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Bekehre dich, Israel, zu dem Herrn,
deinem Gott; denn du bist gefallen um
deiner Missethat willen. Nehmet diese
Worte mit euch, und bekehret euch zu dem
Herrn, und sprechet zu ihm: Vergib uns
alle Sünde, und thue uns wohl, so wollen
wir opfern die Opfer unserer Lippen.
Hosea 14, 2. 3.
Louis hatte das Zimmer verlassen und sich mit schwerem, gedrücktem Herzen in das größere Schulzimmer begeben, wo er einige Zöglinge fand, die ihn merkwürdig ansahen und Fragen an ihn richteten über seine sonderbare Miene und sein verstörtes Aussehen. Da ihm aber die Gegenwart seiner Kameraden und ihre Neugierde unerträglich war, so begab er sich in den Garten hinaus. Doch kaum war er dort angelangt, so sah er sich von einer ganzen Menge anderer Neugieriger umringt, die über die sonderbare Jagd Hamilton's Aufschluß zu haben wünschten. Er entfernte sich wiederum von ihnen und lief auf die entgegengesetzte Seite des Spielplatzes jenem Fußwege zu, von dem wir oben gesprochen haben. Eigentlich wußte er nicht recht, wohin er wollte.
Die Thüre war offen; Louis vergaß in der Verwirrung, daß der Fußweg den Zöglingen verboten war. Einige Augenblicke blieb er da stehen, gedankenlos und starren Blickes, als plötzlich einer seiner Kameraden, welcher die offene Thüre bemerkt hatte, auf ihn zu stürzte und ihn bat, Schildwache zu stehen, bis er von einer Exkursion zurückkäme.
Unterdessen war Doktor Wilkinson mit Hamilton vom Spaziergang zurückgekehrt, und sie nahmen ihre Richtung nach dieser offenen Thüre. Hamilton war auf dem ganzen Spaziergange sehr wortkarg gewesen, so daß er selber dachte, der Doktor könne an einem so schweigsamen Gefährten kein großes Vergnügen haben. Sie waren also, wie gesagt, auf jenem Fußwege angelangt, und der Doktor wandte sich plötzlich an Hamilton mit der Frage: – Hat sich dein Gedicht noch nicht gefunden?
Hamilton war auf diese Frage nicht gefaßt, und gab daher nicht gleich Antwort.
– Hast du es denn schon ganz und gar vergessen? fing der Doktor wieder an.
– Ich habe es gefunden, Herr Doktor. Hier ist es, und mit diesen Worten zog er es aus der Tasche.
– Und wo hast du es gefunden? fragte der Doktor, der nicht besonders erstaunt schien.
– Man hat es heute in das Schulzimmer hineingeworfen, sagte Hamilton etwas zögernd.
– Und du weißt nicht, wer es gewesen ist? fragte der Doktor weiter, indem er ihn forschend ansah.
– Doch, Herr Doktor, ich weiß, wer es gewesen ist, antwortete Hamilton nach einer kleinen Pause; aber ich muß Sie bitten, nicht darauf zu bestehen, daß ich Ihnen den Namen nenne. Der Schuldige wird nie mehr etwas Aehnliches machen. Natürlich rede ich nicht von Digby; er ist ganz unschuldig, wie ich Ihnen sagte, Herr Doktor.
Nach einigen Augenblicken, während welcher der Doktor das Manuscript von allen Seiten betrachtete, fuhr er fort:
– Da du wünschest, diese Sache geheim zu halten, so will ich nicht weiter in dich dringen. Nur muß ich bemerken, daß dies vielleicht nicht ganz recht ist.
– Aber Digby, von dem ich Ihnen nochmals erkläre, daß er unschuldig ist, hat mich selber gebeten, den Namen des Schuldigen nicht bekannt zu machen.
– Das macht ihm Ehre, erwiederte der Doktor mit einem Ausdruck der größten Zufriedenheit.
Hamilton fing an, dem Doktor aus einander zu setzen, wie Frank Digby einer solchen That nicht fähig gewesen wäre. Da bogen sie plötzlich um eine Ecke des Fußwegs, und die Aufmerksamkeit des Doktors wurde durch etwas erregt, was ihn in das größte Erstaunen versetzte. Er bemerkte nämlich einen Knaben, der auf der Mauer stand, die den Hof von den Scheunen trennte.
– He, he! was ist das, Hamilton? rief der Doktor aus. Kennst du diese Gestalt? Wenn ich mich nicht irre, so ist es Louis Mortimer. Jetzt weiß ich, wo meine Aepfel hinkommen. Es ist Louis Mortimer.
Der Doktor wurde ernster, sein Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an, und er verdoppelte seine Schritte. Hamilton traute seinen Augen kaum, und sein Herz war gepreßt.
– Ich glaube nicht, Herr Doktor, daß Louis sich so etwas erlauben würde, sagte er mit gefaßter Stimme.
– Es ist aber Louis Mortimer. Da haben wir ihn ja auf frischer That ertappt, und wenn er kein Aepfeldieb ist, was hat er denn hier an diesem verbotenen Orte zu thun?
– Er hält sich vielleicht doch aus einem andern Grunde dort auf.
– Ich will hoffen, daß es so ist; es kommt mir jedoch vor, als würde ihm von unten etwas gereicht. – Er hat uns bemerkt – er fällt – er wird sich ein Bein brechen, rief der Doktor in seiner Angst aus – geh, Hamilton, lauf schnell!
Hamilton lief auf die Mauer zu und sah, wie Louis herunterfiel. Der Doktor eilte ebenfalls, so daß er gerade dazukam, als Hamilton den Knaben vom Boden aufhob. Zu ihrer größten Beruhigung hatte sich derselbe nicht verletzt, denn er war auf einen Haufen Häckerling gefallen; aber er war so erschrocken und betäubt, daß er nicht verstand, was man zu ihm sagte und auch nicht antworten konnte. Auf dem Boden lag sein großer lederner Sack, und Aepfel rollten nach allen Richtungen; nur wenige waren im Sacke zurückgeblieben.
– Wo ist dein Kamerad? fragte ihn der Doktor, als Louis wieder zu sich gekommen war.
– Es war niemand bei mir, Herr Doktor, sagte Louis mit unterdrückter Stimme.
– Was hast du hier gemacht?
– Ich wollte meinen Sack holen, Herr Doktor.
– Du kannst Gott danken, daß du nicht den Hals gebrochen hast, sagte der Doktor mit ernster Stimme. Schaff die Aepfel in den Sack, Hamilton!
Der Doktor wartete, bis Hamilton damit fertig war; dann befahl er Louis, seinen Sack zu nehmen und ihm zu folgen.
Louis gehorchte; aber er konnte sich kaum aufrecht erhalten und zitterte so stark, daß Hamilton ihn unterstützen mußte.
– Er kann nicht gehen, Herr Doktor, sagte dieser mitleidig. Ich will ihn zurückbringen, wenn er sich etwas erholt haben wird.
– Er kann nicht draußen bleiben, es ist zu kalt, sagte der Doktor. Wo thut's dir weh?
– Ich kann es nicht sagen. Ich habe mir nicht sehr weh gethan – aber ich weiß nicht, wie mir ist. Hamilton, gib mir den Arm; vielleicht kann ich dann gehen.
Der Doktor betrachtete ihn mit ängstlichen Blicken und brachte ihn mit Hamilton's Hülfe in die Küche, wo man ihm einige Erfrischungen reichte, die ihn wieder zu Kräften brachten, so daß er die Treppe hinaufgehen konnte. Der Doktor befahl ihm, sich in's Bett zu legen, und schickte nach Reginald, damit er seinen Bruder pflege. Den Sack nahm er mit sich in sein Arbeitszimmer, um später von demselben Gebrauch zu machen.
Louis war zu betäubt, als daß er sich auf alles hätte besinnen können, was in den letzten Stunden vorgegangen war. Hamilton verließ ihn keinen Augenblick. Er blieb bei seinem Bette sitzen und bewachte ihn mit ängstlicher Sorgfalt. Als nun alles in Ordnung gebracht war und Louis im Bette lag, bog sich Hamilton über ihn und fragte ihn, was ihm begegnet sei.
Louis versuchte in aller Ruhe zu antworten; aber er war so geschwächt und so aufgeregt, daß er bei Hamilton's freundlichen Worten in Thränen ausbrach und nicht wußte, was er sagen sollte.
– O, mein lieber Hamilton! o Reginald! rief er unter Schluchzen aus, ich bin sehr unglücklich. Alles, was ich thue, nimmt einen so unglücklichen Ausgang; andere können machen, was sie wollen, und es kommt nicht heraus.
– Es ist also etwas geschehen, das nicht an's Tageslicht hätte kommen sollen, Louis? fragte Hamilton. Wenn dem so ist, so ist es besser für dich, daß du von uns gesehen worden bist.
Louis schlang seinen Arm um Hamilton und sagte: Hamilton, ich bin nicht dahin gegangen, um zu stehlen; ich versichere dich! Du wirst mir hoffentlich so etwas auch nicht zutrauen. Ich weiß, daß ich sehr böse bin; aber zu stehlen erlaubt mir mein Gewissen nicht. Erinnere dich, welchen Verdacht man früher auf mich hatte, und wie ich dennoch unschuldig war. Ich versichere dich, daß das einzige Unrecht, das ich so eben begangen habe, das ist, daß ich an einen verbotenen Ort hinging. Nicht wahr, mein lieber Hamilton, du hältst mich nicht für schuldig? – O, laß mich dich umarmen – ich habe schon so lange keinen Freund gehabt. Ich bin hochmüthig und eigensinnig gewesen. Wenn ich demüthig und bescheiden gewesen wäre, so würde es nicht so weit gekommen sein. Ich habe dir nie gesagt, daß es mir sehr leid that, der Mistreß Paget jene Sachen mitgetheilt zu haben. – Ich war zu stolz, um es dir zu sagen; aber ich versichere dich, es hat mir sehr, sehr leid gethan. Willst du mir vergeben und wieder mein Freund sein? Aber ich fürchte, du wirst mich nicht mehr lieben können; denn ich bin zu undankbar gegen dich gewesen.
Hamilton wurde tief gerührt; er drückte Louis an seine Brust und küßte ihn auf seine Stirne, wie wenn er ein kleines Kind wäre.
– Ich dich nicht mehr lieben? mein lieber Louis! erwiederte er. Vielleicht hat es dir so geschienen; aber ich habe nie aufgehört dich zu lieben. Ich vergebe dir von ganzem Herzen; aber du hast mir auch etwas zu vergeben: Ich bin nicht so gegen dich gewesen, wie ich hätte sein sollen.
– Ich bin sehr betrübt, daß ich heute Morgen so unartig gegen dich war, schluchzte Louis, indem er seinen Kopf an Hamiltons Brust legte; aber ich war zornig und wußte nicht, was ich sagte.
– Wir wollen nicht mehr davon reden, entgegnete Hamilton freundlich; aber erzähle mir jetzt einmal in aller Ruhe, warum du auf die Mauer geklettert bist und was du dort machen wolltest.
– Ich stand bei der Thüre, die auf den Fußweg zugeht, antwortete Louis, als Sally Simmons mich durchs Küchenfenster bemerkte und mir sagte, mein Sack hange an einem Ast des Baumes. Ich fragte sie, wie er dorthin gekommen sei, worauf sie mir erwiederte, daß ich dieß wohl wissen werde. Da er aber für sie zu hoch hing und der Doktor ihn vielleicht entdeckt hätte, so entschloß ich mich, obwohl nicht ohne Zögern, auf die Mauer zu klettern und ihn herunter zu holen. Ich sah, daß er gefüllt war. Ich hatte ihn gerade erreicht, als ihr mich bemerktet. – Ich wollte schnell hinuntersteigen und fiel, und von diesem Augenblick an war ich betäubt, so daß ich nicht weiß, was weiter geschehen ist.
– Hättest du diesen Sack gelassen, wo er war, sagte Reginald.
– Aber wachtest du denn bei der Gartenthüre? fragte Hamilton. Nicht wahr, du solltest Schildwache stehen?
– Ja, es hat mich einer der Knaben darum gebeten.
Hamilton schüttelte den Kopf.
– Aber kannst du dir denn nicht denken, wie der Sack auf den Baum gekommen ist?
– Ich bitte dich, Hamilton, frag' mich nicht mehr darüber! Willst du denn meinen Versicherungen nicht glauben, daß ich unschuldig bin?
– O, ich glaube alles, was du sagst, Louis; aber du mußt dich nicht wundern, wenn ich dich solche Dinge frage. Die Gesellschaft, welcher du dich in der letzten Zeit hingegeben, ist nicht die beste, und ich wollte dich gerne in Schutz nehmen und deine Unschuld an's Tageslicht bringen. Aber du mußt mir alles erzählen. Wenn du irgendwie bei dieser Sache betheiligt bist, so sag' es mir frei und offen. Weißt du wirklich nicht, auf welche Weise der Sack da hinaufgekommen ist?
– Ich glaube, ich könnte es errathen, antwortete Louis mit einiger Verlegenheit; allein ich versichere dich, Hamilton, ich habe nie gestohlen, nein! nie!
– Aber, wenn du nicht gewiß weißt, wer es gewesen ist, so sag' mir doch wenigstens, auf wen du Verdacht hast.
– Ich kann es dir nicht sagen, Hamilton; frage mich nicht mehr!
– Das sind wahre Tollheiten, sagte Reginald unwillig. Willst du denn in deinem Starrsinn einstehen für die schlechten Subjekte, die unserm Hause so viel Schande bereiten?
– Vielleicht werden sie es selber sagen, entgegnete Louis; ich sag' es nicht.
– Louis, begann Hamilton sehr ernst, das ist ein arger Irrthum. Hast du denn nicht so viel Verstand, einzusehen, daß dies ein sehr, sehr falsches Ehrgefühl ist; ja, es ist ein Unrecht, Louis, die Namen der Schuldigen zu verbergen. Auf diese Weise verhinderst du, daß das Böse bestraft wird, und bestärkst die Lasterhaften auf ihrem gottlosen Wege. Und nicht blos das, sondern es werden auch noch andere hingerissen, wenn sie sehen, daß diejenigen unbestraft bleiben, die sich solche Fehler zu Schulden kommen lassen. Du hast dich vorhin beklagt, daß alles, was du machest, sogleich entdeckt werde; aber glaube mir, diejenigen, welche im Geheimen Böses thun, sind unendlich mehr zu beklagen. Wenn du unschuldig bist, wie du behauptest, warum willst du denn das verbergen, was du weißt? Sag' mir doch wenigstens, wem du deinen Sack geliehen hast.
– Ich habe ihn in den letzten Tagen niemanden geliehen, sagte Louis, indem er sein Gesicht, das er bisher in das Kopfkissen verborgen hatte, aufhob. Aber sieh', lieber Hamilton, man nennt mich einen Schwätzer, und ich weiß, daß ich es einmal gewesen bin; aber man sagt noch mehr, man nennt mich einen Heuchler und behauptet, daß die frommen Leute nicht besser seien als die andern. Was man von mir sagt, kann ich leicht ertragen; aber das thut mir weh', wenn ich Anlaß gebe, daß man auf die frommen Leute schimpft. Bei diesen Worten brach er in Thränen aus. Ich bitte dich, Hamilton, frage mich jetzt nicht mehr; ich habe mein Versprechen gegeben, und ich kann es nicht brechen.
Hamilton gab nicht sogleich Antwort. Unterdessen rief die Glocke zum Mittagessen, und er mußte Louis verlassen.
– Wenn du ein Versprechen gegeben hast, Louis, sagte er beim Weggehen, so will ich dich nicht zwingen, es zu brechen; aber ich möchte dich darauf aufmerksam machen, was für Folgen ein solches Versprechen haben kann.
– Reginald, sagte er, als sie draußen waren, ich glaube, ich bin auf der Spur; aber den armen Louis müssen wir jetzt alles Ernstes von diesem bösen Wege abhalten.
Nach dem Mittagessen begab sich Reginald wieder zu Louis und suchte ihn zu überzeugen, daß es seine Pflicht sei, die Namen der Schuldigen zu nennen. Louis blieb jedoch so fest auf seinem Entschlusse, daß Reginald sein Vorhaben aufgeben mußte.
– Setze dich neben mein Bett, lieber Reginald, sagte Louis, und versichere mich, daß du mir vergeben hast. Ich kann gar nicht begreifen, wie ich so unfreundlich gegen dich sein konnte, während du doch so besorgt um mich warst. Ich bin wirklich undankbar gegen jedermann.
– Vergrabe dich nicht in deinen Kummer, sagte Reginald; ich bin auch nicht immer freundlich gegen dich gewesen und habe dich nicht immer vor dem Bösen gewarnt, wie ich hätte thun sollen. Du warst immer sanft und liebenswürdig gegen mich; ich hätte es auch sein sollen gegen dich.
– Aber, lieber Reginald, sieh', der Fehler steckt an einem andern Orte: Ich habe Gott nicht mehr lieb. Als ich wieder in die Schule zurückkam, nahm ich mir vor, ihn zu lieben und ihm zu dienen; aber sehr bald wurde ich eitel und legte mir selbst die Ehre bei, die ich dem Herrn hätte geben sollen. Jedermann dachte so gut von mir, daß ich selbst anfing, mir einzubilden, alles, was ich thue, sei recht. Da ich aber in Ungnade gefallen war und niemand mehr mit mir sprechen wollte: so wachte mein Gewissen auf, und ich sah, daß ich nicht Gott, sondern meiner Eitelkeit diente. Ich fühlte jetzt mein Unrecht; aber ich konnte nicht mehr beten, und deßhalb wurde es immer schlimmer; ich hatte böse Launen, und suchte andere glauben zu machen, daß ich mich weder um sie, noch um ihr Urtheil bekümmere. O, ich bin ein großer Sünder vor Gott!
Als Reginald fortgegangen war, hatte Louis Zeit und Muße, über sich selbst und seine Fehltritte nachzudenken und seinen Gott und Heiland um Vergebung anzuflehen. Er bekannte demüthig, wie wenig er die Ehre des Herrn gesucht, wie sehr er seine Gnade vernachlässigt und sich mehr um der Menschen Lob als um sein Wohlgefallen bekümmert habe. Sein Herz erhob sich inbrünstig zum Herrn, und er bat ihn um Kraft, den Weg des Lebens wieder zu betreten und auf demselben zu beharren bis an's Ende.