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Der Dichter über sein Werk

Erläuterung zu Babel und Bibel Karl May hat diese Aufzeichnungen vermutlich für einen Schriftleiter der ›Münchener Neuesten Nachrichten‹ verfaßt, der Unterlagen über das damals erscheinende Bühnenwerk ›Babel und Bibel‹ erbeten hatte. Die Handschrift trägt das Datum von Montag, dem 1. Oktober 1906, und ferner den Vermerk: ›In Eile nur so hingeschrieben. Ist also nur Entwurf. Konnte es nicht erst noch durchlesen, da soeben Ihre Karte kommt. Also bitte, Flüchtigkeiten verzeihen.‹

a) Tatsachen

Die Ruinenfelder Babylons sind im Besitz des Araberstammes der An'allah. Der Turm von Babel liegt im Mittelpunkt dieses Besitzes. Er steckt voller Schätze aus den Zeiten des Altertums, die der Scheik zu bewachen hat. Um sich das zu erleichtern, hat er sein Zelt so nah am Tor errichtet, daß jeder Turmbesucher daran vorüberkommen muß. Dieses Zelt wurde stets vom jeweiligen Scheik bewohnt, so auch von dem jetzigen; von diesem aber nur so lange, wie seine Frau sich bei ihm befand. Sie war schön, gut und eine Christin; Christen sind dort keine Seltenheit. Infolge ihrer geistigen und seelischen Vorzüge beherrschte sie den Scheik und gewann die Zuneigung des ganzen Stamms. Dadurch wurde der Einfluß dieser Christin auf die mohammedanischen An'allah so bedeutend, daß es dem Imam und dem Kadi geboten erschien, die Entfernung dieser gefährlichen Frau anzustreben.

Es ist im ganzen Morgenland bekannt: Was ein Imam und ein Kadi will (also der Glaube und das von ihm abhängige Recht), das setzen sie durch. Abu Kital, so hieß der Scheik, wurde soweit gebracht, sein Weib und seinen Sohn zu verstoßen. Mutter und Kind gingen, und Imam und Kadi brachten später schriftliche Beweise bei, daß die beiden Vertriebenen gestorben seien. Die Frau hieß Bent'ullah. Der Scheik hatte dem Gebot des Glaubens Folge geleistet, konnte aber weder Weib noch Kind vergessen. Es war ihm unmöglich, das Zelt, in dem er mit ihnen glücklich gewesen war, nun ohne sie weiter zu bewohnen. Er schenkte es Babel, einem Gelehrten, der von fern gekommen war, um bei den An'allah zu wohnen und ihre alten Schätze zu studieren. Dieser Babel heiratete eine An'allah, die aber bald starb und ihm eine Tochter hinterließ, die jetzt, da die Handlung beginnt, zwischen Kind und Jungfrau steht. Der sonst so rauhe Scheik hat das Mädchen, das Schefaka heißt, und ebenso auch ihren Vater so liebgewonnen, daß er fast jede freie Stunde bei ihnen, also bei seinem einstmaligen Zelt, zu verleben pflegt. Er kommt zu diesem Zweck vom Duar (Zeltdorf) herüber, das nicht am Turm, sondern in einiger Entfernung davon liegt.

Fern von beiden, vom Turm und vom Zeltdorf, wohnt der alte Hakawati, der Märchenerzähler des Stammes, der nicht aufgehört hat, die verstoßene Bent'ullah zu verehren. Er glaubt nicht an ihren Tod und hat sich der ganz besonderen Zuneigung von Babels Tochter zu erfreuen.

Den Beduinen der An'allah stehn die vereinten Stämmen der Kiram gegenüber, die von jenen grimmig gehaßt und als Todfeinde betrachtet werden. Die Kiram begünstigen die europäischen Einflüsse der Neuzeit, besonders die Ausgrabungen babylonischer und assyrischer Altertümer, an denen sich die Christenheit fast des gesamten Abendlands beteiligt. Ihr Gebiet stößt an das Bergland von Kulub und Märdistan, mit dessen Herrscherin, Marah Durimeh, sie gute Beziehungen unterhalten. Daß dieses Land von einer Frau regiert wird» ist in der Geschichte des Orients keineswegs als eine Auffälligkeit zu betrachten. Es hat in arabischen Ländern wiederholt Königinnen gegeben, die berühmt gewesen und es auch heut noch sind. Diese Marah Durimeh wird als altes, aber noch jugendlich rüstiges Weib beschrieben, an das sich die wunderlichsten Sagen knüpfen. Sie gilt, außer bei den An'allah, die ihren Scheik für den Besten halten, im ganzen Orient als größte Meisterin des Schachs, und man behauptet, daß sie oben in ihren abgelegenen Bergen mit bösen Geistern Schach um Menschenseelen spiele. Auch ist sie dem Abendland hold und darum bei den An'allah verhaßt, deren Scheik sie gern als Hexe zu bezeichnen pflegt.

Den Lügen des Kadi und des Imam entgegen, sind Bent'ullah und ihr Sohn nicht gestorben. Sie leben beide noch, aber getrennt und ohne etwas voneinander zu wissen. Nachdem Bent'ullah verstoßen worden war, wanderte sie mit dem Sohn in der Irre und verlor ihn in der Wüste. Er wurde von Fremden gefunden und geriet in den Machtbereich Marah Durimehs, die des Knaben hohe Begabung bald erkannte und ihn in eine zwar strenge, aber heilsame Schule nahm. Er entwickelte sich mit solchem Glück und solcher Schnelligkeit, daß er kürzlich nach dem Tod des letzten Scheiks der Kiram auf Vorschlag Marah Durimehs an dessen Stelle gewählt wurde. Er hatte somit eine Stammesheimat gefunden. Er nannte sich Ben Tesalah, ›Sohn des Friedens‹, der friedlichen Ziele wegen, nach denen zu streben er beschlossen hatte. Abu Kital aber heißt ›Vater des Kampfes‹. Indem der Sohn der Anführer der Todfeinde des Vaters geworden war und dieser ›Vater des Kampfes‹, jener aber ›Sohn des Friedens‹ hieß, war der dramatische Zwiespalt geschaffen.

Aber auch Bent'ullah, die verstoßene Frau, kommt in den Schutz von Marah Durimeh und teilt ihr alles mit. Die Alte weiß sofort, woran sie ist, beschließt aber, Mutter und Sohn in gegenseitiger Unwissenheit über einander zu lassen. Das mag grausam erscheinen, war aber aus höheren Gründen geboten. Diese beiden sollten sich wiederfinden; ja: aber nur dann und nur da, wo aus diesem Wiedersehn der denkbar größte Segen entspringen konnte. Übrigens hatten sich Mutter und Kind schon längst in die Trennung gefunden.

In letzter Zeit war auf dem Plan der öffentlichen Ereignisse manches geschehen, was die An'allah mit Besorgnis um ihre Zukunft erfüllte. Es hatte Krieg gegeben; es gab wieder Krieg, und neue Kriege schienen aufzukeimen. ›Amerika nur für Amerika‹! ›Der gelbe Osten für die gelbe Rasse!‹ ›Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter!‹

So und ähnlich erklingt's von allen Seiten. Der Russe drängt von Norden und der Engländer von Süden her. Der Deutsche baut die Bagdadbahn, und aus allen christlichen Ländern, sogar aus Amerika, strömen verdächtige Menschen herbei, angeblich um Altertümer auszugraben, in Wirklichkeit aber wohl nur, um für spätere Eroberungen hier festen Fuß zu fassen. Dazu hört man, daß Marah Durimeh ihre Panzerreiter rüste und daß Ben Tesalah, der neue Scheik der Kiram, christliche Offiziere bei sich habe, um seine Krieger auf europäische Weise einüben zu lassen. Das bedeutet sicheren Krieg! Einen Überfall auf die An'allah! Die Klugheit gebietet, diesem Angriff zuvorzukommen und den Kampf auf feindliches Gebiet zu tragen. Abu Kital bildet einen Beratungsausschuß, ein Imamat, wie er es nennt, um mit dessen Hilfe seine Pläne auszuführen.

Es besteht aus ihm selber, dem Imam, dem Kadi, dem Hakawati und Babel. Beschlossen wird folgendes:

Man lockt die Anführer als Gäste herbei, und wenn sie kommen, fällt man über sie her und macht sie unschädlich. Dann bricht man schleunigst ins feindliche Gebiet ein und schlägt die führerlosen Gegner nieder. Ein Vorwurf kann niemand treffen, denn Christen und Christenfreunden braucht man weder Wort noch Gastlichkeit zu halten, und wer dennoch Bedenken trüge, den kann man auf das maßgebende Beispiel des berühmten Schammar-Scheiks Schufuk verweisen, der, ohne seine Ehre zu verletzen, seinem vornehmsten Gast den Kopf abhieb.

Man faßte gerade diesen Entschluß, weil sich etwas ereignet hatte, das seine Ausführung ungemein erleichterte. Wie man weiß, spielt das Schach im Orient eine große Rolle. Fast jeder kennt es, und fast jeder ist stolz darauf, in seiner Familie, seiner Sippe oder seinem Stamm einen ›Unbesieglichen‹ zu haben, an den sich niemand wagt. Diese Unbesieglichen fordern sich gegenseitig zum Kampf auf, wie die Recken des Mittelalters einander die Fehdehandschuhe vor die Füße warfen. Es kommt vor, daß hochstehende Personen, sogar Fürsten einander zum Schachturnier fordern; und dann wird dieses Schach nicht auf dem gewöhnlichen Brett gespielt, sondern auf Vierecken geritten, die im freien Feld gezogen sind. Die beiden Spieler sitzen auf hohen Altanen, ein, jeder vor seinen lebenden Figuren, und befehlen mit Hilfe von Fahnen und Flaggen Zug um Zug.

Abu Kital, der beste Schachspieler der An'allah, hatte Jahr für Jahr Marah Durimeh zu einem solchen Zweikampf eingeladen, um sie, die ›Hexe‹, öffentlich zu besiegen; doch war sie nie dafür zu haben gewesen. Aber jetzt, im gegenwärtigen Jahr, hatte sie sich zu seinem Erstaunen zu kommen bereit erklärt. Und zu gleicher Zeit hatte Ben Tesalah die Botschaft gesandt, daß auch er sich einstellen werde, um Marah Durimeh am Turm von Babylon bei den An'allah zu treffen. Das gab bei diesen, hellen Jubel. Die ›Hexe‹ brachte jedenfalls die Großen ihres Reiches mit, und der Scheik der Kiram würde voraussichtlich mit den europäischen Offizieren erscheinen, um ihnen Gelegenheit zum Ausspüren zu geben. Da brauchte man nur kräftig zuzugreifen, um sie alle beieinander festzuhaben und für die ganze Zukunft unschädlich zu machen! Um des Erfolges sicher zu sein, handelte es sich nur um die notwendige Verschwiegenheit und um die Hilfe der benachbarten Stämme.

Die Verschwiegenheit wird so streng durchgeführt, daß selbst die Ältesten des Stamms erst bei Beginn des Stücks vollständig eingeweiht werden; bis dahin haben sie mehr geahnt als gewußt. Und die Scheike der andern Stämme sind auch nur andeutungsweise unterrichtet und eingeladen worden, sich heut um Mitternacht am Turm der An'allah einzustellen, um Näheres zu erfahren und ihren Beitritt zu erklären. In der Überzeugung, daß sie alle zusagen werden, hat Abu Kital nachträglich noch einen Boten auf einem Eilkamel an sie abgesandt und sie aufgefordert, ihre Krieger gleich mitzubringen, aber nicht bis ganz heran, sondern nur so weit, daß die ganze Gegend von fern umzingelt werde und also keiner der Gäste entkommen könne.

Das ganze Imamat ist mit diesem Plan einverstanden, nur der alte Hakawati nicht. Dieser ist überhaupt ein Gegner des Kampfes. Weit über hundert Jahre alt, lebt er nur in seinen Sagen und Märchen und hat als schon halb Abgeschiedener ein feines Empfinden für das, was wir als ›unsichtbar waltende Mächte‹ zu bezeichnen pflegen. Er fühlt, daß etwas in der Luft liegt, wovor er warnen muß; aber er kann es nicht nennen und nicht beschreiben. Nur Schefaka, das Kind, denkt wie er, sonst niemand. Das, was in der Luft hegt, sind die Folgen des geplanten Verrats. Marah Durimeh und Ben Tesalah kennen ihren Gegner nur zu gut. Sie wissen, daß er, wenn sie kommen, alles tun wird, um sie gefangenzunehmen, wohl gar zu töten. Grad hierauf gründen sie ihren Gegenplan. Denn daß auch sie einen Plan verfolgen, das ist selbstverständlich. Marah Durimeh lebt nicht so abgeschieden, wie man denkt. Sie geht und reist umher, unter ihrem Volk und auch noch weiter, doch immer unerkannt. Sie ist auch schon wiederholt hier am Turm gewesen – beim alten Hakawati. Jeder hervorragende Märchenerzähler wird aufgesucht, aus der Nähe und aus der Ferne, von Männern und von Frauen, ganz wie bei uns berühmte Dichter oder sonstige Künstler. Marah Durimeh weiß also hier Bescheid. Und diesmal kommt sie nicht allein und nicht nur als Besucherin des alten Hakawati. Sie bringt ihre Truppen mit und dazu Tausende von Kriegern der Kiram. Deren junger Scheik hat die Herrin von Kulub und Märdistan zwar noch nicht persönlich gesehn, aber sie handeln beide vereint nach dem zwischen ihnen vereinbarten Plan, die An'allah genauso zu überfallen, wie sie von ihnen überfallen werden sollen. Und beide gehn sogar noch ein ganzes Stück über diesen Plan hinaus, doch so, daß sie gegenseitig nichts davon wissen.

Marah Durimeh kommt, noch ehe sie öffentlichen Einzug bei den An'allah hält, in ihrer bisherigen Weise zu ihnen, als Besuch des Märchenerzählers. Und der ›Sohn des Friedens‹ erscheint auch schon vorher, als Scheik einer armseligen Todeskarawane verkleidet; deren Mitglieder sind seine Unterscheike, durchweg berühmte Krieger der Kiram. Der Einladung nach sollen beide erst morgen eintreffen; aber das Stück beginnt schon heut, um auch heut schon zu enden.

Abu Kital will, daß ein Schach geritten werde, draußen im Sand der Wüste, zwischen ihm und Marah Durimeh. Bei dieser Gelegenheit soll sie mit Ben Tesalah und der ganzen Begleitung festgenommen werden. Marah Durimeh ist auf das Spiel eingegangen. Aber sie beabsichtigt dabei ein ganz andres Schach, das schon vorher gezogen worden ist und heut schon zur Entscheidung führen wird. Diese Entscheidung soll ihr den ganzen Stamm der An'allah samt ihrem Scheik in die Hände liefern. Aber sie beabsichtigt dabei nicht, Eroberungen zu machen. Es gelüstet sie nicht nach den spärlichen Weideplätzen der Wüste und nach den alten, modernden Schätzen des babylonischen Turms. Sie führt diesen wohlvorbereiteten Handstreich nur zu dem Zweck aus, die An'allah zum ewigen Frieden zu zwingen, indem sie ihnen zeigt, daß sie ihnen überlegen ist und ebenso wie ihre Verbündeten, die Kiram, nicht nach Beute, sondern nur nach Liebe und Versöhnung trachtet.

Der Ausgang der Pläne Abu Kitals hängt davon ab, was seine Ältesten dazu sagen und wie die Anführer der andern Stämme sich entscheiden. Das Stück zerfällt demzufolge in zwei Akte, deren erster die Beratung mit den Ältesten des Stamms und deren zweiter die Zusammenkunft mit den andern Anführern bringt. Der erste Akt spielt drei Uhr nachmittags, der zweite um Mitternacht.

Der Nachmittag bringt dem Scheik vollen Erfolg. Er entflammt die Versammlung – den Hakawati und Schefaka ausgenommen – so daß sie in die Forderung ausbricht: ›Das Morgenland nur für das Morgenland!‹ Ja, der Kadi schürt die Glut so gut, daß sich am Schluß allgemein der Ruf erhebt: ›Das Morgenland nur für die An'allah!‹

Das erweist sich als verhängnisvoll. Denn als um Mitternacht die Beratung mit den Anführern der andern Stämme erfolgt sind und die An'allah in die gleiche Begeisterung geraten, brechen sie in denselben Ruf ›für die An'allah‹ aus und verraten dadurch ihre eigensüchtigen Ziele. Die andern Anführer treten sofort von der Beratung zurück und erklären, daß sie auf die fernere Verbindung mit den An'allah verzichten. Die eben noch so hochfliegende Begeisterung wandelt sich in allgemeine Niedergeschlagenheit. Der Plan des Scheiks ist plötzlich unausführbar geworden. Und als er, der diesen unerwarteten Umschwung kaum zu fassen vermag, zusammenbricht, stürzt auch schon das Verderben über ihn herein, indem in diesem Augenblick die Krieger der Kiram und Marah Durimehs das Lager stürmen und Abu Kital mit allen, die sich bei ihm befinden, gefangennehmen. Den edlen Gesinnungen der Sieger gemäß gibt es aber weder ein Blutvergießen, noch tritt eine der gewöhnlichen Folgen derartiger Vorkommnisse auf. Ben Tesalah wird sich der Bilder seiner Jugendzeit bewußt. Er erkennt zunächst die Heimat, sodann auch den Vater. Marah Durimeh hat Bent'ullah mitgebracht, die den Sohn wiederempfängt und darum dem Vater leichter verzeiht. So folgt der befriedigende Schluß, an dem das Verhältnis der Stämme zueinander zwar nicht bis ins kleinste hinein geregelt werden kann; doch soviel steht fest, daß Friede und Eintracht in Zukunft zwischen ihnen herrschen. Und das war der einzige Zweck, den Marah Durimeh verfolgte.

b) Abstraktes, Metaphysisches, Symbolisches

Es hätte nah gelegen, aus den aufgeführten Tatsachen ein Trauerspiel zu gestalten. Aber es liegt etwas höchst Untragisches in der Entwicklung unserer strammen, praktischen und willensstarken Zeit, und es wird wahrscheinlich schon in kurzem sehr vernünftige Leute geben, die behaupten, daß das Trauerspiel keineswegs die bevorrechtete und höchste Kunstform sei. Der gegenwärtige Mensch fühlt nur zu deutlich, daß seine Entwicklung über landläufige Begriffe wie Kismet, Fatum, Schicksal, Vorbestimmung usw. hinwegschreiten muß. Und wer in sein Inneres zu blicken versteht, der weiß, daß es für den Edelstrebenden ganz unmöglich ist, tragisch zu enden. Darum habe ich meinem ›Babel und Bibel‹ den hierauf bezüglichen Vierzeiler vorangesetzt. Darum habe ich in meinen bisherigen Werken versucht, nur Sonnenschein zu geben. Und darum wird es auch ferner mein Bestreben und meine Freude sein, nur diesen Sonnenschein, nichts anderes zu spenden. Gott tut das auch. Blasen wir aber die Wolken unsres Rauchs zwischen uns und seine Sonne und fühlen wir uns dann im Schatten, so sprechen wir von ›tragischem Geschick‹!

Alles, was ich geschrieben habe und noch schreiben werde, ist meinem Idealgedanken gewidmet,
daß sich der Gewaltmensch in den Edelmenschen verwandeln müsse und daß dies nur auf dem Weg der Gottes- und Nächstenliebe, den Christus lehrte, geschehn könne.

Und alles, was ich geschrieben habe und noch schreiben werde, ist der andern Aufgabe gewidmet, nach dem Menschengeist und nach der Menschenseele zu forschen, deren Kenntnis uns im Lauf der Jahrtausende, wenn wir sie überhaupt besessen haben, wieder verlorengegangen ist.

Um gleich mit diesem zweiten Punkt zu beginnen, so ist es diese Aufgabe allein, der ich meine schriftstellerischen Erfolge verdanke. Ich habe sie keineswegs durch irgendeinen persönlichen Vorzug verdient, auf den ich mir irgend etwas einzubilden hätte. Ich bin nichts anderes und nichts Besseres als jeder andere gewöhnliche Mensch; aber daß ich in allen Büchern, die ich veröffentlicht habe, mit verlangender Sehnsucht nach meinem Geist und nach meiner Seele suche, das fühlt der Leser schnell heraus, wenn er es auch nicht klar erkennt, und darum fliegt mir seine Seele zu, um sich finden zu lassen. Ich erhoffe den gleichen Erfolg auch von meinen dramatischen Werken.

Unsere Psychologie, das heißt also, unsere Wissenschaft vom Geist und von der Seele, enthält die schauderhafteste, die gröbste Selbsttäuschung des menschlichen Geschlechts. Der herrliche Menschengeist, der Welten mißt, noch ehe sie erschienen sind, und in Erdentiefen dringt, wo selbst die Hand des Schöpfers kaum noch zu erkennen ist – dieser Geist soll, schlimmer daran als der unglückseligste Zellengefangene, im grauen Nervenbrei des Gehirns wohnen, zwischen Knochen eingepreßt! Er soll nur dann, wenn der niedrige Urtrieb es ihm erlaubt, einmal zum Auge hinaussehn, zum Ohr hinaushorchen und zur Nase hinausriechen dürfen! Wenn das nicht Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen. Es wird die höchste Zeit, daß wir uns aus den Krallen dieser Verrücktheit befreien; denn alles, was die andern Wissenschaften auf diesen Irrtum aufbauen, ist ebenso gefährlich wie er selber, und so kommt es, daß grade das Höchste und das Herrlichste, was uns die Erde bietet: die Wissenschaft, die von mir so hochgehaltene wahre Wissenschaft, nur auf mühevollen Umwegen erreicht, was sie eigentlich gleich mit den Händen fassen könnte! Der Wissenschafter, der weiter gar nichts täte, als hier einmal auf den richtigen Knopf zu drücken, damit der Zug der Gotteszeit über die richtige Weiche gelenkt würde, der wäre der größte und der gefeiertste vor allen andern, obgleich es ihn nur diese eine Berührung der Taste kostete! Welch wundervolle Bestätigung wird hier dem Gedankenflug Karl Mays durch die wissenschaftlichen Forschungen des Dichter-Mediziners Professor Dr. Karl Ludwig Schleich! Siehe seine Werke ›Vom Schaltwerk der Gedanken‹ usw.

Ich aber bin nur Laie. Ich muß mich bescheiden und darf höchstens hoffen. Ich zeige meinen Lesern den Menschengeist und auch die Menschenseele. Ich gebe ihnen Anschauungsunterricht. Ich zeige ihnen in der Gestalt meines Hadschi Halef Omar das menschlich Triebhafte, und ich führe sie von da aus über eine Fülle von Beispielen hinauf bis zur Menschheitsseele Marah Durimeh und zu meinem Winnetou. Mehr kann ich als Laie nicht tun. Wenn man mich heut nicht versteht, so wird man mich doch später verstehn, wenigstens glaube ich, dies hoffen zu dürfen.

Selbstverständlich enthält auch ›Babel und Bibel‹ sein angemessenes Teil dieser neuen, oder vielmehr dieser ursprünglichen, dieser wahren Psychologie. Doch ist dies weder dramatisch, noch überhaupt künstlerisch derart wichtig, daß ich glauben könnte, die Kritik müsse es besonders beachten. Ich erwähne es aber doch an dieser Stelle, um damit anzudeuten, wie ernst und wie tief ich dieses Drama genommen wissen möchte!

Nach dieser Bemerkung über den zweiten Teil meiner Grundgedanken kann ich zu deren erstem Teil zurückkehren, der sich auf die Umgestaltung des Gewaltmenschen zum Edelmenschen bezieht. Hier komme ich mit den bisher verfaßten Anschauungsbüchern nicht mehr aus, sondern ich muß zum Anschauungsdrama übergehn, weil dies die deutlichste, eindringlichste und darum auch erfolgreichste aller Lehr- und Predigtformen ist. Leider sind da die gegenwärtigen Zustände unsrer Bühne keineswegs geeignet, mich in den Hoffnungen zu bestärken, die ich auf diese meine erste dramatische Arbeit setzen möchte. Es müßte über die Bretter, die die Welt bedeuten, erst der schwere Schneepflug gehen, bevor man sagen könnte, daß für solche Stücke die Bahn vorhanden sei; wenn ich trotzdem grad ein solches Stück geschrieben habe, für das noch keine Bahn vorhanden ist, so antworte ich getrost und zuversichtlich: nur darum, daß es eben Schneepflug werden möge!

Der Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zeichnet sich durch ein Sehnen und Drängen nach Veredlung aus, das sich besonders unsrer deutschen Volksseele bemächtigt hat. Wird dieses Sehnen nicht in die rechten Pfade geleitet, so gerät es sehr leicht auf Abwege, die in die Irre führen. Was sehn wir da? Die Wissenschaft trachtet nicht mehr zu Gott hin, sondern von ihm weg. Die Religion wird zum Dogmendienst oder gar zum irren Starrsinn. Und der Kunst wird zugemutet, der Geldgier, der Vergnügungssucht und der Unsittlichkeit zu dienen, anstatt ihrer herrlichen Aufgabe gerecht zu werden, Wissenschaft und Glauben in einträchtige Berührung zu bringen.

Diese betrübenden Erscheinungen treten grad jetzt so allgemein und gewaltsam zutage, daß es wahrlich die Pflicht eines jeden ernstdenkenden Mannes ist, in seinem Kreis und in seinem Beruf dahin zu wirken, daß dies anders und besser werde. Es ist mein innigstes Bestreben, mich an der Lösung dieser Aufgabe zu beteiligen, und zwar weder in Beziehung auf die Religion – denn ich bin ein Laie – noch in Beziehung auf die Wissenschaft an sich – denn ich bin kein Fachgelehrter – sondern lediglich in Beziehung auf die Kunst, und zwar besonders die dramatische, der ich mich nunmehr zuwende.

Mit ›Babel und Bibel‹ beginnt eine Reihe von Dramen, die zeigen sollen, in welcher Weise die Kunst zwischen Religion und Wissenschaft vermitteln muß. Indem sie das tut, steigen alle drei. Ich will in diesen Dramen die heilige Macht der wahren Frömmigkeit, die Unwiderstehlichkeit des wahren Gottvertrauens, die Forderungen des edlen Menschentums und die Möglichkeit eines vernunftgemäßen Völkerfriedens zur lebenden Gestaltung bringen. Und im Hinblick auf die höchste Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks soll veranschaulicht werden, auf welche Weise die friedliche Versöhnung des Morgenlands mit dem Abendland und damit die Lösung dieser brennendsten Frage unsrer Zeit zu ermöglichen ist. Das alles gehört auf die Bühne, wenn sie die Bezeichnung der ›Bretter, die die Welt bedeuten‹ wirklich verdient. Sie aber hat den Sinn hierfür verloren. Sie ist aus der Höhe in die Niedrigkeit, aus dem Sonnenlicht der wirklichen, der hohen, der heiligen Kunst in die Sümpfe unserer Laster hinabgestiegen. Sie zeigt uns mit Vorliebe das Böse, das Häßliche, das Gemeine, und gibt zu ihrer Entschuldigung dann vor, dabei das Gute, das Schöne, das Erhabene zu wollen. Wenn sie das wirklich will, warum zeigt sie es nicht gleich? Hat das Hohe etwa weniger Macht und weniger erzieherischen Wert als das Niedrige? Welche Mutter gibt ihrem Kind Galle, damit es sich nach Honig sehnen lerne? Und der Kunst ist doch gewiß ebensoviel Einsicht und Überlegung zuzutrauen wie einer einfachen Frau, deren gesunder Sinn ihr schon sagt, daß das Schädliche unter allen Umständen zu vermeiden sei! Lehrt man unsre Frauen etwa dadurch, ihren Männern treu zu sein, daß man ihnen von der Bühne herab zeigt, auf wieviel hunderterlei Weise sie ihnen untreu werden können? Gewißlich nicht! Und der Himmel möge uns in Gnaden vor den ferneren Einflüssen solcher ›Kunst‹, die keine ist, bewahren!

Das gegenwärtige Leben verlangt nach neuen Vorbildern. Ebenso auch die gegenwärtige Bühne. Diese neuen Vorbilder sind die ewigen, die alten, die uns aber wieder neu geboren werden müssen, damit sie unter uns erscheinen und uns als Führer dienen können. Noch sind wir nicht so sehr verdorben, daß uns nur das böse Beispiel bessern und erheben kann! Wir verzichten darauf, uns von der Sünde und dem Laster öffentlich belehren zu lassen! Gebt uns andre Stücke, und gebt uns andre Vorbilder! Wir Menschen und Christen des zwanzigsten Jahrhunderts wollen endlich einmal aufhören, uns auch in Beziehung auf die Kunst minderwertiger als das heidnische Altertum fühlen zu müssen! Haben wir etwa keine Dichter, die gute Stücke schreiben können? Sind unsere Theater nur zur Darstellung von Ehebruchs- und ähnlichen Entartungsstücken geeignet? Gibt es kein Publikum mehr für das religiös, sittlich und ästhetisch Reine? Entbehren wir einer Presse oder einer Kritik, die, ihrem wichtigen Beruf entsprechend, für das Blühende und Gesunde eintritt, das Verwesende aber von sich weist? Oder mangelt es der edlen Kunst an großmütigen Beschützern und hochdenkenden Bühnenleitern und Direktoren? Gewiß nicht! Aber all diese Einflüsse sind nur dann, wenn sie ihre Kräfte voll vereinigen, imstande, sich dem Übel entgegenzustellen; und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß kein andrer als nur der Dichter damit beginnen muß.

In dieser Erkenntnis habe ich geglaubt, es wagen zu sollen, der Dramatik der Gegenwart einen Anstoß zu geben. Gelingt es nicht, und lacht man mich gar aus, so bin ich als der Bestbefeindete von allen an dergleichen wohl gewöhnt und weiß es auch zu tragen. Nur gegen eines muß ich mich streng verwahren: gegen die alte, lächerliche Unterschiebung, daß ich religiöse oder gar konfessionelle Absichten verfolge. Ich denke nicht daran und habe nie daran gedacht. Meine Zwecke sind rein menschlich. Aber weil die wahre, die innere Frömmigkeit im Wesen eines jeden ›Menschen‹ liegt, muß ich sie nicht nur auch mit berühren, sondern ich kann dies sogar tun, ohne mich dem Verdacht ›schwarzer Gedanken‹ auszusetzen. Ich fuße hierbei auf dem Grundsatz, daß man
vor allen Dingen ein guter Mensch sein muß, um
denken zu dürfen, man sei ein guter Christ!

Wer auf solcher Grundlage das rein Menschliche zu veredeln strebt, der bereitet dadurch dem wahrhaft christlich gesinnten Theologen den Weg. Dieser muß dann die weitere Führung übernehmen, und nur ihm allein, nicht aber mir, steht es zu, sich mit den Fragen der Kirche zu befassen. –

Nachdem ich meinen Standpunkt von den wichtigsten Seiten aus beleuchtet habe, darf ich wohl hoffen, verstanden zu werden, wenn ich nun an die Betrachtung des inneren ›Babel und Bibel‹ gehe.

c) Zunächst die Bedeutung der Namen

Diese sind frei erfunden, außer Marah Durimeh, die in der orientalischen Sage als ›Menschheitsseele‹ gilt und sich, wenn sie gezwungen ist zu erscheinen, durch den ›Panzer von Kristall‹ gegen niedrige Gesinnung schützt. Ihre Beschreibung würde überflüssig sein, denn die Eigenschaften der ›Menschheitsseele‹ verstehn sich fast ganz von selber.

Nur soll man sich hüten, anzunehmen, daß der Menschheit für die Zeit ihres Bestehens nur eine und dieselbe Seele gegeben sei. Sie wurde verschieden beseelt, und Marah Durimeh spricht offen davon, daß die Bibel,

wenn meine Zeit hier abgelaufen ist
wenn ich zurück zum Herrn der Welten kehre,

dann Menschheitsseele werden solle. Hiermit werden dem Christentum, aber dem wahren, die nächstzukünftigen Jahrtausende geschenkt.

Marah Durimeh ist Herrin von Märdistan und Kulub. Märd ist das persische Wort für ›Mann‹, für jede fertig entwickelte, geistige Gestalt. Märdistan ist also das Land der ausgewachsenen, inneren Persönlichkeiten. Darum gibt es dort die Geisterschmiede, in der der Stahl erzeugende Schmerz als Meister den Hammer schwingt. Sie liegt im Wald von Kulub. Kulub ist die Mehrzahl von ›Herz‹. Denn tief im Wald von Kulub liegt die Geisterschmiede, d. h. aus dem tiefen Innern, aus dem Herzen heraus muß die Verwandlung des Sinnenmenschen zum Geistesmenschen erfolgen. Ein ›geistreicher‹ Mensch ist noch lange kein selbständiger Geist. Dieser entsteht nur unter dem Hammer des seelischen Schmerzes.

Der Zwiespalt des Stücks entwickelt sich zwischen dem Beduinenvolk der An'allah und den Araberstämmen der Kiram. Das Wort An'allah bedeutet ›Ich bin Gott‹ oder ›Ich bin wie Gott‹, entsprechend der biblischen Überlieferung von den ›Tyrannen‹ und ›Gewaltigen‹ der vorgeschichtlichen Zeit. An'allah bedeutet also einen sich über andre erhebenden Menschen der Gewalt, der nur seinem Triebleben gehorcht, das sich ebenso für ›Geist‹ ausgibt, wie Halef Omar sich einen Hadschi nannte, ohne es zu sein.

Kiram ist die Mehrzahl von Kerim. Dieses Wort bedeutet ›edel von Charakter‹ zum Unterschied von Scherif, das ›edel von Geburt‹ bedeutet. Unter den ›Stämmen der Kiram‹ sind also die Edelmenschen gedacht, zu denen sich die An'allah, die Menschen der Gewalt, entwickeln sollen. Nicht etwa nur edel geboren, sondern edeldenkend, eine geistige und ethische Aristokratie.

Der Scheik der An'allah heißt Abu Kital, d. i. Vater des Kampfes, denn die Gewalttätigkeit der Faustmenschen äußerst sich doch zunächst und vor allen Dingen im Faustrecht, also im Krieg. Doch verstehe ich unter ›Gewalt‹ nicht nur die körperliche, sondern auch jede andre Art von Gewalt. Es gibt wissenschaftliche, geistliche, gesetzgeberische Gewalttätigkeit, die schlimmere Wirkungen haben als selbst ein Dreißigjähriger Krieg. Ein Gewaltmensch ist jeder, der sich auf seinem Sondergebiet so benimmt, als ob er der alleinige und bevorzugte Besitzer des betreffenden Rechts oder des betreffenden Guts sei.

Ben Tesalah heißt ›Sohn des Friedens‹ oder genauer ›Sohn des Friedensschlusses‹. Es ist hier jede Art des Friedens gemeint, auch der wissenschaftliche, der kirchliche, der gesellschaftliche, nicht nur der Staatenfrieden. All unser Streben danach wird trotz der Berta von Suttner und trotz dem russischen Großbeschützer doch nicht zum Ziel führen, wenn wir nicht vorher auch schon den Frieden in all diesen andern Beziehungen haben Diese 1906 geschriebenen Worte muten wie eine Prophezeiung an. Ben Tesalah hat sich diesen Frieden errungen und will ihn auch seinen Nebenmenschen bringen. Er hält es sogar für seine Pflicht, sie dazu zu zwingen, doch ohne Blutvergießen. Er ist der Edelmensch, im Gegensatz zu Abu Kital, der Gewaltmensch ist. Beide sind Urbilder. Darum habe ich im Buch nur das Allernotwendigste zu ihrer Kennzeichnung angegeben. Die Gestalten hiernach darzustellen, muß ich den Schauspielern überlassen.

Die An'allah wohnen in der Wüste, auf den Trümmern untergegangener Weltreiche. Einen andern Wohnsitz kann der Gewaltmensch niemals haben. Von den Kiram wird neidisch gesagt:

Die in Afdala und Amana hausen
und darum sich für beß're Menschen halten – –

Nämlich Afdala heißt arabisch ›das Land, in dem Verzeihung herrscht‹. Also: die An'allah gehorchen nur der rohen Gewalt und dem Gesetz der Vergeltung, der Rache. Die Kiram aber lassen sich nur von der Güte leiten und halten die Verzeihung höher als die Rache. Sie sind eben Edelmenschen. Und sie wollen auch die An'allah zu Edelmenschen erziehen. Zu zeigen, auf welche Weise dies möglich ist,

das ist eben die Aufgabe von ›Babel und Bibel‹!

Es geschieht auf dem Weg vorsichtiger Menschlichkeit und eindrucksvoller Kraft, die jedes Unrecht und jede Grausamkeit vermeiden. Dazu gehört aber vor allem Geist, den die Gewaltmenschen nicht besitzen.

Über Babel brauche ich nicht viel zu sagen. Er ist die Wissenschaft, die jetzige, mit allen ihren Vorzügen und Mängeln. Er stammt natürlich von fernher; doch woher, wird nicht gesagt. Er ist also kein An'allah, kein Gewalttätiger. Er entwickelt. Der Scheik aber ist trotzdem sein Vorbild. Denn Babel, nämlich die Wissenschaft, hält das rohe Denken des Triebmenschen für Geist, für Seele, und spricht dem Menschen jedes Recht und auch die Oberhoheit über die irdische Schöpfung zu. Sobald sich herausstellt, daß das Triebleben nicht Geist ist und der Gewaltmensch dem Edelmenschen unterliegen muß, wird die Wissenschaft einsehen, daß sie sich geirrt hat und eine andre Richtung einschlagen muß. Und diese Richtung gibt die Menschheitsseele an; denn als Babel sein Gebäude zusammenbrechen sieht und klagend ausruft:

So bin ich nun vernichtet!

antwortet sie beruhigend:

Du mußt die Erde aus der Höhe schauen,
Denn nur nach dort hinauf zeigt sie sich wahr;
Du gehst mit mir!

Das gibt dann allerdings eine ganz andre Wissenschaft! Denn droben in Kulub und Märdistan, wo der Mensch zum Geist geschmiedet und verfeinert wird, versteht es sich von selbst, daß auch die fälschlich sogenannten ›niederen‹ Wissenschaften sich sehr bald zur Höhe der sogenannten Geisteswissenschaften erheben werden. Und wenn der Hakawati von Marah Durimeh sagt:

Nur wer Sitara kennt, das wunderbare
Und hochgelegne Land der Sternenblumen,
Der wird von ihr besucht, kein andrer,

so bedeutet das persische Wort Sitar soviel wie Stern, Sitara also Sternenwelt, Firmament und überhaupt die außerirdische Gedankenhöhe, von der aus alle irdischen Verhältnisse zu betrachten sind, wenn sie wahr, das heißt im Zusammenhang mit oben erscheinen sollen. Ich denke, daß die Herren von der Wissenschaft es mir nicht übel nehmen werden, daß ich eine so gute Meinung von ihrer Wichtigkeit und ihren Zielen habe!

Babel hat eine Tochter, die Schefaka (arabisch), ›die Morgenröte‹ heißt. Sie sitzt ihm Modell zu seinem Buch über die ›Menschenseele‹, ganz ebenso, wie der Scheik Abu Kital ihm vorher Modell zu seinem Werk über den ›Menschengeist‹ gesessen hat. Es ist eben Babels Irrtum, daß der Körper als Modell für die Seele oder gar den Geist dienen könne. Denn Seele und Geist sind nicht Erzeugnisse des Körpers, sondern umgekehrt, die Seele bildet sich den Leib So auch Karl Ludwig Schleich, einer der klarsten Denker und größten Wohltäter der Menschheit, da sie ihm die Lokalanästhesie, die ›örtliche Betäubung‹, verdankt., um sich durch ihn auf dem Leidensweg nach Kulub in Geist verwandeln lassen zu können. Aber daß Babel, d. h. die Wissenschaft, überhaupt begonnen hat, über Geist und Seele ernstlich nachzudenken, das hatte für sein Kind den Namen Schefaka zur Folge. Die ›Morgenröte‹ der Wissenschaft ist da. Es ist zu erwarten, daß es endlich auch tagen werde!

Was die Bibel betrifft, so muß ich sie, wie schon weiter oben dargelegt, nur vom rein menschlichen, nicht aber vom kirchlichen oder gar vom Standpunkt der Schriftgelehrten aus betrachten. Trotzdem oder vielmehr grad deshalb habe ich sie arabisch ›Bent'ullah‹ genannt, das heißt so viel wie › Tochter Gottes‹.

Sie ist keine An'allah. Aber sie wurde diesen Gewaltmenschen als Führerin und Erzieherin zu einer besseren, menschlicheren Lebensanschauung gegeben. Sie mußte also, menschlich betrachtet, unbedingt die Mutter des ›Edelmenschen‹ werden. Das konnte auch nicht dadurch verhindert werden, daß sie mit ihrem Sohn verstoßen wurde. Denn das Kind wurde grade durch die hierauf folgenden Leiden nach der ›Geisterschmiede‹ geführt und dort unter den Augen der Menschheitsseele vorbereitet, als Führer der Edelmenschen der großmütige Besieger der Gewaltmenschen zu werden.

Im Hakawati, dem weit über hundert Jahre alten Märchenerzähler, verkörpert sich die Fabel, das Märchen, die Legende, die Mythe, die Sage, überhaupt die ganze Summe der menschheitskindlichen Einbildung und Eingebung. Was andre trotz aller Klugheit und allem Scharfsinn nicht erkennen, das erfühlt und erlauscht er, der Wundergläubige, aus sich selber heraus. Er ist die Schreibtafel für göttliche Offenbarungen, doch nur für gütige und liebe, milde, nicht für gewaltige und unerbittliche, wie es einst Moses war. Er ist die Seele des Dramas, die zwischen dessen Anima und Geist vermittelt.

Der Imam ist die gegenwärtige Religion und der Kadi das gegenwärtige Recht. Wohlgemerkt, ich meine hier nicht etwa die christliche oder eine andre bestimmte Religion, und ich meine auch nicht etwa irgendein bestimmtes Recht, etwa das alte römische oder das französische nach dem Code Napoléon. Denn ich bin weder Theologe noch Jurist. Ich ziehe den Durchschnitt aus sämtlichen jetzt vorhandenen Religionen, und diesen Durchschnitt nenne ich Imam. Und ich ziehe den Durchschnitt aus den Rechtszuständen aller gegenwärtigen Staaten und Länder, und dieses Mittel nenne ich den Kadi. Es fällt mir nicht im Traum ein, irgendeine bestimmte Religion oder die Rechtsverhältnisse irgendeines bestimmten Landes oder Ländchens zu meinen. Aber ich muß ehrlich sein und schließlich doch zu einem bestimmten Ergebnis kommen. Und dieses Ergebnis ist die richtig verstandene liebevolle Weltanschauung Christi, des Erlösers.

Ein schwarzer Vorbeter tritt auf. Es kann Leute geben, die behaupten, daß ich mit diesem ›Schwarzen‹ diejenigen Glaubensträger zeichnen will, die man als die ›Schwarzen‹ zu bezeichnen pflegt. Es ist aber doch wohl klar, daß diese rührende Gestalt nicht eine Spöttelei sein kann. Der Schwarze ist vielmehr der kindlich gehorsame, ganz und gar nicht nachdenkende, ergebene Glaube, der erst dann zu widerstreben wagt, wenn sein gesunder Menschenverstand zu grob beleidigt wird. Und selbst in diesem Widerstreben ist seine Treue rührend.

Hierzu kommen dann noch die acht Scheike der Stämme, auf deren Mithilfe man gerechnet hat. In Wirklichkeit gibt es diese Stämme dort nicht. Ihre Namen sind erfunden. Es wäre leicht gewesen, die Namen wirklich bestehender Stämme anzuführen; ich habe aber aus leichtbegreiflichen Gründen davon abgesehn. Die von mir gebrauchten Namen sind die Mehrzahl arabischer Eigenschaftswörter. Sie heißen:

die Hainin, zu deutsch die Verräter;
die Munafikin, " die Heuchler;
die Ger Amin " die Untreuen;
die Beni Har, " die Unzuverlässigen;
die Schuttar, " die Zweifler;
die Ukala, " die Klugen;
die Schukuk, " die Gescheiten;
die Hukama, " die Weisen.

Was ich mit diesen Namen sagen will und wen ich meine, das ist wohl nicht besonders zu erklären. Sie handeln so, wie man von ihnen erwarten kann, nicht anders. Die Niedrigen gehn sofort, die Besseren erst dann, als sie sich wirklich erzürnt fühlen. Aber alle diese sogenannten Freunde sind nur gekommen, um Vorteil zu erhaschen, und keiner von ihnen, selbst nicht der Allerbeste, bringt das Opfer, wirklich treu zu sein. Der Neger beschämt sie alle. Sobald der Mensch sich auf dem Weg nach der Geisterschmiede befindet, geht nur die Qual mit ihm. Die sogenannten Freunde aber verlassen ihn, wie die Ratten das sinkende Schiff.

d) Und nun zur inneren oder vielmehr zur höheren Handlung selber:

›Babel und Bibel‹ ist eine arabische Phantasie – Fantasia. Es wird also kein wahrer Kenner, der da weiß, was das ist, an mich die Forderung stellen, mich, indem ich sie schreibe, nach europäischen, also ganz ungeeigneten Kunstgesetzen zu richten. Das stelle ich voran.

Auch vermute ich, daß man mir sagen wird, daß die fremden Namen stören. So mag man das Drama spielen, anstatt es zu lesen! Denn nur beim Lesen werden diese Namen immerfort wiederholt, auf der Bühne aber nicht. Und was ich tue, haben andere und größere schon längst vor mir getan, und noch andere und noch größere tun es noch heut. Wir haben uns an Tausende von englischen, italienischen, spanischen, russischen, lateinischen und griechischen Namen gewöhnt; wir werden uns auch an einige arabische gewöhnen. Ja, ich hoffe sogar, daß wir sie liebgewinnen werden.

Als Schauplatz des Stücks hat man sich die ganze Erde zu denken; denn Gewaltmenschen und Edelmenschen wohnen nicht voneinander abgegrenzt in besonders für sie bestimmten Reichen, sondern allüberall, bunt und wirr durcheinander. Der Geistesmensch weiß das sehr wohl, doch für die Zwecke der Bühne sind beide Menschenarten streng auseinander zu halten. So verlege ich denn die Gewaltmenschen an den babylonischen Turm und die Edelmenschen auf ein geistig höheres Gebiet, das ich Afdala und Amana nenne, das Land der Güte und der Verzeihung. Wer von seiner Geographie und von seiner Landkarte nicht lassen will, der mag diese Gegend für sich persönlich an den Dschebel Hamrin oder an den Dschebel Sindschar verlegen. Das Kulub und Märdistan der Menschheitsseele müssen wir noch höher suchen. Man denke da an die kurdischen Berge, auf denen ich sie in meinem Band ›Durchs wilde Kurdistan‹ erscheinen lasse. Nur wegen der An'allah, die ich in eine ganz bestimmte Gegend der Euphrat-Ebene versetze, sehe ich mich gezwungen, auch im übrigen wirklich bestehende Orte anzugeben. Die Namen z. B., die der Schwarze bei seinen Meldungen nennt, sind tatsächlich vorhanden, und der Kenner jener Gegend wird zugeben müssen, daß sie in Beziehung auf den Plan des Scheiks Abu Kital mit besonderer taktischer Überlegung ausgewählt worden sind. Es waren, da die Anführer nachts zwölf Uhr eintreffen sollten, sogar die Entfernungen in Verbindung mit der Schnelligkeit der Pferde aufs genaueste zu berechnen.

Auch den babylonischen Turm, vor dessen Tor die beiden Akte spielen, hat man sich nicht in ziegelsteiniger, grober Wirklichkeit zu denken. Er ist ein unsichtbarer, aber doch gewiß bestehender Bau. Der Turm von Babel ist eingestürzt, aber selbst in seinen Trümmern noch fest genug, den Menschen der Gewalt, den An'allah, einen Mittelpunkt für ihre Raub- und Weidezüge zu bieten.

Die Schätze, die im Innern dieser Ruinen aufgestapelt liegen und von den An'allah mit größter Eifersucht behütet werden, sind folgegemäß sinnbildlich zu nehmen. Diese Ruinen liegen nicht etwa nur in Mesopotamien, sondern sie ragen überall aus dem Schlamm und dem Geröll des Altertums empor, wo man das Alte, schon längst Überlebte mit aller Gewalt verteidigt, weil man befürchtet, für das Neue nicht stark genug zu sein und also von ihm hinweggerafft zu werden. Da wühlt man sich tief in die Ruinen einstiger Größe ein und wird dabei nun selbst auch zur Ruine. Ich sehe sie bei uns zu Tausenden, die eingefallenen Trümmerhaufen, in denen unsre Verknöcherten sitzen, hier eine alte Lampe in der Hand, die schon seit zwei Jahrtausenden kein Licht mehr gibt, dort einen wertgehaltenen Topf, mit dem man heutzutag weder schöpfen oder gar noch kochen kann. Und doch wird all das Veraltete mit einer Inbrunst hochgelobt und mit einer Ausdauer verteidigt, die für Besseres dann nicht mehr vorhanden sind! Oder sollte ich mich irren? Sollte es keine staatlichen, sozialen, wissenschaftlichen, ästhetischen, kirchlichen, juristischen, medizinischen alten Scherben und Überbleibsel mehr geben, die nur schaden können, trotzdem aber mit einer Zähigkeit verteidigt werden, als ob es sich um unersetzliche Kostbarkeiten handle? Die Schätze der An'allah! Verwahrt tief unten, im Saal des Drachens!

In diesem Saal steht der Drache, das Wappentier der An'allah, Kital (arabisch), der Kampf! Von Kain, dem ersten Gewaltmenschen, an bis auf den heutigen Tag hat dieser Drache in Blut gestanden und – nicht nur allein in Blut – es gibt noch ganz andre Kämpfe als nur mit Stahl und Blei. Kämpfe, die durch Jahrhunderte reichen. Schlachten, die nicht mit Kanonen brüllen und nicht an einem Tag geschlagen sind, sondern die sich leise durch die Völker schleichen und Millionen niedermetzeln, ohne daß man weiß, woher, warum, wofür! Und auch das ist ›Kital, des Kampfes Drache!‹ Und auch das sind die ›Menschen der Gewalt‹, die wir aber, wie vielleicht sie sich selber, für edle Menschenfreunde, für fromme, schätzenswerte Bürger halten. Denn die Menschenliebe, die wir so anspruchsvoll und öffentlich durch unsre Reihen gehen sehn, ist nicht echt; und die christliche Nächstenliebe, von der wir überall so viel sprechen hören, gibt sich vergeblich Mühe, zu erreichen, was sie gern erreichen möchte. Es ist etwas an ihr und es ist etwas bei ihr, durch das sie gehindert wird, so zu wirken, wie sie will und soll. Und wenn wir, nach diesem Etwas gefragt, es schärfer ins Auge fassen, so erkennen wir zu unserm Erstaunen etwas uns schon längst Bekanntes, was wir aber nicht in dieser Gesellschaft vermuten konnten: es ist der Geist der Gewalt, der sich der allgemeinen Menschenliebe und auch dem Christentum aufgedrängt hat. Nach der einen Seite hin behauptet er, daß alle Welt ihm gehorchen müsse, weil er der allein beglückende sei; und nach der andern hat er tausend und eine Hand, von denen nur diese eine, einzige gibt, die andern aber mit tausend Peitschen laut in die Welt hinausklatschen, daß uns etwas gegeben worden ist. Dieser Geist der Gewalt stammt aus dem Turm, aus dem Drachensaal Das Christentum kam zur Zeit der Gewalt zur Erde nieder. Der Geist der wahren Liebe, den es brachte, wurde im Drachensaal festgehalten, das heißt: in der finsteren Unempfindlichkeit der damaligen Zeit. Dafür schlich sich der Geist der Gewalt herbei und hat das wahre Christentum und das wahre Menschtum bis auf den heutigen Tag nicht wieder freigegeben.

So denke ich, der Laie, dessen Beruf es nicht ist, in religiösen oder gar kirchlichen Dingen mitzusprechen. Aber des Menschtums sich anzunehmen, ist jedes Menschen Pflicht, also auch die meine; und ich tu es, soweit meine Kräfte reichen, indem ich diesen Geist der Gewalt einen menschlichen Körper gebe und ihn zwinge, nun endlich einmal Farbe zu bekennen. Warum dieser Körper der eines Orientalen ist, hat mehr als zehn und mehr als zwanzig Gründe. Vor allen Dingen sollen derartige Betrachtungen in derselben Umgebung vorgenommen werden, aus der sie stammen.

Wir können nur dann erst gute Christen sein, wenn wir vorher gute Menschen geworden sind.

Gute Menschen aber werden wir nur dann, wenn wir uns aus Gewaltmenschen zu Edelmenschen entwickeln.

In diesen beiden Sätzen liegt der Zweck und das Thema von ›Babel und Bibel‹. Die äußeren Mittel, mit denen ich diesen höheren Zweck erreichen will, sind ein morgenländisches Schattenspiel und eine geheimnisvolle Schachpartie. Das Schattenspiel ist eine sehr gewöhnliche, morgenländische Volksbelustigung. Die Schatten werden durch ausgeschnittene Figuren erzeugt; ich aber habe lebende vorgezogen. Die Schachpartie ist in der Weise geplant, daß sie geritten werden soll. Hierzu kommt es aber gar nicht; denn beide, der Scheik und Marah Durimeh, spielen schon vorher ein rein diplomatisches Schach gegeneinander, das derart endet, daß das gerittene wegfällt.

Beim Hochgehn des Vorhangs sieht man die Menschen der Gewalt unter ihrem Anführer Abu Kital versammelt. Es gilt, die Ältesten seines Reichs davon zu benachrichtigen, daß ein kühner Gewaltstreich beabsichtigt wird – – gegen die Edelmenschen und gegen die ›Menschheitsseele‹, die es wagt, die Edelmenschen den Gewaltmenschen vorzuziehen. Zugleich ist dieser Streich auch gegen das europäische Christentum gezielt, dessen irdischer Zweck es eben auch ist, Edelmenschen zu erziehen.

Die Ältesten sind jubelnd einverstanden, der Märchenerzähler und Schefaka aber nicht. Denn der Hakawati ist schon Edelmensch und wird nur durch seine besondere Aufgabe bei den Triebmenschen festgehalten. Und Schefaka soll die Menschenseele bedeuten, die sich in der Richtung zum Geist hin zu entwickeln beginnt. Sie muß also auf Seite der Edelmenschen stehn, obgleich sie ein Kind der gewalttätigen Wissenschaft ist. Es wird für heut um Mitternacht eine zweite Sitzung festgelegt, bei der die Anführer von acht andern Stämmen erscheinen sollen. Stimmen sie zu, so glückt der Plan. Sagen sie nicht zu, so fällt er in sich zusammen. Der Plan ist folgender:

Der Scheik der Gewaltmenschen hat die Menschheitsseele schon seit Jahren gereizt, ihm Gelegenheit für den Beweis zu geben, daß er ihr überlegen sei. Sie ist nicht darauf eingegangen. Seine letzte Aufforderung aber hat einen solchen Ton gehabt, daß sie beschließt, ihm die längst verdiente Zurechtweisung zu erteilen. Da sie aber selbst dann, wenn sie straft, nur Gutes tut, so beabsichtigt sie, bei dieser Gelegenheit den Scheik zu erschüttern und für das Edle zu gewinnen. Dies ist von ihr längst vorbereitet. Sie geht also auf seine Forderung ein und sagt zu, ein Schach mit ihm zu spielen. Sie teilt ihm zugleich mit, daß auch der Scheik der Edelmenschen mitkommen werde, um an dem Spiel, das von lebenden Figuren geritten werden soll, als König teilzunehmen.

Der Scheik faßt sofort den Plan, die Menschheitsseele und diesen ihren Schachkönig hierbei ergreifen zu lassen, um sie für immer unschädlich zu machen. Er will sich zu diesem Zweck der Hilfe einer Todeskarawane bedienen, die in der Nähe lagert. Und ebenso soll ihm eine Truppe von Schattenspielern beistehn, die er kommen läßt. Beide, sowohl die Menschheitsseele als auch ihr Schachkönig, bringen großes Gefolge mit. Es wird dabei viel geschmaust, und man muß die Gäste unterhalten. Es befinden sich gewiß auch Europäer, also Christen, dabei. Da sollen die Schattenspieler nun Stücke geben, durch die sich die Gäste beleidigt fühlen. Es soll zu Vorwürfen, zu Grobheiten, zu Handgreiflichkeiten und schließlich zum Kampf kommen. Wenn dieser im Gang ist, bricht die Todeskarawane über die Streitenden herein und nimmt die Gäste gefangen. Denn es soll später nicht heißen, daß die Gewaltmenschen diese Tat begangen haben: sie wollen unschuldig daran sein. Aber sofort nach der Gefangennahme der Gäste soll mit Hilfe der acht Verbündeten in das Gebiet der Edelmenschen und der Menschheitsseele eingedrungen und dann zur Eroberung der übrigen Länder und zur Gründung eines großen Weltreichs unter Vorherrschaft der Gewaltmenschen geschritten werden.

Für eine arabische Phantasie sind derartige Gedanken nichts Ungewöhnliches. Es ist für den Beduinen eine Wonne, von einem solchen islamitischen Weltreich zu träumen. Er tut es mehr als oft. Und ebensowenig ist es für eine arabische Phantasie etwas Seltenes, daß sie übersinnliche Begriffe in menschliche Gestalten verwandelt, um sie handelnd auftreten zu lassen. So z. B. erscheint, wie sich von selbst versteht, bei dem alten Märchenerzähler zuweilen die Phantasie; denn ohne sie könnte er doch nicht Märchenerzähler sein. Sie ist gerade jetzt, grad heut wieder bei ihm erschienen, und als der Scheik dies erfährt, kommt er auf den Gedanken, daß sie, als größte aller Künstlerinnen, das Schattenspiel leiten könne. Er läßt sie durch den Hakawati fragen, und sie kommt selber zum Scheik, um ihm zu sagen, daß sie diese Rolle übernehmen werde.

Er ahnt freilich nicht, daß die Phantasie mit der Menschheitsseele eins ist, und daß sie seiner Aufforderung schon eher folgte, als er dachte. Und ebensowenig ahnt er, daß der Scheik der Todeskarawane, den er gewonnen hat, den geplanten Gewaltstreich auszuführen, eine der Personen ist, an denen er ausgeführt werden soll. Man sieht: Der Mensch, der sich stark und klug genug dünkt, sich gegen die Menschheitsseele aufzulehnen, der ist schon verloren, noch ehe der Kampf beginnt! Aber damit noch nicht genug; die Menschheitsseele bringt, indem sie als Phantasie vor dem Scheik erscheint, eine ihrer Schülerinnen mit, die in dem Schattenspiel die Rolle der ›Bibel‹ übernehmen soll. Mit dieser Schülerin aber hat es eine eigne Bewandtnis.

Sie kann und soll die Bibel nicht nur spielen, sondern sie ist die Bibel selber. Denn:

Mit ihrem Geiste kam die Bibel einst
zum Menschen der Gewalt im Lande Babel.
Der nahm sie nur für kurze Jahre auf,
dann stieß er sie hinaus, doch ihren Geist
behielt er heimlich hier im Turm zurück
und ließ dafür den seinen mit ihr gehen.

Einer arabischen Phantasie ist es, selbstverständlich, völlig unverwehrt, sich die Bibel als die Frau des obersten Gewaltmenschen zu denken, und zwar mit der gewiß hohen und edlen Aufgabe, diese Gewaltmenschen zu Edelmenschen zu erziehen. Sie wurde, wie schon erwähnt, samt ihrem Kind verstoßen. Die Verstoßung wurde damals vom Imam und vom Kadi herbeigeführt, das heißt, von der kirchlichen und weltlichen Macht. Nun aber kehrt sie, von der Menschheitsseele geleitet, also unter allerhöchstem irdischem Schutz, zum Babelturm der Gewaltmenschen zurück, um sich vom Geist der Gewalt zu befreien und ihr damals unterbrochenes großes Werk fortzusetzen. Es vereinigen sich also: 1. die von der Menschheitsseele vertretene Erfahrungssumme des ganzen menschlichen Lebens, 2. die durch die Edelmenschen vertretene bessere Hälfte des menschlichen Geschlechts und 3. die durch die Bibel vertretene Offenbarung des göttlichen Ratschlusses, um den Anschlag des Gewaltmenschen zunichte zu machen. Somit muß dieser mißlingen, doch nur mit heilsamen Folgen für die Gewaltmenschen; denn so will es sowohl die Religion als auch die Menschlichkeit.

Nach Schluß der Nachmittagsberatung spielt der erste Akt am Zelt Babels weiter. Es wird gezeigt, daß die Wissenschaft nicht schuld an der Verstoßung der Bibel ist, sich aber weder tadelnd noch billigend über sie ausspricht. Ferner, daß die Wissenschaft sich große Mühe gibt, über Geist und Seele klarzuwerden, dies aber nicht auf die rechte Weise tut. Und endlich die Hauptsache, daß die Wissenschaft sich des Gewaltmenschen als ihres ganz besonderen Lieblings annimmt und grade dadurch der Erkenntnis des ›Geistes‹ und der ›Seele‹, nach der sie strebt, entgegenarbeitet. Sie schmückt diese beiden Begriffe und deren Modelle mit altem Schmuck, d. h. mit veralteten Überlieferungen aus den Zeiten rohester Gewalt, und kann also, wie der Auftritt zwischen dem Scheik und Schefaka, nur Lächerliches erreichen, nicht aber zu klarem, ernstem Wissen kommen. Daß hierdurch nicht nur der Religion, sondern ganz ebenso und vielleicht noch mehr dem Menschentum im allgemeinen außerordentlich viel geschadet wird, versteht sich von selber. Die Fabel und das Märchen zeigen sich da weit scharfsichtiger als die Wissenschaft, die auf diese beiden sonst doch nur herabzublicken pflegt. Denn der alte Hakawati steht mit der Menschheitsseele in Beziehung, und seine Sage von Kital, dem Drachen des Kampfes, der den Geist der Bibel nicht wieder freigeben will, beruht auf tiefer Einsicht in die Ergebnisse der Völkerseelenkunde. Der Drache des Reichtums, der Drache der Herrschermacht usw., sogar der Drache der Vergnügungssucht (Bälle zu wohltätigen Zwecken!) hat sich des Geistes der Bibel, der Menschlichkeit bemächtigt und beutet ihn für seine Zwecke aus. Es gilt, diesen Geist zu erlösen. Er ist kein Schnorrer, der um das Goldstück eines Reichen, um das gnädige Lächeln eines Vornehmen oder um die lustige Unterstützung eines Vergnügungskünstlers bettelt. Denn er ist größer, vornehmer und reicher als diese alle und hat das Recht zu verlangen, daß sie sich vor ihm beugen.

Daher die alte Sage, daß die Bibel am Turm der Gewaltmenschen wieder erscheinen wird und mit ihr zugleich der erste Edelmensch, um den wahren Geist der Menschlichkeit aus den Banden der Gewalt zu befreien. Und beide sind eben jetzt gekommen, die Schülerin und der verkleidete Schützling der ›Menschheitsseele‹. Bei ihrem Kommen erklingen tief im Turm die Harfen der Propheten; und die ernsten, heiligen Klänge ruhen nicht eher, als bis am Schluß des Stücks sich die Erlösung vollendet.

Diese Erlösung beginnt verständlicherweise mit der Befreiung der Kunst aus der Tyrannei des bisherigen, niedrigen ›Schattenspiels‹. Dies ist sehr wohl erwogen, denn wenn wir nicht vorerst grad hier anfassen, kann uns keine andre Handhabe Nutzen bringen. Die wahre Kunst verzichtet auf die anbetende Verehrung der irdischen Schatten. Sie spendet Himmelslicht, wobei die Schatten ganz von selber hervortreten werden. Wie unwiderstehlich das wirkt, zeigt der Schluß des ersten Akts. Die Befreiung der Wissenschaft und des Glaubens kann erst dann erfolgen.

Der äußere Verlauf der beiden Akte wurde schon oben angegeben: ein gewaltiger Gegensatz zwischen Vater und Sohn, an dem die Menschheit leidet. Man trägt ihn still, bis das Höchste, was es in uns gibt, mit der Kurbatsch, der Peitsche, vergewaltigt wird. Dann müssen sich sogar die Hainin und die Munafikin dagegen empören, und der Mensch der Gewalt, das derbe Triebleben, wird von seinem eignen Sohne, dem edlen Geistesmenschen, entwaffnet und zunächst zur Selbsterkenntnis, dann aber zum Entschluß geleitet werden, nach Märdistan zu gehn, um auch noch Geist zu werden.

Dieser Sieg des Edelmenschen über den Gewaltmenschen ist vollständig unblutig; aber er stützt sich auf jene Summe von Machtentfaltung, die selbst dem Geist unentbehrlich ist, um den niederen Geschöpfen Achtung einzuflößen. Man sieht, die Befriedung, wie ich sie mir denke, fließt nicht so süß und mild wie Sirup aus der Kanne; aber sie ist in den Bereich der Möglichkeit gerückt, erfordert freilich Geist, viel Geist und mehr Geist, als der besitzt, der da denkt, man brauche einfach nur abzurüsten, und dann sei alles gut!

Freilich, ohne Beistand der ›Menschheitsseele‹ vermag es auch der Edelmensch nicht. Es gilt also, sie zu erforschen, sie kennenzulernen, sie zu veranlassen, aus Kulub und Märdistan herabzukommen und sich zu zeigen. Und sie kommt, sie ist schon da! In ›Babel und Bibel‹ kann sie jeder sehn und hören, der den guten Willen hat, dies zu tun. Daß Kulub und Märdistan in unserm Innern liegen, ist Sache des Seelenforschers, aber nicht des Theaterfachmannes. Und doch muß der Dramaturg zugleich auch Seelenkenner sein, denn nur dann kann sich das Schlußwort auch für die Bühne bewahrheiten:

Und Gott gibt Geist und Segen!


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