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V

Noch schwellten solche Hochgefühle Diederichs Brust, da bekamen Emmi und Magda eine Einladung von Frau von Wulckow, nachmittags zum Tee. Es konnte nur wegen des Stückes sein, das die Regierungspräsidentin beim nächsten Fest der »Harmonie« aufführen ließ, Emmi und Magda sollten Rollen bekommen. Freudegerötet kehrten sie heim: Frau von Wulckow war überaus gnädig gewesen; eigenhändig hatte sie ihnen immer wieder Kuchen auf den Teller gelegt. Inge Tietz mochte platzen. Offiziere spielten mit! Man brauchte besondere Toiletten; wenn Diederich vielleicht glaubte, daß sie mit ihren fünfzig Mark – Aber Diederich eröffnete ihnen einen unbegrenzten Kredit. Nichts von dem, was sie kauften, fand er schön genug. Das Wohnzimmer lag voll von Bändern und künstlichen Blumen, die Mädchen verloren den Kopf, weil Diederich ihnen dreinredete; da kam Besuch, Guste Daimchen.

»Ich habe doch der glücklichen Braut noch gar nicht richtig gratuliert«, sagte sie und versuchte gönnerhaft zu lächeln; aber ihre Augen gingen besorgt über die Bänder und Blumen. »Das ist wohl auch für das dumme Stück?« fragte sie. »Wolfgang hat davon gehört, er sagt, es ist unerhört dumm.« Magda erwiderte: »Dir muß er es doch sagen, weil du nicht mitspielst.« Und Diederich erklärte: »Damit entschuldigt er sich dafür, daß Sie seinetwegen bei Wulckows nicht eingeladen werden.« Guste lachte geringschätzig. »Auf Wulckows verzichten wir, aber zum Harmonieball gehen wir gerade.« Diederich fragte: »Wollen Sie den ersten Eindruck des Prozesses nicht lieber vorübergehen lassen?« Er sah sie teilnehmend an. »Liebes Fräulein Guste, wir sind so alte Bekannte, ich darf Sie wohl darauf hinweisen, daß Ihre Verbindung mit den Bucks Ihnen jetzt in der Gesellschaft nicht gerade nützt.« – Guste zuckte mit den Augen, man sah, sie hatte sich das schon selbst gedacht. Magda bemerkte: »Gott sei Dank, mit meinem Kienast ist es nicht so.« Worauf Emmi: »Aber Herr Buck ist interessanter. Neulich bei seiner Rede hab ich geweint, wie im Theater.« – »Und überhaupt!« rief Guste, ermutigt. »Erst gestern hat er mir diese Tasche geschenkt.« Sie hielt den vergoldeten Sack empor, nach dem Emmi und Magda schon lange schielten. Magda sagte spitz: »Er hat wohl viel verdient mit der Verteidigung. Kienast und ich, wir sind für Sparsamkeit.« Aber Guste hatte ihre Genugtuung gehabt. »Dann will ich euch nicht länger stören«, sagte sie.

Diederich begleitete sie hinunter. »Ich bringe Sie nach Haus, wenn Sie artig sind«, sagte er, »aber vorher muß ich noch einen Blick in die Fabrik tun. Gleich wird Schicht gemacht.« – »Ich kann ja mitgehen«, meinte Guste. Um ihr zu imponieren, führte er sie geradewegs zu der großen Papiermaschine. »So was haben Sie wohl noch nicht gesehen?« Und mit Wichtigkeit erläuterte er ihr das System von Bassins, Walzen und Zylindern, worüber hin, durch die ganze Länge des Saales, die Masse floß: zuerst wässerig, dann immer trockener – und am Ende der Maschine lief auf großen Rollen das fertige Papier. Guste schüttelte den Kopf. »Nein so was! Und der Krach, den sie macht! Und die Hitze hier!« Diederich, mit seiner Wirkung noch nicht zufrieden, fand einen Grund, um die Arbeiter anzudonnern; und wie Napoleon Fischer dazukam, war nur er schuld! Beide schrien gegen den Lärm der Maschine an, Guste verstand nichts; aber Diederichs geheime Angst sah in dem dünnen Bart des Maschinenmeisters immer das gewisse Grinsen, das an seine Mitwisserschaft in der Angelegenheit des Holländers erinnerte und die offene Verleugnung jeder Autorität war. Je heftiger Diederich sich gebärdete, desto ruhiger ward der andere. Diese Ruhe war Aufruhr! Schnaufend und bebend öffnete Diederich die Tür zum Packraum und ließ Guste eintreten. »Der Mann ist Sozialdemokrat!« erklärte er. »So ein Kerl wäre imstande, hier Feuer zu legen. Aber ich entlaß ihn nicht: nun gerade nicht! Wollen sehen, wer der Stärkere ist. Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich!« Und da Guste ihn bewundernd ansah: »Das hätten Sie wohl nicht gedacht, auf was für einem gefahrvollen Posten unsereiner steht. Furchtlos und treu, ist mein Wahlspruch. Sehen Sie, ich verteidige hier unsere heiligsten nationalen Güter geradeso gut wie unser Kaiser. Dazu gehört mehr Mut, als wenn einer vor Gericht schöne Reden hält!«

Guste sah es ein, sie hatte eine andächtige Miene. »Hier ist es kühler«, bemerkte sie, »wenn man aus der Hölle nebenan kommt. Die Frauen hier können froh sein.« – »Die?« erwiderte Diederich. »Die haben es wie im Paradies!« Er führte Guste zu dem Tisch: eine der Frauen sortierte die Bogen, eine zweite prüfte nach, und die dritte zählte immerfort bis fünfhundert. Alles ging mit unerklärlicher Schnelligkeit; die Bogen flogen ununterbrochen einander nach, wie von selbst und ohne Widerstand gegen die arbeitenden Hände, die im endlos über sie hingehenden Papier sich aufzulösen schienen: Hände und Arme, die Frau selbst, ihre Augen, ihr Gehirn, ihr Herz. Das alles war da und lebte, damit die Bogen flogen ... Guste gähnte – indes Diederich erklärte, daß diese Weiber, die im Akkord arbeiteten, sich schändliche Nachlässigkeiten zuschulden kommen ließen. Er wollte schon dazwischenfahren, weil ein Bogen mitflog, woran eine Ecke fehlte. Aber Guste sagte plötzlich mit einer Art von Trotz: »Sie brauchen sich übrigens nicht einzubilden, daß Käthchen Zillich sich für Sie besonders interessiert ... Wenigstens nicht mehr als für gewisse andere Leute«, setzte sie hinzu; und auf seine verwirrte Frage, was sie denn meine, lächelte sie bloß anzüglich. »Ich muß Sie doch bitten«, wiederholte er. Darauf nahm Guste ihre gönnerhafte Miene an. »Ich sage es nur zu Ihrem Besten. Denn Sie scheinen nichts zu merken? Mit Assessor Jadassohn zum Beispiel? Aber Käthchen ist überhaupt so eine.« Jetzt lachte Guste laut, so begossen sah Diederich aus. Sie ging weiter, und er folgte. »Mit Jadassohn?« forschte er angstvoll. Da hörte der Lärm der Maschine auf, die Glocke ging, die den Schluß der Arbeit anzeigte, und über den Hof entfernten sich schon Arbeiter. Diederich zuckte die Achseln. »Was Fräulein Zillich macht, läßt mich kalt«, erklärte er. »Höchstens um den alten Pastor tut es mir leid, wenn sie wirklich so eine ist. Wissen Sie das denn genauer?« Guste sah weg. »Überzeugen Sie sich doch selbst!« Worauf Diederich geschmeichelt lachte.

»Lassen Sie das Gas brennen!« rief er dem Maschinenmeister zu, der vorbeiging. »Ich drehe selbst ab.« Gerade ward der Lumpensaal weit geöffnet, für die Fortgehenden. »Oh!« rief Guste, »dort drinnen ist es aber romantisch!« Denn sie erblickte dahinten in der Dämmerung lauter bunte Flecken auf grauen Hügeln und darüber einen Wald von Ästen. »Ach«, sagte sie, im Nähertreten. »Ich dachte, weil es hier schon so dunkel ist ... Das sind ja bloß Lumpensäcke und Heizungsrohre.« Und sie verzog das Gesicht. Diederich jagte die Arbeiterinnen empor, die trotz der Betriebsordnung sich auf den Säcken ausruhten. Mehrere, kaum daß die Arbeit fortgelegt war, strickten schon, andere aßen. »Das könnte euch passen«, schnaubte er. »Wärme schinden auf meine Kosten! Raus!« Sie standen langsam auf, ohne ein Wort, ohne Widerstand in der Miene; und vorbei an der fremden Dame, nach der alle dumpf neugierig den Kopf wandten, trabten sie in ihren Männerschuhen hinaus, schwerfällig wie eine Herde und umgeben von dem Dunst, worin sie lebten. Diederich behielt jede scharf im Auge, bis sie draußen war. »Fischer!« schrie er plötzlich. »Was hat die Dicke da unterm Tuch?« Der Maschinenmeister erklärte mit seinem zweideutigen Grinsen: »Das ist nur, weils sie was erwartet« – worauf Diederich unzufrieden den Rücken wandte. Er belehrte Guste. »Ich glaubte, ich hätte eine erwischt. Sie stehlen nämlich Lumpen. Jawohl. Sie machen Kinderkleider draus.« Und da Guste die Nase rümpfte: »Das ist doch zu gut für die Proletenkinder!«

Mit den Spitzen ihrer Handschuhe hob Guste einen der Fetzen vom Boden. Plötzlich hatte Diederich ihr Handgelenk gefangen und küßte es gierig, im Spalt des Handschuhs. Erschreckt sah sie sich um. »Ach so, alle Leute sind schon fort.« Sie lachte selbstsicher. »Ich hab mir doch gleich gedacht, was Sie jetzt noch in der Fabrik zu tun haben.« Diederich machte ein herausforderndes Gesicht. »Na und Sie? Warum sind Sie überhaupt gekommen heute? Sie haben wohl gemerkt, daß ich doch nicht so ohne bin? Freilich, Ihr Wolfgang – Jeder kann sich nicht so blamieren wie er, neulich vor Gericht.« Darauf sagte Guste entrüstet: »Seien Sie nur ganz still, Sie werden doch nie so ein feiner Mann wie er.« Aber ihre Augen sagten etwas anderes. Diederich sah es; erregt lachte er auf. »Wie der es eilig hat mit Ihnen! Wissen Sie auch, wofür er Sie ansieht? Für einen Kochtopf mit Wurst und Kohl, und ich soll ihn umrühren!« – »Jetzt lügen Sie«, sagte Guste vernichtend; aber Diederich war im Zuge. »Ihm ist nämlich nicht genug Wurst und Kohl darin. – Anfangs hat er natürlich auch gedacht, Sie hätten eine Million geerbt. Aber für fünfzigtausend Mark ist solch ein feiner Mann nicht zu haben.« Da kochte Guste auf. Diederich fuhr zurück, so gefährlich sah es aus. »Fünfzigtausend! Ihnen ist gewiß nicht wohl? Wie komme ich dazu, daß ich mir das muß sagen lassen! Wo ich bare dreihundertfünfzigtausend auf der Bank zu liegen hab, in richtiggehenden Papieren! Fünfzigtausend! Wer so etwas Ehrenrühriges von mir herumerzählt, den kann ich überhaupt belangen!« Sie hatte Tränen in den Augen; Diederich stammelte Entschuldigungen: »Lassen Sie nur« – und Guste benutzte ihr Taschentuch. »Wolfgang weiß genau, woran er bei mir ist. Aber Sie selbst, Sie haben den Schwindel geglaubt. Darum waren Sie auch so frech!« rief sie. Ihre rosigen Fettpolster zitterten vor Zorn, und die kleine eingedrückte Nase war ganz weiß geworden. Er sammelte sich. »Daran sehen Sie doch, daß Sie mir auch ohne Geld gefallen«, gab er zu bedenken. Sie biß sich auf die Lippen. »Wer weiß«, sagte sie mit einem Blick von unten, schmollend und unsicher. »Für Leute wie Sie sind fünfzigtausend auch schon Geld.«

Er hielt es für angezeigt, eine Pause zu machen. Sie zog aus ihrem goldenen Beutel den Puderquast, und sie setzte sich. »Ich bin wirklich ganz echauffiert von Ihrem Betragen!« Aber sie lachte wieder. »Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu zeigen in Ihrer sogenannten Fabrik?« Er nickte bedeutsam. »Wissen Sie wohl, wo Sie jetzt sitzen?« – »Na, auf einem Lumpensack.« – »Aber auf was für einem! In dieser Ecke, hinter den Säcken hier hab ich mal einen Arbeiter und ein Mädchen ertappt, wie sie gerade: Sie verstehen. Natürlich sind beide geflogen; und am Abend, jawohl, am selben Abend« – er hob den Zeigefinger, in seinen Augen entstand ein Schauder höherer Dinge – »haben sie den Kerl totgeschossen, und das Mädchen ist verrückt geworden.« Guste sprang auf. »War das –? Ach Gott, das war der Arbeiter, der den Wachtposten gereizt hat ...? Also hinter den Säcken haben sie –?« Ihre Augen gingen über die Säcke, als suchte sie Blut darauf. Sie hatte sich nahe zu Diederich geflüchtet. Plötzlich sahen sie einander in die Augen: darin bewegten sich die gleichen abgründigen Schauder, des Lasters oder des Übersinnlichen. Sie atmeten hörbar einander an. Guste schloß, eine Sekunde lang, die Lider: da plumpsten sie auch schon beide auf die Säcke, rollten, ineinander verwickelt, hinab und durch den dunklen Raum dahinter, schlugen um sich, keuchten und prusteten, als seien sie dort unten am Ertrinken.

Guste zuerst erreichte wieder das Licht. Den Fuß, an dem er sie festhalten wollte, stieß sie ihm ins Gesicht und sprang heraus, daß es krachte. Als Diederich sich glücklich ihr nachgearbeitet hatte, standen sie da und schnauften. Gustes Busen, Diederichs Bauch gingen beide im Sturm. Sie erlangte vor ihm die Sprache zurück. »Das müssen Sie mit 'ner andern versuchen! Wie komm ich überhaupt dazu!« Immer erbitterter: »Ich hab Ihnen doch gesagt, daß es dreihundertfünfzigtausend sind!« Diederich bewegte die Hand, um auszudrücken, daß er seinen Mißgriff zugebe. Aber Guste schrie auf: »Und wie ich aussehe! Soll ich so vielleicht durch die Stadt gehen?« Er erschrak aufs neue und lachte ratlos. Sie stampfte auf. »Haben Sie denn keine Bürste?« Gehorsam machte er sich auf den Weg; Guste rief ihm nach: »Daß gefälligst Ihre Schwestern nichts merken! Sonst reden morgen die Leute von mir!« Er ging nur bis in das Kontor. Wie er zurückkehrte, saß Guste wieder auf dem Sack, das Gesicht in den Händen, und durch ihre lieben, dicken Finger rannen Tränen. Diederich blieb stehen, hörte ihrem Wimmern zu, und auf einmal begann auch er zu weinen. Mit tröstender Hand bürstete er sie ab. »Es ist doch nichts geschehen«, wiederholte er. Guste stand auf. »Das wäre auch noch schöner« – und sie musterte ihn mit Ironie. Da faßte auch Diederich Mut. »Ihr Herr Bräutigam braucht es ja nicht zu wissen«, bemerkte er. Und Guste: »Wenn schon!« – wobei sie sich auf die Lippen biß.

Betroffen durch dies Wort bürstete er schweigend weiter, zuerst sie, dann sich, indes Guste ihre Kleider glättete. »Nun los!« sagte sie. »Eine Papierfabrik seh ich mir so bald nicht wieder an.« Er spähte ihr unter den Hut. »Wer weiß«, sagte er. »Denn daß Sie Ihren Buck lieben, das glaub ich Ihnen seit fünf Minuten nicht mehr.« Schnell rief Guste: »O doch!« Und ohne Pause fragte sie: »Was bedeutet denn das Zeug hier?«

Er erklärte: »Das ist der Sandfang, durch die Rinne schwemmen wir die Lumpen; Knöpfe und so weiter bleiben zurück, wie Sie sehen. Die Leute haben natürlich wieder nicht aufgeräumt.« Mit der Schirmspitze stocherte sie in dem Haufen; er setzte hinzu: »Im Jahr behalten wir mehrere Säcke Überbleibsel!« – »Und was ist das da?« fragte Guste und griff rasch hin, nach etwas, das glänzte. Diederich riß die Augen auf. »Ein Brillantknopf!« Sie ließ ihn funkeln. »Echt sogar! Wenn Sie öfter so was finden, ist Ihr Geschäft nicht so übel!« Diederich sagte zweifelnd: »Den muß ich natürlich abliefern!« Sie lachte. »An wen denn? Die Abfälle gehören doch Ihnen!« Er lachte auch. »Na, nicht gerade die Brillanten. Wir werden schon noch ausfindig machen, wer uns das geliefert hat.« Guste sah ihn von unten an. »Sie sind schön dumm«, sagte sie. Er erwiderte mit Überzeugung: »Nein! Sondern ich bin ein Ehrenmann!« Darauf hob sie nur die Schultern. Langsam zog sie den linken Handschuh aus und legte sich den Brillanten auf den kleinen Finger. »Er muß als Ring gefaßt werden!« rief sie aus, wie erleuchtet, betrachtete versunken ihre Hand und seufzte. »Na, sollen ihn andere Leute finden!« – und unvermutet warf sie den Knopf zurück in die Lumpen. »Sind Sie verrückt?« Diederich bückte sich, sah ihn nicht gleich und ließ sich schnaufend auf die Knie. In der Hast warf er alles durcheinander. »Gott sei Dank!« Er hielt ihr den Brillanten hin; aber Guste nahm ihn nicht. »Ich gönne ihn dem Arbeiter, der ihn morgen zuerst sieht. Der steckt ihn ein, darauf können Sie sich verlassen, der ist nicht so dumm.« – »Ich auch nicht«, erklärte Diederich. »Denn wahrscheinlich wäre der Stein doch weggeworfen worden. Unter solchen Umständen brauche ich es nicht für inkorrekt zu halten –« Er legte den Brillanten wieder auf ihren Finger. »Und wenn es auch inkorrekt wäre, er steht Ihnen so gut.« Guste sagte überrascht: »Wieso? Wollen Sie ihn mir denn schenken?« Er stammelte: »Sie haben ihn ja gefunden, da muß ich wohl.« Da jubelte Guste. »Das wird mein schönster Ring!« – »Warum?« fragte Diederich, voll banger Hoffnung. Guste sagte ausweichend: »Überhaupt ...« Und mit einem plötzlichen Blick: »Weil er nichts kostet, wissen Sie.« Hierüber errötete Diederich, und sie sahen einander blinzelnd in die Augen.

»Ach Herr Gott!« rief Guste plötzlich. »Es muß schrecklich spät sein. Schon sieben? Was sag ich nur meiner Mutter ...? Ich weiß, ich sag ihr, ich hab bei einem Trödler den Brillanten entdeckt, und er hat gedacht, er ist unecht, und hat bloß fünfzig Pfennig verlangt!« Sie öffnete ihren goldenen Sack und ließ den Knopf hineinfallen. »Also adieu ... Aber Sie sehen aus! Wenigstens müssen Sie sich die Krawatte binden.« Im Sprechen tat sie es schon selbst. Er fühlte ihre warmen Hände unter seinem Kinn; ihre feuchten, dicken Lippen bewegten sich ganz nahe. Ihm ward heiß, er hielt den Atem zurück. »So«, machte Guste und brach ernstlich auf. »Ich drehe nur das Gas ab«, rief er ihr nach. »Warten Sie doch!« – »Ich warte schon«, antwortete sie von draußen; – aber wie er auf den Hof trat, war sie fort. Verdutzt sperrte er die Fabrik zu und redete laut dabei vor sich hin: »Nun sag mir einer, ist das Instinkt oder Berechnung?« Er schüttelte sorgenvoll den Kopf über das ewige Rätsel der Weiblichkeit, das in Guste verkörpert war.

 

Vielleicht, so sagte sich Diederich, ging es vorwärts mit Guste, freilich ging es langsam. Die Ereignisse, die sich um den Prozeß gruppierten, hatten ihr Eindruck gemacht, aber noch nicht genug. Auch hörte er nichts mehr von Wulckow. Nach dem so vielversprechenden Schritt des Regierungspräsidenten beim Kriegerverein wartete Diederich unbestimmt auf weiteres: eine Heranziehung, eine vertrauliche Verwendung, er wußte nicht wie und was. Der Harmonieball konnte es bringen; warum hatten sonst die Schwestern Rollen bekommen im Stück der Präsidentin. Nur dauerte alles zu lange für Diederichs Tatenlust. Es war eine Zeit voll Unruhe und Drang. Man quoll über von Hoffnungen, Aussichten, Plänen; in jeden Tag, der anfing, hätte man das alles auf einmal ergießen wollen, und wenn er aus war, war er leer geblieben. Ein Trieb nach Bewegung erfaßte Diederich. Mehrmals versäumte er den Stammtisch und ging spazieren, ohne Ziel und ins Freie, was sonst nicht vorkam. Er kehrte dem Mittelpunkt der Stadt den Rücken, stapfte mit dem Schritt eines von Tatkraft schweren Mannes die abendlich leere Meisestraße zu Ende, durchmaß die lange Gäbbelchenstraße, mit den vorstädtischen Gasthäusern, bei denen Fuhrleute ein- oder ausspannten, und kam auch unter der Vogtei vorbei. Dort oben saß, bewacht von einem Gitterfenster und einem Soldaten, der Herr Lauer, der sich dies nicht hatte träumen lassen. ›Hochmut kommt vor dem Fall‹, dachte Diederich. ›Wie man sich bettet, so liegt man.‹ Und obwohl er den Ereignissen, die den Fabrikbesitzer in die Vogtei geführt hatten, nicht ganz fremd war, schien Lauer ihm jetzt ein Wesen mit einem Kainsmal, ein unheimlicher Gesell. Einmal glaubte er, im Hof des Gefängnisses eine Gestalt zu bemerken. Es war schon zu dunkel, aber vielleicht -? Ein Gruseln überlief Diederich, und er enteilte.

Hinter dem Burgtor führte die Landstraße zu dem Hügel mit der Schweinichenburg, wo einst der kleine Diederich gemeinsam mit Frau Heßling das Grausen vor dem Burggespenst genossen hatte. Solche Kindereien lagen ihm jetzt fern – vielmehr bog er jedesmal, bald hinter dem Tor, in die Gausenfelder Straße ein. Er hatte es sich nicht vorgenommen und tat es nur zögernd, denn es wäre ihm nicht lieb gewesen, wenn jemand ihn auf diesem Wege überrascht hätte. Aber es ließ ihn nicht: die große Papierfabrik zog ihn an wie ein verbotenes Paradies, er mußte ihr auf einige Schritte nahe kommen, sie umkreisen, über ihre Mauer schnüffeln ... Eines Abends ward Diederich aus dieser Tätigkeit aufgeschreckt durch Stimmen, die im Dunkeln schon ganz nahe waren. Kaum daß er noch Zeit behielt, sich in den Graben zu kauern. Und während die Leute, wahrscheinlich Angestellte der Fabrik, die sich verspätet hatten, an seinem Versteck vorüberkamen, drückte Diederich die Augen zu, aus Furcht, und auch weil er fühlte, ihr begehrliches Funkeln hätte ihn verraten können.

Als er schon wieder beim Burgtor war, hatte er noch immer Herzklopfen und sah sich nach einem Glas Bier um. Gleich im Winkel des Tores stand der Grüne Engel, eins der niedersten Gasthäuser, krumm vor Alter, schmutzig und übel beleumdet. Soeben verschwand in dem gewölbten Gang eine Frauensperson. Diederich, von jäher Abenteuerlust gepackt, drang hinterdrein. Wie sie das rötliche Licht einer Stallaterne durchschreiten mußte, wollte die Person ihr Gesicht, das verschleiert war, auch noch mit dem Muff bedecken; aber Diederich hatte sie schon erkannt. »Guten Abend, Fräulein Zillich!« – »Guten Abend, Herr Doktor!« Und da standen sie beide mit offenem Munde. Käthchen Zillich war die erste, die etwas hervorbrachte, von Kindern, die hier im Hause wohnten und die sie in die Sonntagsschule ihres Vaters bringen sollte. Diederich setzte zum Sprechen an, aber sie redete weiter, immer hastiger. Nein, die Kinder wohnten eigentlich nicht hier, aber ihre Eltern verkehrten in der Schenke, und die Eltern durften nichts wissen von der Sonntagsschule, denn sie waren Sozialdemokraten ... Sie faselte; und Diederich, der zuerst nur an sein eigenes schlechtes Gewissen gedacht hatte, ward darauf hingewiesen, daß Käthchen in einer noch viel verdächtigeren Lage sei. Er ersparte es sich also, seine Anwesenheit im Grünen Engel zu erklären, und schlug einfach vor, dann könne man in der Gaststube auf die Kinder warten. Käthchen weigerte sich angstvoll, irgend etwas zu verzehren, aber Diederich bestellte aus eigener Machtvollkommenheit auch für sie Bier. »Prost!« sagte er, und in seiner Miene lag die ironische Erinnerung daran, daß sie bei ihrer letzten Zusammenkunft, im traulichen Wohnzimmer des Pfarrhauses, sich beinahe verlobt hätten. Käthchen ward unter ihrem Schleier rot und blaß und verschüttete ihr Bier. Immerfort flatterte sie kraftlos vom Stuhl auf und wollte fort; aber Diederich hatte sie hinter den Tisch in die Ecke geschoben und saß breit davor. »Nun müssen die Kinder aber gleich kommen!« sagte er gutmütig. Statt ihrer kam Jadassohn: plötzlich stand er da und sah versteinert aus. Auch die beiden anderen regten sich nicht. ›Also doch!‹ dachte Diederich. Jadassohn schien etwas Ähnliches zu denken; keiner der Herren fand Worte. Käthchen begann wieder von Kindern und Sonntagsschulen. Sie sprach flehend und weinte fast. Jadassohn hörte ihr mit Mißbilligung zu, er ließ sogar die Bemerkung fallen, gewisse Geschichten seien ihm zu verwickelt – und er blickte inquisitorisch auf Diederich.

»Im Grunde«, versetzte Diederich, »ist es doch einfach. Fräulein Zillich sucht hier nach Kindern, und wir beide helfen ihr.«

»Ob sie eins kriegt, kann man nicht wissen«, ergänzte Jadassohn schneidend; da sagte Käthchen: »Und von wem, auch nicht.«

Die Herren setzten die Gläser hin. Käthchen hatte es aufgegeben zu weinen, sie schob sogar den Schleier hinauf und sah mit merkwürdig hellen Augen von einem zum andern. Ihre Stimme hatte etwas Offenes, Unverblümtes bekommen. »Na ja, wenn Sie nun doch mal beide da sind«, setzte sie hinzu, indes sie aus Jadassohns Dose eine Zigarette nahm; und dann leerte sie auf einen Zug den Kognak, der vor Diederich stand. Jetzt war es an Diederich, nach Fassung zu ringen. Jadassohn schien nicht unbekannt mit Käthchens anderem Gesicht. Die beiden fuhren fort, Doppelsinnigkeiten auszutauschen, bis Diederich sich gegen Käthchen entrüstete. »Heute lernt man Sie aber gründlich kennen!« rief er und schlug auf den Tisch. Sofort hatte Käthchen ihr Damengesicht zurück. »Was meinen Sie eigentlich, Herr Doktor?« Jadassohn ergänzte: »Ich nehme an, daß Sie der Ehre der Dame nicht zu nahe treten wollen!« – »Ich meine nur«, stammelte Diederich, »so gefällt Fräulein Zillich mir viel besser.« Er rollte die Augen vor Ratlosigkeit. »Neulich, wie wir uns beinahe verlobt hätten, hat sie mir nicht halb so gefallen.« Da lachte Käthchen los: ein Gelächter, ganz frei aus dem Herzen, wie Diederich es auch noch nicht kannte. Ihm ward warm dabei, er lachte mit, Jadassohn auch, alle drei wälzten sich lachend auf ihren Stühlen umher und riefen nach mehr Kognak.

»Nun muß ich aber gehen«, sagte Käthchen, »sonst kommt Papa vor mir nach Haus. Er hat Krankenbesuche gemacht; dabei verteilt er immer solche Bilder.« Sie zog zwei bunte Bildchen aus ihrer ledernen Tasche. »Da haben Sie auch welche.« Jadassohn bekam die Sünderin Magdalena, Diederich das Lamm mit dem Hirten; er war nicht zufrieden. »Ich will auch eine Sünderin.« Käthchen suchte, fand aber keine mehr. »Also bleibt es bei dem Schaf«, entschied sie, und man zog ab, Käthchen in der Mitte eingehängt. Ruckweise und in weitem Bogen schwenkten alle drei sich durch die schlecht beleuchtete Gäbbelchenstraße dahin, wobei sie ein Kirchenlied sangen, das Käthchen angestimmt hatte. An einer Ecke erklärte sie, eilen zu müssen, und verschwand in der Seitengasse. »Adieu, Schaf!« rief sie Diederich zu, der ihr vergeblich nachstrebte. Jadassohn hielt ihn fest, und plötzlich nahm er seine staatserhaltende Stimme an, um Diederich zu überzeugen, daß dies alles nur ein zufälliger Scherz sei. »Es liegt durchaus nichts Mißverständliches vor, daß möchte ich feststellen.«

»Ich denke nicht daran, hier etwas mißzuverstehen«, sagte Diederich.

»Und wenn ich«, fuhr Jadassohn fort, »den Vorzug hätte, von der Familie Zillich für eine nähere Verbindung in Aussicht genommen zu sein, dieser Vorfall würde mich keineswegs abhalten. Ich folge nur einer Ehrenpflicht, wenn ich dies ausspreche.«

Diederich erwiderte: »Ich weiß Ihr korrektes Verhalten voll und ganz zu würdigen.« Darauf schlugen die Herren die Absätze zusammen, schüttelten einander die Hände und trennten sich.

Käthchen und Jadassohn hatten beim Abschied ein Zeichen ausgetauscht; Diederich war überzeugt, sie würden sich gleich jetzt wieder im Grünen Engel zusammenfinden. Er öffnete den Winterrock, ein Hochgefühl schwellte ihn, weil er eine bösartige Falle aufgedeckt und sich streng kommentmäßig aus der Sache gezogen hatte. Er empfand eine gewisse Achtung und Sympathie für Jadassohn. Auch er selbst würde so gehandelt haben! Unter Männern verständigte man sich. Aber so ein Weib! Käthchens anderes Gesicht, die Pfarrerstochter, der unvermutet das entfesselte Weib ins Gesicht gestiegen war, dies tückische Doppelwesen, so fremd der Biederkeit, die Diederich am Grunde seines eigenen Herzens wußte: es erschütterte ihn wie ein Blick ins Bodenlose. Er knöpfte den Rock wieder zu. Es gab also noch andere Welten außerhalb der bürgerlichen, als nur die, worin jetzt der Herr Lauer lebte.

Schnaufend setzte er sich zum Abendessen. Seine Stimmung schien so bedrohlich, daß die drei Frauen Schweigen bewahrten. Frau Heßling nahm ihren Mut zusammen. »Schmeckt es dir nicht, mein lieber Sohn?« Anstatt einer Antwort herrschte Diederich die Schwester an. »Mit Käthchen Zillich verkehrt ihr nicht mehr!« Da sie ihn ansahen, errötete er und stieß drohend aus: »Sie ist eine Verworfene!« Aber sie verzogen nur den Mund; und auch die furchtbaren Andeutungen, in denen er sich polternd erging, schienen sie nicht weiter aufzuregen. »Du sprichst wohl von Jadassohn?« fragte Magda endlich, ganz gelassen. Diederich fuhr zurück. Sie waren also eingeweiht und mitverschworen: alle Weiber wahrscheinlich. Auch Guste Daimchen! Die hatte schon einmal davon angefangen. Er mußte sich die Stirn trocknen. Magda sagte: »Wenn du vielleicht ernste Absichten gehabt hast bei Käthchen, uns hast du ja nicht gefragt«; worauf Diederich, um sein Ansehen zu verteidigen, dem Tisch einen Stoß gab, daß alle aufkreischten. Er verbitte sich derartige Zumutungen, schrie er. Es gebe hoffentlich noch anständige Mädchen. Frau Heßling bat zitternd: »Du brauchst ja nur deine Schwestern anzusehen, mein lieber Sohn.« Und Diederich sah sie wirklich an; er blinzelte, und er überlegte zum erstenmal, nicht ohne Bangen, was diese beiden weiblichen Wesen, die seine Schwestern waren, bisher wohl mit ihrem Leben angefangen hatten ... »Ach was«, entschied er und richtete sich stramm auf, »euch zieht man einfach die Kandare fester. Wenn ich eine Frau habe, die soll sich wundern!« Da die Mädchen einander zulächelten, erschrak er, denn er hatte an Guste Daimchen gedacht, und vielleicht dachten auch sie mit ihrem Lächeln an Guste? Zu trauen war keiner. Er sah Guste vor sich, weißblond, mit dem dicken, rosigen Gesicht. Ihre fleischigen Lippen öffneten sich, sie streckte ihm die Zunge heraus. Das hatte vorhin Käthchen Zillich getan, als sie ihm »Adieu, Schaf!« zurief, und Guste, die ihr im Typus so ähnlich war, würde mit ausgestreckter Zunge und in halb betrunkenem Zustand genauso ausgesehen haben!

Magda sagte eben: »Käthchen ist schön dumm; aber begreiflich ist es ja, wenn man so lange warten muß und keiner kommt.«

Sofort griff Emmi ein. »Wen meinst du, bitte? Wenn Käthchen sich mit irgendeinem Kienast begnügt hätte, würde sie wohl auch nicht mehr warten.«

Magda, im Bewußtsein, die Tatsachen für sich zu haben, blähte einfach ihre Bluse auf und schwieg.

»Überhaupt«, Emmi warf die Serviette hin und erhob sich, »wie kannst du das gleich glauben, was die Männer von Käthchen reden. Das ist abscheulich, sollen wir denn alle wehrlos sein gegen ihren Klatsch?« Empört ließ sie sich in der Ecke nieder und begann zu lesen. Magda hob nur die Schultern – indes Diederich angstvoll und vergeblich nach einem Übergang suchte, um zu fragen, ob vielleicht auch Guste Daimchen –? Bei einer so langen Verlobung –? »Es gibt Situationen«, äußerte er, »wo es nicht mehr Klatsch ist.« Da schleuderte Emmi auch das Buch hin.

»Und wenn schon! Käthchen tut, was sie will! Wir Mädchen haben ebensogut wie ihr das Recht, unsere Individualität auszuleben! Die Männer sollen froh sein, wenn sie uns dann nachher noch kriegen!«

Diederich stand auf. »Das will ich in meinem Hause nicht hören«, sagte er ernst, und er blitzte Magda so lange an, bis sie nicht mehr lachte.

Frau Heßling brachte ihm die Zigarre. »Von meinem Diedel weiß ich ganz genau, daß er so eine niemals heiraten wird« – sie streichelte ihn tröstend. Er versetzte mit Nachdruck: »Ich kann mir nicht denken, Mutter, daß ein echter deutscher Mann das jemals getan hat.«

Sie schmeichelte. »Oh, alle sind nicht so ideal wie mein lieber Sohn. Manche denken materieller und nehmen mit dem Geld auch mal was in den Kauf, worüber die Leute reden.« Unter seinem gebieterischen Blick schwatzte sie angstvoll weiter. »Zum Beispiel Daimchen. Gott, nun ist er tot, und es kann ihm gleich sein, aber seinerzeit hat man doch viel geredet.« Jetzt sahen alle drei Kinder sie fordernd an. »Na ja«, erklärte sie schüchtern. »Das mit Frau Daimchen und dem Herrn Buck. Guste kam doch zu früh.«

Nach diesem Ausspruch mußte Frau Heßling sich hinter den Ofenschirm zurückziehen, denn alle drei drangen gleichzeitig auf sie ein. »Das ist das Neueste!« riefen Emmi und Magda. »Also wie war die Geschichte!« Wogegen Diederich donnernd dem Weiberklatsch Einhalt gebot. »Wenn wir deinen Männerklatsch angehört haben!« riefen die Schwestern und suchten ihn fortzudrängen von dem Ofenschirm. Die Mutter sah händeringend in das Handgemenge. »Ich habe doch nichts gesagt, Kinder! Nur damals sagten es alle, und der Herr Buck hat der Frau Daimchen doch auch die Mitgift geschenkt.«

»Also daher!« rief Magda. »So sehen in der Familie Daimchen die Erbonkel aus! Daher die goldenen Taschen!«

Diederich verteidigte Gustes Erbschaft. »Sie kommt aus Magdeburg!«

»Und der Bräutigam?« fragte Emmi. »Kommt der auch aus Magdeburg?«

Plötzlich verstummten alle und sahen einander an, wie betäubt. Dann kehrte Emmi ganz still auf das Sofa zurück, sie nahm sogar das Buch wieder auf. Magda fing an, den Tisch abzuräumen. Auf den Ofenschirm, hinter dem Frau Heßling sich duckte, schritt Diederich zu. »Siehst du nun, Mutter, wohin es führt, wenn man seine Zunge nicht hütet? Du willst doch wohl nicht behaupten, daß Wolfgang Buck seine eigene Schwester heiratet.« Wimmernd kam es aus der Tiefe: »Ich kann doch nichts dafür, mein lieber Sohn. Ich dachte schon längst nicht mehr an die alte Geschichte, und es ist ja auch nicht sicher. Kein lebender Mensch weiß mehr etwas.« Aus ihrem Buch heraus warf Emmi dazwischen: »Der alte Herr Buck wird wohl wissen, wo er jetzt das Geld für seinen Sohn holt.« Und in das Tischtuch hinein, das sie faltete, sagte Magda: »Es soll manches vorkommen.« Da hob Diederich die Arme, als habe er die Absicht, den Himmel anzurufen. Rechtzeitig unterdrückte er aber das Entsetzten, das ihn übermannen wollte. »Bin ich denn hier unter Räuber und Mörder gefallen?« fragte er sachlich und ging in strammer Haltung zur Tür. Dort wandte er sich um. »Ich kann euch natürlich nicht hindern, eure feine Wissenschaft in die Stadt hinauszuposaunen. Was mich betrifft, ich werde erklären, daß ich mit euch nichts mehr zu tun habe. In die Zeitung werde ich es setzen!« Und er ging ab.

Er vermied den Ratskeller und bedachte einsam bei Klappsch eine Welt, in der solche Greuel umgingen. Dagegen war mit kommentmäßigem Verhalten freilich nicht aufzukommen. Wer den Bucks ihren schändlichen Raub abjagen wollte, durfte auch vor starken Mitteln nicht zurückschrecken. »Mit gepanzerter Faust«, sagte er ernst in sein Bier hinein; und das Deckelklappen, womit er das vierte Glas herbeirief, klang wie Schwertgeklirr ... Nach einer Weile verlor seine Haltung an Härte; Bedenken kamen. Sein Eingreifen würde immerhin bewirken, daß die ganze Stadt mit den Fingern auf Guste Daimchen zeigte. Kein Mann, der halbwegs Komment hatte, heiratete solch ein Mädchen noch. Diederichs eigenstes Empfinden sagte es ihm, seine eingewurzelte Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus. Schade! Schade um Gustes dreihundertfünfzigtausend Mark, die nun herrenlos und ohne Bestimmung waren. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, ihnen eine zu geben ... Diederich schüttelte den Gedanken mit Entrüstung ab. Er erfüllte nur seine Pflicht! Ein Verbrechen galt es zu verhindern. Das Weib mochte dann sehen, wo es blieb im Kampf der Männer. Was lag an einem dieser Geschöpfe, die ihrerseits, Diederich hatte es erfahren, jedes Verrates fähig waren. Nur noch des fünften Glases bedurfte es, und sein Entschluß stand fest.

Beim Morgenkaffee bekundete er ein großes Interesse für die Toiletten der Schwestern zum Harmonieball. Zwei Tage nur mehr, und noch nichts fertig! Die Hausschneiderin war so selten zu haben gewesen, sie nähte jetzt bei Bucks, Tietz', Harnischs und überall. Die große Inanspruchnahme dieses Mädchens schien Diederich geradezu mit Bewunderung zu erfüllen. Er erbot sich, selbst hinzugehen und sie, koste es, was es wolle, zur Stelle zu schaffen. Nicht ohne Mühe gelang es ihm. Zum zweiten Frühstück begab er sich alsdann so geräuschlos, daß nebenan im Wohnzimmer das Gespräch nicht gestört ward. Gerade erging sich die Hausschneiderin in Anspielungen auf einen Skandal, der bestimmt sei, alles Dagewesene in den Schatten zu stellen. Die Schwestern schienen ganz ahnungslos, und als endlich Namen fielen, zeigten sie sich entsetzt und ungläubig. Frau Heßling beklagte es am lautesten, daß Fräulein Gehritz so etwas auch nur denken könne. Die Schneiderin beteuerte dagegen, in der ganzen Stadt wisse man es schon. Soeben komme sie von der Bürgermeisterin Scheffelweis, deren Mutter geradezu verlangt habe, daß ihr Schwiegersohn einschreite! Dennoch machte es ihr Mühe, die Damen zu überzeugen. Diederich hatte den Vorgang eher umgekehrt erwartet. Er war unzufrieden mit den Seinen. Aber hatten denn die Wände tatsächlich Ohren gehabt? Man war zu glauben versucht, daß ein Gerücht, in einem verschlossenen Zimmer ausgebrochen, mit dem Rauch des Ofens hinaus und über die ganze Stadt zog.

Beruhigt war er trotzdem noch nicht. Er sagte sich, daß das gesunde Empfinden des arbeitenden Volkes unter Umständen ein Faktor sei, den man billigen und sogar benutzen könne. Bis zum Mittagessen ging er um Napoleon Fischer herum: da, es läutete schon, entstand bei der Satiniermaschine ein gellendes Geschrei, und Diederich und der Maschinenmeister, die gleichzeitig hinstürzten, zogen gemeinsam den Arm einer jungen Arbeiterin heraus, der von einer Stahlwalze ergriffen worden war. Er troff von schwarzem Blut, Diederich ließ sofort nach dem städtischen Krankenhaus telefonieren. Inzwischen, so übel der Anblick des Armes ihm machte, blieb er selbst dabei, während der Person ein Notverband angelegt ward. Sie sah zu, leise wimmernd und mit Augen, weich im Entsetzen, wie ein junges Tier, das getroffen ist. Diederichs menschenfreundliche Fragen nach ihren häuslichen Verhältnissen verstand sie nicht. Napoleon Fischer antwortete für sie. Ihr Vater war durchgegangen, die Mutter bettlägerig; das Mädchen ernährte sich und ihre zwei kleinen Geschwister. Sie war erst vierzehn Jahre alt. – Das sehe man ihr nicht an, meinte Diederich. Übrigens seien die Arbeiterinnen oft genug vor der Maschine gewarnt worden. »Sie hat sich das Unglück selbst zuzuschreiben, ich bin zu nichts verpflichtet. Na«, sagte er milder, »nun kommen Sie mal mit, Fischer!«

Im Kontor schenkte er zwei Kognaks ein. »Das kann man brauchen auf den Schrecken ... Sagen Sie ehrlich, Fischer, glauben Sie, daß ich zahlen muß? Die Schutzvorrichtung an der Maschine halten Sie doch wohl für genügend?« Und da der Maschinenmeister die Achseln zuckte: »Sie wollen sagen, ich kann es auf einen Prozeß ankommen lassen? Das tue ich aber nicht, ich zahle gleich.«

Napoleon Fischer zeigte verständnislos sein großes gelbes Gebiß, und Diederich fuhr fort: »Ja, so bin ich. Sie dachten wohl, das könnte bloß der Herr Lauer? Was den betrifft, so sind Sie ja jetzt durch Ihr eigenes Parteiblatt über seine Arbeiterfreundlichkeit aufgeklärt. Ich lasse mich freilich nicht wegen Majestätsbeleidigung einsperren und mache dadurch meine Arbeiter brotlos; ich suche mir praktischere Mittel aus, um meine soziale Gesinnung zu bekunden.« Er machte eine feierliche Pause. »Und darum habe ich mich entschlossen, dem Mädchen die ganze Zeit, die es im Krankenhaus liegt, seinen Lohn weiterzuzahlen. Wieviel ist es denn?« fragte er rasch.

»Eine Mark fünfzig«, sagte Napoleon Fischer.

»Na ja ... Soll sie acht Wochen liegen. Soll sie zwölf Wochen liegen ... Ewig natürlich geht es nicht.«

»Sie ist erst vierzehn«, sagte Napoleon Fischer, von unten. »Sie kann Schadenersatz verlangen.« Diederich erschrak, er schnaufte.

Napoleon Fischer hatte schon wieder sein unbestimmbares Grinsen aufgesetzt und sah seinem Arbeitgeber auf die Faust, die angstvoll in der Tasche geballt war. Diederich zog sie hervor. »Nun setzen Sie die Leute von meinem hochherzigen Entschluß in Kenntnis! Das paßt Ihnen wohl nicht in den Kram? Die Gemeinheiten der Kapitalisten erzählt ihr euch natürlich lieber. In euren Versammlungen schwingt ihr jetzt wahrscheinlich große Reden über Herrn Buck.«

Napoleon Fischer sah verständnislos aus, was Diederich nicht beachtete. »Ich finde es wohl auch nicht eben schön«, fuhr er fort, »wenn jemand seinen Sohn ausgerechnet das Mädchen heiraten läßt, mit dessen Mutter er selbst was gehabt hat, und zwar vor der Geburt der Tochter ... Aber –«

In Napoleon Fischers Gesicht begann es zu arbeiten.

»Aber!« wiederholte Diederich stark. »Ich wäre durchaus nicht einverstanden, wenn meine Leute sich deswegen den Mund verrenken und wenn Sie, Fischer, nun vielleicht die Arbeiter gegen die städtischen Behörden aufhetzen, weil ein Magistratsrat etwas getan hat, was ihm keiner beweisen kann.« Seine Faust schlug entrüstet durch die Luft. »Mir hat man schon nachgesagt, daß ich den Prozeß gegen Lauer angezettelt habe. Ich will an nichts schuld sein, meine Leute sollen sich ruhig halten.«

Seine Stimme ward vertraulicher, er neigte sich näher zu dem andern hin. »Na, und weil ich Ihren Einfluß kenne, Fischer ...«

Plötzlich war seine Hand offen, und auf ihrer Fläche lagen drei große Goldstücke.

Napoleon Fischer sah sie und verzerrte das Gesicht, als erblickte er den Teufel. »Nein!« rief er, »und abermals nein! Meine Überzeugung kann ich nicht verraten. Für allen Mammon der Welt nicht!«

Er hatte rote Augen und kreischte. Diederich wich zurück; so nahe hatte er dem Umsturz noch nie ins Gesicht gesehen. »Die Wahrheit muß ans Licht!« kreischte Napoleon Fischer. »Dafür werden wir Proletarier sorgen: Das können Sie nicht verhindern, Herr Doktor! Die Schandtaten der besitzenden Klasse ...«

Diederich hielt ihm schnell noch einen Kognak hin. »Fischer«, sagte er eindringlich, »das Geld biete ich Ihnen dafür, daß mein Name in der Sache nicht genannt wird.« Aber Napoleon Fischer wehrte ab; ein hoher Stolz erschien in seiner Miene.

»Zeugniszwang, Herr Doktor, üben wir nicht. Wir nicht. Wer uns mit Agitationsstoff versorgt, hat nichts zu fürchten.«

»Dann ist alles in Ordnung«, sagte Diederich erleichtert. »Ich wußte schon, Fischer, daß Sie ein großer Politiker sind. Und darum, wegen des Mädchens, ich meine die verunglückte Arbeiterin – Ich habe Ihnen soeben mit meiner Mitteilung über die Buckschen Schweinereien einen Gefallen getan ...«

Napoleon Fischer grinste geschmeichelt. »Weil Herr Doktor sagen, daß ich ein großer Politiker bin ... Ich will von dem Schadenersatz weiter nicht reden. Intimitäten aus den ersten Kreisen sind für uns doch wichtiger als –«

»– als so ein Mädchen«, ergänzte Diederich. »Sie denken immer als Politiker.«

»Immer«, bestätigte Napoleon Fischer. »Mahlzeit, Herr Doktor.« Er zog sich zurück – indes Diederich feststellte, daß die proletarische Politik ihre Vorzüge habe. Er schob seine drei Goldstücke wieder in die Tasche.

 

Am Abend des nächsten Tages waren alle Spiegel des Hauses im Wohnzimmer zusammengetragen. Emmi, Magda und Inge Tietz drehten sich dazwischen umher, bis ihnen die Hälse schmerzten; dann ließen sie sich nervös auf den Rand eines Stuhles nieder. »Mein Gott, es ist doch Zeit!« Aber Diederich war fest entschlossen, nicht wieder zu früh zu kommen, wie beim Prozeß Lauer. Die ganze Wirkung der Persönlichkeit ging zum Teufel, wenn man zu früh da war. Als sie endlich gingen, entschuldigte Inge Tietz sich nochmals bei Frau Heßling, daß sie ihr den Platz im Wagen wegnehme. Nochmals sagte Frau Heßling: »Ach Gott, es ist gern geschehen. Ich alte Frau bin zu schwach für so was Großes. Genießt ihr es nur, Kinder!« Und sie umarmte unter Tränen ihre Töchter, die kühl abwehrten. Denn sie wußten, daß die Mutter bloß Angst hatte, weil jetzt überall von nichts weiter gesprochen wurde als von der furchtbaren Klatschgeschichte, an der sie selbst schuld war.

Im Wagen fing Inge gleich wieder davon an. »Na Bucks und Daimchens! Gespannt bin ich bloß, ob sie heute die edle Dreistigkeit haben und da sind!« Magda sagte ruhig: »Das müssen sie wohl. Sonst geben sie ja zu, daß es wahr ist.« – »Wenn schon«, erklärte Emmi. »Ich finde, daß das ihre Sache ist. Ich rege mich darüber nicht auf.« – »Ich auch nicht«, setzte Diederich hinzu. »Ich habe es eigentlich erst heute abend von Ihnen gehört, Fräulein Tietz.«

Hierüber geriet Inge Tietz außer sich. So leicht dürfe man den Skandal denn doch nicht nehmen. Ob er glaube, daß sie sich das Ganze ausgedacht habe. »Die Bucks haben schon längst Butter auf dem Kopf wegen der Sache: das wissen ihre eigenen Dienstboten.« – »Also Dienstbotenklatsch«, sagte Diederich, während er einen kleinen Stoß erwiderte, den Magda ihm mit dem Knie gab. Dann mußte man schon aussteigen, und die Stufen hinuntergehen, die den neuen Teil der Kaiser-Wilhelm-Straße mit der tief gelegenen alten Riekestraße verbanden. Diederich fluchte; denn es begann zu regnen, die Ballschuhe wurden naß; auch standen vor dem Festlokal Proleten, die feindselig gafften. Hätte man nicht, als der ganze Stadtteil höher gelegt wurde, auch dieses Gerumpel niederreißen können? Das historische Harmoniehaus hatte erhalten werden sollen – als ob die Stadt nicht die Mittel gehabt hätte, in zentraler Lage ein modernes, erstklassiges Gesellschaftsgebäude zu bauen. In dem alten Kasten roch es ja nach Moder! Und gleich beim Eingang kicherten immer die Damen, weil eine Statue der Freundschaft dastand, die zwar eine hohe Perücke, aber sonst nichts anhatte. »Vorsicht«, sagte Diederich auf der Treppe, »sonst brechen wir ein.« Denn die beiden dünnen Bogen der Treppe griffen durch die Luft, wie zwei vom Alter abgemagerte Arme. Das braune Rosa ihres Holzes war blaß geworden. Droben aber, wo sie sich vereinigten, lächelte auf dem Geländer aus seinem blanken Marmorgesicht noch immer der bezopfte Bürgermeister, der dies alles der Stadt hinterlassen hatte und der ein Buck gewesen war. Diederich sah ungnädig an ihm vorbei.

In der tiefen Spiegelgalerie war es ganz still; eine einzelne Dame nur hielt sich dahinten auf, sie schien durch einen Türspalt in den Festsaal zu spähen – und plötzlich wurden die Mädchen von Entsetzen ergriffen: die Vorstellung hatte begonnen! Magda stürzte durch die Galerie und brach in Weinen aus. Da drehte die Dame sich um, mit dem Finger auf den Lippen. Es war Frau von Wulckow, die Dichterin. Sie lächelte erregt und flüsterte: »Es geht gut, mein Stück gefällt. Sie kommen gerade rechtzeitig, Fräulein Heßling, gehen Sie nur und kleiden sich um.« Ach ja! Emmi und Magda hatten erst im zweiten Akt zu tun. Auch Diederich hatte den Kopf verloren. Indes die Schwestern mit Inge Tietz, die ihnen helfen sollte, durch die Nebenräume nach der Garderobe eilten, stellte er sich der Präsidentin vor und blieb ratlos stehen. »Jetzt dürfen Sie nicht hinein, es würde stören«, sagte sie. Diederich stammelte Entschuldigungen, und dann rollte er die Augen, wobei er zwischen den gemalten Ranken der halb erblindeten Wandspiegel seinem geheimnisvoll blassen Abbild begegnete. Der zartgelbe Lack der Wände zeigte launische Sprünge, und auf den Panneaus starben die Farben der Blumen und Gesichter ... Frau von Wulckow schloß eine kleine Tür, durch die jemand einzutreten schien, eine Schäferin mit ihrem bebänderten Stab. Sie schloß die Tür ganz vorsichtig, damit nur die Vorstellung nicht gestört werde, aber es flog doch ein wenig Staub auf, als sei es Puder aus dem Haar der gemalten Schäferin.

»Dies Haus ist so romantisch«, flüsterte Frau von Wulckow. »Finden Sie nicht auch, Herr Doktor? Wenn man sich hier im Spiegel sieht, glaubt man einen Reifrock anzuhaben« – worauf Diederich, immer ratloser, ihr Hängekleid ansah. Die entblößten Schultern waren hohl und nach vorn gebogen, die Haare von slawischem Weißblond, und Frau von Wulckow trug einen Zwicker.

»Sie passen hier glänzend herein, Frau Präsidentin ... Frau Gräfin«, verbesserte er und sah sich mit einem Lächeln belohnt für seine kühne Schmeichelei. Nicht jeder würde Frau von Wulckow so treffsicher daran erinnert haben, daß sie eine geborene Gräfin Züsewitz war!

»Tatsächlich«, bemerkte sie, »sollte man kaum glauben, daß dies Haus seinerzeit nicht für eine wirklich vornehme Gesellschaft gebaut worden ist, sondern nur für die guten Netziger Bürger.« Sie lächelte nachsichtig.

»Ja, das ist komisch«, bestätigte Diederich, mit einem Kratzfuß. »Aber heute können sich zweifellos nur Frau Gräfin hier ganz zu Hause fühlen.«

»Sie haben gewiß Sinn für das Schöne«, vermutete Frau von Wulckow; und da Diederich es bestätigte, erklärte sie, dann dürfe er den ersten Akt doch nicht ganz versäumen, sondern müsse durch den Türspalt sehen. Sie selbst trat schon längst von einem Fuß auf den andern. Sie wies mit dem Fächer nach der Bühne. »Herr Major Kunze wird gleich abgehen. Er ist ja nicht besonders gut, aber was wollen Sie, er sitzt im Vorstand der ›Harmonie‹ und hat den Leuten die künstlerische Bedeutung meines Werkes erst zum Verständnis gebracht.« Indes Diederich den Major unschwer wiedererkannte, denn er hatte sich gar nicht verändert, erläuterte die Dichterin ihm mit fliegender Geläufigkeit die Vorgänge. Das junge Bauernmädchen, mit dem Kunze sich unterhielt, war seine natürliche Tochter, also eine Grafentochter, weshalb das Stück denn auch »Die heimliche Gräfin« hieß. Gerade klärte Kunze sie, bärbeißig wie immer, über diesen Umstand auf. Auch eröffnete er ihr, er werde sie mit einem armen Vetter verheiraten und ihr die Hälfte seiner Besitztümer vererben. Hierüber herrschte, als er abgegangen war, laute Freude bei dem Mädchen und ihrer Pflegemutter, der braven Pächtersfrau.

»Wer ist denn die schreckliche Person?« fragte Diederich, bevor er es bedacht hatte. Frau von Wulckow war erstaunt.

»Es ist doch die komische Alte vom Stadttheater. Wir hatten sonst niemand für die Rolle; aber meine Nichte spielt ganz gern mit ihr.«

Und Diederich erschrak; mit der schrecklichen Person hatte er die Nichte gemeint. »Das Fräulein Nichte ist ganz reizend«, beteuerte er schnell und blinzelte entzückt nach dem dicken roten Gesicht, das gleich auf den Schultern saß – und es waren Wulckows Schultern! »Talent hat sie aber auch«, setzte er der Sicherheit wegen hinzu. Frau von Wulckow wisperte: »Passen Sie nur auf« – und da kam aus der Kulisse Assessor Jadassohn. Welch eine Überraschung! Er hatte ganz neue Bügelfalten und trug in seinem imposant geschweiften Cutaway eine riesenhafte Plastronkrawatte mit einem roten Funkelstein von entsprechendem Umfang. Aber so sehr der Stein auch funkelte, Jadassohns Ohren überstrahlten ihn. Da sein Kopf frisch geschoren und sehr platt war, standen die Ohren frei heraus und beleuchteten wie zwei Lampen seine festliche Pracht. Er spreizte die gelb behandschuhten Hände, als plädierte er für viele Jahre Zuchthaus; und tatsächlich sagte er der Nichte, die geradezu konsterniert schien, und der heulenden komischen Alten die peinlichsten Dinge ... Frau von Wulckow wisperte: »Er ist ein schlechter Charakter.«

»Und ob«, sagte Diederich mit Überzeugung.

»Kennen Sie denn mein Stück?«

»Ach so. Nein. Aber ich sehe schon, was er will.«

Nämlich Jadassohn, der der Sohn und Erbe des alten Grafen Kunze war, hatte gelauscht und war durchaus nicht gesonnen, die Hälfte seiner ihm von Gott verliehenen Besitztümer an die Nichte abzutreten. Er verlangte gebieterisch, daß sie augenblicklich das Feld räume; widrigenfalls er sie als Erbschleicherin verhaften und Kunze entmündigen lassen werde.

»Das ist eine Gemeinheit«, bemerkte Diederich. »Sie ist doch seine Schwester.« Die Dichterin erklärte ihm: »Nun ja. Aber andererseits hat er recht, wenn er ein Fideikommiß aus den Gütern machen will. Er arbeitet eben für das ganze Geschlecht, mag auch der einzelne zu kurz kommen. Für die heimliche Gräfin ist das natürlich tragisch.«

»Wenn man es recht bedenkt –«, Diederich war hocherfreut. Dieser aristokratische Gesichtspunkt kam auch ihm selbst zustatten, wenn er keine Neigung fühlte, Magda bei ihrer Verheiratung am Geschäft zu beteiligen.

»Frau Gräfin, Ihr Stück ist erstklassig«, sagte er, durchdrungen. Aber da zog Frau von Wulckow ihn angstvoll am Arm: im Publikum entstanden Geräusche, es scharrte, schnupfte sich aus und kicherte. »Er übertreibt«, stöhnte die Dichterin. »Ich habe es ihm immer gesagt.«

Denn Jadassohn führte sich wirklich unerhört auf. Die Nichte samt der komischen Alten klemmte er hinter den Tisch ein und füllte mit den tobenden Bekundungen seiner gräflichen Persönlichkeit die ganze Bühne. Je mehr das Haus ihn mißbilligte, desto herausfordernder lebte er dort oben sich aus. Jetzt zischte man sogar; ja, mehrere wandten sich nach der Tür um, hinter der Frau von Wulckow bebte, und zischten. Vielleicht geschah es nur, weil die Tür kreischte – aber die Dichterin fuhr zurück, sie verlor den Zwicker und tastete in hilflosem Entsetzen durch die Luft, bis Diederich ihn ihr zurückbrachte. Er versuchte, sie zu trösten. »Es hat nichts zu sagen, Jadassohn geht doch hoffentlich bald ab?« Sie horchte durch die geschlossene Tür. »Ja, Gott sei Dank«, plapperte sie, und die Zähne schlugen ihr aufeinander. »Jetzt ist er fertig, jetzt flieht meine Nichte mit der komischen Alten, und dann kommt Kunze wieder mit dem Leutnant, wissen Sie.«

»Ein Leutnant spielt auch mit?« fragte Diederich achtungsvoll.

»Ja, das heißt, er ist noch auf dem Gymnasium, er ist ein Sohn des Herrn Landgerichtsdirektors Sprezius: der arme Verwandte, wissen Sie, den der alte Graf seiner Tochter zum Mann geben will. Er verspricht dem Alten, daß er die heimliche Gräfin in der ganzen Welt suchen wird.«

»Sehr begreiflich«, sagte Diederich. »Es liegt in seinem eigenen Interesse.«

»Sie werden sehen, er ist ein edler Mensch.«

»Aber Jadassohn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Gräfin, den hätten Sie nicht mitspielen lassen sollen«, sagte Diederich vorwurfsvoll und mit heimlicher Genugtuung. »Schon wegen der Ohren.«

Frau von Wulckow sagte niedergeschlagen: »Ich dachte nicht, daß sie auf der Bühne so wirken würden. Glauben Sie nun, daß es ein Mißerfolg wird?«

»Frau Gräfin!« Diederich legte die Hand auf das Herz. »Ein Stück wie die ›Heimliche Gräfin‹ ist nicht so leicht umzubringen!«

»Nicht wahr? Es kommt beim Theater doch wohl auf die künstlerische Bedeutung an.«

»Gewiß. Freilich, so ein Paar Ohren haben auch viel Einfluß« – und Diederich machte ein bedenkliches Gesicht.

Frau von Wulckow rief flehend aus: »Wo doch der zweite Akt noch viel besser ist! Er spielt in einer protzigen Fabrikantenfamilie, und die heimliche Gräfin dient dort als Stubenmädchen. Dann ist da ein Klavierlehrer, kein feiner Mensch, eine der Töchter hat er sogar geküßt, und nun macht er der Gräfin einen Heiratsantrag, den sie natürlich weit von sich weist. Ein Klavierlehrer! Wie könnte sie!«

Diederich bestätigte, es sei ausgeschlossen.

»Aber nun sehen Sie, wie tragisch: die Tochter, die sich von dem Klavierlehrer hat küssen lassen, verlobt sich auf einem Ball mit einem Leutnant, und wie der Leutnant ins Haus kommt, da ist es derselbe Leutnant, der –«

»O Gott, Frau Gräfin!« Diederich streckte schützend die Hände vor, ganz erregt durch so viele Verwicklungen. »Wie kommen Sie nur auf all die Geschichten?«

Die Dichterin lächelte leidenschaftlich.

»Ja, nämlich das ist das Interessanteste: Nachher weiß man es nicht mehr. Es geht so geheimnisvoll zu im Gemüt! Manchmal denke ich mir, ich muß es geerbt haben.«

»Haben Sie denn so viele Dichter in Ihrer werten Familie?«

»Das nicht. Aber wenn nicht mein großer Vorfahre die Schlacht bei Kröchenwerda gewonnen hätte, wer weiß, ob ich die ›Heimliche Gräfin‹ geschrieben haben würde. Es kommt schließlich immer auf das Blut an!«

Bei dem Namen der Schlacht machte Diederich einen Kratzfuß, und er wagte nichts mehr zu fragen.

»Jetzt muß gleich der Vorhang fallen«, sagte Frau von Wulckow. »Hören Sie etwas?«

Er hörte nichts; nur für die Dichterin gab es nicht Tür noch Wände. »Jetzt schwört der Leutnant der fernen Gräfin die ewige Treue«, flüsterte sie. »So«; und alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Gleich darauf schoß es heftig zurück; man klatschte: nicht stürmisch; aber man klatschte. Die Tür ward von drinnen geöffnet. Dort hinten rollte nochmals der Vorhang hinauf, und da der junge Sprezius und die Wulckowsche Nichte hervorkamen, ward der Beifall lebhafter. Plötzlich schnellte aus der Kulisse Jadassohn, pflanzte sich vor die beiden und machte Miene, den Erfolg einzuheimsen – worauf gezischt ward. Frau von Wulckow wandte sich entrüstet ab. Der Schwiegermutter des Bürgermeisters Scheffelweis und der Landgerichtsrätin Harnisch, die ihr Glück wünschten, erklärte sie: »Herr Assessor Jadassohn ist als Staatsanwalt unmöglich. Ich werde es meinem Mann sagen.«

Die Damen gaben den Ausspruch sofort weiter und hatten viel Erfolg damit. Plötzlich war die Spiegelgalerie voll von Gruppen, die über Jadassohns Ohren herfielen. »Die Präsidentin hat recht wacker gedichtet; nur Jadassohns Ohren –« Als man hörte, daß Jadassohn im zweiten Akt nicht mehr wiederkomme, war man doch enttäuscht. Wolfgang Buck ging mit Guste Daimchen auf Diederich zu. »Haben Sie gehört?« fragte er »Jadassohn soll eine Amtshandlung vornehmen und seine Ohren konfiszieren.« Diederich sagte mißbilligend: »Ich mache keine Witze, wenn es jemandem schlecht geht.« Und dabei überwachte er eifrig die Blicke, die Buck und seine Begleiterin trafen. Alle Mienen lebten auf, wenn sie die beiden erblickten; Jadassohn war vergessen. Vom Ausgang trug die dünne Schreistimme des Professors Kühnchen etwas durch den Wirrwarr, das klang wie »Affenschande«. Da die Pastorin Zillich ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legte, wandte er sich her, und jetzt verstand man es deutlich: »Eine ausgewachsene Affenschande ist es!«

Guste sah sich um; sie bekam Schlitzaugen. »Dort sprechen sie auch davon«, sagte sie geheimnisvoll.

»Wovon?« stammelte Diederich.

»Wir wissen schon. Und wer es aufgebracht hat, weiß ich auch.«

Hier brach Diederich der Schweiß aus. »Was haben Sie denn?« fragte Guste. Buck, der durch die Seitentür nach dem Büffet schielte, sagte phlegmatisch: »Heßling ist ein vorsichtiger Politiker, er hört nicht gern mit an, daß der Bürgermeister zwar einerseits ein guter Ehemann ist, aber andererseits auch seiner Schwiegermutter nichts abschlagen kann.«

Sofort ward Diederich dunkelrot.

»Das ist eine Gemeinheit! Wie kann jemand sich solch eine Gemeinheit ausdenken!«

Guste kicherte heftig. Buck blieb unbewegt. »Erstens scheint es Tatsache zu sein, denn die Frau Bürgermeister hat die beiden überrascht und sich einer Freundin anvertraut. Dann aber lag es ja auf der Hand.«

Guste brachte hervor: »Na Sie, Herr Doktor, wären natürlich nie darauf gekommen.« Dabei blinzelte sie verliebt ihrem Verlobten zu. Diederich blitzte. »Aha!« sagte er stramm. »Jetzt weiß ich freilich genug!« Und er drehte ihnen den Rücken. Sie erfanden also selbst Gemeinheiten, noch dazu über den Bürgermeister! Diederich durfte den Kopf hoch tragen. Er stieß zu der Gruppe Kühnchens, die sich nach dem Büffet hin bewegte und ein Kielwasser von sittlicher Entrüstung hinterließ. Die Schwiegermutter des Bürgermeisters schwur mit rotem Gesicht, »diese Gesellschaft« werde ihr Haus künftig nur noch von außen sehen, und mehrere Damen schlossen sich ihrem Vorsatz an, trotz Abraten des Warenhausbesitzers Herrn Cohn, der bis auf weiteres alles in Zweifel zog, weil eine derartige sittliche Entgleisung bei einem bewährten alten Liberalen wie dem Herrn Buck ganz ausgeschlossen erscheine. Professor Kühnchen war vielmehr der Meinung, daß ein zu weitgehender Radikalismus auch die Moral gefährde. Selbst Doktor Heuteufel, der doch die Sonntagsfeiern für freie Menschen veranstaltete, machte die Bemerkung, an Familiensinn, man könne auch sagen Nepotismus, habe es dem alten Buck niemals gefehlt. »Beispiele dafür liegen Ihnen allen auf der Zunge. Und daß er jetzt, um das Geld in der Familie zu erhalten, sich anschickt, seine unehelichen Kinder mit seinen ehelichen zu verheiraten, das, meine Herrschaften, würde ich ärztlich als greisenhafte Ausschreitung einer früher noch beherrschten Naturanlage diagnostizieren.« Hierbei bekamen die Damen erschreckte Gesichter, und die Pastorin Zillich schickte ihr Käthchen in die Garderobe nach ihrem Schnupftuch.

Auf ihrem Wege kam Käthchen an Guste Daimchen vorbei, aber sie begrüßte sie nicht, sondern schlug die Augen nieder; da machte Guste ein betretenes Gesicht. Am Büffet bemerkte man es und äußerte Mißbilligung, vermischt mit Mitleid. Guste mußte nun eben erfahren, was es hieß, sich über die öffentliche Moral hinwegzusetzen. Mochte ihr zugebilligt werden, daß sie vielleicht getäuscht und schlecht beeinflußt sei: Frau Oberinspektor Daimchen aber, die wußte doch wohl Bescheid, und sie war gewarnt! Die Schwiegermutter des Bürgermeisters berichtete von ihrem Besuch bei Gustes Mutter und von ihren vergeblichen Anstrengungen, durch Anklopfen ein Geständnis hervorzulocken aus der verhärteten alten Frau, der eine legitime Verbindung mit dem Hause Buck wohl einen Jugendtraum erfüllte! ...

»Na, und der Herr Rechtsanwalt Buck!« kreischte Kühnchen. Tatsächlich, wen wollte dieser Herr glauben machen, daß er über die neue Schande, die seine Familie traf, nicht genau unterrichtet sei? Waren ihm die Verbrechen im Hause Lauer etwa unbekannt gewesen? Und doch sah man ihn nicht zögern, die schmutzige Wäsche seiner Schwester und seines Schwagers öffentlich vor Gericht auszubreiten, nur um von sich reden zu machen! Doktor Heuteufel, den es noch immer drängte, seine eigene Haltung im Prozeß nachträglich zu verbessern, erklärte: »Das ist kein Verteidiger, das ist ein Komödiant!« Und als Diederich zu bedenken gab, Buck habe nun einmal gewisse, wenn auch anfechtbare Überzeugungen in Politik und Moral, da ward ihm erwidert: »Herr Doktor, Sie sind sein Freund. Daß Sie für ihn eintreten, spricht zu Ihren Gunsten, aber Sie machen uns nichts weis« – worauf Diederich sich zurückzog, mit bekümmerter Miene, aber nicht ohne einen Blick auf den Redakteur Nothgroschen, der bescheiden an einer Schinkensemmel kaute und alles hörte.

Plötzlich entstand eine Stille, denn drinnen, nahe der Bühne, erblickte man den alten Herrn Buck in einem Kreis junger Mädchen. Es schien, er erklärte ihnen die Malereien an den Wänden, das Leben von ehemals, das verblichen und heiter den ganzen Saal umgab, mit dem Umkreis der Stadt, wie sie gewesen war, mit verschwundenen Wiesen und Gärten und den Menschen allen, lärmend einst als Herren hier in diesem Festhaus, nun aber in hingetäuschte Tiefen gebannt vor dem Geschlecht, das eben jetzt lärmte ... Jetzt sah es gar aus, als ahmten sie, die Mädchen und der Alte, den Figuren nach. Gerade über ihnen war das Burgtor abgebildet, und ein Herr in Perücke und Amtskette trat heraus, derselbe, der aus Marmor zu Häupten der Treppe stand. In dem lieblichen Gehölz voller Blumen aber, das damals wohl dort, statt der Papierfabrik Gausenfeld, geblüht hatte, tanzten ihm helle Kinder entgegen, warfen einen Kranz über ihn und wollten ihn damit umherdrehen. Der Widerschein von rosigen kleinen Wolken fiel auf sein glückliches Gesicht. So glücklich lächelte in diesem Augenblick auch der alte Buck, ließ sich von den Mädchen hin und her ziehen und war von ihnen gefangen, wie in einem lebenden Kranz. Seine Sorglosigkeit war unbegreiflich, sie war aufreizend. Hatte er schon sein Gewissen bis zu dem Grade abgestumpft, daß er seine natürliche Tochter – » Unsere Töchter sind eben doch keine natürlichen Kinder«, sagte Frau Warenhausbesitzer Cohn. »Meine Sidonie mit Guste Daimchen Arm in Arm!« ... Buck und seine jungen Freundinnen merkten gar nicht, daß sie sich am Ende eines leeren Raumes befanden. Vorn bildete feindliches Publikum eine Mauer; die Augen fingen zu funkeln an, und der Mut wuchs. »Die Familie ist die längste Zeit obenauf gewesen! Einen haben sie schon in der Vogtei, gleich kommt Nummer zwei!« – »Das ist ja der reinste Rattenfänger!« murrte es; und drüben: »Ich sehe es nicht noch länger mit an!« Jäh entrangen sich zwei Damen dem allgemeinen Druck, nahmen einen Anlauf und durchkreuzten den leeren Raum. Frau Rat Harnisch, die in ihrer roten Samtschleppe dahinkugelte, traf am Ziel pünktlich auf die gelbe Frau Cohn, mit demselben Griff bemächtigte die eine sich ihrer Sidonie, die andere ihrer Meta, und welch eine Genugtuung, als sie wieder anlangten! »Ich war einer Ohnmacht nahe«, sagte die Pastorin Zillich, da nun gottlob auch Käthchen sich einfand.

Die gute Laune kehrte zurück, man scherzte über den alten Sünder und verglich ihn mit dem Grafen im Stück der Präsidentin. Freilich, Guste war keine heimliche Gräfin; in einer Dichtung konnte man, der Präsidentin zu Gefallen, mit solchen Zuständen sympathisieren. Übrigens waren sie dort noch erträglich, denn die Gräfin sollte nur ihren Vetter heiraten, während Guste –!

Der alte Buck, der niemand mehr um sich sah als seine künftige Schwiegertochter und eine seiner Nichten, bekam eine fragende Miene; ja, unter den Blicken, die ihn in seiner Verlassenheit musterten, ward er sichtlich verlegen. Man machte einander darauf aufmerksam – und Diederich sogar fragte sich, ob Frau Heßlings alte Skandalgeschichte denn etwa wahr sei? Da er das Phantom, das er selbst in die Welt geschickt hatte, hier einen Körper annehmen und immer drohender um sich greifen sah, war ihm sehr bange geworden. Diesmal galt es nicht irgendeinem Lauer, es galt dem alten Herrn Buck, der ehrwürdigsten Figur aus Diederichs Kindertagen, dem großen Mann der Stadt, der Verkörperung ihres Bürgersinnes, dem zum Tode Verurteilten von achtundvierzig! Im eigenen Herzen fühlte Diederich ein Sträuben gegen sein Unterfangen. Auch schien es Wahnwitz; ein Streich wie dieser zerschmetterte den Alten noch längst nicht. Kam es aber heraus, wer der Urheber war, dann mußte Diederich darauf gefaßt sein, daß alle sich gegen ihn wendeten ... Gleichwohl blieb es ein Streich, und er hatte getroffen. Jetzt war es nicht mehr bloß die Familie, die bröckelte und an dem Alten als Last hing: der Bruder vor dem Bankerott, der Schwiegersohn im Gefängnis, die Tochter auf Reisen mit einem Liebhaber und von den Söhnen einer verbauert, der andere verdächtig durch Gesinnung und Lebensführung – jetzt schwankte er, zum ersten Male, selbst. Herunter mit ihm, damit Diederich hinaufkam! Trotzdem war es Diederich bange bis in den Leib hinein, er machte sich auf, um die Nebenräume zu besuchen.

Er lief, denn es klingelte schon zum zweiten Akt: da stieß er mit der Schwiegermutter des Bürgermeisters zusammen, die es aus einem anderen Grund ebenso eilig hatte. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß ihr Schwiegersohn, gelenkt von seiner Frau, sich auf den alten Buck zu bewege und ihn mit seiner Autorität decke. »Mit deiner Autorität als Bürgermeister, einen solchen Skandal!« Sie war heiser vor Aufregung. Die Frau aber mit ihrer grellen kleinen Stimme blieb dabei, die Bucks seien nun einmal die feinsten Leute hier, und noch gestern habe Milli Buck ihr ein fabelhaftes Schnittmuster gegeben. Mit versteckten Püffen trieb jede ihn nach ihrer Seite; er gab ihnen abwechselnd recht, seine blassen Bartkotelettes flohen nach links und nach rechts, und er hatte Augen wie ein Hase. Die Vorübergehenden stießen einander an und wiederholten flüsternd als einen Witz, was Diederich durch Wolfgang Buck wußte. Angesichts so wichtiger Vorgänge vergaß er seine Leibschmerzen, blieb stehen und beschrieb einen herausfordernden Gruß. Der Bürgermeister gab sich Haltung, verließ seine Damen, er streckte Diederich die Hand hin. »Mein lieber Doktor Heßling, es freut mich, das ist einmal ein gelungenes Fest, wie?«

Aber Diederich zeigte sich gar nicht geneigt, auf die nichtssagende Herzlichkeit einzugehen, die Doktor Scheffelweis so sehr liebte. Er richtete sich auf wie das Verhängnis und blitzte.

»Herr Bürgermeister, ich fühle mich nicht berechtigt, Sie im unklaren zu lassen über gewisse Dinge, die –«

»Die?« fragte Doktor Scheffelweis, erbleicht.

»Die vorgehn«, sagte Diederich nicht ohne Härte. Der Bürgermeister bat um Erbarmen. »Ich weiß doch schon. Es ist die fatale Geschichte mit unserem allverehrten – ich wollte sagen, die Schweinerei des alten Buck«, flüsterte er vertraulich. Diederich blieb kalt.

»Es ist mehr. Sie dürfen sich nicht länger täuschen, Herr Bürgermeister: es betrifft Sie selbst.«

»Junger Mann, ich muß doch bitten ...«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Bürgermeister!«

Doktor Scheffelweis irrte, wenn er hoffte, dieser Kelch sei durch Aufbegehren besser abzuwenden als durch Flehen! Er war in Diederichs Hand; die Spiegelgalerie hatte sich geleert, auch die beiden Damen verschwanden dahinten im Gedränge.

»Buck und Genossen führen einen Gegenschlag«, sagte Diederich sachlich. »Sie sind entlarvt und rächen sich.«

»An mir?« Der Bürgermeister hüpfte auf.

»Verleumdungen, ich wiederhole: infame Verleumdungen werden gegen Sie gerichtet. Kein Mensch würde sie glauben, aber in diesen Zeiten der politischen Kämpfe –«

Er beendete nicht, sondern hob die Schultern. Doktor Scheffelweis war sichtlich kleiner geworden. Er wollte Diederich ansehen, irrte aber ab. Da bekam Diederich die Stimme des Gerichts.

»Herr Bürgermeister! Sie erinnern sich an unsere erste Unterredung in Ihrem Hause, mit Herrn Assessor Jadassohn. Ich habe Sie schon damals darauf vorbereitet, daß ein neuer Geist in die Stadt einziehen werde. Die schlappe demokratische Gesinnung hat abgewirtschaftet! Stramm national muß man heut sein! Sie waren gewarnt!«

Doktor Scheffelweis stand Rede.

»Ich war innerlich schon immer auf Ihrer Seite, lieber Freund: um so mehr, als ich ein besonderer Verehrer Seiner Majestät bin. Unser herrlicher junger Kaiser ist ein so origineller Denker ... impulsiv ... und ...«

»Die persönlichste Persönlichkeit«, ergänzte Diederich streng.

Der Bürgermeister sprach nach: »Persönlichkeit ... Aber ich in meiner Stellung, die nach beiden Seiten blickt, kann Ihnen auch heute nur wiederholen: Schaffen Sie neue Tatsachen!«

»Und mein Prozeß? Ich habe die Feinde Seiner Majestät glatt zerschmettert!«

»Ich habe Ihnen nichts in den Weg gelegt. Ich habe Sie sogar beglückwünscht.«

»Mir nicht bekannt.«

»Wenigstens im stillen.«

»Heute muß man sich offen entscheiden, Herr Bürgermeister. Seine Majestät haben es selbst gesagt: Wer nicht für mich ist, ist wider mich! Unsere Bürger sollen endlich aus dem Schlummer erwachen und bei der Bekämpfung der umwälzenden Elemente selbst mit Hand anlegen!«

Hier schlug Doktor Scheffelweis die Augen nieder. Um so gebieterischer reckte sich Diederich.

»Wo aber bleibt der Bürgermeister?« fragte er, und seine Frage klang in einer drohenden Stille so lange nach, bis Doktor Scheffelweis sich entschloß, ihn anzublinzeln. Zum Sprechen brachte er es nicht; Diederichs Erscheinung, blitzend, gesträubt und blond gedunsen, verschlug ihm die Rede. In fliegender Verwirrung dachte er: ›Einerseits – andererseits‹ – und blinzelte immerfort das Bild der neuen Jugend an, die wußte, was sie wollte, den Vertreter der harten Zeit, die nun kam!

Diederich, mit herabgezogenen Mundwinkeln, nahm die Huldigung entgegen. Er genoß einen der Augenblicke, in denen er mehr bedeutete als sich selbst und im Geiste eines Höheren handelte. Der Bürgermeister war länger als er, aber Diederich sah auf ihn hinunter, als hätte er gethront. »Nächstens haben wir Stadtverordnetenwahlen: da kommt es nun ganz auf Sie an«, äußerte er gnädig und knapp. »Der Prozeß Lauer hat einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkt. Die Leute haben Angst vor mir. Wer mir behilflich sein will, ist mir willkommen; wer sich mir entgegenstellt –«

Den Nachsatz wartete Doktor Scheffelweis nicht ab. »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, flüsterte er beflissen, »Freunde des Herrn Buck dürfen nicht mehr gewählt werden.«

»Das liegt in Ihrem eigensten Interesse. Bei den Schlechtgesinnten untergräbt man Ihren guten Ruf, Herr Bürgermeister! Könnten Sie es heute überleben, daß die Gutgesinnten den abscheulichen Verleumdungen nicht mehr widersprechen?« Eine Pause, in der Doktor Scheffelweis zitterte; dann wiederholte Diederich, ermutigend: »Es kommt nur auf Sie an.« – Der Bürgermeister murmelte: »Ihre Energie und anständige Gesinnung in Ehren –«

»Meine hochanständige Gesinnung!«

»Freilich ... Aber Sie sind ein politischer Heißsporn, mein junger Freund. Die Stadt ist noch nicht reif für Sie. Wie wollen Sie mit ihr fertig werden?«

Statt einer Antwort trat Diederich plötzlich zurück und machte einen Kratzfuß. Im Eingang stand Wulckow.

 

Er kam herbei unter elastischem Schwenken des Bauches, legte seine schwarze Tatze dem Doktor Scheffelweis auf die Schulter und sagte dröhnend: »Na, Bürgermeisterchen, so solo hier? Ihre Stadtverordneten haben Sie wohl hinausgeworfen?« – worauf Doktor Scheffelweis bleich mitlachte. Aber Diederich sah sich heftig besorgt nach der Saaltür um, die noch offenstand. Er trat vor Wulckow hin, so daß der Präsident von drinnen nicht zu sehen war, und flüsterte ihm einige Worte zu, infolge deren der Präsident sich abwandte und seine Kleider ordnete. Dann sagte er zu Diederich: »Sie sind wirklich sehr brauchbar, Doktorchen.«

Diederich lächelte geschmeichelt. »Ihre Anerkennung, Herr Präsident, macht mich glücklich.«

Wulckow äußerte gnädig: »Sie können gewiß auch sonst noch allerlei. Wir müssen mal drüber reden.« Er streckte den Kopf vor, braunfleckig, mit slawischen Backenknochen, und glotzte Diederich an, aus den Mongolenfalten seiner Augen, die voll einer warmblütigen, schalkhaften Gewaltsamkeit waren: – glotzte, bis Diederich schnaufte. Dieser Erfolg schien Wulckow zu befriedigen. Er bürstete vor dem Spiegel seinen Bart, zerdrückte ihn aber sogleich wieder auf dem Frackhemd, weil er den Kopf wie ein Stier trug, und sagte: »Nu los! Der Klimbim ist wohl schon im Gange?« Und in der Mitte zwischen Diederich und dem Bürgermeister schickte er sich an, mit Wucht die Vorstellung zu stören: da kam vom Büffet her eine dünne Stimme: »Ach Gott, Ottochen!«

»Na, da ist sie«, brummte Wulckow, und er ging seiner Frau entgegen. »Dachte mir schon, wenn es zum Klappen kommt, scheut sie. Mehr Reitergeist, meine beste Frieda!«

»Ach Gott, Ottochen, ich hab nun mal solche grauenhafte Angst!« Zu den beiden andern Herren gewandt, plauderte sie geläufig, wenn auch bebend: »Ich weiß wohl, man sollte freudigeren Herzens in die Schlacht gehen.«

»Besonders«, sagte Diederich schlagfertig, »wenn sie im voraus gewonnen ist.« Und er verneigte sich ritterlich. Frau von Wulckow berührte ihn mit dem Fächer.

»Herr Doktor Heßling hat mir nämlich schon während des ersten Aktes hier draußen Gesellschaft geleistet. Er hat Sinn für das Schöne, er gibt einem sogar nützliche Winke.«

»Hab ich gemerkt«, sagte Wulckow; und indes Diederich abwechselnd ihm und seiner Frau dankerfüllte Kratzfüße machte, setzte der Präsident hinzu: »Bleiben wir lieber gleich beim Büffet.«

»Das war auch mein Schlachtplan«, plauderte Frau von Wulckow. »Um so mehr, als ich jetzt festgestellt habe, daß man hier eine kleine Tür nach dem Saal öffnen kann. So erfreut man sich der von den Ereignissen unberührten Isoliertheit, die ich nun einmal brauche, und bleibt dennoch au fait.«

»Bürgermeisterchen«, sagte Wulckow und schnalzte, »den Hummersalat sollten Sie sich auch kaufen.« Er zog Doktor Scheffelweis am Ohr und setzte hinzu: »In der Sache mit dem städtischen Arbeitsnachweis hat der Magistrat mal wieder eine jammervolle Rolle gespielt.«

Der Bürgermeister aß gehorsam und hörte gehorsam zu – indes Diederich neben Frau von Wulckow nach der Bühne ausspähte. Dort hatte Magda Heßling Klavierstunde, und der Lehrer, ein dunkellockiger Virtuose, küßte sie feurig, was sie nicht übel zu vermerken schien. ›Kienast dürfte das nicht sehen‹, dachte Diederich, aber auch im eigenen Namen fühlte er sich gekränkt. Er äußerte: »Finden Frau Gräfin nicht doch, daß der Klavierlehrer zu naturalistisch spielt?«

Die Dichterin erwiderte befremdet: »Ganz so lag es in meiner Intention.«

»Ich meinte auch nur«, sagte Diederich unsicher – und dann erschrak er, denn in der Tür erschien Frau Heßling oder eine Dame, die ihr ähnlich sah. Emmi kam auch, und das Paar war ertappt, man schrie und weinte. Um so lauter sprach Wulckow: »Nee, Bürgermeister. Auf den alten Buck können Sie sich diesmal nicht rausreden. Wenn er damals den städtischen Arbeitsnachweis durchgedrückt hat: die Anwendung tut es, die ist Ihre Sache.«

Doktor Scheffelweis wollte etwas vorbringen, aber Magda schrie, sie denke nicht daran, den Menschen zu heiraten, dafür sei das Dienstmädchen gut genug. Die Dichterin bemerkte: »Das muß sie noch ordinärer bringen. Es sind doch Parvenüs.«

Und Diederich lächelte zustimmend, obwohl er arg betreten war durch diese Zustände in einem Heim, das dem seinen glich. Innerlich gab er Emmi recht, die erklärte, der Skandal müsse sogleich aus der Welt geschafft werden, und die das Dienstmädchen hereinrief. Aber wie das Mädchen sich zeigte, verdammt, da war es die heimliche Gräfin! In die Stille, die ihr Auftreten bewirkte, tönte Wulckows Baßstimme: »Bleiben Sie mir mal weg mit dem Schwindel von Ihren sozialen Pflichten. Die Landwirtschaft ruinieren soll sozial sein?«

Im Publikum wandten mehrere sich um; die Dichterin wisperte angstvoll: »Ottochen, um Gottes willen!«

»Was ist denn los?« Er trat in die Tür. »Nun sollen sie mal zischen!«

Niemand zischte. Er wandte sich wieder dem Bürgermeister zu: »Mit Ihrem Arbeitsnachweis ziehen Sie unsereinem, der im Osten begütert ist, die Arbeiter fort, das ist mal sicher. Und ferner: Sie haben sogar Vertreter der Arbeiter in Ihrem miserablen Arbeitsnachweis – und dabei vermitteln Sie auch für die Landwirtschaft. Wohin steuern Sie also? Nach der Koalition der Landarbeiter. Sehen Sie wohl, Bürgermeisterchen?« Seine Tatze fiel auf Doktor Scheffelweis' nachgiebige Schulter. »Wir kommen Ihnen hinter die Schliche. Wird nicht geduldet!«

Auf der Bühne sprach die Wulckowsche Nichte ins Publikum, denn die Fabrikantenfamilie durfte nichts hören: »Wie? Ich, ein Grafenkind, einen Klavierlehrer heiraten? Das sei ferne von mir. Wenn die Leute mir auch eine Ausstattung versprechen, für Geld mögen andere sich erniedrigen. Ich aber weiß, was ich meiner edlen Geburt schuldig bin!«

Hier ward applaudiert. Frau Harnisch und Frau Tietz sah man Tränen fortwischen, die der Edelsinn der Gräfin ihnen hatte entquellen lassen. Aber die fortgewischten Tränen kamen wieder, als die Nichte sagte: »Doch ach! Wo finde ich als Dienstmädchen einen ebenso Hochgeborenen.«

Der Bürgermeister mußte eine Erwiderung gewagt haben, denn Wulckow grollte: »Dafür, daß es weniger Arbeitslose gibt, will ich nicht bluten. Mein Geld ist mein Geld.«

Da konnte Diederich sich nicht länger enthalten, ihm mit einem Kratzfuß zu danken. Aber auch die Dichterin bezog mit Recht seinen Kratzfuß auf sich.

»Ich weiß«, sagte sie, selbst gerührt, »die Stelle ist mir gelungen.«

»Das ist Kunst, die zum Herzen spricht«, stellte Diederich fest. Da Magda und Emmi das Klavier und die Türen zuschlugen, ergänzte er: »Und hochdramatisch.« Hierauf nach der andern Seite: »Nächste Woche werden zwei Stadtverordnete gewählt, für Lauer und Buck junior. Gut, daß der von selbst geht.« Wulckow sagte: »Dann sorgen Sie nur dafür, daß anständige Leute reinkommen. Sie sollen ja mit der ›Netziger Zeitung‹ gut stehen.«

Diederich dämpfte vertraulich die Stimme. »Ich halte mich vorläufig noch zurück, Herr Präsident. Für die nationale Sache ist es besser.«

»Sieh mal an«, sagte Wulckow; und wirklich sah er Diederich durchdringend an. »Sie möchten sich wohl selbst wählen lassen?« fragte er.

»Ich würde das Opfer bringen. Unsere städtischen Körperschaften haben zuwenig Mitglieder, die in nationaler Beziehung zuverlässig sind.«

»Und was wollen Sie machen, wenn Sie drin sind?«

»Dafür sorgen, daß der Arbeitsnachweis aufhört.«

»Na ja«, sagte Wulckow, »als nationaler Mann.«

»Ich als Offizier«, sagte auf der Bühne der Leutnant, »kann nicht dulden, liebe Magda, daß dieses Mädchen, wenn es auch nur eine arme Dienstmagd ist, irgendwie mißhandelt wird.«

Der Leutnant aus dem ersten Akt, der arme Vetter, der die heimliche Gräfin hätte heiraten sollen, er war Magdas Verlobter! Man fühlte die Zuschauer vor Spannung beben. Die Dichterin bemerkte es selbst. »Die Erfindung ist aber auch meine starke Seite«, sagte sie zu Diederich, der tatsächlich verblüfft war. Doktor Scheffelweis hatte keine Zeit, sich den Emotionen der dramatischen Dichtung zu überlassen; er sah sich gefährdet.

»Niemand«, beteuerte er, »würde freudiger einen Geist –« Wulckow unterbrach ihn.

»Kennen wir, Bürgermeisterchen. Freudig begrüßen können Sie, wenn's nichts kostet.«

Diederich setzte hinzu: »Aber einen glatten Strich ziehen zwischen Kaisertreuen und Umsturz!«

Der Bürgermeister hob flehend die Arme. »Meine Herren! Verkennen Sie mich nicht, ich bin zu allem bereit. Aber mit dem Strich ist nicht geholfen, denn bei uns hier bedeutet er bloß, daß fast alle, die nicht freisinnig wählen, sozialdemokratisch wählen.«

Wulckow stieß ein wütendes Grunzen aus, worauf er sich eine Wurst vom Büffet langte. Diederich war es, der eiserne Zuversicht bekundete.

»Wenn die guten Wahlen nicht von selbst kommen, müssen sie eben gemacht werden!«

»Aber womit?« sagte Wulckow.

Die Wulckowsche Nichte ihrerseits rief ins Publikum: »Er muß doch sehen, daß ich eine Gräfin bin, er, der demselben edlen Stamme entsprossen ist!«

»Oh! Frau Gräfin!« sagte Diederich. »Jetzt bin ich wirklich neugierig, ob er es sieht.«

»Selbstverständlich«, erwiderte die Dichterin. »Sie erkennen einander doch schon an den besseren Manieren.«

In der Tat warfen der Leutnant und die Nichte sich Blicke zu, weil Emmi und Magda samt Frau Heßling einen Käse mit dem Messer aßen. Diederich behielt den Mund offen. Im Publikum bewirkte das ungebildete Betragen der Fabrikantenfamilie die freudigste Stimmung. Die Töchter Buck, Frau Cohn und Guste Daimchen, alle jubelten. Auch Wulckow ward aufmerksam; er sog sich das Fett von den Fingern und sagte: »Frieda, du bist fein raus, sie lachen.«

Wirklich blühte die Dichterin erstaunlich auf. Ihre Augen hinter dem Zwicker glänzten wirr, sie seufzte, ihr Busen wallte, es hielt sie nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie wagte sich halb heraus aus dem Büffetzimmer; sofort wandten viele sich nach ihr um, mit neugierigen Gesichtern, und die Schwiegermutter des Bürgermeisters gab ihr Zeichen. Frau von Wulckow rief fieberhaft über die Schulter: »Meine Herren, die Schlacht ist gewonnen!«

»Wenn es bei uns auch so schnell ginge«, sagte ihr Gatte. »Na also, Doktor, wie wollen Sie den Netzigern die Kandare anlegen?«

»Herr Präsident!« Diederich drückte die Hand aufs Herz. »Netzig wird kaisertreu, dafür bürge ich Ihnen mit allem, was ich bin und habe!«

»Schön«, sagte Wulckow.

»Denn«, fuhr Diederich fort, »wir haben einen Agitator, den ich als erstklassig bezeichnen möchte: jawohl, erstklassig«, wiederholte er und umfaßte mit dem Wort alles Große; »und das ist Seine Majestät selbst!«

Doktor Scheffelweis sammelte sich eilig. »Die persönlichste Persönlichkeit«, brachte er hervor. »Originell. Impulsiv.«

»Na ja«, sagte Wulckow. Er stemmte die Fäuste auf die Knie und glotzte dazwischen auf den Boden, in der Haltung eines sorgenvollen Menschenfressers. Auf einmal merkten die beiden andern, daß er sie von unten schief ansah.

»Meine Herren« – er stockte wieder –, »na, ich will Ihnen mal was sagen. Ich glaube, der Reichstag wird aufgelöst.«

Diederich und Doktor Scheffelweis streckten die Köpfe vor, sie wisperten: »Herr Präsident wissen?«

»Der Kriegsminister war neulich mit mir auf der Jagd, bei meinem Vetter, Herrn von Quitzin.«

Diederich machte einen Kratzfuß. Er stammelte, er wußte selbst nicht, was. Er hatte es vorausgesagt! Schon bei seiner Aufnahme in den Kriegerverein hatte er eine Rede Seiner Majestät wiedergegeben – und hatte er sie nur wiedergegeben? Darin kam ausdrücklich vor: »Ich räume die ganze Bude aus!« Und nun sollte es geschehen, ganz so, als handelte er selbst. Es überlief ihn mystisch ... Wulckow sagte inzwischen: »Die Herren Eugen Richter und Konsorten passen uns nicht mehr. Wenn sie die Militärvorlage nicht schlucken, ist Schluß« – und Wulckow strich sich mit der Faust über den Mund, als beginne das Fressen.

Diederich faßte sich. »Das ist – das ist großzügig! Das ist ganz sicher die persönliche Initiative Seiner Majestät!« Doktor Scheffelweis war erbleicht. »Dann sind schon wieder Reichstagswahlen? Und ich war so froh, daß wir unsern bewährten Abgeordneten hatten ...« Er erschrak noch mehr. »Das heißt, natürlich, Kühlemann ist auch ein Freund des Herrn Richter ...«

»Ein Nörgler!« schnaubte Diederich. »Ein vaterlandsloser Geselle!« Er rollte die Augen. »Herr Präsident! Diesmal ist es aus in Netzig mit den Leuten. Lassen Sie mich nur erst Stadtverordneter sein, Herr Bürgermeister!«

»Was dann?« fragte Wulckow. Diederich wußte es nicht. Glücklicherweise entstand im Saal ein Zwischenfall; Stühle wurden gerückt, und jemand ließ sich die große Tür öffnen: Kühlemann selbst war es. Der Greis schleppte seine schwere kranke Masse eilig durch die Spiegelgalerie. Am Büffet fand man, seit dem Prozeß sei er noch mehr verfallen.

»Er hätte Lauer lieber freigesprochen, die anderen Richter haben ihn überstimmt«, sagte Diederich. Doktor Scheffelweis meinte: »Nierensteine führen wohl schließlich zur Auflösung.« Worauf Wulckow humoristisch: »Na, und im Reichstag sind wir seine Nierensteine.«

Der Bürgermeister lachte gefällig. Aber Diederich riß die Augen auf. Er näherte sich dem Ohr des Präsidenten und raunte: »Sein Testament!«

»Was ist damit?«

»Er hat die Stadt zum Erben eingesetzt«, erklärte Doktor Scheffelweis wichtig. »Wahrscheinlich bauen wir von dem Geld ein Säuglingsheim.«

»Bauen Sie?« Diederich feixte verachtungsvoll. »Einen nationaleren Zweck können Sie sich wohl nicht denken?«

»Ach so.« Wulckow nickte Diederich anerkennend zu. »Wieviel Pinke hat er denn?«

»Eine halbe Million wenigstens«, sagte der Bürgermeister, und er beteuerte: »Ich wäre glücklich, wenn es zu machen wäre, daß –«

»Es ist glatt zu machen«, behauptete Diederich.

Da hörte man draußen im Saal ein Lachen, das ganz verschieden klang von dem vorigen. Es kam aus ungehemmter Brust und drückte sichtlich Schadenfreude aus. Auch zog die Dichterin sich fluchtartig bis hinter das Büffet zurück; ja, sie schien bereit, hineinzukriechen. »Grundgütiger Gott!« wimmerte sie. »Alles ist verloren.«

»Nanu?« machte ihr Gatte und stellte sich drohend in die Tür. Aber selbst dieses konnte die Heiterkeit nicht mehr aufhalten. Magda hatte zu der Gräfin gesagt: »Spute dich, du dumme Landpomeranze, daß der Herr Leutnant den Kaffee kriegt.« Eine andere Stimme verbesserte »Tee«, Magda wiederholte »Kaffee«, die andere blieb bei ihrer Meinung und Magda auch. Das Publikum hatte erfaßt, daß ein Mißverständnis zwischen ihr und der Souffleuse vorlag. Übrigens griff der Leutnant mit Glück ein, er schlug die Sporen aneinander und sagte: »Ich bitte um beides« worauf das Lachen einen nachsichtigeren Charakter annahm. Aber die Dichterin war empört. »Das Publikum! Es ist und bleibt eine Bestie!« knirschte sie.

»Schiefgehen kann es immer«, sagte Wulckow – und blinzelte Diederich an.

Diederich erwiderte ebenso bedeutsam: »Wenn man einander versteht, Herr Präsident, dann nicht.«

Hierauf hielt er es für besser, sich ganz der Dichterin und ihrem Werk zu widmen. Mochte der Bürgermeister inzwischen seine Freunde verraten und sich für die Wahlen auf alle Wünsche Wulckows verpflichten!

»Meine Schwester ist eine Gans«, erklärte Diederich. »Ich werde ihr nachher die Meinung sagen!«

Frau von Wulckow lächelte wegwerfend. »Das arme Ding, sie tut, was sie kann. Von seiten der Leute aber ist es wahrhaftig eine unerträgliche Arroganz und Undankbarkeit. Noch soeben hat man sie erhoben und für das Ideale begeistert!«

Diederich sagte durchdrungen: »Frau Gräfin, diese bittere Erfahrung machen nicht Sie allein. So ist es überall im öffentlichen Leben.« Denn er dachte an die allgemeinen Hochgefühle damals nach seinem Zusammenstoß mit dem Majestätsbeleidiger und an die Prüfungen, die dann gefolgt waren. »Schließlich triumphiert doch die gute Sache!« stellte er fest.

»Nicht wahr?« sagte sie mit einem Lächeln, das wie aus Wolken brach. »Das Gute, Wahre, Schöne.«

Sie reichte ihm die schmale Rechte. »Ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns« – und Diederich, des Augenblicks bewußt, drückte kühn die Lippen darauf, mit einem Kratzfuß. Er legte die Hand an das Herz und brachte gepreßt aus der Tiefe: »Glauben Sie mir, Frau Gräfin –«

Die Nichte und der junge Sprezius waren jetzt allein geblieben, hatten sich als erniedrigte Gräfin und armer Vetter erkannt, wußten nun, daß sie einander bestimmt waren, und schwärmten gemeinsam von künftigem Glanz, wenn sie unter goldener Decke mit anderen Ausgezeichneten, demütig stolz, von der Sonne der Majestät beschienen sein würden ... Da hörte Diederich die Dichterin aufseufzen.

»Ihnen kann ich es sagen«, seufzte sie. »Ich entbehre hier doch sehr den Hof. Wenn man, wie ich, von Geburt dem Hofadel angehört – Und nun –«

Hinter ihrem Zwicker sah Diederich zwei Tränen perlen. Dieser Blick in die Tragik der Großen erschütterte ihn so sehr, daß er strammstand. »Frau Gräfin!« sagte er, verhalten und stoßweise. »Die heimliche Gräfin sind also –« Er erschrak und schwieg.

Die bleiche Stimme des Bürgermeisters war eben dabei, dem Präsidenten zu verraten, daß Kühlemann nicht wieder kandidieren werde und daß die Freisinnigen den Doktor Heuteufel aufstellen wollten. Er war mit Wulckow darin einig, daß man Gegenmaßregeln treffen müsse, solange noch niemand die Auflösung des Reichstages erwartete ...

Diederich wagte endlich wieder, leise und schonend: »Frau Gräfin, aber, nicht wahr, es wird alles gut? Sie kriegen sich doch?«

Frau von Wulckow, mit Takt und Selbstbeherrschung, schränkte die Vertraulichkeit des Gefühls schon wieder ein. In leichtem Plauderton erklärte sie: »Mein Gott, lieber Doktor, was wollen Sie, die leidige Geldfrage! Es ist wohl unmöglich, daß die jungen Leute zusammen glücklich werden.«

»Sie können doch prozessieren!« rief Diederich, in seinem Rechtsgefühl gekränkt. Aber Frau von Wulckow verzog die Nase. »Fi donc! Das würde zur Folge haben, daß der junge Graf, also Jadassohn, seinen Vater entmündigen ließe. Im dritten Akt, den Sie noch sehen werden, droht er dem Leutnant damit in einer Szene, die mir, glaube ich, gelungen ist. Soll der Leutnant das auf sich nehmen? Und die Zerstückelung des Familienbesitzes? In Ihren Kreisen ginge es vielleicht. Aber bei uns ist eben manches nicht möglich.«

Diederich verneigte sich. »Dort oben herrschen natürlich Begriffe, die sich unserm Urteil entziehen. Und dem der Gerichte wohl auch«, setzte er hinzu. Die Dichterin lächelte milde.

»Sehen Sie, und so verzichtet der Leutnant ganz korrekterweise auf die heimliche Gräfin und heiratet die Fabrikantentochter.«

»Magda?«

»Jawohl. Und die heimliche Gräfin den Klavierlehrer. So wollen es die höheren Mächte, lieber Herr Doktor, denen wir« – ihre Stimme verdunkelte sich ein wenig – »uns nun einmal zu beugen haben.«

Diederich hatte noch einen Zweifel, äußerte ihn aber nicht. Der Leutnant hätte die heimliche Gräfin auch ohne Geld heiraten sollen, es würde Diederich tief befriedigt haben in seinem weichen und idyllischen Herzen. Aber ach! diese harte Zeit dachte anders.

 

Der Vorhang fiel, das Publikum entrang sich langsam seiner Ergriffenheit, dann spendete es um so wärmeren Beifall dem Dienstmädchen und dem Leutnant, die, es ließ sich leider voraussehen, das schwere Geschick, nicht hoffähig zu sein, wohl noch länger würden tragen müssen.

»Es ist wirklich ein Elend!« seufzten Frau Harnisch und Frau Cohn.

Beim Büffet sagte Wulckow, am Ende seiner Beratungen mit dem Bürgermeister: »Wir bringen der Bande noch Gesinnung bei!«

Dann ließ er seine Tatze schwer auf Diederichs Schulter fallen. »Na, Doktorchen, hat meine Frau Sie schon zum Tee geladen?«

»Selbstverständlich, und kommen Sie recht bald!« Die Präsidentin hielt ihm die Hand zum Kuß hin, und Diederich entfernte sich beglückt. Wulckow selbst wollte ihn wiedersehen! Mit Diederich zusammen wollte er Netzig erobern!

Indes die Präsidentin in der Spiegelgalerie Cercle hielt und Glückwünsche entgegennahm, bearbeitete Diederich die Stimmung. Heuteufel, Cohn, Harnisch und noch einige andere Herren erschwerten es ihm, denn sie gaben, wenn auch vorsichtig, zu verstehen, daß sie das Ganze für Quatsch hielten. Diederich war genötigt, ihnen Andeutungen über den durchaus großzügigen dritten Akt zu machen, damit sie verstummten. Dem Redakteur Nothgroschen diktierte er ausführlich, was er von der Dichterin wußte, denn Nothgroschen mußte fort, die Zeitung sollte in Druck gehen. »Wenn Sie aber Blödsinn schreiben, Sie Zeilenschinder, schlag ich Ihnen Ihren Wisch um die Ohren« – worauf Nothgroschen dankte und sich empfahl. Professor Kühnchen seinerseits, der gehorcht hatte, ergriff Diederich bei einem Knopf und kreischte: »Sie, mein Bester! Eens hätten Se nu aber unserm Klatschdirektor ooch noch erzählen können!« Der Redakteur, der sich nennen hörte, kehrte zurück, und Kühnchen fuhr fort: »Nämlich, daß die herrliche Schöpfung unserer allverehrten Präsidentin schon mal vorausgeahnt worden, und zwar von keinem Geringeren als von unserm Altmeister Goethe in seiner ›Natürlichen Tochter‹. Nun, und das ist denn doch wohl das Höchste, was sich zum Ruhme der Dichterin sagen läßt!«

Diederich hatte Bedenken über die Zweckmäßigkeit von Kühnchens Entdeckung, fand es aber unnötig, sie ihm mitzuteilen. Der kleine Greis strebte schon, mit flatternden Haaren, durch das Gedränge; schon sah man, wie er vor Frau von Wulckow den Boden scharrte und ihr das Ergebnis seiner vergleichenden Forschung vortrug. Freilich, ein Fiasko, wie er es erlitt, hatte auch Diederich nicht vorausgesehen. Die Dichterin sagte eiskalt: »Was Sie da bemerken, Herr Professor, kann nur auf Verwechselung beruhen. Ist die ›Natürliche Tochter‹ überhaupt von Goethe?« fragte sie und rümpfte mißtrauisch die Nase. Kühnchen beteuerte es, aber es half ihm nichts.

»Jedenfalls haben Sie in der Zeitschrift ›Das traute Heim‹ einen Roman von mir gelesen, und den habe ich nun dramatisiert. Meine Schöpfungen sind sämtlich Originalarbeiten. Die Herren« – sie musterte den Kreis – »wollen böswilligen Gerüchten entgegentreten.«

Damit war Kühnchen entlassen, trat ab und schnappte nach Luft. Diederich erinnerte ihn, im Ton eines geringschätzigen Erbarmens, an Nothgroschen, der mit seiner gefährlichen Information schon von dannen war; und Kühnchen stürzte hinterdrein, um das Schlimmste zu verhüten.

Wie Diederich den Kopf wandte, hatte im Saal das Bild sich verändert: nicht nur die Präsidentin, auch der alte Buck hielt Cercle. Es war erstaunlich, aber man lernte die Menschen kennen. Sie ertrugen es nicht, daß sie vorhin ihren Instinkten freien Lauf gelassen hatten; mit beteuerndem Gesicht machte einer nach dem andern sich an den Alten heran und wollte es nicht gewesen sein. So groß war, noch nach schweren Erschütterungen, die Macht des Bestehenden, von alters her Anerkannten! Diederich selbst fand es angezeigt, nicht in auffälliger Weise hinter der Mehrheit zurückzubleiben. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Wulckow schon fort war, machte er seine Aufwartung. Der Alte saß eben allein in dem Polstersessel, der für ihn ganz vorn bei der Bühne stand; er ließ seine weiße Hand merkwürdig zart über die Lehne hängen und blickte zu Diederich hinauf.

»Da sind Sie, mein lieber Heßling. Ich habe es oft bedauert, daß Sie nicht kamen« – ganz schlicht und nachsichtig. Diederich fühlte sofort wieder Tränen heraufsteigen. Er gab ihm die Hand, freute sich, daß der Herr Buck sie ein wenig länger in der seinen behielt, und stammelte etwas von Geschäften, Sorgen und »um ehrlich zu sein« – denn ein jähes Bedürfnis nach Ehrlichkeit erfaßte ihn – von Bedenken und Hemmungen.

»Es ist schön von Ihnen«, sagte darauf der Alte, »daß Sie mich das nicht nur erraten lassen, sondern es mir eingestehen. Sie sind jung und handeln wohl unter den Antrieben, denen die Geister heute gehorchen. In die Unduldsamkeit des Alters will ich nicht verfallen.«

Da schlug Diederich die Augen nieder. Er hatte verstanden: dies war die Verzeihung für den Prozeß, der den Schwiegersohn des Alten die bürgerliche Ehre gekostet hatte; und ihm ward schwül unter so viel Milde – und so viel Nichtachtung. Der Alte freilich sagte: »Ich achte den Kampf und kenne ihn zu gut, um jemand zu hassen, der gegen die Meinen kämpft.« Worauf Diederich, von Furcht ergriffen, dies möchte zu weit führen, sich aufs Leugnen verlegte. Er wisse selbst nicht – Man komme in Sachen hinein – Der Alte erleichterte es ihm. »Ich weiß: Sie suchen und haben sich selbst noch nicht gefunden.«

Er tauchte seinen weißen Knebelbart in die seidene Halsbinde. Als er ihn wieder hervorholte, begriff Diederich, daß etwas Neues kam.

»Sie haben das Haus hinter dem Ihren nun doch nicht gekauft«, sagte der Herr Buck. »Ihre Pläne haben sich wohl geändert?«

Diederich dachte: ›Er weiß alles‹, und sah schon seine heimlichsten Berechnungen enthüllt.

Der Alte lächelte schlau und gütig. »Sollten Sie etwa Ihre Fabrik zunächst verlegen und erst dann erweitern wollen? Ich könnte mir denken, daß Sie Ihr Grundstück zu verkaufen wünschen und nur auf eine gewisse Gelegenheit warten – die auch ich in Betracht ziehe«, setzte er hinzu, und mit einem Blick: »Die Stadt hat vor, ein Säuglingsheim zu errichten.«

›Alter Hund!‹ dachte Diederich. ›Er spekuliert auf den Tod seines besten Freundes!‹ Gleichzeitig aber kam ihm die Erleuchtung, was er Wulckow vorzuschlagen habe, um Netzig zu erobern! ... Er schnaufte.

»Durchaus nicht, Herr Buck. Mein väterliches Erbstück geb ich nicht her!«

Da nahm der Alte nochmals seine Hand. »Ich bin kein Versucher«, sagte er. »Ihre Pietät ehrt Sie.«

›Esel‹, dachte Diederich.

»So werden wir uns eben ein anderes Terrain suchen. Ja, vielleicht werden Sie dabei mitwirken. Uneigennützigen Gemeinsinn, lieber Heßling, lassen wir uns nicht entgehen – auch nicht, wenn er einen Augenblick in falscher Richtung zu wirken scheint.«

Er stand auf.

»Wollen Sie Stadtverordneter werden, so haben Sie meine Unterstützung.«

Diederich starrte, ohne zu begreifen. Die Augen des Alten waren blau und tief, und er bot Diederich eben das Ehrenamt an, um das Diederich seinen Schwiegersohn gebracht hatte. Sollte man nun ausspucken oder sich verkriechen? Diederich zog es vor, die Absätze zusammenzuschlagen und korrekt seinen Dank abzustatten.

»Sie sehen«, erwiderte der Alte, »der Gemeinsinn schlägt Brücken von jung zu alt und sogar bis zu denen, die nicht mehr da sind.«

Er führte die Hand im Halbkreis über die Wände und über das Geschlecht von einst, das verblichen und heiter aus ihrer gemalten Tiefe trat. Er lächelte den jungen Mädchen in Reifröcken zu und zugleich auch einer seiner Nichten und Meta Harnisch, die vorübergingen. Wie er das Gesicht dem alten Bürgermeister zuwendete, der zwischen Blumen und Kindern aus dem Stadttor schritt, bemerkte Diederich die große Ähnlichkeit der beiden. Der alte Buck wies auf den und jenen aus der gemalten Versammlung.

»Von dem da hab ich viel gehört. Diese Dame kannte ich noch. Sieht der Geistliche nicht aus wie Pastor Zillich? Nein, unter uns kann es keine ernstliche Entfremdung geben, wir sind einander seit langem verpflichtet zum guten Willen und gemeinsamen Fortschritt, schon durch jene da, die uns die ›Harmonie‹ hinterließen.«

›Nette Harmonie‹, dachte Diederich und sah umher, wie er fortgelange. Der Alte hatte sich, nach seiner Gewohnheit, einen Übergang gemacht von den Geschäften zum sentimentalen Schwatz. ›Immer kommt der Literat heraus‹, dachte Diederich.

Gerade gingen Guste Daimchen und Inge Tietz vorbei. Guste hatte sich eingehängt, und Inge prahlte mit dem, was sie hinter den Kulissen erlebt hatte. »Unsere Angst, als sie immer sagten: Tee, Kaffee, Kaffee, Tee.« Guste behauptete: »Das nächste Mal schreibt Wolfgang ein viel schöneres Stück, und ich spiele mit.« Da machte Inge sich los, sie bekam eine scheu ablehnende Miene. »So?« sagte sie; und Gustes dickes Gesicht verlor plötzlich seinen harmlosen Eifer. »Warum etwa nicht?« fragte sie, weinerlich empört. »Was hast du nun wieder?«

Diederich, der es ihr hätte sagen können, wandte sich schleunig zum alten Buck zurück. Der schwatzte weiter.

»Dieselben Freunde, damals wie jetzt; und auch die Feinde sind da. Schon recht verwischt, der eiserne Ritter, der Kinderschreck dort in seiner Nische am Tor. Don Antonio Manrique, grausamer Reitergeneral, der du im Dreißigjährigen Krieg unser armes Netzig gebrandschatzt hast: Wenn nun nicht die Riekestraße nach dir hieße, wohin wäre dann selbst der letzte Klang von dir verweht? ... Auch einer, dem unser Freisinn nicht gefiel und der uns zu vertilgen dachte.«

Plötzlich schüttelte den Alten ein stilles Kichern. Er nahm Diederich bei der Hand.

»Hat er nicht Ähnlichkeit mit unserem Herrn von Wulckow?«

Diederichs Miene ward hierauf noch korrekter, aber der Alte bemerkte es nicht, er war nun einmal aufgeräumt, ihm fiel noch etwas ein. Er winkte Diederich hinter eine Pflanzengruppe und zeigte ihm an der Wand zwei Figuren, einen jungen Schäfer, der sehnsüchtig die Arme öffnete, und jenseits eines Baches eine Schäferin, die sich anschickte, hinüberzuspringen. Der Alte wisperte: »Was meinen Sie, werden die beiden zueinanderkommen? Das wissen nicht viele mehr. Ich weiß es noch.« Er sah sich um, ob niemand ihn beachte, und plötzlich öffnete er eine kleine Tür, die man nie gefunden haben würde. Die Schäferin auf der Tür bewegte sich dem Liebenden entgegen. Noch ein wenig, und hinter der Tür im Dunkeln mußte sie ihm wohl in den Armen liegen ... Der Alte wies in das Zimmer, das er aufgedeckt hatte. »Es heißt das Liebeskabinett.« Laternenschein von irgendeinem Hof fiel durch das Fenster ohne Vorhang; er beglänzte den Spiegel und das dünnbeinige Kanapee. Der Alte zog die dumpfe Luft ein, die nach wer weiß wie langer Zeit herausströmte, er lächelte verloren. Und dann schloß er die kleine Tür.

Aber Diederich, den dies nur mäßig interessierte, sah etwas kommen, das weit mehr Anregung versprach. Es war der Landgerichtsrat Fritzsche: denn er war da. Sein Urlaub war wohl zu Ende, er war zurück aus dem Süden, und er hatte sich eingefunden, wenn auch etwas verspätet, und wenn auch ohne Judith Lauer, deren Urlaub ja noch dauerte, solange ihr Gatte in der Vogtei saß. Wo er mit Drehungen des Körpers, die nicht unbefangen wirkten, hindurchkam, ward geflüstert, und jeder, den er begrüßte, lugte verstohlen nach dem alten Herrn Buck. Fritzsche sah wohl, daß er in der Sache etwas tun müsse; er gab sich einen Ruck und ging los. Der Alte, noch eben ahnungslos, fand ihn plötzlich vor sich. Er ward vollkommen weiß; Diederich erschrak und streckte schon die Arme aus. Aber es geschah nichts, der Alte hatte sich zurück. Er stand da, so steif, daß sein Rücken sich aushöhlte, und blickte kühl und unverwandt auf den Mann, der seine Tochter entführt hatte.

»Schon zurück, Herr Landgerichtsrat?« sagte er laut.

Fritzsche versuchte jovial zu lachen. »Schöneres Wetter war dort unten, Herr Stadtrat. Na und die Kunst!«

»Davon haben wir hier nur einen Widerschein« – und der Alte wies, ohne den andern aus den Augen zu lassen, über die Wände. Seine Haltung machte Eindruck auf die meisten, die von dort hinten seine Schwäche belauerten. Er hielt stand und repräsentierte, in einer Lage, die einige Hemmungslosigkeit immerhin erklärt haben würde. Er repräsentierte das alte Ansehen, er allein für die zerfallene Familie, für das Gefolge, das schon ausblieb. In diesem Augenblick gewann er, statt so vieles Verlorenen, manche Sympathien ... Diederich hörte ihn noch sagen, förmlich und klar: »Ich habe es durchgesetzt, daß unser moderner Straßenzug eine andere Richtung bekam, bloß um dies Haus zu erhalten und diese Malereien. Sie haben nur den Wert von Schilderungen, mag sein. Aber ein Gebilde, das seiner Zeit und ihren Sitten Dauer verleihen möchte, kann hoffen, selbst zu dauern.« Dann drückte Diederich sich, er schämte sich für Fritzsche.

 

Die Schwiegermutter des Bürgermeisters fragte ihn, was der Alte über die »Heimliche Gräfin« geäußert habe. Diederich dachte nach und mußte gestehen, er habe das Stück gar nicht erwähnt. Beide waren enttäuscht.

Indes bemerkte er, daß Käthchen Zillich spöttisch hersah, und gerade sie hatte sich nichts zu erlauben. »Nun, Fräulein Käthchen«, sagte er recht laut. »Was denken Sie über den Grünen Engel?« Sie erwiderte noch lauter: »Der grüne Engel? Sind Sie das?« Und sie lachte ihm ins Gesicht.

»Sie sollten wirklich vorsichtiger sein«, meinte er stirnrunzelnd. »Ich fühle mich geradezu verpflichtet, Ihren Herrn Vater aufmerksam zu machen.«

»Papa!« rief Käthchen sofort. Diederich erschrak. Glücklicherweise hörte Pastor Zillich nicht.

»Natürlich hab ich meinem Papa gleich neulich von unserm kleinen Ausflug erzählt. Was macht es denn, es waren doch nur Sie.«

Sie ging zu weit. Diederich schnaufte. »Na und für Liebhaber schöner Ohren war auch noch Jadassohn da.« Da er sah, daß es sie traf, setzte er hinzu: »Das nächste Mal im Grünen Engel streichen wir sie ihm grün an, das macht Stimmung.«

»Wenn Sie meinen, daß es auf die Ohren ankommt.« Dabei drückte Käthchens Blick eine so schrankenlose Verachtung aus, daß Diederich den Entschluß faßte, mit allen Mitteln einzuschreiten. Sie befanden sich bei der Pflanzengruppe. »Was glauben Sie?« fragte er. »Wird die Schäferin über den Bach springen und den Schäfer glücklich machen?«

»Schaf«, sagte sie. Diederich überhörte es, ging hin und tastete an der Wand umher. Nun hatte er die Tür. »Sehen Sie? Sie springt.«

Käthchen kam näher, neugierig streckte sie ihren Hals in das geheime Zimmer. Da hatte sie einen Stoß und war ganz drinnen. Diederich warf die Tür zu, er fiel stumm über Käthchen her, mit wildem Schnaufen.

»Lassen Sie mich hinaus, ich kratze!« rief sie und wollte kreischen. Aber sie mußte lachen, was sie wehrlos machte und dem Sofa immer näher brachte. Der Kampf mit ihren entblößten Armen und Schultern versetzte ihn vollends außer sich. »Jawohl«, keuchte er, »jetzt kommt was.« Bei jedem Strich Boden, den er gewann, wiederholte er: »Jetzt kommt was. Bin ich noch ein Schaf? Aha, wenn man denkt, ein Mädchen ist anständig, und man hat ehrliche Absichten, ist man ein Schaf. Jetzt kommt was.« Mit einem letzten Ruck schleuderte er sie hin. »Au«, sagte sie; und vor Lachen erstickend: »Was kommt denn jetzt?«

Plötzlich ward ihre Verteidigung ernst. Sie rang sich hervor; der Streifen Gaslicht, den das kahle Fenster hereinließ, beschien ihre Unordnung; und ihr Gesicht, von der Anstrengung wie geschwollen, war nach der Tür gerichtet. Er wandte den Kopf: da stand Guste Daimchen. Sie starrte entgeistert her, Käthchen quollen die Augen heraus, und Diederich, auf dem Sofa kniend, verrenkte sich den Hals ... Endlich zog Guste die Tür an, sie ging entschlossen auf Käthchen zu.

»Du gemeines Luder!« sagte sie, aus tiefem Innern.

»Selber eins!« sagte Käthchen, schnell gefaßt. Da schnappte Guste nur noch nach Luft. Von Käthchen sah sie zu Diederich, ratlos und so empört, daß ihr Blick sich mit feuchtem Glanz füllte. Er versicherte: »Fräulein Guste, es handelt sich um einen Scherz«; aber er kam schlecht an, Guste brach los: »Sie kenn ich, von Ihnen kann ich es mir denken.«

»So, du kennst ihn«, bemerkte Käthchen höhnisch. Sie stand auf, indes Guste ihr noch näher rückte. Diederich seinerseits ergriff die Gelegenheit, gab seiner Haltung Würde und trat zurück, um die Damen unter sich die Sache erledigen zu lassen.

»Daß ich so was muß mit ansehen!« rief Guste; und Käthchen: »Du hast gar nichts gesehen! Wozu siehst du es dir überhaupt an?«

Diederich begann gleichfalls, dies auffallend zu finden, zumal da Guste schwieg. Käthchen gewann sichtlich die Oberhand. Sie warf den Kopf zurück und sagte: »Von dir finde ich es überhaupt sonderbar. Wer so viel Butter auf dem Kopf hat wie du!«

Sofort zeigte Guste sich tief beunruhigt. »Ich?« fragte sie gedehnt. »Was tu ich denn?«

Käthchen zierte sich plötzlich – indes Diederich vom Schrecken gepackt ward.

»Das wirst du wohl selbst wissen. Mir ist es zu peinlich.«

»Ich weiß gar nichts«, sagte Guste klagend.

»So was hätte man gedacht, daß es gar nicht gibt«, sagte Käthchen und rümpfte die Nase. Guste verlor die Geduld. »Nun bitte ich es mir aber aus! Was habt ihr alle?«

Diederich schlug vor: »Es ist doch wohl besser, wenn wir jetzt das Lokal verlassen.« Aber Guste stampfte auf.

»Keinen Schritt tu ich, bis ich es weiß. Den ganzen Abend merke ich schon, daß sie mich anglotzen, als ob ich einen toten Fisch verschluckt habe.«

Käthchen wandte sich weg. »Na, da siehst du es. Sei froh, daß sie dich nicht hinauswerfen mitsamt deinem Halbbruder Wolfgang.«

»Mit wem? ... Mein Halbbruder ... Wieso Halbbruder?«

In einer tiefen Stille keuchte Guste leise und irrte mit den Augen umher. Auf einmal hatte sie begriffen. »So eine Gemeinheit!« rief sie entsetzt. Über Käthchens Mienen breitete sich ein Lächeln des Genusses aus. Diederich seinerseits wehrte beteuernd ab. Guste streckte den Finger aus gegen Käthchen. »Das habt ihr Mädchen euch ausgedacht! Ihr seid mir neidisch wegen meinem Geld!«

»Pöh«, machte Käthchen. »Dein Geld wollen wir überhaupt nicht, wenn so was dabei ist.«

»Es ist doch nicht wahr!« Guste kreischte auf. Plötzlich fiel sie vornüber auf das Sofa und wimmerte. »Ach Gott, ach Gott, was haben wir da angerichtet.«

»Siehst du wohl«, sagte Käthchen, frei von Mitleid.

Guste schluchzte immer lauter; Diederich berührte ihre Schulter. »Fräulein Guste, Sie wollen doch nicht, daß die Leute kommen.« Er suchte nach einem Trost. »So was kann man nie wissen. Ähnlich sehen Sie sich nicht.«

Aber der Trost wirkte anstachelnd auf Guste. Sie sprang auf und ging zum Angriff über. »Du – du bist überhaupt eine feine Nummer«, zischte sie Käthchen zu. »Von dir sag ich, was ich gesehen habe!«

»Das werden sie dir glauben! So einer glaubt keiner mehr was. Von mir weiß jeder, daß ich anständig bin.«

»Anständig! Streich dir wenigstens das Kleid glatt!«

»So gemein wie du –«

»Bist bloß noch du!«

Hierüber erschraken beide, brachen ab und verharrten einander gegenüber, Haß und Angst in ihren dicken Gesichtern, die sich so sehr glichen; und die Büsten nach vorn, die Schultern hinauf, die Arme in die Hüften gestemmt, sahen sie aus, als sollten ihnen die duftigen Ballkleider vom Leibe platzen. Guste unternahm noch einen Vorstoß: »Ich sag es doch!«

Da sprengte Käthchen die letzte Fessel. »Dann mach aber schnell, sonst komm ich früher und erzähl allen, daß nicht du, sondern ich hier die Tür hab aufgemacht und hab euch beide ertappt.«

Da hierauf Guste nur noch mit den Lidern klappte, setzte Käthchen, plötzlich selbst ernüchtert, hinzu: »Nun ja, das bin ich mir doch schuldig. Bei dir kommt es nicht mehr darauf an.«

Aber Diederichs Blick war Gustes begegnet, verständigte sich mit ihr und glitt hinunter, bis er auf ihrem kleinen Finger den Brillanten traf, den sie gemeinsam aus den Lumpen gezogen hatten. Da lächelte Diederich ritterlich, und Guste, tief errötet, trat so nahe zu ihm, als lehnte sie sich an. Käthchen schlich zur Tür. Über Gustes Schulter geneigt, sagte Diederich leise: »Ihr Verlobter läßt Sie aber lange allein.« – »Ach der«, erwiderte sie. Er senkte das Gesicht noch ein wenig und drückte es auf ihre Schulter. Sie hielt ganz still. »Schade«, sagte er und zog sich so unerwartet zurück, daß Guste ausglitt. Sie begriff auf einmal, daß ihre Lage sich wesentlich verändert hatte. Ihr Geld war nicht mehr Trumpf, es war entwertet, ein Mann wie Diederich war mehr wert. Sofort bekam sie einen Blick wie eine Hündin. Diederich sagte gemessen: »An der Stelle Ihres Verlobten würde ich allerdings anders vorgehen.«

Käthchen zog mit äußerster Behutsamkeit die Tür wieder an, sie kehrte zurück, den Finger auf den Lippen.

»Wißt ihr was? Das Theater hat wieder angefangen schon lange, glaube ich.«

»O Gott!« sagte Guste; und Diederich: »Na, dann sitzen wir in der Falle.« Er suchte die Wände ab nach einem Ausgang; er rückte sogar das Sofa fort. Da keiner zu finden war, entrüstete er sich.

»Hier ist tatsächlich eine Falle. Und um der alten Baracke willen hat der Herr Buck den ganzen Straßenzug verlegt. Er soll es noch erleben, daß ich sie ihm einreiße! Bloß erst Stadtverordneter sein!«

Käthchen kicherte. »Was schnauben Sie denn so? Hier ist es doch ganz gemütlich. Jetzt können wir machen, was wir wollen.« Und sie sprang über das Sofa. Da gab Guste sich einen Ruck und wollte auch hinüber. Sie blieb aber hängen. Diederich fing sie auf. Auch Käthchen hängte sich an ihn. Er zwinkerte beiden zu. »Also was machen wir?« Käthchen sagte: »Das müssen Sie wissen. Wir drei kennen uns ja nun.« – »Und zu verlieren haben wir auch nichts mehr«, sagte Guste. Dann platzten sie alle aus.

Aber Käthchen entsetzte sich. »Kinder! In dem Spiegel seh ich aus wie meine tote Großmutter.«

»Er ist ganz schwarz.«

»Und ganz bekritzelt.«

Sie legten die Gesichter darauf, um im fahlen Gaslicht die Ausrufe und Kosenamen zu lesen, die zusammen mit alten Jahreszahlen in den Umrissen verschlungener Herzen standen, auf eingeritzten Vasen, Amoretten und sogar über Gräbern. »Auf der Urne hier unten, nein so was!« sagte Käthchen. »›Erst jetzt sollen wir leiden‹ ... Warum? Weil sie hier drinnen waren? Die waren wohl verrückt.«

»Wir sind nicht verrückt«, behauptete Diederich. »Fräulein Guste, Sie haben doch einen Brillanten.« Er zeichnete drei Herzen, versah sie mit einer Inschrift und ließ die Mädchen das Werk enträtseln. Da sie sich kreischend abwandten, sagte er stolz: »Wozu heißt dies das Liebeskabinett.«

Plötzlich stieß Guste einen Schreckensruf aus. »Hier sieht jemand zu!«

Hinter dem Spiegel hervor streckte sich ein geisterbleicher Kopf! ... Käthchen war schon bei der Tür. »Kommen Sie wieder her«, rief Diederich. »Es ist bloß gemalt.«

Der Spiegel hatte sich auf einer Seite von der Wand gelöst, man konnte ihn noch weiter umwenden: da trat die ganze Figur heraus.

»Es ist die Schäferin, die draußen über den Bach springt!«

»Jetzt hat sie es hinter sich«, sagte Diederich; denn die Schäferin saß da und weinte. Auf der Rückseite des Spiegels aber entfernte sich der Schäfer.

»Und dort kommt man hinaus!« Diederich wies auf einen erleuchteten Spalt, er tastete, die Tapete öffnete sich.

»Dies ist der Ausgang, wenn man es hinter sich hat«, bemerkte er und ging voraus. Ihm im Rücken sagte Käthchen spöttisch: »Ich habe gar nichts hinter mir.«

Und Guste, wehmütig: »Ich auch nicht.«

 

Diederich überhörte dies, er stellte fest, daß man sich in einem der kleinen Salons hinter dem Büffet befand. Eilends erreichte er die Spiegelgalerie und verlor sich unauffällig in der Menge, die soeben aus dem Saal quoll. Man war erfüllt von dem tragischen Schicksal der heimlichen Gräfin, die nun also doch den Klavierlehrer geheiratet hatte. Frau Harnisch, Frau Cohn, die Schwiegermutter des Bürgermeisters, alle hatten verweinte Augen; Jadassohn, der, schon abgeschminkt, Lorbeeren einzusammeln kam, ward von den Damen nicht gut aufgenommen. »Sie sind schuld, Herr Assessor, daß es so gekommen ist! Schließlich war sie doch Ihre leibliche Schwester.« – »Pardon, meine Damen!« Und Jadassohn verteidigte seinen Standpunkt als legitimer Erbe der gräflichen Besitzungen. Da sagte Meta Harnisch: »Aber so herausfordernd brauchten Sie nicht auszusehen.«

Sofort richteten sich alle Blicke auf seine Ohren; man kicherte; und Jadassohn, der vergeblich krähte, was denn los sei, ward von Diederich unter den Arm genommen. Diederich, das süße Pochen der Rache im Herzen, führte ihn eben dorthin, wo die Regierungspräsidentin, unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste um ihr Werk, sich vom Major Kunze verabschiedete. Kaum aber, daß sie Jadassohn erblickte, drehte sie einfach den Rücken. Jadassohn blieb am Boden haften. Diederich brachte ihn nicht mehr weiter. »Was ist denn?« fragte er heuchlerisch. »Ach ja, die Präsidentin. Sie haben ihr nicht gefallen. Sie sollen auch nicht Staatsanwalt werden. Man sah Ihre Ohren zu sehr.«

Was aber Diederich auch erwartet hatte, diese Spottgeburt einer Grimasse hatte er nicht erwartet! Wo war die hochgemute Schneidigkeit, der Jadassohn sein Leben geweiht hatte? »Ich sage es ja«, äußerte er nur, ganz leise; aber man glaubte einen grauenvollen Aufschrei zu hören ... Dann kam er in Bewegung, tanzte am Fleck umher und redete. »Sie können lachen, mein Bester! Sie wissen nicht, was Sie an Ihrem Gesicht haben. Ihr Gesicht, nichts weiter, und in zehn Jahren bin ich Minister.«

»Na, na«, sagte Diederich. Er setzte hinzu: »Das ganze Gesicht brauchen Sie nicht einmal: bloß die Ohren.«

»Wollen Sie sie mir verkaufen?« fragte Jadassohn und sah ihn an, daß Diederich erschrak. »Kann man das?« fragte er unsicher. Jadassohn ging schon, unter zynischem Lachen, auf Heuteufel zu. »Sie sind doch Spezialist für Ohren, Herr Doktor ...«

Heuteufel erklärte ihm, daß tatsächlich, wenn auch bisher nur in Paris, Operationen ausgeführt würden, durch die man Ohren auf die Hälfte ihres Umfanges herunterbringe. »Wozu gleich das Ganze weg?« sagte Heuteufel. »Die Hälfte können Sie ruhig behalten.« Jadassohn hatte seine Haltung zurück. »Großartiger Witz! Erzähl ich bei Gericht. Sie Gauner!« Und er klopfte Heuteufel auf den Bauch.

Diederich inzwischen wandte sich seinen Schwestern zu, die, zum Ball umgekleidet, aus der Garderobe kamen. Sie wurden allerseits mit Beifall begrüßt und berichteten von ihren Eindrücken auf der Bühne. »Tee – Kaffee: Gott, war das aufregend!« sagte Magda. Auch Diederich als Bruder nahm Glückwünsche entgegen. Er schritt zwischen ihnen, Magda hatte sich in ihn eingehängt, Emmis Arm dagegen mußte er gewaltsam festhalten. Sie zischte: »Laß die Komödie«; und er schnob ihr zu, zwischen Lachen und Grüßen: »Du hast zwar bloß die kleine Rolle gehabt, aber sei froh, wenn du überhaupt mal was vorstellst. Sieh Magda an!« Denn Magda schmiegte sich gefällig an ihn, sie schien bereit, das Glück der einigen Familie so lange spazieren zu führen, als er es irgend wünschte. »Kleine«, sagte er mit zärtlicher Achtung, »du hast Erfolg gehabt. Aber ich kann dir versichern, ich auch.« Er gab ihr sogar Schmeicheleien. »Du siehst heute süß aus. Für Kienast bist du fast zu schade.« Als dann noch die Regierungspräsidentin, schon im Fortgehen, ihnen gnädig zuwinkte, begegneten die Geschwister auf ihrem Weg nur den ergebensten Gesichtern. Der Saal war ausgeräumt; hinter der Palmengruppe ward eine Polonäse angestimmt. Diederich machte seine korrekteste Verbeugung vor Magda und schritt mit ihr zum Tanz, triumphierend, gleich nach dem Major Kunze, der führte. So zogen sie an Guste Daimchen vorüber, die saß. Sie saß neben dem verwachsenen Fräulein Kühnchen und sah ihnen nach, als habe sie Prügel bekommen. Ihr Anblick berührte Diederich fast so unheimlich wie der des Herrn Lauer in der Vogtei.

»Die arme Guste« sagte Magda. Diederich runzelte die Brauen. »Ja, ja, das kommt davon.«

»Aber eigentlich« – und Magda blinzelte von unten, »woher kommt es denn?«

»Das ist gleich, mein Kind, jetzt ist es mal so.«

»Diedel, du solltest sie nachher doch zum Walzerbitten.«

»Das darf ich nicht. Man muß wissen, was man sich selbst schuldet.«

Dann verließ er sogleich den Saal. Soeben holte der junge Sprezius, der jetzt nicht mehr Leutnant, sondern wieder Primaner war, das verwachsene Fräulein Kühnchen von der Wand weg. Er nahm wohl Rücksicht auf ihren Vater. Guste Daimchen blieb sitzen ... Diederich machte einen Gang durch die Seitenzimmer, wo ältere Herren Karten spielten, bekam eine lange Nase von Käthchen Zillich, die er hinter einer Tür mit einem Schauspieler überraschte, und gelangte zum Büffet. Dort saß an einem Tischchen Wolfgang Buck und zeichnete in sein Notizbuch die Mütter, die um den Saal herum warteten.

»Sehr talentvoll«, sagte Diederich. »Haben Sie auch schon Ihr Fräulein Braut porträtiert?«

»In der Beziehung interessiert sie mich nicht«, erwiderte Buck, so phlegmatisch, daß Diederich Zweifel kamen, ob seine Erlebnisse mit Guste im Liebeskabinett ihren Verlobten interessiert haben würden.

»Mit Ihnen weiß man überhaupt nicht«, sagte er enttäuscht.

»Mit Ihnen weiß man immer«, sagte Buck. »Damals vor Gericht, während Ihres großen Monologes, hätte ich Sie zeichnen mögen.«

»Ihr Plädoyer hat mir genügt; es war ein Versuch, wenn auch glücklicherweise ein mißlungener, meine Person und mein Wirken vor der breitesten Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen und verächtlich zu machen!«

Diederich blitzte, Buck bemerkte es erstaunt. »Mir scheint, Sie sind beleidigt. Und ich habe es doch so gut gesagt.« Er bewegte den Kopf und lächelte, grüblerisch und entzückt. »Wollen wir nicht 'ne Flasche Sekt zusammen trinken?« fragte er.

Diederich meinte: »Ob ich nun gerade mit Ihnen –« Aber er gab nach. »Das Gericht hat durch sein Urteil festgestellt, daß Ihre Vorwürfe sich nicht allein gegen mich, sondern gegen alle national gesinnten Männer richteten. Damit sehe ich die Sache als erledigt an.«

»Dann also Heidsieck?« fragte Buck. Er nötigte Diederich, mit ihm anzustoßen. »Das werden Sie doch zugeben, bester Heßling, so eingehend wie ich hat sich mit Ihnen überhaupt noch niemand beschäftigt ... Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Ihre Rolle vor Gericht hat mich mehr interessiert als meine eigene. Später, zu Hause vor meinem Spiegel, habe ich sie Ihnen nachgespielt.«

»Meine Rolle? Sie wollen wohl sagen, meine Überzeugung. Freilich, für Sie ist der repräsentative Typus von heute der Schauspieler.«

»Das sagte ich mit Beziehung auf – einen andern. Aber Sie sehen, wieviel näher ich es habe zu der Beobachtung ... Wenn ich morgen nicht die Waschfrau zu verteidigen hätte, die bei Wulckows Unterhosen gestohlen haben soll, vielleicht würde ich den Hamlet spielen. Prost!«

»Prost. Dazu brauchen Sie allerdings keine Überzeugungen!«

»Gott, ich habe auch welche. Aber immer dieselben? ... Sie würden mir also das Theater anraten?« fragte Buck. Diederich hatte schon den Mund geöffnet, um es ihm anzuraten, da trat Guste ein, und Diederich errötete, denn er hatte bei Bucks Frage an sie gedacht. Buck sagte träumerisch: »Inzwischen würde mein Topf mit Wurst und Kohl mir überkochen, und es ist doch ein so gutes Gericht.« Aber Guste, auf leisen Sohlen, legte ihm von rückwärts die Hände auf die Augen und fragte: »Wer ist das?« – »Da ist er ja«, sagte Buck und gab ihr einen Klaps.

»Die Herren unterhalten sich wohl gut? Soll ich wieder gehen?« fragte Guste. Diederich beeilte sich, ihr einen Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit wäre er lieber mit Buck allein gewesen; der fiebrige Glanz in Gustes Augen versprach nichts Gutes. Sie redete geläufiger als sonst.

»Ihr paßt eigentlich großartig zueinander, bloß daß ihr so förmlich tut.«

Buck sagte: »Das ist die gegenseitige Achtung.« Diederich stutzte, und dann machte er eine Bemerkung, die ihn selbst in Erstaunen setzte. »Eigentlich – sooft ich mich von Ihrem Herrn Bräutigam trenne, hab ich Wut auf ihn; beim nächsten Wiedersehen aber freu ich mich.« Er richtete sich auf. »Wenn ich nämlich noch kein national gesinnter Mann wäre, würde er mich dazu machen.«

»Und wenn ich es wäre«, sagte Buck, weich lächelnd, »würde er es mir abgewöhnen. Das ist der Reiz.«

Aber Guste hatte sichtlich andere Sorgen; sie war erbleicht und schluckte hinunter.

»Jetzt sag ich dir was, Wolfgang. Wetten, daß du umfällst?«

»Herr Rose, Ihren Hennessy!« rief Buck. Während er Kognak mit Sekt mischte, umklammerte Diederich Gustes Arm, und da die Ballmusik gerade sehr laut war, flüsterte er beschwörend: »Sie werden doch keine Dummheiten machen?« Sie lachte wegwerfend. »Doktor Heßling hat Angst! Er findet die Geschichte zu gemein, ich finde sie bloß ulkig.« Und laut lachend: »Was sagst du? Dein Vater soll mit meiner Mutter: du verstehst. Und infolgedessen sollen wir: du verstehst?«

Buck bewegte langsam den Kopf; und dann verzog er den Mund. »Wenn schon.« Da lachte Guste nicht mehr.

»Wieso, wenn schon?«

»Nun, wenn die Netziger an so etwas glauben, muß es bei ihnen wohl alle Tage vorkommen, tut also nichts.«

»Redensarten machen den Kohl nicht fett«, entschied Guste. Diederich glaubte sich denn doch verwahren zu müssen.

»Überall können Fehltritte vorkommen. Aber über die Meinung seiner Mitmenschen setzt niemand sich ungestraft hinweg.«

Guste bemerkte: »Er glaubt immer, er ist zu gut für diese Welt.« Und Diederich: »Dies ist eine harte Zeit. Wer sich nicht wehrt, muß dran glauben.« Da rief Guste voll schmerzlicher Begeisterung: »Doktor Heßling ist nicht wie du! Er hat mich verteidigt! Ich hab den Beweis, daß ich es weiß, von Meta Harnisch, weil sie schließlich hat müssen den Mund auftun. Er war überhaupt der einzige, der mich hat verteidigt. Er an deiner Stelle täte sich die Leute kaufen, die sich unterstehn und verklatschen mich!«

Diederich bestätigte es durch Nicken. Buck drehte immerfort sein Glas und spiegelte sich darin. Plötzlich ließ er es los.

»Wer sagt euch denn, daß ich mir nicht auch ganz gern einmal einen kaufen würde – einen herausgreifen, ohne besondere Auswahl, weil doch alle so ziemlich gleich dumm und gemein sind?« Dabei kniff er die Augen zu. Guste hob die nackten Schultern.

»So was sagt man, aber sie sind gar nicht so dumm, sie wissen, was sie wollen ... Der Dümmere ist der Klügere«, schloß sie herausfordernd, und Diederich nickte mit Ironie. Da sah Buck ihn an, aus Augen, die auf einmal wie irrsinnig waren. Die Fäuste bewegte er mit krampfigem Zittern um seinen Hals her. »Wenn ich aber« – er war plötzlich ganz heiser –, »wenn ich den einen am Kragen hätte, von dem ich wüßte, er zettelt alles an, er faßt in seiner Person zusammen, was an allen häßlich und schlecht ist: ihn am Kragen hätte, der das Gesamtbild wäre alles Unmenschlichen, alles Untermenschlichen –« Diederich, weiß wie sein Frackhemd, drückte sich seitwärts vom Stuhl herunter und wich schrittweise zurück. Guste schrie auf, sie stob panikartig nach der Wand. »Es ist der Kognak!« rief Diederich ihr zu ... Aber Bucks Blicke, die zwischen ihnen beiden, voll des gräßlichsten Unheils, umherrollten, packten unvermittelt ein. Er zwinkerte, er glänzte heiter.

»An die Mischung bin ich leider gewöhnt«, erklärte er. »Es ist nur, damit ihr seht, wir können auch das.«

Diederich setzte sich polternd wieder hin. »Sie sind doch nur ein Komödiant«, sagte er entrüstet.

»Finden Sie?« fragte Buck und glänzte noch heller. Guste rümpfte die Nase. »Na dann amüsiert euch weiter«, äußerte sie und wollte gehen. Aber der Landgerichtsrat Fritzsche war da, er verbeugte sich vor ihr und auch vor Buck. Ob der Herr Rechtsanwalt gestatte, daß er mit dem Fräulein Braut den Kotillon tanze. Er sprach äußerst höflich, beschwichtigend gewissermaßen. Buck antwortete nicht, er faltete die Brauen. Guste indessen hatte schon Fritzsches Arm genommen.

Buck sah ihnen nach, eine Falte zwischen den Brauen, selbstvergessen. ›Ja, ja‹, dachte Diederich, ›erfreulich ist es nicht, wenn man einem Herrn begegnet, der mit Ihrer Schwester, mein Bester, eine Vergnügungsreise gemacht hat, und dann holt er einem die Braut vom Tisch weg, und du kannst nichts machen, weil sonst der Skandal noch größer wird, weil nämlich unsere Verlobung selbst schon ein Skandal ist ...‹

Aufschreckend sagte Buck: »Wissen Sie, daß ich erst jetzt rechte Lust bekomme, Fräulein Daimchen zu ehelichen? Ich hielt die Sache für – nicht sehr sensationell; aber die Einwohner von Netzig machen geradezu eine Pikanterie daraus.«

Diederich war starr über diese Wirkung. »Wenn Sie finden«, brachte er hervor.

»Warum nicht? Sie und ich, wir beiden Gegenpole, führen doch hier die vorgeschrittenen Tendenzen der moralfreien Epoche ein. Wir machen Betrieb. Der Geist der Zeit geht hier noch in Filzschuhen über die Straße.«

»Wir werden ihm Sporen anlegen«, verhieß Diederich.

»Prost!«

»Prost! Aber meine Sporen« – Diederich blitzte. »Ihre Skepsis und Ihre schlappe Gesinnung sind nicht zeitgemäß. Mit« – er blies durch die Nase –, »mit Geist ist heute nichts zu machen. Die nationale Tat –«, ein Faustschlag auf den Tisch, »hat die Zukunft!«

Buck darauf mit verzeihendem Lächeln: »Die Zukunft? Das ist eben die Verwechselung. Die nationale Tat hat abgehaust, im Lauf von hundert Jahren. Was wir erleben und noch erleben sollen, sind ihre Zuckungen und ihr Leichengeruch. Es wird keine gute Luft sein.«

»Von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet, als daß Sie das Heiligste in den Schmutz ziehen!«

»Heilig! Unantastbar! Sagen wir gleich: ewig! Nicht wahr? Außerhalb der Ideale eures Nationalismus wird nie, nie wieder gelebt werden. Früher, mag sein, in der dunkeln Periode der Geschichte, die euch noch nicht kannte. Jetzt aber seid ihr da, und die Welt ist angelangt. Dünkel und Haß der Nationen, das ist das Ziel, darüber hinaus geht es nicht.«

»Wir leben in einer harten Zeit«, bestätigte Diederich ernst.

»Weniger hart als verkalkt ... Ich bin nicht überzeugt, daß die Menschen, deren Dasein in den Dreißigjährigen Krieg fiel, an die Unabänderlichkeit ihres auch nicht weichen Zustandes geglaubt haben. Und ich bin überzeugt, daß die Rokokowillkür von denen, die ihr unterlagen, für überwindbar gehalten worden ist, sonst hätten sie nicht die Revolution gemacht. Wo ist, in den Räumen der Geschichte, die wir seelisch noch betreten können, die Zeit, die sich in Permanenz erklärt und aufgetrumpft hätte vor der Ewigkeit mit ihrer traurigen Beschränktheit. Die jeden nicht ganz in ihr Befangenen abergläubisch bemäkelt hätte. Nicht national gesinnt sein, erregt bei euch noch mehr Grauen als Haß! Aber die vaterlandslosen Gesellen sind euch auf den Fersen. Dort im Saal, sehen Sie sie?«

Diederich verschüttete seinen Sekt, so schnell fuhr er herum. War denn Napoleon Fischer eingedrungen, mit den Genossen? ... Buck lachte stumm und innig. »Bemühen Sie sich nicht, ich meine nur das stille Volk auf den Wänden. Warum scheinen sie so heiter? Was gibt ihnen das Recht auf Blumenwege, leichten Schritt und Harmonie? Ah! Ihr Freunde!« Über die Tanzenden hinweg schwenkte Buck sein Glas. »Ihr Freunde der Menschheit und jeder guten Zukunft, weitherzig und unbekannt mit der düstern Selbstsucht eines nationalen Vetternbundes: Weltseelen ihr, kehrt wieder! Selbst unter uns noch erwarten euch einige!«

Er trank aus, Diederich bemerkte mit Verachtung, daß er weinte. Übrigens bekam er sogleich eine schlaue Miene. »Ihr aber, Zeitgenossen, wißt wohl nicht, was der alte Bürgermeister, der da hinten zwischen den Amtspersonen und Schäferinnen rosig lächelt, als Schleife über der Brust trägt? Die Farben sind verblichen; ihr denkt wohl, es sind die euren? Es ist aber die französische Trikolore. Sie war neu damals und nicht die eines Landes, sondern der allgemeinen Morgenröte. Sie zu tragen, war beste Gesinnung; es war, wie ihr sagen würdet, streng korrekt. Prost!«

Aber Diederich war verstohlen mit seinem Stuhl davongerückt und spähte umher, ob niemand höre. »Sie sind ja besoffen«, murmelte er; und um die Situation zu retten, rief er: »Herr Rose! Noch eine Flasche!« Darauf setzte er sich achtunggebietend zurecht. »Sie scheinen nicht daran zu denken, daß seitdem ein Bismarck da war!«

»Nicht nur einer«, sagte Buck. »Von allen Seiten ist Europa in diesen nationalen Durchgang getrieben worden. Nehmen wir an, er war nicht zu vermeiden. Nach ihm werden bessere Gefilde kommen ... Aber seid ihr eurem Bismarck etwa gefolgt, solange er im Recht war? Ihr habt euch zerren lassen, ihr habt mit ihm im Konflikt gelebt. Erst jetzt, da ihr über ihn hinaus sein solltet, hängt ihr euch an seinen kraftlosen Schatten! Denn euer nationaler Stoffwechsel ist entmutigend langsam. Bis ihr begriffen habt, daß ein großer Mann da ist, hat er schon aufgehört, groß zu sein.«

»Sie werden ihn kennenlernen!« verhieß Diederich. »Blut und Eisen bleibt die wirksamste Kur! Macht geht vor Recht!« Der Kopf schwoll ihm rot an bei diesen Glaubenssätzen. Aber auch Buck regte sich auf.

»Die Macht! Die Macht läßt sich nicht ewig auf Bajonetten davontragen wie eine aufgespießte Wurst. Die einzige reale Macht ist heute der Friede! Spielt euch die Komödie der Gewalt vor! Prahlt gegen eingebildete Feinde draußen und im Innern! Taten, glücklicherweise, sind euch nicht erlaubt!«

»Nicht erlaubt?« Diederich blies, als sollte Feuer kommen. »Seine Majestät hat gesagt: Lieber lassen wir unsere gesamten achtzehn Armeekorps und zweiundvierzig Millionen Einwohner auf der Strecke ...«

»Denn wo der deutsche Aar –!« rief Buck, mit jähem Schwung; und noch wilder: »Nicht Parlamentsbeschlüsse! Die einzige Säule ist das Heer!«

Diederich gab ihm nichts nach. »Ihr seid berufen, mich in erster Linie vor dem äußeren und inneren Feind zu schützen!«

»Einer hochverräterischen Sache zu wehren!« schrie Buck. »Eine Rotte von Menschen –«

Diederich fiel ein: »– nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen!«

Und beide einstimmig: »Verwandte und Brüder niederschießen!«

Tänzer, die sich am Büffet erfrischten, wurden aufmerksam auf ihr Geschrei, sie holten auch ihre Damen herbei, um ihnen den Anblick eines heldenhaften Rausches zu verschaffen. Sogar die Kartenspieler streckten die Köpfe herein; und alle bestaunten Diederich und seinen Partner, die, auf ihren Stühlen schwankend und an den Tisch geklammert, mit glasigen Augen und entblößten Gebissen einander starke Worte ins Gesicht schleuderten.

»Einen Feind, und der ist mein Feind!«

»Einer nur ist Herr im Reich, keinen andern dulde ich!«

»Ich kann sehr unangenehm sein!«

Die Stimmen überschlugen sich.

»Falsche Humanität!«

»Vaterlandslose Feinde der göttlichen Weltordnung!«

»Müssen ausgerottet werden bis auf den letzten Stumpf!«

Eine Flasche flog gegen die Wand.

»Zerschmettere ich!«

»Deutschen Staub! ...Pantoffeln! ... Herrliche Tage!«

Hier glitt durch die Zuschauer ein Wesen mit verbundenen Augen: Guste Daimchen, die sich auf diese Weise einen Herrn suchen sollte. Von rückwärts betastete sie Diederich und wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Er machte sich steif und wiederholte drohend: »Herrliche Tage!« Sie riß das Tuch herunter, starrte ihn angstvoll an und holte seine Schwestern. Auch Buck sah ein, daß es angezeigt sei, aufzubrechen. Unauffällig stützte er den Freund beim Abgang, konnte aber nicht verhindern, daß Diederich in der Tür sich nochmals umwandte, der tanzenden, gaffenden Menge zu, gebieterisch aufgereckt, wenn auch verglast und ohne Blitzen.

»Zerschmettere ich!«

Dann ward er hinunter und in den Wagen befördert.

 

Als er gegen Mittag mit schweren Kopfschmerzen das Familienzimmer betrat, war er sehr erstaunt, daß Emmi es entrüstet verließ. Aber Magda brauchte ihm nur einige vorsichtige Andeutungen zu machen, da wußte er schon wieder, um was es sich handelte. »Hab ich das wirklich gemacht? Na ja, ich gebe zu, es waren Damen dabei. Es gibt verschiedene Arten, sich als deutscher Mann zu zeigen: bei den Damen ist es wieder eine andere ... Natürlich beeilt man sich in solchem Fall, die Sache in der loyalsten und korrektesten Weise beizulegen.«

Obwohl er kaum aus den Augen sehen konnte, war ihm klar, was zu geschehen hatte. Indes ein zweispänniger Paradewagen herbeigeholt ward, bekleidete er sich mit Gehrock, weißer Krawatte und Zylinder; dann überreichte er dem Kutscher die von Magda aufgesetzte Liste und fuhr los. Überall verlangte er nach den Damen; manche schreckte er vom Mittagessen auf – und ohne deutlich zu erkennen, ob er Frau Harnisch, Frau Daimchen oder Frau Tietz vor sich habe, sagte er mit rauher Katerstimme her: »Ich gebe zu ... Als deutscher Mann, bei Damen ... Loyalste und korrekteste Weise ...«

Um halb zwei war er zurück und ließ sich aufseufzend zum Essen nieder. »Die Sache ist beigelegt.«

Der Nachmittag gehörte einer schwierigeren Aufgabe. Diederich ließ Napoleon Fischer hinauf in seine Privatwohnung kommen.

»Herr Fischer«, sagte er und wies ihm einen Stuhl an, »ich empfange Sie hier und nicht in meinem Büro, weil den Herrn Sötbier unsere Angelegenheiten nichts angehen. Es betrifft nämlich die Politik.«

Napoleon Fischer nickte, als habe er sich dies schon gedacht. Er schien an solche vertraulichen Unterredungen nunmehr gewöhnt, auf Diederichs ersten Wink griff er sogleich in die Zigarrenkiste; er schlug sogar das Bein über. Diederich war weit weniger sicher; er schnaufte – und dann entschloß er sich, ohne Umschweife, mit brutaler Ehrlichkeit auf sein Ziel loszugehen. Bismarck hatte es auch so gemacht.

»Ich will nämlich Stadtverordneter werden«, erklärte er, »und dazu brauche ich Sie.«

Der Maschinenmeister warf ihm einen Blick von unten zu. »Ich Sie auch«, sagte er. »Denn ich will auch Stadtverordneter werden.«

»Nanu, na hören Sie mal! Ich war auf manches gefaßt ...«

»Sie hatten wohl schon wieder ein paar Doppelkronen in der Hand?« – und der Proletarier fletschte die gelben Zähne. Er versteckte sein Grinsen gar nicht mehr. Diederich begriff, daß in Wahlsachen weniger leicht mit ihm zu reden sein werde als über eine geschundene Arbeiterin. »Nämlich, Herr Doktor«, begann Napoleon, »den einen von den beiden Sitzen hat meine Partei bombensicher. Den andern kriegen wahrscheinlich die Freisinnigen. Wenn Sie die rausschmeißen wollen, brauchen Sie uns.«

»So weit seh ich es ein«, sagte Diederich. »Ich habe zwar auch den alten Buck für mich. Aber seine Leute sind vielleicht nicht alle so vertrauensselig, daß sie mich wählen, wenn ich mich als Freisinniger aufstellen lasse. Sicherer ist es, ich vertrage mich auch mit Ihnen.«

»Und ich hab auch schon 'ne Ahnung, wieso Sie das machen können«, erklärte Napoleon. »Weil ich nämlich schon längst 'n Auge auf Herrn Doktor habe, ob er nun nicht bald in die politische Arena reinsteigt.«

Napoleon blies Ringe, so sehr war er auf der Höhe!

»Ihr Prozeß, Herr Doktor, und dann das mit dem Kriegerverein und so, das war alles ganz schön, als Reklame. Aber für einen Politiker heißt es doch immer: wie viele Stimmen krieg ich.«

Napoleon teilte aus dem Schatz seiner Erfahrungen mit! Als er vom »nationalen Rummel« sprach, wollte Diederich protestieren; aber Napoleon fertigte ihn schnell ab.

»Was wollen Sie denn? Wir in unserer Partei haben gewissermaßen allerhand Achtung vor dem nationalen Rummel. Bessere Geschäfte sind allemal damit zu machen als mit dem Freisinn. Die bürgerliche Demokratie fährt bald in einer einzigen Droschke ab.«

»Und die vermöbeln wir ihr auch noch!« rief Diederich. Die Bundesgenossen lachten vor Vergnügen. Diederich holte eine Flasche Bier.

»A–ber«, machte der Sozialdemokrat; und er rückte mit seiner Bedingung heraus; ein Gewerkschaftshaus, bei dessen Bau die Partei von der Stadt zu unterstützen war! ... Diederich sprang vom Stuhl. »Und das erdreisten Sie sich von einem nationalen Mann zu verlangen?«

Der andere blieb gelassen und ironisch. »Wenn wir dem nationalen Mann nicht helfen, daß er gewählt wird, wo bleibt dann der nationale Mann?« – Und Diederich mochte sich empören oder um Gnade flehen, er mußte auf ein Blatt Papier schreiben, daß er für das Gewerkschaftshaus nicht nur selbst stimmen, sondern auch die ihm nahestehenden Stadtverordneten bearbeiten werde. Darauf erklärte er barsch die Unterredung für beendet und nahm dem Maschinenmeister die Bierflasche aus der Hand. Aber Napoleon Fischer zwinkerte. Überhaupt dürfe der Herr Doktor froh sein, daß er mit ihm und nicht mit dem Parteibudiker Rille verhandele. Denn Rille, der für seine eigene Wahl agitiere, wäre zu dem Kompromiß nicht zu haben gewesen. Und in der Partei seien die Meinungen geteilt; Diederich habe also allen Grund, in der ihm nahestehenden Presse etwas für die Kandidatur Fischer zu tun. »Wenn fremde Leute, zum Beispiel Rille, sollten die Nase in Ihre Geschichten stecken, Herr Doktor, dafür werden Sie sich wohl bedanken. Bei uns beiden ist es was anderes. Wir haben schon mehr Dreck zusammen verscharrt.«

Damit ging er und überließ Diederich seinen Gefühlen. ›Schon mehr Dreck zusammen verscharrt!‹ dachte Diederich, und Angstschauer kreuzten sich in ihm mit Wallungen des Zorns. Das durfte der Hund ihm sagen, sein eigener Kuli, den er jeden Augenblick auf die Straße werfen konnte! Vielmehr, leider ging das nicht, denn es war wahr, sie hatten Dreck verscharrt. Der Holländer! Die geschundene Arbeiterin! Eine Vertraulichkeit zog die andere nach sich: jetzt waren Diederich und sein Prolet nicht nur im Betrieb aufeinander angewiesen, sondern auch politisch. Am liebsten hätte Diederich mit dem Parteibudiker Rille angebunden; aber dann war zu fürchten, daß Napoleon Fischer in seiner Rachsucht auspackte, was er wußte. Diederich sah sich genötigt, ihm auch noch gegen Rille zu helfen. ›Aber‹ – er schüttelte die Faust gegen die Zimmerdecke – ›wir sprechen uns wieder. Und wenn es zehn Jahre dauert, die Abrechnung kommt!‹

Hiernach oblag es ihm, dem alten Herrn Buck einen Besuch zu machen und sein biedermännisches und schöngeistiges Gerede mit Ergebenheit anzuhören. Dafür ward er Kandidat der freisinnigen Partei ... In der »Netziger Zeitung«, die in einem warmen Artikel Herrn Doktor Heßling als Mensch, Bürger und Politiker den Wählern empfahl, ward gleich darunter, wenn auch in kleinerem Druck, die Aufstellung des Arbeiters Fischer scharf beanstandet. Die sozialdemokratische Partei verfügte, man mußte es leider zugeben, über genug selbständige Gewerbetreibende, sie brauchte den bürgerlichen Stadtverordneten nicht den kollegialen Verkehr mit einem gewöhnlichen Arbeiter zuzumuten. Sollte insbesondere Herr Doktor Heßling im Schoße der städtischen Körperschaft seinem eigenen Maschinenmeister begegnen?

Dieser Ausfall des bürgerlichen Blattes stellte unter den Sozialdemokraten volle Einmütigkeit her; sogar Rille mußte sich für Napoleon erklären – der mit Glanz durch das Ziel ging. Diederich bekam von der Partei, die ihn aufstellte, nur die Hälfte der Stimmen, aber ihn retteten die Genossen. Die beiden Gewählten wurden gemeinsam in die Versammlung eingeführt. Bürgermeister Doktor Scheffelweis beglückwünschte sie, mit dem Hinweis, daß einerseits der tätige Bürger, andererseits der emporstrebende Arbeiter –.

Und schon in der nächsten Sitzung griff Diederich in die Verhandlungen ein.

Zur Debatte stand die Kanalisation der Gäbbelchenstraße. Eine beträchtliche Anzahl jener alten Vorstadthäuser befand sich noch heute, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im wenig rühmlichen Besitz von Abortgruben, deren Ausdünstungen zuzeiten die ganze Gegend überschwemmten. Bei seinem Besuch im Grünen Engel hatte Diederich die Wahrnehmung gemacht. So wandte er sich denn mit Nachdruck gegen die finanztechnischen Bedenken des Magistratsvertreters. Eine Forderung der Kulturehre dürfe kleinlichen Rücksichten nicht weichen. »Deutschtum heißt Kultur!« rief Diederich aus. »Meine Herren! Das hat kein Geringerer gesagt als Seine Majestät der Kaiser. Und bei anderer Gelegenheit hat Seine Majestät das Wort gesprochen: Die Schweinerei muß ein Ende nehmen. Wo nur immer großzügig vorgegangen wird, da leuchtet uns das erhabene Beispiel Seiner Majestät voran, und darum, meine Herren –«

»Hurra!« rief eine Stimme links, und Diederich begegnete dem Grinsen Napoleon Fischers. Da reckte er sich auf, er blitzte. »Sehr richtig!« versetzte er schneidend. »Ich kann nicht besser schließen. Seine Majestät der Kaiser hurra, hurra, hurra!«

Verblüfftes Schweigen – aber da die Sozialdemokraten lachten, riefen rechts einige hurra. Doktor Heuteufel warf die Frage dazwischen, ob der merkwürdige Zusammenhang, in den Herr Doktor Heßling die Person des Kaisers gebracht habe, nicht eigentlich eine Majestätsbeleidigung darstelle. Aber der Vorsitzende klingelte schnell. In der Presse jedoch ward weiter debattiert. Die »Volksstimme« behauptete, Herr Heßling trage in die Stadtverordnetenversammlung den Geist des übelsten Byzantinismus, wohingegen die »Netziger Zeitung« seine Rede als die erfrischende Tat eines unbefangenen Patrioten bezeichnete. Daß es sich aber um einen wahrhaft bedeutsamen Vorgang handelte, ward erst klar, als es im »Berliner Lokal-Anzeiger« stand. Das Blatt Seiner Majestät war über das mutige Auftreten des Netziger Stadtverordneten Doktor Heßling des Lobes voll. Es stellte mit Genugtuung fest, daß der neue, entschlossen nationale Geist, für den der Kaiser eintrete, nunmehr auch im Lande Fortschritte mache. Die kaiserliche Mahnung werde befolgt, der Bürger erwache aus dem Schlummer, die Scheidung zwischen denen für ihn und denen wider ihn vollziehe sich. »Möchten viele wackere Vertreter unserer Städte dem Beispiel des Doktor Heßling folgen!«

Diese Nummer des »Lokal-Anzeigers« trug Diederich schon acht Tage lang auf dem Herzen, da schlich er sich um die stillste Vormittagsstunde, unter Vermeidung der Kaiser-Wilhelm-Straße, von rückwärts in die Bierstube von Klappsch, wo er Gesellschaft fand: Napoleon Fischer und den Parteiwirt Rille. Obwohl das Lokal ganz leer war, zogen die drei sich in den äußersten Winkel zurück; Fräulein Klappsch ward, kaum daß sie das Bier gebracht hatte, hinausgeschickt; und Klappsch selbst, der an der Tür horchte, hörte nur tuscheln. Er versuchte die Klappe zu Hilfe zu nehmen, durch die er bei stärkerem Besuch die Gläser hineinreichte; aber Rille, der damit Bescheid wußte, schlug sie ihm vor der Nase zu. Immerhin hatte der Wirt gemerkt, daß Doktor Heßling aufgesprungen war und im Begriff schien, wegzugehen. Dazu werde er als nationaler Mann niemals die Hand bieten! ... Später aber wollte Fräulein Klappsch, die zum Zahlen gerufen ward, doch ein Papier gesehen haben, das von allen drei unterschrieben war.

 

Denselben Tag nachmittags hatten Emmi und Magda eine Einladung zum Tee bei Frau von Wulckow, und Diederich begleitete sie. Erhobenen Hauptes schritten die Geschwister über die Kaiser-Wilhelm-Straße, Diederich lüftete kühl den Zylinder vor den Herren, die von den Stufen der Freimaurerloge erstaunt zusahen, wie er das Gebäude der Regierung betrat. Den Wachtposten begrüßte er mit einer jovialen Handbewegung. Droben in der Garderobe stieß man auf Offiziere und ihre Damen, denen die beiden Fräulein Heßling schon bekannt waren. Die Sporen zusammenschlagend, zog der Leutnant von Brietzen Emmi den Mantel aus, und sie dankte ihm über die Schulter, wie eine Gräfin. Sodann trat sie Diederich auf den Fuß, damit er merke, auf welchen heißen Boden er versetzt sei. Und wirklich, als man nun Herrn von Brietzen den Vortritt in den Salon aufgenötigt, vor der Präsidentin entzückte Kratzfüße ausgeführt hatte und mit allen bekannt geworden war: welche Aufgabe, so ehrenvoll wie gefährlich, auf einem Stühlchen zwischen Damenkleider eingeengt, die Teetasse im Gleichgewicht zu erhalten, während man Kuchenteller weitergab, und mit den Kuchen ein huldigendes Lächeln zu spenden und beim Essen ein schmelzendes Wort über die so gelungene Aufführung der »Heimlichen Gräfin« zu liefern, ein männlich anerkennendes für die großzügige Verwaltungstätigkeit des Präsidenten, ein gewichtiges über Umsturz und Kaisertreue – und dabei noch den Wulckowschen Hund zu füttern, der bettelte! An die anspruchslose Gesellschaft des Ratskellers oder des Kriegervereins durfte man hier nicht denken; es hieß mit aufreibendem Lächeln in die wasserhellen Augen des Hauptmanns von Köckeritz starren, dessen Glatze weiß, dessen Gesicht von der Mitte der Stirn abwärts feuerrot war und der vom Exerzierplatz erzählte. Und wenn einem vor Gespanntheit auf die Frage, ob man gedient habe, schon der Schweiß ausbrach, erlebte man es unversehens, daß die Dame neben einem, die ihr weißblondes Haar glatt über den Kopf hinaufkämmte und eine sonnenverbrannte Nase hatte, von Pferden zu sprechen anfing ... Diesmal ward Diederich durch Emmi gerettet, denn Emmi, unterstützt von Herrn von Brietzen, mit dem sie geradezu auf vertrautem Fuß zu stehen schien, griff gewandt in das Pferdegespräch ein, gebrauchte fachmännische Ausdrücke, ja, schreckte nicht davor zurück, von Ritten ins Gelände zu phantasieren, die sie auf dem Gut einer Tante unternommen haben wollte. Als der Leutnant sich dann erbot, mit ihr auszureiten, schützte sie die arme Frau Heßling vor, die es nicht erlaube. Diederich erkannte Emmi nicht wieder. Ihre unheimlichen Talente ließen Magda, der es doch gelungen war, sich zu verloben, hier ganz im Schatten. Nicht ohne Bangen ward Diederich, wie nach seiner Rückkehr aus dem Grünen Engel, sich der unberechenbaren Wege bewußt, die ein Mädchen, wenn man es nicht sah – Da bemerkte er, daß er eine Frage der Präsidentin überhört hatte und daß man schwieg, weil er antworten sollte. Er suchte in der Luft nach Hilfe, stieß aber nur auf den unerbittlichen Blick eines großen Bildnisses, bleich und steinern, in roter Husarenuniform, eine Hand auf der Hüfte, der Schnurrbart an den Augenwinkeln, und der Blick über die Schulter hinweg kalt blitzend! Diederich erbebte, er verschluckte sich mit Tee, Herr von Brietzen klopfte ihm den Rücken.

Eine Dame, die bisher nur immer gegessen hatte, sollte jetzt singen. Im Musikzimmer hatte man sich gruppiert. Diederich, an der Tür, zog verstohlen die Uhr, da hüstelte hinter ihm die Präsidentin. »Ich weiß wohl, lieber Doktor, daß Sie nicht uns und unserer leichten, ich möchte sagen allzu leichten Konversation Ihre Zeit opfern, die so ernsten Pflichten gehört. Mein Mann erwartet Sie, kommen Sie nur.« Den Finger auf den Lippen, ging sie voran, über einen Gang, durch ein leeres Vorzimmer ... Ganz leise klopfte sie. Da keine Antwort kam, sah sie ängstlich auf Diederich, dem auch nicht wohl war. »Ottochen«, versuchte sie, zärtlich an die verschlossene Tür geschmiegt. Nach einer Weile des Lauschens erhob sich drinnen die fürchterliche Baßstimme: »Hier ist kein Ottochen! Sag den Schafsköpfen, sie sollen ihren Tee allein saufen!« – »Er ist so sehr beschäftigt«, flüsterte Frau von Wulckow, ein wenig bleicher. »Die Schlechtgesinnten untergraben seine Gesundheit ... Leider muß ich mich jetzt meinen Gästen widmen, der Diener soll Sie anmelden.« Und sie entschwebte.

Diederich wartete vergeblich auf den Diener, lange Minuten. Dann aber trat der Wulckowsche Hund ein, schritt riesenhaft und voll Verachtung an Diederich vorbei und kratzte an der Tür. Sofort ertönte es drinnen: »Schnaps! Komm herein!« – worauf die Dogge die Tür aufklinkte. Da sie vergaß, sie wieder zu schließen, erlaubte Diederich sich, mit hineinzuschlüpfen. Herr von Wulckow saß in einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheuren Rücken her.

»Guten Tag, Herr Präsident«, sagte Diederich, mit einem Kratzfuß. »Na nu quatschst du auch schon, Schnaps?« fragte Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zündete langsam eine neue Zigarre an ... ›Jetzt kommt es‹, dachte Diederich. Aber dann begann Wulckow etwas anderes zu schreiben. Interesse an Diederich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast hier noch weniger am Platz, seine Verachtung ging in Feindseligkeit über; mit gefletschten Zähnen beschnupperte er Diederichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diederich tanzte, so geräuschlos wie möglich, von einem Fuß auf den andern, und die Dogge knurrte drohend aber leise, wohl wissend, ihr Herr könne es sonst nicht weiterkommen lassen. Endlich gelang es Diederich, zwischen sich und seinen Feind einen Stuhl zu bringen, an den geklammert er sich umherdrehte, bald langsamer, bald schneller, und immer auf der Hut vor Schnaps' Seitensprüngen. Einmal sah er Wulckow den Kopf ein wenig wenden und glaubte ihn schmunzeln zu sehen. Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging zum Herrn und ließ sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelagert, maß er mit kühnen Jägerblicken Diederich, der sich den Schweiß wischte.

›Gemeines Vieh!‹ dachte Diederich – und plötzlich wallte es auf in ihm. Empörung und der dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, er dachte, mit unterdrücktem Keuchen: ›Wer bin ich, daß ich mir das muß bieten lassen? Mein letzter Maschinenschmierer läßt sich das von mir nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter! Dieser ungebildete Flegel hat mich nötiger als ich ihn!‹ Alles, was er heute nachmittag erlebt hatte, nahm den übelsten Sinn an. Man hatte ihn verhöhnt, der Bengel von Leutnant hatte ihm den Rücken geklopft! Diese Kommißknöpfe und adeligen Puten hatten die ganze Zeit von ihren albernen Angelegenheiten geredet und ihn wie dumm dabei sitzen lassen! ›Und wer bezahlt die frechen Hungerleider? Wir!‹ Gesinnung und Gefühle, alles stürzte in Diederichs Brust auf einmal zusammen, und aus den Trümmern schlug wild die Lohe des Hasses. ›Menschenschinder! Säbelraßler! Hochnäsiges Pack! ... Wenn wir mal Schluß machen mit der ganzen Bande –!‹ Die Fäuste ballten sich ihm von selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbände und sie selbst, die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! ... Von der Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern hernieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gesträubt, blitzend: Diederich aber, in wüster Selbstvergessenheit, hob die Faust.

Da knurrte der Wulckowsche Hund, unter dem Präsidenten hervor aber kam ein donnerndes Geräusch, ein langhinrollendes Geknatter – und Diederich erschrak tief. Er verstand nicht, was dies für ein Anfall gewesen war. Das Gebäude der Ordnung, wieder aufgerichtet in seiner Brust, zitterte nur noch leise. Der Herr Regierungspräsident hatte wichtige Staatsgeschäfte. Man wartete eben, bis er einen bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung und sorgte für gute Geschäfte ...

»Na, Doktorchen?« sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. »Was ist mit Ihnen los? Sie werden ja der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz.«

»Ich darf mir schmeicheln«, stammelte Diederich. »Einiges habe ich schon erreicht für die nationale Sache.«

Wulckow blies ihm einen mächtigen Rauchkegel ins Gesicht, dann kam er ihm ganz nahe mit seinen warmblütigen, zynischen Augen und ihrer Mongolenfalte. »Sie haben erstens erreicht, Doktorchen, daß Sie Stadtverordneter geworden sind. Wie, das wollen wir auf sich beruhen lassen. Jedenfalls konnten Sie es brauchen, denn Ihr Geschäft soll ja 'ne ziemlich faule Karre sein.« Da Diederich zusammenzuckte, lachte Wulckow dröhnend. »Lassen Sie nur, Sie sind mein Mann. Was meinen Sie, das ich da geschrieben habe?« Das große Blatt Papier verschwand unter der Pranke, die er darauf legte. »Da verlange ich vom Minister einen kleinen Piepmatz für einen gewissen Doktor Heßling, in Anerkennung seiner Verdienste um die gute Gesinnung in Netzig ... Für so nett haben Sie mich wohl gar nicht gehalten?« setzte er hinzu, denn Diederich, mit einer Miene, geblendet und wie mit Blödheit geschlagen, machte von seinem Stuhl herab immerfort Verbeugungen. »Ich weiß tatsächlich nicht«, brachte er hervor. »Meine bescheidenen Verdienste –«

»Aller Anfang ist schwer«, sagte Wulckow. »Es soll auch nur eine Aufmunterung sein. Ihre Haltung im Prozeß Lauer war nicht übel. Na und Ihr Kaiserhoch in der Kanalisationsdebatte hat die antimonarchische Presse ganz aus dem Häuschen gebracht. Schon an drei Orten im Lande ist deshalb Anklage wegen Majestätsbeleidigung erhoben. Da müssen wir uns Ihnen wohl erkenntlich zeigen.«

Diederich rief aus: »Mein schönster Lohn ist es, daß der ›Lokal-Anzeiger‹ meinen schlicht bürgerlichen Namen vor die Allerhöchsten Augen selbst gebracht hat!«

»Na, nu nehmen Sie sich mal 'ne Zigarre«, schloß Wulckow; und Diederich begriff, daß jetzt die Geschäfte kamen. Schon inmitten der Hochgefühle waren ihm Zweifel aufgestiegen, ob Wulckows Gnade vor allem andern nicht eine ganz besondere Ursache habe. Er sagte versuchsweise: »Für die Bahn nach Ratzenhausen wird die Stadt nun doch wohl den Beitrag bewilligen.«

Wulckow streckte den Kopf vor. »Ihr Glück. Wir haben sonst ein billigeres Projekt, darauf wird Netzig überhaupt nicht berührt. Also sorgen Sie dafür, daß die Leute Vernunft annehmen. Unter der Bedingung dürft ihr dann dem Rittergut Quitzin euer Licht liefern.«

»Das will der Magistrat auch nicht.« Diederich bat mit den Händen um Nachsicht. »Die Stadt hat Schaden dabei, und Herr von Quitzin zahlt uns keine Steuern ... Aber jetzt bin ich Stadtverordneter, und als nationaler Mann –«

»Das möchte ich mir ausbitten. Mein Vetter, Herr von Quitzin, baut sich sonst einfach ein Elektrizitätswerk, das hat er billig, was glauben Sie, zwei Minister kommen bei ihm zur Jagd – und dann unterbietet er euch, hier in Netzig selbst.«

Diederich richtete sich auf. »Ich bin entschlossen, Herr Präsident, allen Anfeindungen zum Trotz in Netzig das nationale Banner hochzuhalten.« Hierauf, mit gedämpfter Stimme: »Einen Feind können wir übrigens loswerden: einen besonders schlimmen, jawohl, den alten Klüsing in Gausenfeld.«

»Der?« Wulckow feixte verächtlich. »Der frißt mir aus der Hand. Er liefert Papier für die Kreisblätter.«

»Wissen Sie, ob er für schlechte Blätter nicht noch mehr liefert? Darüber, Herr Präsident verzeihen, bin ich doch wohl besser informiert.«

»Die ›Netziger Zeitung‹ ist jetzt in nationaler Beziehung zuverlässiger geworden.«

»Und zwar –«, Diederich nickte gewichtig, »seit dem Tage, an dem der alte Klüsing mir, Herr Präsident, einen Teil der Papierlieferung hat anbieten lassen. Gausenfeld sei überlastet. Natürlich hatte er Angst, daß ich mich an einem nationalen Konkurrenzblatt beteilige. Und vielleicht hatte er auch Angst« – eine bedeutsame Pause –, »daß der Herr Präsident das Papier für die Kreisblätter lieber bei einem nationalen Werk bestellt.«

»Also – Sie liefern jetzt für die ›Netziger Zeitung‹?«

»Niemals, Herr Präsident, werde ich meine nationale Gesinnung so sehr verleugnen, daß ich an eine Zeitung liefere, solange noch freisinniges Geld drin ist.«

»Na schön.« Wulckow stemmte die Fäuste auf die Schenkel. »Jetzt brauchen Sie nichts mehr zu sagen. Sie wollen bei der ›Netziger Zeitung‹ das Ganze. Die Kreisblätter wollen Sie auch. Wahrscheinlich auch die Papierlieferungen für die Regierung. Sonst noch was?«

Und Diederich, sachlich: »Herr Präsident, ich bin nicht wie Klüsing, mit dem Umsturz mach ich keine Geschäfte. Wenn Sie, Herr Präsident, auch als Vorstand der Bibelgesellschaft mein Unternehmen stützen wollten, ich darf sagen, die nationale Sache würde nur gewinnen.«

»Na schön«, wiederholte Wulckow und zwinkerte. Diederich spielte seinen Trumpf aus.

»Herr Präsident! Unter Klüsing ist Gausenfeid eine Brutstätte des Umsturzes. Bei seinen achthundert Arbeitern ist nicht einer dabei, der anders wählt als sozialdemokratisch.«

»Na und bei Ihnen?«

Diederich schlug sich auf die Brust. »Gott ist mein Zeuge, daß ich lieber noch heute die Bude zumache und mit den Meinen ins Elend hinausziehe, als daß ich einen einzigen Mann bei mir dulde, von dem ich weiß, er ist nicht kaisertreu.«

»Sehr brauchbare Gesinnung«, sagte Wulckow. Diederich sah ihn mit blauen Augen an. »Ich nehme nur gediente Leute, vier haben den Krieg mitgemacht. Jugendliche beschäftige ich gar nicht mehr, seit der Geschichte mit dem Arbeiter, den der Wachtposten auf dem Felde der Ehre, wie Seine Majestät festzustellen geruhten, niedergestreckt hat, nachdem der Kerl mit seiner Braut hinter meinen Lumpen –«

Wulckow winkte ab. »Ihre Sorge, Doktorchen!«

Diederich ließ sich seinen Entwurf nicht verderben. »Unter meinen Lumpen darf kein Umsturz vorkommen. Mit Ihren Lumpen, ich meine in der Politik, ist es anders. Da können wir den Umsturz brauchen, damit aus den freisinnigen Lumpen weißes, kaisertreues Papier wird.« Und er machte eine tief bedeutungsvolle Miene. Wulckow schien nicht verblüfft, er schmunzelte furchtbar.

»Doktorchen, ich bin auch nicht von gestern. Legen Sie los, was haben Sie mit Ihrem Maschinenmeister ausgeknobelt.«

Da er Diederich wanken sah, fuhr Wulckow fort: »Das ist auch einer von den Altgedienten, wie, Herr Stadtverordneter?«

Diederich schluckte, er sah, daß es keinen Umweg mehr gab. »Herr Präsident«, sagte er mit einem Entschluß; und dann leise und hastig: »Der Mann will in den Reichstag, und vom nationalen Standpunkt ist er besser als Heuteufel. Denn erstens werden viele Freisinnige vor Schreck national werden, und zweitens kriegen wir, wenn Napoleon Fischer gewählt wird, in Netzig ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Ich habe es schriftlich.«

Er breitete ein Papier hin vor den Präsidenten. Wulckow las, dann stand er auf, warf den Stuhl mit dem Fuß fort und ging, Rauch ausstoßend, durch das Zimmer. »Also Kühlemann kratzt ab, und von seiner halben Million baut die Stadt kein Säuglingsheim, sondern ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal.« Er blieb stehen. »Merken Sie sich das, mein Lieber, in Ihrem eigensten Interesse! Wenn Netzig nachher einen Sozialdemokraten im Reichstag, aber keinen Wilhelm den Großen hat, dann lernen Sie mich kennen. Ich mache Frikassee aus Ihnen! Ich schlag Sie so klein, daß Sie nicht mal mehr im Säuglingsheim Aufnahme finden!«

Diederich war mitsamt seinem Stuhl zurückgewichen bis an die Wand. »Herr Präsident! Alles, was ich bin, meine ganze Zukunft setze ich ein für diese große nationale Sache. Auch mir kann etwas Menschliches passieren ...«

»Dann gnade Ihnen Gott!«

»Wenn nun Kühlemanns Nierensteine sich doch noch verziehen?«

»Sie haben die Verantwortung! Um meinen Kopf geht es auch!« Wulckow ließ sich krachend auf seinen Sitz fallen. Er rauchte wütend. Als die Wolken zergingen, hatte er sich aufgeheitert. »Was ich Ihnen auf dem Harmoniefest gesagt habe, dabei bleibt es. Dieser Reichstag macht es nicht mehr lange, arbeiten Sie vor in der Stadt. Helfen Sie mir gegen Buck, ich helfe Ihnen gegen Klüsing.«

»Herr Präsident!« Wulckows Lächeln schuf in Diederich einen Überschwang von Hoffnung, er konnte nicht an sich halten. »Wenn Sie es ihn unterderhand wissen ließen, daß Sie ihm eventuell die Aufträge entziehen! An die große Glocke hängt er es nicht, das brauchen Sie nicht zu fürchten; aber er wird seine Anstalten treffen. Vielleicht handelt er –«

»Mit seinem Nachfolger«, schloß Wulckow. Da mußte Diederich aufspringen und seinerseits durch das Zimmer laufen. »Wenn Sie wüßten, Herr Präsident ... Gausenfeld ist sozusagen eine Maschine mit Tausendpferdekraft, und die steht da und verrostet, weil der Strom fehlt, ich will sagen, der moderne, großzügige Geist!«

»Den scheinen Sie zu haben«, meinte Wulckow.

»Im Dienst der nationalen Sache«, beteuerte Diederich. Er kehrte zurück. »Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Komitee wird sich glücklich schätzen, wenn es uns gelingen würde, daß Sie so gut sind, Herr Präsident, und bekunden der Sache Ihr geschätztes Interesse durch Annahme des Ehrenvorsitzes.«

»Gemacht«, sagte Wulckow.

»Die aufopfernde Tätigkeit seines Herrn Ehrenvorsitzenden wird das Komitee entsprechend zu würdigen wissen.«

»Erklären Sie sich mal näher!« In Wulckows Stimme grollte es unheilvoll, aber Diederich bei seiner Angeregtheit überhörte es.

»Die Idee hat bereits zu gewissen Erörterungen im Schoße des Komitees geführt. Man wünscht das Denkmal in frequentester Lage zu errichten und mit einem Volkspark zu umgeben, damit nämlich die unlösbare Verbindung von Herrscher und Volk sinnfällig in die Erscheinung tritt. Da haben wir nun im Zentrum der Stadt an ein größeres Grundstück gedacht; auch die Nachbargebäude wären zu haben; es ist in der Meisestraße.«

»Soso. Meisestraße.« Wulckows Brauen hatten sich gewitterhaft zusammengezogen. Diederich erschrak, aber es gab kein Halten mehr.

»Der Gedanke ist aufgetaucht, daß wir uns, noch bevor die Stadt der Sache näher tritt, die betreffenden Grundstücke sichern und unbefugten Spekulationen zuvorkommen sollen. Unser Herr Ehrenvorsitzender hätte natürlich das erste Anrecht ...«

Nach diesem Wort wich Diederich zurück, der Sturm brach los. »Herr! Für wen halten Sie mich? Bin ich Ihr Geschäftsagent? Das ist unerhört, das war noch nicht da! So ein Koofmich mutet dem Königlichen Regierungspräsidenten zu, er soll seine schmutzigen Geschäfte mitmachen!«

Wulckow dröhnte übermenschlich, er drang mit seiner gewaltigen Körperwärme und mit seinem persönlichen Geruch gegen Diederich vor, der sich rückwärts bewegte. Auch der Hund war aufgestanden und ging kläffend zum Angriff über. Das Zimmer war auf einmal erfüllt von Graus und Getöse.

»Sie machen sich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig, Herr!« schrie Wulckow, und Diederich, der hinter sich nach der Tür tastete, hatte nur Vermutungen darüber, wer ihm früher an der Kehle sitzen werde, der Hund oder der Präsident. Seine angstvoll irrenden Augen trafen das bleiche Gesicht, das von der Wand herab drohte und blitzte. Nun hatte er sie an der Kehle, die Macht! Vermessen hatte er sich, mit der Macht auf vertrautem Fuß zu verkehren. Das war sein Verderben, sie brach über ihn herein mit dem Entsetzen eines Weltuntergangs ... Die Tür hinter dem Schreibtisch ging auf, jemand in Polizeiuniform trat ein. Den schlotternden Diederich überraschte er nicht mehr. Wulckow ward durch die Gegenwart der Uniform auf einen neuen furchtbaren Gedanken gebracht. »Ich kann Sie augenblicklich verhaften lassen, Sie Jammerprinz, wegen versuchter Beamtenbestechung, wegen Bestechungsversuch an einer Behörde, an der obersten Behörde des Regierungsbezirks! Ich bringe Sie ins Zuchthaus, ich ruiniere Sie für Ihr Leben!«

Auf den Herrn von der Polizei schien dieses Jüngste Gericht nicht entfernt den Eindruck zu machen wie auf Diederich. Er legte das Papier, das er brachte, auf den Schreibtisch nieder und verschwand. Übrigens drehte auch Wulckow sich plötzlich um; er zündete seine Zigarre wieder an, Diederich war nicht mehr da für ihn. Und auch Schnaps ließ von ihm ab, als sei er Luft. Da wagte Diederich es, die Hände zu falten.

»Herr Präsident«, flüsterte er wankend, »Herr Präsident, erlauben Herr Präsident, daß ich feststellen darf, es liegt ein, darf ich feststellen, tief bedauerliches Mißverständnis vor. Nie würde ich, bei meiner wohlbekannten nationalen Gesinnung – Wie könnte ich!«

Er wartete, aber niemand bekümmerte sich um ihn.

»Wenn ich auf meinen Vorteil sähe«, begann er wieder, um etwas vernehmlicher, »anstatt, daß ich immer nur das nationale Interesse im Auge habe, dann wäre ich heute nicht hier, dann wäre ich bei dem Herrn Buck. Denn der Herr Buck, jawohl, der hat mir zugemutet, ich soll mein Grundstück an die Stadt verkaufen, für das freisinnige Säuglingsheim. Aber das Ansinnen hab ich mit Entrüstung zurückgewiesen und habe den graden Weg gefunden zu Ihnen, Herr Präsident. Denn besser, hab ich gesagt, das Denkmal Kaiser Wilhelms des Großen im Herzen als das Säuglingsheim in der Tasche, hab ich gesagt und sag es auch hier, mit lauter Stimme!«

Da Diederich in der Tat die Stimme erhob, wandte Wulckow sich ihm zu. »Sind Sie noch immer da?« fragte er. Und Diederich, aufs neue ersterbend: »Herr Präsident –« »Was wollen Sie noch? Ich kenne Sie überhaupt nicht. Habe nie mit Ihnen verhandelt.«

»Herr Präsident, im nationalen Interesse –«

»Mit Grundstücksspekulanten verhandele ich nicht. Verkaufen Sie Ihr Grundstück, und dalli; nachher können wir reden.«

Diederich, erblaßt, mit dem Gefühl, als werde er an der Wand zerquetscht: »In dem Fall bleibt es bei unseren Bedingungen? Der Orden? Der Wink an Klüsing? Der Ehrenvorsitz?«

Wulckow zog eine Grimasse. »Meinetwegen. Aber sofort verkaufen!«

Diederich rang nach Atem. »Ich bringe das Opfer!« erklärte er. »Denn das Höchste, was der kaisertreue Mann hat, meine kaisertreue Gesinnung, muß über jedem Verdacht stehn.«

»Na ja«, sagte Wulckow, indes Diederich sich zurückzog, stolz auf seinen Abgang, wenn auch beengt durch die Empfindung, daß der Präsident ihn als Bundesgenossen nicht lieber ertrug als er selbst seinen Maschinenmeister.

Im Salon fand er Emmi und Magda ganz allein, in einem Prachtwerk blätternd. Die Gäste waren fort, und auch Frau von Wulckow hatte sie verlassen, weil sie sich anziehen mußte, zur Soiree bei der Frau Oberst von Haffke. »Meine Unterredung mit dem Präsidenten ist für beide Teile durchaus befriedigend verlaufen«, stellte Diederich fest; und draußen auf der Straße: »Da sieht man, was es heißt, wenn zwei loyale Männer verhandeln. In dem heutigen verjudeten Geschäftsbetrieb kennt man das gar nicht mehr.«

Emmi, gleichfalls sehr angeregt, erklärte, daß sie Reitstunden nehmen werde. »Wenn ich dir das Geld gebe«, sagte Diederich, aber nur der Ordnung wegen, denn er war stolz auf Emmi. »Hat Leutnant von Brietzen nicht Schwestern?« bemerkte er. »Du solltest bekannt werden und uns Einladungen verschaffen zur nächsten Soiree der Frau Oberst.« Gerade ging drüben der Oberst vorbei. Diederich sah ihm lange nach. »Ich weiß wohl«, sagte er, »man soll sich nicht umdrehen; aber das ist nun mal das Höchste, es zieht einen hin!«

Dennoch hatte der Vertrag mit Wulckow nur seine Sorgen vergrößert. Der handgreiflichen Verpflichtung, sein Haus zu verkaufen, stand nichts gegenüber als Hoffnungen und Aussichten: nebelhafte Aussichten, allzu kühne Hoffnungen ... Es fror; Diederich ging am Sonntag in den Stadtpark, wo es schon dunkelte, und auf einem einsamen Pfad begegnete er Wolfgang Buck.

»Ich habe mich nun doch entschlossen«, erklärte Buck. »Ich gehe zur Bühne.«

»Und Ihre bürgerliche Stellung? Und Ihre Heirat?«

»Ich habe es versucht, aber das Theater ist vorzuziehen. Es wird dort weniger Komödie gespielt, wissen Sie, man ist ehrlicher bei der Sache. Auch sind die Weiber schöner.«

»Das ist kein Standpunkt«, erwiderte Diederich. Aber Buck war es ernst. »Ich muß zugeben, das Gerücht über Guste und mich hat mir Spaß gemacht. Andererseits: so blödsinnig es ist, es ist nun einmal da, das Mädchen leidet darunter, ich kann sie nicht länger kompromittieren.«

Diederich widmete ihm einen abschätzigen Seitenblick, denn er hatte den Eindruck, Buck nahm das Gerücht zum Vorwand, um sich zu drücken. »Sie werden wohl wissen«, versetzte er streng, »was Sie da anrichten. Ein anderer nimmt sie jetzt natürlich auch nicht mehr leicht. Es gehört schon verdammt viel ritterliche Gesinnung dazu.«

Buck bestätigte dies. »Für einen wirklich modernen, großzügigen Mann«, sagte er bedeutungsvoll, »müßte es eine besondere Genugtuung sein, ein Mädchen unter solchen Umständen zu sich hinaufzuziehen und für sie einzutreten. Hier, wo auch Geld ist, würde zweifellos der Edelmut zuletzt das Feld behaupten. Denken Sie an das Gottesgericht im ›Lohengrin‹.«

»Wieso, ›Lohengrin‹?«

Hierauf antwortete Buck nicht mehr; da sie das Sachsentor erreicht hatten, ward er unruhig. »Kommen Sie mit hinein?« fragte er. – »Wo denn hinein?« – »Gleich hier, Schweinichenstraße 77. Ich muß es ihr doch sagen, Sie könnten vielleicht –« Da pfiff Diederich durch die Zähne.

»Sie sind wirklich – Sie haben ihr noch nichts gesagt? Vorher erzählen Sie es in der Stadt umher? Ihre Sache, mein Bester, aber mich lassen Sie aus dem Spiel, den Bräuten anderer Leute pflege ich nicht die Verlobung zu kündigen.«

»Machen Sie eine Ausnahme«, bat Buck. »Mir werden Szenen im Leben so schwer.«

»Ich habe Grundsätze«, sagte Diederich. Buck lenkte ein.

»Sie brauchen nichts zu sagen; Sie sollen mir nur in einer stummen Rolle als moralische Unterstützung dienen.«

»Moralisch?« fragte Diederich.

»Als Vertreter sozusagen des verhängnisvollen Gerüchtes.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich scherze. Da sind wir, kommen Sie.«

Und Diederich, betroffen durch Bucks letzte Wendung, ging wortlos mit.

Frau Daimchen war ausgegangen, und Guste ließ auf sich warten. Buck ging nachzusehen, was sie mache. Endlich kam sie, aber allein. »War nicht auch Wolfgang da?« fragte sie.

Buck war ausgerissen!

»Das begreife ich nicht«, sagte Diederich. »Er hatte doch etwas ganz Dringendes bei Ihnen vor.«

Hierauf errötete Guste. Diederich wandte sich der Tür zu. »Dann empfehle ich mich auch.«

»Was wollte er denn?« forschte sie. »Das kommt bei ihm doch nicht oft vor, daß er etwas will. Und wozu bringt er Sie mit?«

»Das sehe ich auch nicht ein. Ich darf sogar sagen, daß ich es entschieden mißbillige, wenn er sich bei einer solchen Gelegenheit Zeugen nimmt. Meine Schuld ist es nicht, adieu.«

Aber je verlegener er sie ansah, desto dringender ward sie.

»Ich muß es ablehnen«, verriet er schließlich, »daß ich mir mit den Angelegenheiten Dritter soll den Mund verbrennen, noch dazu, wenn der Dritte durchgeht und entzieht sich seinen nächstliegenden Verpflichtungen.«

Gustes aufgerissene Augen sahen die Worte einzeln aus Diederichs Mund hervorkommen. Als das letzte gefallen war, verharrte sie einen Augenblick reglos, und dann warf sie die Hände vor das Gesicht. Sie schluchzte, man sah ihre Wangen aufquellen und die Tränen ihr durch die Finger rinnen. Sie hatte kein Schnupftuch; Diederich lieh es ihr, betreten durch ihren Schmerz. »Schließlich«, meinte er, »ist ja so viel nicht an ihm verloren.« Da aber empörte sich Guste. »Das sagen Sie! Sie sind derjenige welcher und haben immer gegen ihn gehetzt. Daß er ausgerechnet Sie muß herschicken, das kommt mir mehr wie sonderbar vor.«

»Wie meinen Sie das, bitte!« verlangte Diederich seinerseits. »Sie mußten wohl reichlich so genau wissen wie ich, geehrtes Fräulein, was Sie von dem betreffenden Herrn zu erwarten hatten. Denn wo die Gesinnung schlapp ist, ist alles schlapp.«

Da sie ihn höhnisch musterte, versetzte er um so strenger: »Ich habe Ihnen alles richtig vorausgesagt.«

»Weil es Ihnen so paßte«, erwiderte sie giftig. Und Diederich, mit Ironie: »Er hat mich doch selbst angestellt, daß ich seinen Kochtopf sollte umrühren. Und wenn der Kochtopf nicht in braune Lappen eingewickelt gewesen wäre, hätte er ihn schon längst überkochen lassen.«

Da rang es sich los aus Guste. »Haben Sie 'ne Ahnung! Das ist es ja, das kann ich ihm nicht verzeihen, daß ihm immer alles wurscht war, sogar mein Geld!«

Diederich war erschüttert. »Mit so einem soll man sich nicht einlassen«, stellte er fest. »Die haben keinen Halt und laufen einem durch die Finger.« Er nickte gewichtig. »Wem das Geld wurscht ist, der versteht das Leben nicht.«

Guste lächelte blaß. »Dann verstehen Sie es glänzend.«

»Das wollen wir hoffen«, sagte er. Sie kam näher zu ihm, durch ihre letzten Tränen blinzelte sie ihn an.

»Recht haben Sie ja nun behalten. Was meinen Sie wohl, das ich mir daraus mache?« Sie verzog den Mund. »Ich hab ihn doch überhaupt nicht geliebt. Bloß auf die Gelegenheit hab ich gewartet, daß ich ihn loswerde. Nun ist er so gemein und geht von selbst ... Dann machen wir es ohne ihn«, setzte sie hinzu, mit einem verlockenden Blick. Aber Diederich nahm nur sein Schnupftuch zurück, für alles andere schien er zu danken. Guste begriff, daß er noch ebenso streng dachte wie damals im Liebeskabinett; um so demütiger verhielt sie sich.

»Sie spielen gewiß auf meine Lage an, wo ich nun drin bin.«

Er lehnte ab. »Ich habe nichts gesagt.« Guste klagte still. »Wenn die Leute Gemeinheiten über mich reden, dafür kann ich doch nicht!«

»Ich auch nicht.«

Guste senkte den Kopf. »Na ja, ich muß es wohl einsehen. So eine wie ich verdient nicht mehr, daß ein wirklich feiner Mann mit ernsten Ansichten vom Leben sie noch nimmt.« Und dabei schielte sie von unten nach der Wirkung.

Diederich schnaufte. »Es kann auch sein –«, begann er und machte eine Pause. Guste atmete nicht. »Nehmen wir einmal an«, sagte er mit schneidender Betonung, »jemand hat im Gegenteil die allerernstesten Ansichten vom Leben, und er empfindet modern und großzügig, und im vollen Gefühl der Verantwortlichkeit gegen sich selbst sowohl als gegen seine künftigen Kinder, wie gegen Kaiser und Vaterland übernimmt er den Schutz des wehrlosen Weibes und zieht es zu sich empor.«

Gustes Miene war immer frommer geworden. Sie lehnte die Handflächen aneinander und sah ihn mit schiefem Kopf innig flehend an. Dies schien noch nicht zu genügen, er verlangte offenbar etwas ganz Besonderes: und so fiel Guste plumps auf die Knie. Da nahte Diederich ihr gnädig. »So soll es sein«, sagte er und blitzte.

Hier trat Frau Daimchen ein. »Nanu«, bemerkte sie, »was ist denn los?« Und Guste, mit Geistesgegenwart: »Ach Gott, Mutter, wir suchen meinen Ring« – worauf auch Frau Daimchen sich am Boden niederließ. Diederich wollte nicht zurückstehen. Nach einer Weile stummen Umherkriechens rief Guste: »Hat ihm schon!« Sie stand entschlossen auf.

»Daß du es nur weißt, Mutter, ich habe mich verändert.«

Frau Daimchen, noch außer Atem, begriff nicht sogleich. Guste und Diederich vereinten ihre Anstrengungen, um sie aufzuklären. Schließlich gestand sie, daß sie selbst, weil die Leute nun einmal redeten, an so etwas schon gedacht habe. »Wolfgang war sowieso 'n bißchen zu miesepeterig, außer er hatte was getrunken. Bloß die Familie, dagegen kommen Heßlings nicht auf.«

Das werde sie sehen, behauptete Diederich; und er kündigte an, daß nichts abgemacht sei, solange das Praktische noch nicht stimmte. Die Ausweise über Gustes Mitgift mußten herbei, dann verlangte er Gütergemeinschaft – und was er nachher mit dem Gelde anfing, da durfte niemand hineinreden! Bei jedem Widerspruch hielt er den Türgriff schon in der Hand, und jedesmal sprach Guste leise und angstvoll zu ihrer Mutter: »Soll denn morgen die ganze Stadt sich den Mund verrenken, weil ich den einen los bin, und der andere ist auch gleich wieder weg?«

Als alles stimmte, ward Diederich jovial. Er aß zu Abend mit den Damen und wollte schon, ohne lange zu fragen, das Dienstmädchen nach dem Verlobungssekt schicken. Dies kränkte Frau Daimchen, denn natürlich hatte sie welchen im Hause, das verlangten die Herren Offiziere, die bei ihr verkehrten. »Überhaupt haben Sie mehr Glück als Verstand, denn den Herrn Leutnant von Brietzen hätte Guste auch gekriegt.« Darauf lachte Diederich wohlgemut. Alles ging gut. Für ihn das viele Geld, und der Leutnant von Brietzen für Emmi! ... Man ward sehr lustig; bei der zweiten Flasche taumelte das Brautpaar auf seinen Stühlen immer einer gegen den andern, ihre Füße waren umeinandergewickelt bis zum Knie, und Diederichs Hand beschäftigte sich unten. Drüben drehte Frau Daimchen die Daumen. Plötzlich verursachte Diederich ein donnerndes Geräusch und erklärte sofort, er übernehme dafür die volle Verantwortung, es sei in aristokratischen Kreisen üblich, er verkehre bei Wulckows.

 

Welche Überraschung, als Netzig den Umschwung der Dinge erfuhr! Auf die Erkundigungen der Gratulanten erwiderte Diederich, was er mit den anderthalb Millionen seiner Frau beginnen werde, sei ganz ungewiß. Vielleicht ziehe er nach Berlin, für großzügige Unternehmungen sei es das Angezeigte. Seine Fabrik jedenfalls denke er bei Gelegenheit zu verkaufen. »Die Papierindustrie macht überhaupt eine Krise durch; diese mitten in Netzig gelegene Klitsche hat in meinen Verhältnissen keinen Sinn mehr.«

Daheim gab es eitel Sonnenschein. Die Schwestern erhielten ein erhöhtes Taschengeld, und seiner Mutter gestattete Diederich so viele Rührszenen und Umarmungen, als sie sich irgend wünschen konnte; ja, er nahm willig ihren Segen entgegen. Guste, sooft sie kam, trat in der Rolle einer Fee auf, die Arme voll Blumen, Bonbons, silbernen Beuteln. An ihrer Seite schien Diederich über Blumen zu wandeln. Die Tage entschwebten himmlisch leicht, unter Einkäufen, Sektfrühstücken und den Brautvisiten, einen vornehmen Lohndiener auf dem Bock, und drinnen im Wagen die Verlobten anregend miteinander beschäftigt.

Die schöne Laune, die mit ihrem Dasein spielte, führte sie eines Abends in den »Lohengrin«. Die beiden Mütter hatten sich dazu verstehen müssen, zu Hause zu bleiben; es war der feste Wille des Brautpaares, der Schicklichkeit zum Trotz allein in einer Proszeniumsloge zu sitzen. Das breite rote Plüschsofa an der Wand, wo man nicht gesehen werden konnte, war eingedrückt und fleckig, es hatte etwas reizvoll Fragwürdiges. Guste wollte wissen, daß diese Loge eigentlich den Herren Offizieren gehörte und daß sie hier Besuche von Schauspielerinnen empfingen!

»Über die Schauspielerinnen sind wir glücklich hinaus«, erklärte Diederich, und er ließ durchblicken, daß er allerdings bis vor kurzem mit einer gewissen Dame vom Theater, die er natürlich nicht nennen könne – Gustes fieberhafte Fragen wurden rechtzeitig unterbrochen durch das Klopfen des Kapellmeisters. Sie nahmen ihre Plätze ein.

»Hähnisch ist noch wabbeliger geworden«, bemerkte Guste sogleich, und sie nickte nach dem Dirigenten hinab. Er machte auf Diederich einen hochkünstlerischen, wenn auch ungesunden Eindruck. Schwarze, verwirrte Haarsträhnen wippten, indes er mit allen seinen Gliedmaßen den Takt schlug, über seinem großen grauen Gesicht, dessen Fettsäcke mitwippten; und in Frack und Hose wogte es rhythmisch. Im Orchester war großer Betrieb, dennoch gab Diederich zu verstehen, daß er auf Ouvertüren keinen Wert lege. Überhaupt, meinte Guste, wenn man den »Lohengrin« in Berlin kannte! Der Vorhang ging auf, und schon kicherte sie verachtungsvoll: »Gott, die Ortrud! Sie hat einen Schlafrock und ein Frontkorsett!« Diederich hielt sich mehr an den König unter der Eiche, der sichtlich die prominenteste Persönlichkeit war. Sein Auftreten wirkte nicht besonders schneidig; der Regierungspräsident Wulckow brachte Baß und Vollbart entschieden besser zur Geltung; aber was er äußerte, war vom nationalen Standpunkt aus zu begrüßen. »Des Reiches Ehr zu wahren, ob Ost, ob West.« Bravo! Sooft er das Wort »deutsch« sang, reckte er die Hand hinauf, und die Musik bekräftigte es ihrerseits. Auch sonst unterstrich sie markig, was man hören sollte. Markig, das war das Wort. Diederich wünschte sich, er hätte zu seiner Rede in der Kanalisationsdebatte eine solche Musik gehabt. Der Heerrufer dagegen stimmte ihn wehmütig, denn er glich auf ein Haar seinem einstigen Kommilitonen, dem dicken Delitzsch, in all seiner verflossenen Bierehrlichkeit. Infolgedessen sah Diederich die Gesichter der Mannen näher an und fand überall Neuteutonen. Sie hatten größere Bäuche und Bärte bekommen und sich gegen die harte Zeit mit Blech gerüstet. Auch schienen nicht alle sich in günstigen Lebensumständen zu befinden; die Edlen sahen aus wie mittlere Beamte des Mittelalters, mit Ledergesichtern und Knickebeinen, die Unedlen noch weniger glänzend; aber der Verkehr mit ihnen wäre unzweifelhaft in tadellosen Formen verlaufen. Überhaupt ward Diederich gewahr, daß man sich in dieser Oper sogleich wie zu Hause fühlte. Schilder und Schwerter, viel rasselndes Blech, kaisertreue Gesinnung, Ha und Heil und hochgehaltene Banner und die deutsche Eiche: man hätte mitspielen mögen.

Was den weiblichen Teil der Brabanter Gesellschaft betraf, der ließ freilich zu wünschen. Guste stellte spöttische Fragen: Welche es denn nun sei, mit der er – »Vielleicht die Ziege in dem Hängekleid? Oder die dicke Kuh mit dem Goldreifen zwischen den Hörnern?« Und Diederich war nicht weit davon entfernt, sich für die schwarze Dame mit dem Frontkorsett zu entscheiden, als er noch rechtzeitig bemerkte, daß eben sie in der ganzen Angelegenheit nicht einwandfrei dastand. Ihr Gatte Telramund schien zunächst noch leidlich Komment zu haben, aber eine höchst üble Klatschgeschichte spielte offenbar auch hier mit. Leider war die deutsche Treue, selbst wo sie ein so glänzendes Bild darbot, bedroht von den jüdischen Machenschaften der dunkelhaarigen Rasse.

Beim Auftreten Elsas war es ohne weiteres klar, auf welcher Seite man Klasse voraussetzen durfte. Der biedere König hätte es nicht nötig gehabt, die Sache dermaßen objektiv zu behandeln: Elsas ausgesprochen germanischer Typ, ihr wallendes blondes Haar, ihr gutrassiges Benehmen boten von vornherein gewisse Garantien. Diederich faßte sie ins Auge, sie sah herauf, sie lächelte lieblich. Darauf griff er nach dem Opernglas, aber Guste entriß es ihm. »Also die Merée ist es?« zischte sie; und da er vielsagend lächelte: »Einen feinen Geschmack hast du, ich kann mich geschmeichelt fühlen. Die ausgemergelte Jüdin!« – »Jüdin?« – »Die Merée, selbstredend, sie heißt doch Meseritz, und vierzig Jahre ist sie alt.« – Betreten nahm er das Glas, das Guste ihm höhnisch anbot, und überzeugte sich. Na ja, die Welt des Scheins. Enttäuscht lehnte Diederich sich zurück. Dennoch konnte er nicht hindern, daß Elsas keusche Vorahnung weiblicher Lustempfindungen ihn gerade so sehr rührte wie den König und die Edlen. Das Gottesgericht schien auch ihm ein hervorragend praktischer Ausweg, auf die Weise ward niemand kompromittiert. Daß die Edlen sich auf die faule Sache nicht einlassen würden, war freilich vorherzusehen. Man mußte schon mit etwas Außerordentlichem rechnen; die Musik tat das Ihre, sie machte einen geradezu auf alles gefaßt. Diederich hatte den Mund offen und so dummselige Augen, daß Guste heimlich einen Lachkrampf bekam. Jetzt war er soweit, alle waren soweit, jetzt konnte Lohengrin kommen. Er kam, funkelte, schickte den Zauberschwan fort, funkelte noch betörender. Mannen, Edle und der König unterlagen alle derselben Verblüffung wie Diederich. Nicht umsonst gab es höhere Mächte ... Ja, die allerhöchste Macht verkörperte sich hier, zauberhaft blitzend. Ob Schwanen- oder Adlerhelm: Elsa wußte wohl, warum sie plumps vor ihm auf die Knie fiel. Diederich seinerseits blitzte Guste an, ihr verging das Lachen. Auch sie hatte erfahren, wie es war, wenn alle einen verklatschten, und den ersten war man los und konnte sich nirgends mehr sehen lassen und hätte überhaupt wegziehen müssen: und da kam der Held und Retter und machte sich aus der ganzen Geschichte nichts und nahm einen doch! »So soll es sein!« sagte Diederich und nickte auf die kniefällige Elsa hinab – indes Guste, die Lider gesenkt, in reuevoller Unterwerfung gegen seine Schulter fiel.

Das weitere konnte man an den Fingern abzählen. Telramund machte sich einfach unmöglich. Gegen die Macht unternahm man eben nichts. Zu ihrem Repräsentanten Lohengrin verhielt sich sogar der König höchstens wie ein besserer Bundesfürst. Er sang seinem Vorgesetzten die Siegeshymne mit. Der Hort der guten Gesinnung ward schwungvoll gefeiert, die Umstürzler mochten den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln.

Der zweite Akt – Guste aß noch immer, sanft hingegeben, Pralinés – brachte zunächst in erhebender Weise den Gegensatz zur Anschauung zwischen dem glanzvollen, ohne Mißton verlaufenden Fest der Gutgesinnten in den vornehm erleuchteten Räumen des Palastes und den beiden dunklen Empörern, die stark heruntergekommen auf dem Pflaster lagen. »Erhebe dich, Genossin meiner Schmach«, meinte Diederich bei passender Gelegenheit selbst schon angewendet zu haben. Er verband Ortrud mit gewissen persönlichen Erinnerungen: ein ganz gemeines Luder, darüber war nichts zu sagen; aber irgendwas regte sich in ihm, wenn sie ihren Kerl einwickelte und unter sich hatte. Er träumte ... Vor Elsa, der dummen Gans, mit der sie machte, was sie wollte, hatte Ortrud das gewisse Etwas voraus, das die energischen und strengen Damen haben. Elsa freilich konnte man heiraten. Er schielte nach Guste. »Es gibt ein Glück, das ohne Reu«, bemerkte Elsa; und Diederich zu Guste: »Das wollen wir hoffen.«

Den frisch ausgeschlafenen Edlen und Mannen wurde sodann durch den dicken Delitzsch eröffnet, daß sie dank Gottes Gnade einen neuen Landesfürsten bekommen hatten. Gestern standen sie noch treu und bieder zu Telramund, heute waren sie biedere, treue Untertanen Lohengrins. Sie erlaubten sich keine Meinung und schluckten jede Vorlage.

›Den Reichstag bringen wir auch noch so weit‹, gelobte Diederich.

Wie aber Ortrud vor Elsa in das Münster treten wollte, empörte sich Guste. »Das hat sie nun nicht nötig, darüber ärgere ich mich immer. Wo sie doch nichts mehr hat, und überhaupt.« – »Jüdische Frechheit«, murmelte Diederich. Übrigens konnte er nicht umhin, Lohengrin, gelinde gesagt, unvorsichtig zu finden, als er es glatt in Elsas Hand legte, ob er seinen Namen verraten und dadurch das ganze Geschäft in Frage stellen sollte oder nicht. So viel durfte man Weibern nicht zumuten. Und wozu? Den Mannen brauchte er nicht erst zu beweisen, daß er, trotz dem Nörgler Telramund, reine Hände und keinen Fleck auf der Weste habe: ihre nationale Gesinnung war durchaus unverdächtig.

Guste verhieß ihm, im dritten Akt käme das Allerschönste, aber dafür müsse sie durchaus noch Pralinés haben. Als man sie hatte, stieg der Hochzeitsmarsch, und Diederich sang ihn mit. Die Mannen im Festzuge verloren entschieden ohne Blech und Banner, auch Lohengrin hätte sich besser nicht im Wams gezeigt. Diederich ward bei seinem Anblick wieder einmal von dem Wert der Uniform durchdrungen. Die Damen waren glücklich fort, mit ihren Stimmen wie saure Milch. Aber der König! Er konnte nicht wegfinden von dem Brautpaar, biederte sich an und schien am liebsten als Zuschauer dableiben zu wollen. Diederich, dem der König schon immer zu konziliant gewesen war für diese harte Zeit, nannte ihn jetzt einfach eine Nulpe.

Endlich fand er die Tür, Lohengrin und Elsa machten sich auf dem Sofa an die »Wonnen, die nur Gott verleiht«. Zuerst umschlangen sie sich nur oben, die unteren Körperteile saßen nach Möglichkeit voneinander entfernt. Je mehr sie aber sangen, um so näher rutschten sie heran – wobei ihre Gesichter sich häufig auf Hähnisch richteten. Hähnisch und sein Orchester schienen ihnen einzuheizen: es war begreiflich, denn auch Diederich und Guste in ihrer stillen Loge schnauften leise und sahen einander an mit erhitzten Augen. Die Gefühle gingen den Weg der Zauberklänge, die Hähnisch mit wogenden Gliedern hervorlockte, und die Hände folgten ihnen. Diederich ließ die seine zwischen Gustes Stuhl und ihrem Rücken hinabgleiten, umspannte sie unten und murmelte betört: »Wie ich das zum erstenmal gesehen habe, gleich hab ich gesagt, die oder keine!«

Aber da wurden sie aus dem Zauberbann gerissen durch einen Zwischenfall, der bestimmt schien, die Kunstfreunde Netzigs noch lange zu beschäftigen. Lohengrin zeigte sein Jägerhemd! Eben stimmte er an: »Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte«, da kam es hinten aus dem Wams hervor, das aufging. Bis Elsa ihn, sichtlich erregt, zugeknöpft hatte, herrschte im Hause lebhafte Unruhe; dann erlag es wieder dem Zauberbann. Guste freilich, die sich mit einem Praliné verschluckt hatte, stieß auf ein Bedenken. »Wie lange trägt er das Hemd schon? Und überhaupt, er hat doch nichts mit, der Schwan ist mit seinem Gepäck abgeschwommen!« Diederich verwies ihr ernstlich das Nachdenken. »Du bist gerade so eine Gans wie Elsa«, stellte er fest. Denn Elsa war im Begriff, sich alles zu verderben, weil sie es nicht lassen konnte, ihren Mann nach seinen politischen Geheimnissen zu fragen. Der Umsturz ward vollends zerschmettert, denn Telramunds feiges Attentat mißlang durch Gottes Fügung; aber die Weiber, dies mußte Diederich sich sagen, wirkten, wenn man ihnen nicht die Kandare fest anzog, eher noch subversiver.

Nach der Verwandlung ward dies vollends klar. Eiche, Banner, alles nationale Zubehör war wieder da; und »für deutsches Land das deutsche Schwert, so sei des Reiches Kraft bewährt«: bravo! Aber Lohengrin schien nun wirklich entschlossen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. »Überall wurde an mir gezweifelt«, durfte auch er sagen. Nacheinander klagte er den toten Telramund und die ohnmächtige Elsa an. Da keiner von beiden ihm widersprach, würde er ohne weiteres recht behalten haben; dazu kam aber noch, daß er tatsächlich in der Rangliste obenan stand. Denn jetzt gab er sich zu erkennen. Die Nennung seines Namens rief bei der ganzen Versammlung, die noch nie von ihm gehört hatte, eine ungeheure Bewegung hervor. Die Mannen konnten sich gar nicht beruhigen; alles andere schienen sie erwartet zu haben, nur nicht, daß er Lohengrin hieß. Um so dringlicher ersuchten sie den geliebten Herrscher, von dem folgenschweren Schritt der Abdankung diesmal noch abzusehen. Aber Lohengrin blieb heiser und unnahbar. Übrigens wartete schon der Schwan. Eine letzte Frechheit Ortruds brach ihr zur allgemeinen Genugtuung den Hals. Leider deckte gleich darauf auch Elsa das Schlachtfeld, das Lohengrin, statt des entzauberten Schwans von einer kräftigen Taube gezogen, hinter sich ließ. Dafür war der junge, soeben eingetroffene Gottfried in drei Tagen der dritte Landesfürst, dem Edle und Mannen, treu und bieder wie immer, ihre Huldigung darbrachten.

»Das kommt davon«, bemerkte Diederich, indes er Guste in den Mantel half. Alle diese Katastrophen, die Wesensäußerungen der Macht waren, hatten ihn erhoben und tief befriedigt. »Wovon kommt es denn«, meinte Guste, zum Widersprechen aufgelegt. »Bloß weil sie wissen will, wer er ist? Das kann sie wohl verlangen, das ist nicht mehr wie anständig.« – »Es hat einen höheren Sinn«, erklärte ihr Diederich streng. »Die Geschichte mit dem Gral, das soll heißen, der Allerhöchste Herr ist nächst Gott nur seinem Gewissen verantwortlich. Na und wir wieder ihm. Wenn das Interesse Seiner Majestät in Betracht kommt, kannst du machen, was du willst, ich sage nichts, und eventuell –« Eine Handbewegung gab zu verstehen, daß auch er, in einen derartigen Konflikt gestellt, Guste unbedenklich dahinopfern würde. Dies erboste Guste. »Das ist ja Mord! Wie komm ich dazu, daß ich muß draufgehen, weil Lohengrin ein temperamentloser Hammel ist. Nicht einmal in der Hochzeitsnacht hat Elsa von ihm was gemerkt!« Und Guste rümpfte die Nase, wie damals beim Verlassen des Liebeskabinetts, wo auch nichts geschehen war.

Auf dem Heimweg versöhnten sich die Verlobten. »Das ist die Kunst, die wir brauchen!« rief Diederich aus. »Das ist deutsche Kunst!« Denn hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt. Empörung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum der höchste Wert gelegt, und das Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren. Der kriegerische Unterbau und die mystischen Spitzen, beides war gewahrt. Auch wirkte es bekannt und sympathisch, daß in dieser Schöpfung der schönere und geliebtere Teil der Mann war. »Ich fühl das Herze mir vergehn, schau ich den wonniglichen Mann«, sangen auch die Männer samt dem König. So war denn die Musik an ihrem Teil der männlichen Wonne voll, war heldisch, wenn sie üppig war, und kaisertreu noch in der Brunst. Wer widerstand da? Tausend Aufführungen einer solchen Oper, und es gab niemand mehr, der nicht national war! Diederich sprach es aus: »Das Theater ist auch eine meiner Waffen.« Kaum ein Majestätsbeleidigungsprozeß konnte die Bürger so gründlich aus dem Schlummer rütteln. »Ich habe den Lauer in die Vogtei gebracht, aber wer den ›Lohengrin‹ geschrieben hat, vor dem nehm ich den Hut ab.« Er schlug ein Zustimmungstelegramm an Wagner vor. Guste mußte ihn aufklären, es sei nicht mehr zu machen. Einmal auf so hohem Gedankenflug begriffen, äußerte sich Diederich über die Kunst im allgemeinen. Unter den Künsten gab es eine Rangordnung. »Die höchste ist die Musik, daher ist es die deutsche Kunst. Dann kommt das Drama.«

»Warum?« fragte Guste.

»Weil man es manchmal in Musik setzen kann, und weil man es nicht zu lesen braucht, und überhaupt.«

»Und was kommt dann?«

»Die Porträtmalerei natürlich, wegen der Kaiserbilder. Das übrige ist nicht so wichtig.«

»Und der Roman?«

»Der ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der Name.«

 

Und dann war der Hochzeitstag da. Denn beide hatten Eile: Guste wegen der Leute, Diederich aus Gründen der Politik. Um mehr Eindruck zu machen, hatte man beschlossen, daß Magda und Kienast am gleichen Tage heiraten sollten. Kienast war eingetroffen, und Diederich betrachtete ihn manchmal mit Unruhe, weil Kienast sich den Bart hatte abnehmen lassen, den Schnurrbart an den Augenwinkeln trug und auch schon blitzte. In den Verhandlungen über Magdas Gewinnanteil zeigte er einen schreckenerregenden Geschäftsgeist. Diederich, nicht ohne Besorgnis wegen des Ausgangs der Sache, wenn auch entschlossen, seine Pflicht gegen sich selbst restlos zu erfüllen, vertiefte sich jetzt öfter in seine Geschäftsbücher ... Sogar am Morgen vor seiner Trauung, und schon im Frack, saß er im Kontor; da ward eine Karte gebracht: »Karnauke, Premierleutnant a. D.« – »Was kann der wollen, Sötbier?« Der alte Buchhalter wußte es auch nicht. »Na egal. Einen Offizier kann ich nicht abweisen.« Und Diederich ging selbst zur Tür.

In der Tür aber erschien ein ungewöhnlich strammer Herr in einem grünlichen Sommermantel, der troff und den er am Halse fest geschlossen trug. Unter seinen spitzen Lackschuhen entstand sofort eine Lache, von seinem grünen Agrarierhütchen, das er merkwürdigerweise aufbehielt, regnete es. »Zunächst wollen wir uns mal trockenlegen«, versetzte der Herr und begab sich, bevor Diederich zustimmte, zum Ofen. Hier sagte er schnarrend: »Verkaufen, was? Klemme, was?« Diederich begriff nicht sogleich; dann warf er einen unruhigen Blick auf Sötbier. Der Alte hatte sich wieder an seinen Brief gemacht. »Herr Premierleutnant haben sich gewiß in der Hausnummer geirrt«, bemerkte Diederich schonend; aber es half nichts. »Quatsch. Weiß Bescheid. Nur keine Fisimatenten. Höherer Befehl. Schnauze halten und verkaufen, sonst gnade Gott.«

Diese Sprache war zu auffallend; Diederich konnte nicht länger übersehen, daß trotz der militärischen Vergangenheit des Herrn seine ungeheure Strammheit nicht echt war und daß seine Augen verglast waren. In dem Augenblick, als Diederich dies feststellte, nahm der Herr sein grünes Agrarierhütchen vom Kopf und entleerte es seines Wassers auf Diederichs Frackhemd. Dies veranlaßte Diederich zu einem Protest, aber der Herr nahm ihn sehr übel. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, schnarrte er. »Die Herren von Quitzin und von Wulckow werden in meinem Auftrag mit Ihnen reden.« Dabei zwinkerte er angestrengt – und Diederich, dem ein schrecklicher Verdacht kam, vergaß seinen Zorn, er war einzig bedacht, den Premierleutnant aus der Tür zu drängen. »Wir sprechen draußen«, raunte er ihm zu, und nach der andern Seite, für Sötbier: »Der Herr ist sinnlos betrunken, ich muß sehen, wie ich ihn loswerde.« Aber Sötbier hatte die Lippen zusammengepreßt, die Stirn gefaltet und kehrte diesmal nicht zu seinem Brief zurück.

Der Herr ging geradeswegs in den Regen hinaus, Diederich folgte ihm. »Deswegen keine Feindschaft, reden kann man doch.« Erst nachdem auch er durchnäßt war, gelang es ihm, den Herrn wieder ins Haus zu lotsen. Durch den leeren Maschinenraum schrie der Premierleutnant: »Glas Schnaps! Kaufe alles, Schnaps mit!« Obwohl die Arbeiter zur Feier seiner Hochzeit frei hatten, sah Diederich sich angstvoll um; er öffnete den Verschlag, wo die Chlorsäcke lagen, und beförderte mit verzweifeltem Schub den Herrn hinein. Es stank furchtbar; der Herr nieste mehrmals, worauf er sagte: »Karnauke mein Name, warum stinken Sie so?«

»Haben Sie einen Hintermann?« fragte Diederich. Der Herr nahm auch das übel. »Was wollen Sie damit sagen? ... Ach so, kaufe, was Platz hat.« Diederichs Blick folgend, betrachtete er sein triefendes Sommermäntelchen. »Momentane Verlegenheit«, schnarrte er. »Vermittle Kavalieren. Ehrensache.«

»Was bietet Ihr Auftraggeber?«

»Hundertzwanzig die Kiste.«

Und wie Diederich sich entsetzte oder empörte: zweihunderttausend sei sein Grundstück wert, der Premierleutnant blieb dabei:

»Hundertzwanzig die Kiste.«

»Nicht zu machen« – Diederich vollführte eine unvorsichtige Bewegung nach dem Ausgang, worauf der Herr ernstlich gegen ihn vorging. Diederich mußte ringen, fiel auf einen Chlorsack und der Herr über ihn. »Stehen Sie auf«, keuchte Diederich, »hier werden wir gebleicht.« Der Premierleutnant heulte auf, als brennte es ihm schon durch die Kleider – und plötzlich hatte er seine stramme Haltung zurück. Er zwinkerte. »Präsident von Wulckow eklig hinterher, daß Sie verkaufen, sonst kein Geschäft mit ihm zu machen. Vetter Quitzin arrondiert Besitz hierherum. Rechnet bestimmt auf Ihr Entgegenkommen. Hundertzwanzig die Kiste.« Diederich, bleicher, als wäre er im Chlor liegengeblieben, versuchte noch: »Hundertfünfzig« – aber die Stimme versagte ihm. Das war mehr, als man loyalerweise fassen konnte! Wulckow, starrend von Beamtenehre, unbestechlich wie das Jüngste Gericht! ... Mit einem trostlosen Blick überflog er nochmals die Gestalt dieses Karnauke, Premierleutnants a. D. Den schickte Wulckow, dem lieferte er sich aus! Hätte man nicht neulich, unter vier Augen, mit aller gebotenen Vorsicht und gegenseitigen Achtung das Geschäft verhandeln können? Aber diese Junker konnten nur den Leuten an die Kehle springen; auf Geschäfte verstanden sie sich noch immer nicht. »Gehen Sie nur voran zum Notar«, raunte Diederich, »ich komme gleich.« Er ließ ihn hinaus. Wie er aber selbst fort wollte, stand da der alte Sötbier, noch immer mit den gekniffenen Lippen. »Was wünschen Sie?« Diederich war ermattet.

»Junger Herr«, begann der Alte hohl, »was Sie jetzt vorhaben, dafür kann ich nicht mehr die Verantwortung tragen.«

»Wird nicht verlangt.« Diederich gab sich Haltung. »Ich weiß allein, was ich tue.« Der Alte hob beschwörend die Hände.

»Sie wissen es nicht, junger Herr! Unsere Lebensarbeit von Ihrem seligen Vater und mir, die verteidige ich! Daß wir das Geschäft aufgebaut haben mit Fleiß und solider Arbeit, dadurch sind Sie groß geworden. Und wenn Sie mal teure Maschinen kaufen und mal die Aufträge ablehnen, das ist ein Zickzackkurs, damit bringen Sie das Geschäft herunter. Und jetzt verkaufen Sie das alte Haus!«

»Sie haben an der Tür gehorcht. Wenn etwas geschieht, ohne daß Sie dabei sind, das vertragen Sie noch immer nicht recht. Erkälten Sie sich hier nur nicht.« Diederich höhnte.

»Sie dürfen es nicht verkaufen!« jammerte Sötbier. »Ich kann nicht zusehen, wie der Sohn und Erbe meines alten Herrn die solide Grundlage der Firma untergräbt und treibt Großmannspolitik.«

Diederich maß ihn mitleidig. »Großzügigkeit war zu Ihrer Zeit noch nicht erfunden, Sötbier. Heute wagt man was. Betrieb ist die Hauptsache. Später werden Sie sehen, wozu es gut war, daß ich das Haus verkaufe.«

»Ja, das werden Sie auch erst später sehen. Vielleicht wenn Sie bankerott sind oder wenn Ihnen Ihr Schwager, Herr Kienast, einen Prozeß anhängt. Sie haben gewisse Manipulationen gemacht zum Schaden Ihrer Schwestern und Ihrer Mutter! Wenn ich dem Herrn Kienast manches sagen wollte –: bloß daß ich Pietät habe, sonst könnte ich Sie ins Unglück bringen!«

Der Alte war außer sich. Er kreischte, Tränen der Wut in den roten Lidern. Diederich trat nahe an ihn hin, er hielt ihm die geballte Hand unter die Nase. »Das versuchen Sie mal! Ich beweise glatt, daß Sie die Firma bestohlen haben, und zwar schon immer. Meinen Sie, ich habe keine Vorkehrungen getroffen?«

Auch der Alte erhob seine zitternde Faust. Sie schnaubten sich an; Sötbier rollte blutige Augäpfel, Diederich blitzte. Dann trat der Alte zurück. »Nein, so soll es nicht kommen. Ich war immer ein treuer Diener meines alten Herrn. Mein Gewissen gebietet mir, seinem Nachfolger meine bewährte Kraft solange als möglich zu erhalten.«

»Das könnte Ihnen passen«, sagte Diederich hart und kalt. »Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht direkt hinauswerfe. Schreiben Sie nur gleich Ihr Entlassungsgesuch, es ist schon bewilligt.« Und er schritt von dannen.

Beim Notar verlangte er, daß in den Kaufvertrag als Käufer »Unbekannt« gesetzt werde. Karnauke feixte. »Unbekannt ist gut. Wir kennen doch Herrn von Quitzin.« Darauf lächelte auch der Notar. »Ich sehe«, sagte er, »Herr von Quitzin arrondiert sich. Bislang gehörte ihm in der Meisestraße nur die kleine Kneipe Zum Huhn. Aber wegen der beiden Grundstücke hinter dem Ihren, Herr Doktor, verhandelt er auch schon. Dann grenzt er an den Stadtpark und hat Platz für riesige Anlagen.«

Diederich zitterte schon wieder. Leise bat er den Notar um Diskretion, solange es gehe. Dann nahm er Abschied, er habe keine Zeit zu verlieren. »Weiß ich«, sagte der Premierleutnant und hielt ihn fest. »Freudentag. Frühstück Hotel Reichshof. Bin gerüstet.« Er öffnete das grüne Mäntelchen und zeigte auf seinen zerknitterten Gesellschaftsanzug. Diederich sah ihn entsetzt an, er versuchte sich zu wehren; aber der Leutnant drohte wieder mit seinen Zeugen.

 

Die Braut wartete schon längst, die beiden Mütter trockneten ihr die Tränen, unter dem anzüglichen Lächeln der anwesenden Damen. Auch dieser Bräutigam ging durch! Magda und Kienast waren empört; und zwischen Schweinichenstraße und Meisestraße liefen Boten ... Endlich! Diederich war da, wenn auch in seinem alten Frack. Er gab nicht einmal Erklärungen. Am Standesamt und in der Kirche wirkte er verstört. Allerseits bemerkte man, auf einer so zustande gekommenen Verbindung ruhe kein Segen. Auch Pastor Zillich erwähnte in seiner Ansprache, daß der irdische Besitz etwas Vergängliches sei. Man begriff seine Enttäuschung. Käthchen war gar nicht erschienen.

Beim Hochzeitsfrühstück aß Diederich schweigend und sichtlich noch anders beschäftigt. Selbst das Essen vergaß er oft und stierte in die Luft. Einzig der Premierleutnant Karnauke hatte die Gabe, seine Aufmerksamkeit zu wecken. Freilich tat der Leutnant das Seine; schon nach der Suppe brachte er einen Toast auf die Braut aus, mit Anspielungen, denen die Versammlung nach Maßgabe ihres bisherigen Weingenusses noch nicht gewachsen war. Mehr beunruhigt ward Diederich durch gewisse andere Wendungen Karnaukes, die er mit Zwinkern nach seinem Platz begleitete und die leider auch Kienast nachdenklich stimmten. Der Zeitpunkt, den Diederich mit Herzklopfen voraussah, trat ein: Kienast stand auf und bat ihn um ein Wort unter vier Augen ... Da aber klingelte der Premierleutnant heftig ans Glas, stramm schnellte er vom Sitz. Der schon vorgeschrittene Lärm des Festes brach jäh ab; man sah an Karnaukes gespitzten Fingern ein blaues Band hängen und darunter ein Kreuz, dessen Rand golden funkelte ... Ah! und Tumult und Glückwünsche. Diederich reichte beide Hände hin, eine Seligkeit, kaum zu ertragen, flutete ihm vom Herzen in den Hals, er redete von selbst und bevor er wußte, was. »Seine Majestät ... Unerhörte Gnade ... Bescheidene Verdienste, nie wankende Treue ...« Er dienerte, er legte, wie Karnauke ihm das Kreuz überreichte, die Hand auf das Herz, schloß die Augen und versank: so als stände vor ihm ein anderer, der Geber selbst. Unter der Gnadensonne fühlte Diederich, dies war die Rettung und der Sieg. Wulckow hielt den Pakt. Die Macht hielt Diederich den Pakt! Der Kronenorden vierter Klasse blitzte, und es ward Ereignis, das Denkmal Wilhelms des Großen und Gausenfeld, Geschäft und Ruhm!

Der Aufbruch drängte. Kienast, immerhin bewegt und eingeschüchtert, bekam einige Worte allgemeinen Inhalts hingeworfen, von herrlichen Tagen, denen er entgegengeführt werden sollte, von großen Dingen, die man mit ihm und der ganzen Familie vorhabe – und fort war Diederich mit Guste.

Sie bestiegen die erste Klasse, er spendete drei Mark und zog die Vorhänge zu. Sein vom Glück beschwingter Tatendrang litt keinen Aufschub, Guste hätte so viel Temperament nie erwartet. »Du bist doch nicht wie Lohengrin«, bemerkte sie. Als sie aber schon hinglitt und die Augen schloß, richtete Diederich sich nochmals auf. Eisern stand er vor ihr, ordenbehangen, eisern und blitzend. »Bevor wir zur Sache selbst schreiten«, sagte er abgehackt, »gedenken wir Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, daß wir Seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.«

»Oh!« machte Guste, von dem Gefunkel auf seiner Brust entrückt in höheren Glanz. »Bist – du – das Diederich?«


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