessors der höchsten Kollegien und muß einen lichtblauen Stein haben.«

»Werden dieselben in Hongkong zu kaufen sein?«

»Ja, wenn auch nicht echt; aber für die kurze Fahrt nach Kuang-tschéu-fu werden wir uns ihrer bedienen können. Ferner versteht es sich ganz von selbst, daß wir mit der englischen Behörde, welcher die Piraten ausgeliefert werden, nichts zu thun haben mögen. Diese Beamten dürfen ja nicht wissen, daß wir hier gewesen sind. Da aber die Schuldigen chinesische Unterthanen sind, wird man sie uns ausliefern, und dann werde ich dafür sorgen, daß sie die Strafe der Räuber, nämlich den Tod, erleiden.«

Jetzt brachte der Gottfried den Reis und das Fleisch. Die beiden Mandarinen erhielten Eßstäbchen und begannen ihre Mahlzeit. Als dieselbe beendet war, zogen sie sich in die Kajüte zurück, welche die fünf Reisenden gestern angewiesen erhalten hatten.

Mittlerweile trat die Flut ein. Die See bewegte sich nach dem Lande zu, gerade so wie der Wind, und die Dschunke machte eine gute Fahrt. Backbordseits wurden Felsen sichtbar, in denen Turnerstick das Kap Aquila erkannte. Die Dschunke segelte an den vor demselben liegenden kleinen Inseln hin und gelangte noch am Vormittage durch die Bai von Si-wan auf die Reede von Hongkong und wendete nach dem Hafen von Viktoria.

Man sah den ganzen Landungsplatz von einer, wie es den Anschein hatte, nach Tausenden zählenden Menschenmenge besetzt. Die Leute standen Kopf an Kopf, auch auf den vor Anker liegenden Schiffen.

Das Polizeiboot kam der Dschunke entgegen. Es war mit bewaffneten Beamten gefüllt und Kapitän Beadle befand sich bei ihnen. Sie legten, noch während die Dschunke sich in halber Fahrt befand, seitschiffs an und stiegen an Bord. Der Marinekapitän eilte auf Turnerstick zu und rief:

»Ich habe den Fall bereits gemeldet und die ganze Bevölkerung ist auf den Beinen. Man ist ganz begeistert über eure That. Man freut sich, daß dem Hai-lung endlich sein verdienter Lohn werden kann. Fast glaube ich, daß man euch auf den Schultern nach dem Hotel schaffen wird. Fünf Mann eine berüchtigte Piratendschunke weggenommen! Es ist unglaublich. Der Platz, wo ihr anzulegen habt, ist schon bestimmt, da steuerbordseits in der breiten Lücke. Paßt auf! Der Krawall geht bereits los. Ich will zur Flagge gehen.«

Von dem nächstliegenden Schiffe ertönte ein Kanonenschuß, welchem Beispiele die Geschütze der anderen Schiffe folgten. So weit man sehen konnte, wurden die Flaggen gesenkt und gehoben, um die Eroberer des Hai-lung zu begrüßen und zu ehren. Tausende von Hurras und andere Zurufe ertönten in allen möglichen Zungen. Das kreischende »Tsching tsching« der Chinesen war am deutlichsten zu hören. Hundert Arten von Kappen, Mützen, Hüten und sonstigen Kopfbedeckungen wurden geschwenkt. Dann rasselte der Anker in den Grund und die Bugkette wurde an das Land geworfen.

Da standen englische Marinesoldaten, weiche an Bord kamen. Der Fall war so eklatant, daß sogar der Gouverneur selbst kam, um die Voruntersuchung in eigener Person zu führen. Die Aussagen der fünf Helden wurden zu Protokoll genommen. Der Gouverneur bat sie, einstweilen noch nicht abzureisen, und sie entschlossen sich, im Hongkong-Hotel zu wohnen. Die beiden Mandarinen wurden von ihnen als unschuldige Reisende bezeichnet, welche auch ausgeraubt worden seien und erst nach erfolgter Neuausstaffierung am Abende die Dschunke verlassen könnten, wogegen die Behörde keinen Einspruch erhob.

Von den Gefangenen im Ballastraume waren einige erstickt; die anderen lebten. Sie wurden an Deck geschafft und paarweise zusammengebunden, um in sicheres Gewahrsam gebracht zu werden.

Darüber waren wohl zwei Stunden vergangen; aber die Menge stand noch dicht gedrängt am Ufer. Als die Piraten unter bewaffneter Bedeckung über die Landebrücke marschierten, wurden sie mit Ausrufen des Zornes und Abscheues empfangen. Die Polizei hatte vollauf zu thun, das Publikum von Thätlichkeiten abzuhalten.

»Gottfried, meine Pfeife!« befahl der Methusalem.

»Hat ihm schon!« antwortete der Wichsier, indem er ihm das Mundstück reichte. »Wir müssen unsern Einzug mit die nötige Würde und in der jewohnten Ordnung halten, um die Chinesigen zu imponieren. Ich erhebe mir sogar zu dem Vorschlag, hier zu warten, bis man uns einige Triumphbögens oder wenigstens ein Brandenburjer Thor jebaut hat, denn wir haben uns herabjelassen, die Helden dieses glorreichen Tages zu sind. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, het is in waarheid zoo. Wij zijn tappere veldheeren en mannen geweest – ja, das ist in Wahrheit so. Wir sind tapfere Feldherren und Männer gewesen.«

Der Gouverneur und die Kriminalbeamten verabschiedeten sich von den Reisenden, um das Schiff zu verlassen. Dann setzten sich die letzteren in Bewegung, und zwar in der altbekannten Ordnung: voran der Hund, dann der rauchende Methusalem, hinter ihm Gottfried mit der Pfeife und dem Fagott, gefolgt von Richard, welcher diesmal nicht allein, sondern mit Liang-ssi ging. Den Beschluß machten Turnerstick mit dem Mijnheer, welcher wiederum den, jetzt allerdings leer gewordenen Theeranzen über die Flintenläufe gesteckt hatte.

Als sie auf der Landebrücke erschienen, wurden sie mit jubelnden Zurufen empfangen. Die Menge bildete Spalier, welches sie gravitätisch passierten, indem sie, würdevoll nickend, nach beiden Seiten dankten.

Plötzlich blieb Turnerstick stehen.

»Alle Wetter!« rief er laut. »Methusalem, da stehen die beiden Schurken mit ihrer Sänfte, in welcher ich vor kurzem gelaufen wurde! Wollen wir sie arretieren lassen?«

Der Blaurote drehte sich um. Er sah die beiden Kulis stehen. Hinter ihnen stand die Sänfte am Boden. Sein Bart zuckte; ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Nein, lieber Freund",« antwortete er. »In den heutigen Jubel dürfen wir keinen Mißklang bringen. Aber ihren gestrigen Fehler sollen sie dennoch gut machen.«

Er wendete sich an die Kulis und die in ihrer Nähe stehenden Männer und rief gebieterisch, indem er auf Turnerstick und die Sänfte deutete:

»Tsche ta-ping, Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang, keng hiang-schang; tsieu suk – dieser große Held, Turningsticking, der hohe Generalmajor, wünscht auf der Sänfte getragen zu werden; macht schnell!«

Diese Aufforderung konnte den Leuten nicht gelegener kommen. Der »hohe Generalmajor« wurde augenblicklich von zehn, zwölf Händen ergriffen und auf den Kasten der Sänfte gesetzt. Ebenso rasch hoben die Kulis die letztere empor und traten zwischen dem Gottfried und Richard mit Liang-ssi ein.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und wurde von einem nicht enden wollenden Jubel der Menge begleitet.

Turnerstick machte erst eine Bewegung, um abzuspringen, fand sich aber schnell in seine Lage, welche er für eine sehr ehrenvolle hielt. Auf der Höhe der Sänfte war er ja der Gefeiertste von allen. Er grüßte eifrig und huldvollst mit den Händen, wobei er den Klemmer unaufhörlich verlor und wieder auf die Vorlukennase setzen mußte, und antwortete auf die vielen»Tsching tschings«, die ihm zugerufen wurden, mit seinen besten chinesischen Ausdrücken.

Vor der Thür des Hotels wurde er abgesetzt, verbeugte sich vor der Menge und rief mit lauter Stimme:

»Meine verehrtesteng Herreng und liebreicheng Dameng! Es ist mir gelunging, die Piratung zu besiegeng und ihnen ihre Dschunking abzunehmang. Sie habeng mich dafür mit Huld empfanging und im Triumph hierher getragong. Gestatteng Sie mir, Ihneng meineng Dank zu erstattung, und lebing Sie für einstweilang wohl. Hoffengtlich werdeng Sie bald noch mehr vong uns hörang. Ich wünsche Ihneng allerseits einang gutung Morging!«

Dann verbeugte er sich abermals und verschwand in der Thür. Während das Publikum, welches kein Wort verstanden hatte, dennoch in beifällige Rufe ausbrach, trat er in das Zimmer, in welchem sich seine Gefährten bereits befanden. Er schlug dem Gottfried, der ihm am nächsten stand, auf die Achsel und sagte:

»Nun, Ritter von Bouillon, was sagen Sie zu diesem famosen Einzuge?«

»Dat Sie ihn besser jesehen haben als ich, weil Sie ja auf dem Laufkorbe saßen.«

»Herrlich, herrlich! Nicht wahr, Mijnheer?«

»Gewissefijk, op mijn woord!« beteuerte der Dicke.

»Ja, das war ein ganz anderer Empfang als gestern. Heut sind die »Tsching tschings« nur so um mich herumgeflogen. Ich habe mich aber auch aufs herzlichste bedankt. Hören Sie es? Die Leute jubeln noch immer. Ich muß mich ihnen wirklich noch einmal zeigen.«

Er machte das Fenster auf, grüßte mit dem Fächer und schrie ein letztes, kräftiges »Tsching tsching tsching« hinaus ...


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