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V

Der Gemeindesekretär trat an den Tisch vor dem Café »Zum Fortschritt«.

»Die Herren wissen noch nicht die Neuigkeit? … Ich sage sie Ihnen im Vertrauen. Wir haben Grund, sie dem Publikum so lange wie möglich vorzuenthalten, denn wir müssen Unruhen befürchten.«

»Mancafede ist erbleicht«, sagte der Herr Giocondi. »Welchen Schlag werden Sie uns versetzen?«

Camuzzi nahm umständlich Platz; er setzte an, lächelte skeptisch, – da kam aus dem Innern des Cafés mit hartem Schritt der junge Savezzo, pflanzte sich, die Arme verschränkt, vor den Tisch hin und sagte: »Der Advokat hat seinen Prozeß gegen Don Taddeo verloren.«

»Nicht der Advokat; die Stadt hat ihn verloren«, sagte der Sekretär.

»Gleichviel«, – und der Savezzo zeigte seine schwarzen Zähne, »die Stadt: das ist der Advokat. Sie verliert, weil sie auf ihn gehört hat.«

»Ich leugne es nicht«, sagte der Sekretär. Polli und Giocondi sahen sich an.

»Ist das der Grund, weshalb der Advokat sich heute nicht sehen läßt?«

»Herr Savezzo –«

Der Kaufmann legte seine dürre Hand inständig auf den Arm des jungen Mannes.

»– welche Absichten hat Don Taddeo? Wird er das Volk gegen uns schicken?«

»Man hat ihn schwer beleidigt«; – und Savezzo hob unheilvoll die Schultern. Der Kaufmann bäumte sich wimmernd.

»Nur der Advokat hat ihn beleidigt. Mag er empfangen, was er verdient. Wie, ihr Herren? Wir werden uns, da das Wohl der Stadt es verlangt, lossagen von ihm, wir werden ihn ausliefern.«

Der Apotheker Acquistapace schlug auf den Tisch.

»Wir alle haben den Prozeß geführt, und wenn die Gerichte uns unrecht geben, will es heißen, daß sie an die Priester verkauft sind.«

»Tatsächlich«, äußerte Polli, »weiß alle Welt, daß der Eimer der Stadt gehört, die ihn erobert hat.«

»Noch dazu mit Hilfe der Götter«, setzte der Herr Giocondi hinzu.

Der Gemeindesekretär betrachtete sie mit spöttischen Augen.

»Man sieht, daß die Herren das Gesetz nicht kennen. Das Gericht der ersten Instanz hat erwogen, daß die Kirche, die ihn Jahrhunderte hindurch verwaltet hat, durch die so lange getragene Verantwortung für das ruhmreiche Erinnerungsstück gewisse Rechte auf den Eimer erworben habe …«

Der Apotheker fiel ein:

»Alles das beweist nur, daß heute die Priester wieder obenauf sind.«

»Aber wir können appellieren«, meinte der Tabakhändler.

Camuzzi erwiderte:

»Ich weiß nicht, ob die Gemeinde sich dazu entschließen wird. Der Advokat wird es verlangen, aber werden wir ihm folgen? Die Tatsache spricht nicht dafür, daß sein Antrag, am Rathaus eine Gedenktafel für den Cavaliere Giordano anzubringen, gestern abgelehnt worden ist.«

»Es gibt Leute«, erklärte Polli, »die von den Komödianten genug haben. Es scheint, daß sie morgen abziehen werden. Adieu, laßt es euch gut gehen.«

Auch der Herr Giocondi winkte Abschied.

»Wir kennen jetzt ihre ›Arme Tonietta‹. Ob wir sie kennen! Wenn ich mir den Mund ausspüle, klingt es wie ›Sieh, Geliebte, unser umblühtes Haus‹. Niemand will mehr dafür bezahlen, versteht sich, und damit man noch hingeht, machen sie zwischen dem ersten und zweiten Akt ein Konzert, wobei die Garlinda im Ballkleid und der Gennari im Frack herauskommen und die Musik des Maestro Dorlenghi singen, der ein guter junger Mann ist.«

»Sollen sie sie singen«, sagte Polli. »Aber in den vier Wochen, die sie in unserer Mitte sind, geschieht ein Unglück nach dem andern. Man spricht besser nicht von den beiden Paradisi. Der Vittorino Baccalà war seinerseits immer ein ehrlicher Bursche, und dennoch hat er nun, weil solch ein kleines Weib ihm auf dem Buckel saß, seinen Meister bestohlen. Wären wenigstens in dieser Hinsicht die guten Familien verschont geblieben …«

Der Tabakhändler sah mit Gramfalten zwischen seine Knie. Savezzo stellte brutal den Fuß vor.

»Und wem verdanken Sie das Unglück mit Ihrem Olindo? Denn man weiß, daß auch er, um seine gelbe Choristin zu bezahlen, in die väterliche Kasse gegriffen hat. Wer hat diese Bande von Abenteurerinnen auf die Stadt losgelassen?«

»Es sind Künstler!« rief der Apotheker. »Sie hinterlassen uns eine Erinnerung an die Ideale.«

»Und Schulden«, sagte der Gemeindesekretär, »– die ich übrigens vorausgesagt habe. Aber wer vor Verschwendung warnt, ist ein Gegner des Fortschritts, und wer die Entsittlichung nicht wünscht, ein Klerikaler.«

»Ein Dieb ist der Tenor!« stieß plötzlich der schöne Alfò aus, der um den Tisch strich. »Will der Leutnant ihn nicht einsperren, dann bringe ich ihn um«; – und er knirschte mit entblößtem Gebiß. Savezzo legte einen schweren Blick auf ihn; der schöne Alfò wich darunter ins Café zurück, und Savezzo folgte ihm. Im Gehen erklärte er:

»Der Gennari bezahlt niemals sein Frühstück, – da er ja alles zum Parfümeur und zum Schneider trägt.«

»Welche Lebensweise!« sagte Mancafede. »Aber alle sind jetzt verrückt. An dem Fest, das der Severino Salvatori den Komödianten gegeben hat, verdient der Malandrini wenigstens zweihundertfünfzig Lire. Der Salvatori ist auf dem Wege, sich zu ruinieren.«

»Und sein Dämon ist der Advokat«, sagte Camuzzi. »Man würde glauben, daß dieser Mann nichts anderes sinnt, als wie er mit der eigenen Person, die Ausschweifungen aufreiben, zugleich die Stadt zerstören könne.«

»Der Advokat?« rief Acquistapace. »Er ist tapfer und hat große Gedanken. Wenn wir einst das neue Theater, das öffentliche Schlachthaus, die Eisfabrik und das Militär in Sommergarnison haben werden, dann werden wir auf dem Platz, der nach seinem Plan schön viereckig reguliert und ringsum mit Arkaden versehen sein wird, ein Standbild des Ferruccio Belotti errichten – des größten Bürgers unserer Stadt!«

Polli kratzte sich den Kopf.

»Alle diese schönen Dinge wären noch schöner, wenn es nicht so viele wären.«

»Um Fremde herzuziehen«, bemerkte der Herr Giocondi, »hat der Advokat die Gemeinde vierhundert Lire ausgeben lassen. Man muß sagen, daß der einzige Engländer, der beim Malandrini wohnt, uns etwas zuviel kostet.«

Der Gemeindesekretär bewegte elegant die Hand.

»Ihre Enttäuschung, meine Herren, wird von vielen geteilt. Der Advokat in seinem Schaffensdrang, der in Vernichtungstrieb ausartet, merkt nicht, wie er die Reste seines Ansehens verbraucht. Daß er die Komödianten hergeholt hat, bedaure ich nicht. Die Folgen ihrer Anwesenheit haben viele Augen geöffnet und viele Meinungen, die schwankten, befestigt. Man sieht sich plötzlich der Anarchie und dem Bankrott gegenüber und besinnt sich auf die Mäßigung und die Strenge, ohne die kein Gemeinwesen besteht.«

»Tatsache ist«, bemerkte der Tabakhändler, »daß heute früh in der Messe so viele Leute waren, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.«

»Der Unterpräfekt soll dagewesen sein«, sagte Giocondi. »Man muß also vielleicht wieder hingehen?«

Der Apotheker schnob zornig.

»Das ist nicht nur bei uns so. Überall regt sich die Reaktion, und die Regierung in ihrer Furcht vor der Demokratie, der sie doch entstammt, unterstützt sie. Hat nicht bei der Festvorstellung, die der König dem Kaiser von Deutschland in Rom gab, den ganzen ersten Rang die päpstliche Aristokratie eingenommen? Das liberale Bürgertum war gut genug, die Monarchie zu errichten; ihre Ehren empfangen nicht wir, sondern ihre alten Feinde. Es gibt Augenblicke, wo man bereuen möchte. Denn, sagen wir nur die Wahrheit, mit Garibaldi wäre das nicht möglich gewesen; und vielleicht war der Held zu groß, als er abdankte und uns verließ.«

»Sie haben recht«; – Camuzzi feixte – »unter Garibaldi und der Republik gäbe es keinen Streit, weder um einen Eimer noch um sonst etwas.«

Der Alte breitete die Arme aus.

»Denken Sie, ich zweifelte daran? Dann muß ich Ihnen sagen, was ich glaube. Dies, mein Bein, das ich im Dienst der Republik verloren habe: – ah! die Republik bleibt jung, wie ich selbst damals war, und käme sie nun, sie ließe mir mein Bein wieder wachsen!«

Camuzzi erhob sich vornehm.

»Sie sind ein Dichter, Herr Acquistapace.«

Zu Giocondi, der ihn begleitete, sagte er:

»Was soll man diesen Radikalen antworten? Sie glauben die Wahrheit für sich zu haben. Aber erstens: gibt es eine Wahrheit? Und dann würde sie zu weit führen.«

 

»Wohin, Alfò?« rief Polli; aber der Sohn des Gevatters Achille ballte nur, ohne sich umzusehen, die Fäuste und ging mit langen Schritten in die Rathausgasse.

»Was hat der schöne Alfò?« fragten, wo er vorbeikam, die Frauen. »Anstatt uns zuzulächeln, zieht er sich den Hut auf die Nase, als dächte er an Übles.«

Ein großes Stück hinter dem Tor, schon jenseits des Waschhauses, trat hinter einem Busch der Savezzo hervor. Der schöne Alfò begann zu schlottern.

»Ich weiß alles, was du denkst«, – und der Blick des Savezzo lastete dumpf auf ihm. »Wehe, wenn du je verrätst, du habest mit mir gesprochen. Du weißt nicht, was ich kann; an deinem eigenen Wort würdest du sterben.«

»Aber wenn es wahr ist«, sagte Alfò, scheu geduckt, »wenn er sie verführt hat, dann ermorde ich ihn.«

»Ermorde ihn! Du kommst auf die Galeere.«

Der Savezzo zog ihn in den Feldweg.

»Leute wie du gehen nicht auf der Landstraße«, sagte er, düster lachend; und auf der Kreuzung der langen Buschgänge, vor einer Kapelle:

»Hier habe ich sie gestern belauscht. Sie sagte zu ihm: ›Du sollst die Madonna nicht ansehen, ich bin eifersüchtig auf sie.‹ Dann schwor er ihr Treue, und sie versprach ihm, daß sie zu ihm entfliehen wolle, gleich morgen, kaum daß die Komödianten fort seien … Laß das Messer in der Tasche!« – und der Savezzo trat, die Arme verschränkt, einen Schritt vor.

Der schöne Alfò wich, leise winselnd, zurück.

»Da sind sie«, flüsterte der Savezzo vor Villascura. »Sie verstecken sich nicht einmal mehr. Alle Bauern, die vorbeikommen, haben sie umarmt gesehen, und du, Dummkopf, willst noch zweifeln?«

Der schöne Alfò warf sich lang hin; er erstickte sein Gewimmer im Staub.

»Wenn du ihn ermordest, kommst du auf die Galeere« – und der Savezzo zog sich lautlos zurück, indes der schöne Alfò, flach am Boden, über die Straße und durch den Spalt im Gatter kroch. Er warf sich seitwärts auf die weiche Erde zwischen den Zypressen, wand sich von einer zur anderen, und dazwischen, die Zähne gefletscht, spähte er.

Nello ließ einen silbernen Spiegel in der Sonne glänzen.

»Welche feinen Dinge du mir schenkst! Oh! ich habe eine elegante Frau zur Geliebten, eine Dame der großen Welt.«

»Ich?« sagte Alba und hob sich, schwach errötet, an seinen Schultern empor. »Ach, ich Arme! Du aber kennst die Frauen der großen Städte.«

»Wie deine Hände duften!«

»Hast du mir nicht das Parfüm gegeben, das die Gräfinnen gebrauchen? Mein Nello, du weißt so vieles, was ich nicht weiß.«

»Ein armer Gesangskünstler! Wie kommt es, daß du mich liebst?«

Sie ließ ihn plötzlich los. Die Augen dunkel und heiß in seinen, schüttelte sie schwer den Kopf. Er ging ihr nach in den Schatten.

»Was hast du? … Hier ist es kühl, man atmet.«

»Findest du? Mir macht meine Liebe Fieber, sie erstickt mich. Sie ist schwer wie der Mond. Sie treibt mir Stacheln ins Fleisch, wie dieser Busch.«

»Alba, was tust du? Deine armen Hände!«

»Siehst du? Ich kann keinen anderen Schmerz mehr fühlen, als nur die Liebe zu dir.«

»Und ich?« rief Nello. »Was geschieht mir, was nicht von dir käme? Ich sehe niemand, nichts bewegt mich; aber wenn ich allein zwischen den Feldern gehe, muß ich plötzlich anhalten und lechzend blinzeln, denn in der heißen Luft kommt dein blendendes Gesicht, o Alba, kühl hauchend auf meinen Mund zu.«

Sie sah ihn, einsam grübelnd, an.

»Ich glaube dir nicht.«

»Du glaubst mir nicht?«

»Die Ersilia und die Mina Paradisi haben sich auf offenem Platz geohrfeigt: deinetwegen, sagt man.«

Er schnellte auf.

»Aber ich kenne sie nicht! Und sie könnten einander vor meinen Augen töten, so würde ich über sie hinwegsteigen, um zu dir zu gelangen!«

»Ist das wahr?« – und sie breitete ihm, schwelgerisch zurückgeneigt, Gesicht und Arme hin. Unter seinen Küssen begann sie zu zittern.

»Und wenn dies die letzten wären? Nello! Die letzten Küsse?«

»Du willst mich also im Stich lassen, du Böse! Hat nicht der Pächter uns den Wagen verschafft, und haben wir ihn nicht gesehen? Denselben Wagen, worin du mir morgen früh nachkommen wirst und in den ich einsteigen werde zu dir, morgen früh!«

»Als ich gestern zwischen Tür und Angel meiner Loge heimlich lauschte, wie du sangst, ward plötzlich das Herz mir schwach von der Angst, dies seien die letzten Töne, die ich von dir hören solle. Ich hängte mich an jeden, ich erschrak, wenn der nächste fiel; und ganz umschmiegt von deiner Stimme, sehnte ich mich nach dir.«

»Meine Alba!«

»Du schwiegst; ich hatte nichts mehr zu hoffen; meine Knie verließ die Kraft. Aus den Kulissen kamen in weißen Perücken die Diener und brachten dir auf Samtkissen in offnen Schatullen die Geschenke. Von welchen Frauen kamen sie?«

»Du weißt doch, daß das Komitee sie jedem gibt und daß sie nichts wert sind.«

»Mag sein. Aber wie viele Frauen warten, dahinten in der Welt, auf dich mit ihren Gaben? Wie vielen wirst du dafür singen? Ach Nello! vielleicht haben wir alles gehabt, was uns gegönnt war. Vielleicht wirst du nie zu mir in jenen Wagen steigen, und ich werde, allein und vergessen, darin zurückkehren.«

»Alba! Was faßt dich an?«

Er schüttelte sie an den Armen. Sie sah über seinen Scheitel fort. Er erblickte unter dem düsteren Glanz ihres Auges ihr geschliffenes Profil, als stehe es drohend über ihm. Schaudernd bückte er sich. Sie sagte hinauf in die Luft:

»Nicht aber werde ich dich jenen zurücklassen. Höre! Du hörst die ernstesten Worte, die je dein Ohr treffen können. Jene werden ihn umsonst suchen, der Alba liebte und der keine mehr lieben soll. Du wirst verstummt sein. Das Echo deiner letzten Töne schließe ich in dies Herz, das versteinern wird.«

Ein Schwindel ergriff ihn. Er schlug sich auf die Brust, er warf sich in die Knie.

»Wenn ich je dich betrügen kann, will ich nicht mehr leben: töte mich!«

Sie ließ sich nieder zu ihm, sie umarmte weich seinen Kopf. Sie weinten.

Alba richtete sich auf, lächelnd, mit nassem Gesicht.

»Du Böser siehst nichts. Ich habe Schuhe an, die aus Paris kommen. Küßt du nun meine Füße? Küsse sie! Ach! Es heißt schön sein … Und du, Schöner, glaubst du, ich wüßte nicht, daß du schon wieder einen neuen Anzug trägst? Laß dich bewundern!«

Er ging mit glücklichem Schritt vor ihr her, die Terrasse entlang. Da schnellte neben ihm aus der Erde etwas Schwarzes, Fletschendes: ein Messer blitzte. Nello lief; er lief und schrie:

»Hilfe! Mörder!«

»Auf die Terrasse!« rief Alba. »Ins Haus!«

Der Verfolger hatte schon den Weg zur Tür abgeschnitten, Nello hastete den Berg hinauf, hinter sich das Schnarchen einer Bestie. Er stolperte ohne Weg, er hatte keinen Atem mehr, ihm ward übel. Er blieb stehen, ihn verlangte nur noch, dem Mörder zugewendet, die Arme zu heben. Plötzlich, schon schloß er die Augen, lag vor ihm ein Stein: der Stein, auf den er sich mit Alba gestützt hatte, damals, als sie auf der Flucht vor Nonoggi und dem Advokaten die Einsenkung des Berges hinabgerutscht waren; er erkannte die Pinie, an der sie sich gehalten hatten. Das Vergangene, alles Vergangene, alles, was Leben gewesen war und doch nicht die Spitze eines Messers auf der Brust gehabt hatte, war auf einmal wieder da; Nello stieß einen langen Schrei aus, er tat einen Sprung und fühlte eine Stufe. Hoch oben sah er sich um: der schöne Alfò wälzte sich am Grunde der Grube, in die sie einst beide gestürzt waren, und Alba war da, die ihm das Messer entriß. Nello warf sich hinter den letzten Zypressen in die Schlucht. In einer Höhle aus großen Steinen sank er zu Boden, preßte sich das Herz und atmete. Er sah umher. Er atmete.

»Hier küßte ich ihr das Blut vom Finger! Unsere ersten Küsse schmeckten nach ihrem Blut, und für die letzten hätte ich bald all meins gelassen.«

Er bebte plötzlich; angstvoller Haß verzerrte ihn.

»Sie wollte mich immer nur verderben. Sie hat mich geliebt, aber ihre Liebe ist tödlich. Was geht sie mich an, ich will nicht sterben.«

Er erschrak, besann sich, – und dann schlug er mit der Faust auf den Boden.

»Ich war ein Narr! Seit vier Wochen will ich um ihretwillen bald Mönch werden, bald in einen Abgrund springen, töte Schlangen und setze mich allen Messern der Stadt aus. Aber ich bin, nun ich daran denke, nicht so groß, wie sie mich will, und ich werde abreisen. Sie mag ohne mich Tragik um sich her brauen: ich tauge nur zu den Dolchstößen, bei denen man singt!«

Er wagte sich hervor: drunten war niemand zu sehen; und senkrecht über ihm stand das Kloster. Er suchte die Treppe.

»Mich schwindelt. Daß mich das erstemal nicht geschwindelt hat!«

Über die letzten Stufen kroch er auf den Händen. Im Klostergarten war niemand; zwischen den Säulen des Hofes schlug einsame weiße Sonne das Pflaster; das Tor stand offen. Draußen sah Nello sich verwundert um; er hatte Lust, zu laufen und zu lachen. In der Treppengasse lächelte er jeder Frau zu. Manchmal blieb er stehen und überzeugte sich, daß der Himmel weit und blau war.

Auf dem Platz bewegte sich wenig, vor dem Café saß nur der Leutnant Cantinelli. Der schöne Alfò ordnete die Stühle. Nello ging mit leichtsinnigem Lachen auf ihn zu, aber der schöne Alfò verschwand rasch.

Vom Balkon des Rathauses sah Frau Camuzzi unverwandt herab. Nello bog hastig den Kopf weg; dann wendete er ihn langsam zurück und erwiderte ihren Blick. Schließlich lächelten sie beide ein wenig.

»Ich grüße Sie, Signora«, sagte Nello.

»Guten Abend, mein Herr«, sagte Frau Camuzzi; und nach einer Minute des Blickens und Lächelns:

»Heute abend also werden wir Sie zum letztenmal hören?«

»Ich singe doch nicht mehr.«

»Wie? Sie haben unser Fest im Klub vergessen?«

Sie lächelte schärfer.

»Was nimmt Ihnen denn alle Gedanken und macht Sie unsichtbar?«

»Es ist wahr, ich soll singen!«

»Frau Zampieri«, sagte sie hinüber, wo die Witwe am Fenster erschienen war, »denkt vielleicht auch Ihre Nina nicht mehr an ihr Harfenspiel? Da sehen Sie den Künstler, der nichts davon weiß, daß alle ihn erwarten.«

»Aber Sie brauchten mich nur daran zu erinnern, daß unter meinen Hörern –«

Frau Camuzzi grüßte ihn hinter ihrem vorbeischwingenden Fächer mit einem raschen, tiefen Blick, – und ehe er beendet hatte, war sie fort. Nello knallte mit zwei Fingern, er schwenkte sich auf den Absätzen herum.

›Sieh doch!‹ dachte er, und: ›Warum nicht … Oder eine andere! Oder mehrere!‹

Er grüßte zu den leeren Fenstern hinauf; vor dem verschlossenen der Unsichtbaren machte er eine kleine spöttische Verbeugung.

»Adieu, o Schicksalsgöttin. Ich habe kein Schicksal mehr; alles ist wieder Spiel und Abenteuer; – und morgen geht's in die Welt hinaus.«

Er schlenderte leichtfüßig durch den Corso. Von der anderen Seite kam ungefüge flatternd der Pfarrer Don Taddeo. Wo es nach dem Gasthaus »Zum Mond« hinabging, maßen sie sich, und der entzündete Blick des Priesters wich aus. ›Wie er verstaubt, schweißig und elend aussieht!‹ dachte Nello. ›Ist das Retten von Seelen eine so schwere Arbeit? Dann ist er ein Narr, daß er die Seelen rettet.‹

 

Don Taddeo stürzte sich in seine Haustür. Am Ende des schwarzen Ganges horchte er, und da alles still blieb, packte er den Knauf des Treppengeländers und bettete die Stirn auf den Stein.

Erst als droben eine Tür ging, fuhr er auf. Er gelangte ungesehen in sein Zimmer und lief darin umher: die Fliesen machten seinen Schritt laut klappern zwischen den kahlen Mauern. Immer wieder ertappte er sich, wie er, mit einer Miene aus Abscheu und Gier, über das Brevier hinweg in die Ecken spähte. Seine Wirtschafterin öffnete die Tür und setzte die Fäuste auf die Hüften.

»Wie, Reverendo? Ihr seid da, und inzwischen verbrennt mir das Essen? Was für Dinge treibt Ihr eigentlich jetzt?«

Vor diesem tauben, argwöhnischen Gesicht sich verstecken dürfen!

»Ich habe nichts, Ermenegilda, bring nur das Essen.«

Sie blieb murrend vor dem Tisch stehen, ob er auch esse. Er tat es mit verhaltenem Geschmack; wenn die Würze des Gerichtes durchdrang, hielt er erschrocken ein. »Der elende Kitzel!«

»Schmeckt es Euch nicht?« fragte die Alte. »Ist Euch übel?«

Er nickte mehrmals, mit geschlossenen Augen, und flüchtete ins Schlafzimmer. Vor dem Bilde des heiligen Aloisius warf er sich nieder. Nach einer Weile hob er lauschend den Kopf; mit einem Lächeln der Erlösung reckte er die gefalteten Hände hinauf. Plötzlich zog er sie zurück, erstarrt. »O mein Gott! Ich glaubte, du ließest in meinem armen Kopf, um mich zu retten, den Gesang deiner Engel entstehen; nun aber war's das ›Gebet der Tonietta‹. Vor dem Schutzpatron der Reinheit liege ich in einer letzten Anstrengung, – und was ich finde, ist Lästerung! Ich bin verloren!«

Er schrie auf: »Ich bin verloren!«

»Ihr habt geklopft?« fragte die Alte. »Madonna! was tut Ihr, Ihr habt den Waschtisch umgeworfen.«

Während sie den Boden trocknete:

»Wie Ihr ausseht, Reverendo! Seit einiger Zeit vernachlässigt Ihr Euch. Unversehens fällt es Euch ein, Euer bestes Kleid anzuziehen und es schmutzig zu machen. Was tun wir nun?« – und sie sah ihn plötzlich scharf an. Er wich bis an die Wand zurück und ließ den Kopf auf die Brust fallen.

»Ich weiß nichts mehr zu tun«, sagte er und hörte seine Stimme metallisch und angestrengt nachzittern, wie das fieberhafte Schwingen des Sterbeglöckchens.

»Hier ist die Lampe«, sagte die Alte. »Möge das Licht Eure Gedanken zerstreuen.«

Als sie ihm gute Nacht gewünscht hatte, ging er gesenkten Kopfes durchs Zimmer. Dann wurden drunten Stimmen laut, – und hastig löschte er das Licht. Er lauschte. Mit geschlossenen Augen und lauschend rückte er dem Fenster immer näher: da kreischte, inmitten der Sprechenden, die vorbeikamen, ein Frauenlachen auf. »Sie! Ach sie!« – und Don Taddeo brach zusammen.

Er kam zu sich; tief dunkel war es; und ihm fiel wieder ein, daß er verloren sei.

»Vielleicht zeigte sie ihnen, indes sie lachte, das Fenster des verlorenen Priesters? Denn sie weiß es! Sie weiß, daß ich sie in der Beichte begehrt habe. Wie? Du wolltest behaupten, es sei nur Zufall gewesen, daß ich an ihr Kleid streifte? Gestehe! Ich gestehe … Während ich dann voll Angst den Kopf gewendet hielt, durchlief mich's, als berührte auch sie mich. Wir haben uns berührt, wir haben einander Wollust mitgeteilt, und ich, der Priester, der die Handlung seines Amtes entweihte – oh! niemand als Gott weiß darum, und dennoch bin ich nun exkommuniziert.«

Er betastete sich, – und er warf die Arme in die Luft.

»Es ist nicht möglich: ich träume. Was ist denn geschehen, daß ich verstoßen wäre aus der Gesellschaft der lebendigen Seelen, verstoßen und verdammt! Ach, über mich!«

Er brach sein Entsetzensgeschrei ab, lauschte und spähte hinaus.

»Niemand … Was ich getan habe, ist meine Sache. Wer weiß denn, wie es kam? Ist es nicht ein außerordentliches Geschick, das mich getroffen hat? Der Papst hat leicht verdammen. Es soll nicht gelten! Ich will wieder werden, der ich war. Kennen mich nicht alle? Bin ich nicht unter ihnen ein Verteidiger des Heiligen Geistes? Mich selbst nennen sie einen Heiligen …«

Plötzlich schlug er die Hände vor die Augen; er lachte stöhnend.

»Ein Heiliger! Ein Heiliger, der sich in den Kalk eines Kirchenfensters krallt, um einer Komödiantin zuzusehen, die Unzucht treibt! Ein Heiliger, dem es nichts nützt, auf dem nackten Stein zu schlafen, so sehr brennt ihn die Begierde nach ihr! In den Augen jeder Frau erspürt er die scheußliche Lockung der einen; denn auch die Hände der armen Baronin Torroni werden heiß in meinen, sie sieht mich an und weiß nicht, was von mir ausgeht. Was sage ich? Die Madonna! Ich darf der Madonna nicht mehr ins Gesicht sehen!«

Er krümmte sich, lautlos schluchzend, über sich selbst.

»Wohin, mein Gott? Ich bin verpestet, mein Hauch tötet Seelen. Mein Laster hat die Stadt ergriffen, daß sie sich mit den Komödianten zugrunde richteten, von Gott abfielen und meinem Feinde, dem Advokaten, zuliefen. Die Verderbnis der Stadt ist meine Strafe und das Abbild meiner eigenen Verderbnis. Denn das Namenlose ist geschehen, und ich, der Hüter des Geistes, bin dem Fleische erlegen. Der Geist, der heilig ist und mich erfüllte, konnte den Bildern des Fleisches weichen! Was spreche ich vom Papst und von den Strafen? Es könnte weder Papst noch Gott geben; keine Ewigkeit könnte der Menschen warten; und dennoch bliebe der Geist – oh! welche Erkenntnis und welche Niederlage –, er bliebe heilig, und ich, der ihm geweiht war und gleichwohl meine Gedanken in die gemeine Lust der Ungeweihten gemischt habe, ich bin nun schrecklicher verdammt, als je ein der Hölle Verfallener.«

Er reckte die Arme hinauf.

»Vernichtung! Gott! Reinige mich und vernichte mich! Wir müssen brennen: sie, die mich zu Fall gebracht hat, ich selbst – und alle, die hier sündigten: die Stadt muß brennen! Du willst es, Herr!«

Er stand steif; droben zitterten die Spitzen seiner bleichen Hände wie Pfeile zum Himmel. Vom Himmel floß es heiß an ihnen herab. Don Taddeo fühlte sich verzehrt und gereinigt. Er schloß die Augen, umwogt von göttlichen Flammen. Sie hoben ihn auf. Die Stadt war unter ihm, und sie brannte, auch sie. Don Taddeo war vor dem Tode noch so mächtig gewesen, daß sein Gedanke sie in Brand gesteckt hatte. Nun starb er, erlöst … Er seufzte und öffnete die Augen. Er lebte noch, drüben glomm das Licht vom Gasthaus »Zum Mond«, nichts war geschehen. Don Taddeo taumelte auf sein Bett.

»Ich bin machtlos. Und ich werde wahnsinnig. Was wird kommen?«

Er horchte entsetzt. Ihre Stimme! Sie nahte, schwoll an, sie lachte wie der Dämon. Don Taddeo hielt sich die Ohren zu, aber er hörte. Er drückte die Lider aufeinander, und dennoch sah er das Weib mit dem Manne ihr Zimmer betreten, sah sie die Kleider lösen, erblickte den Glanz des Fleisches. Er krümmte sich unter den Bildern. Ein Schrei der Lust traf ihn so heftig, daß er aufsprang und sich umsah. Er hatte rote Wellen vor den Augen und in den Ohren Lärm.

»Sie muß brennen!«

Er suchte keuchend umher, setzte mit wirrem Flattern durch die Zimmer, über die Treppe, und draußen – niemand da? – huschte er auf die Schattenseite und die Gasse zum Gasthaus hinab. Es hatte nur ein helles Fenster. Don Taddeo starrte, zurückweichend, hinauf. Da ging ein Laden; der entblößte Arm glänzte auf, der ihn anzog. Don Taddeo warf sich, und die Zähne klapperten ihm, zu Boden; er schaufelte mit den Händen auf dem Pflaster das Stroh zusammen …

Still! Welche Stimmen? Der Tenor, der im Gasthaus wohnte! Kam er?

 

»Weiß ich's?« sagte Nello Gennari.

»O nein«, sagte Flora Garlinda, – und sie gingen weiter.

»Die Leute klatschen nicht immer ohne Grund. Ich will dir gestehen, Nello, daß ich mich in letzter Zeit vor dir gefürchtet habe. An deinem Ehrenabend warst du geradezu erstaunlich.«

»Daher also wurde dir schlecht? Du tust mir leid, Flora.«

»Kein Grund, mein armer Nello. Denn ich fürchte nichts mehr von dir. Seit heute abend bist du wieder so mittelmäßig wie je.«

Sie betrachtete, die Lippen fest geschlossen, aus den Winkeln seine vor Enttäuschung einfältige Miene. Er stieß hervor:

»Aber sie klatschten auch heute abend.«

»Natürlich gab es Frauen, die klatschten, da du ja schön bist«, – und Flora Garlinda zuckte die Achseln. Er fuchtelte.

»Wenn du wüßtest … Man hat wohl das Recht, einmal schlecht zu singen, wenn man –. O Flora, ich war der Glücklichste von allen, heute aber wäre ich fast ermordet worden.«

Er fuhr zusammen und sah sich hastig um, aber die letzten Gäste des Klubs betraten dort hinten, jenseits des leeren Platzes, die Treppengasse. Flora Garlinda bog in die Gasse der Hühnerlucia.

»Fast ermordet: oh! was für Abenteuer.«

Plötzlich verschwand ihr spöttisches Lächeln, ihr Ton war müde.

»Das ist es. Wer zuviel erlebt, kann niemals wissen, wie er am Abend singen wird … Gute Nacht.«

Von der Schwelle ihres Hauses rief sie ihm mit leichter Stimme nach:

»Träume von deiner großen Vergangenheit, Kleiner!«

Er ging, die Stirn gesenkt, dem Corso zu. Auf einmal warf er sich herum, stockte wieder, atmete heftig in die Nacht hinauf. Seine Hände hoben sich, langsam und zuckend: – da ließ er das Gesicht hineinfallen; im Nacken flog sein halblanges Haar, worin dunkel der Mond glitzerte, und Nello stöhnte:

»Alba!«

Seine Seufzer erstickten, in der weißen Stille rieselte der Brunnen. Jener Fensterladen hinter dem Glockenturm zitterte ein wenig.

… Mit einem Ruck richtete Nello sich auf, er ließ laut die Finger knallen und stürzte vor nach der Rathausgasse. Hinter der geschlossenen Tür des Cafés »Zum Fortschritt« entstand Geräusch: Nello schrak wild zurück. Gleich darauf streckte er der Tür die Zunge aus und lief … Vorüber. Er warf die Schultern in die Höhe, lachte metallisch auf. Im zweiten Stock des Rathauses ward ein Vorhang weggezogen. Nello sah sich, schon nahe beim Tor, nach dem Lichtschein um. Er schüttelte lachend den Kopf; er drückte die Hände vor den Mund, woraus Jauchzen brach:

»Alba!«

Vor dem Tor hörten unvermittelt die Lichter auf; Nello sah sich um.

»Ich glaubte die Straße zu kennen wie sonst keine, aber wie viele Verstecke, die ich nie bemerkt habe, gibt es unter diesen Büschen!«

Plötzlich schauderte ihn; er hielt an, die Arme steif am Leibe … Nein, ein Schatten. Aber es war dennoch kein Spiel gewesen, als heute morgen jener Verrückte mit dem Messer hinter ihm her war. »Ein Verrückter, ja, und vielleicht schläft er jetzt mit einem Besenstiel im Arm statt Alba, um die er mich beneidet; – aber darum sticht dennoch sein Messer. Ich habe dennoch um Albas willen den Tod gesehen. Soll ich ihn wiedersehen? O Gott! Noch nicht! … Gleichwohl war ich groß, auch ich! Sie haben es gefühlt, als sie klatschten; und ich selbst fühlte es. Alba war es, die mich groß machte: weil ich sie liebte. Ich liebe sie. Zu ihr!« Er hatte den Weg nun sicher unter den Füßen. Die Stirn hoch, ging er zwischen den Mauerschatten hin, die ihm jäh entgegensprangen, zwischen schwarzen Hecken, worin manchmal ein Mondstrahl aufblitzte, als sei es ein Dolchstrahl. Ein Lufthauch wehte ihn an; Nello öffnete die Nasenflügel. »Ihr Duft! Er kommt aus ihrem Garten, aus ihrem Haar, von ihrem Körper, der leidenschaftlich auf meinen Kuß wartet!« Aber dieser Duft durchdrang ihn bitterer glühend als sonst; nicht nur Liebe brachte er mit. »Ich werde sterben!« Er schloß die Augen, bog den Kopf zurück. Das Gesicht der schwarzen Nachtwelle hingebreitet, und mit geöffneten Armen: »Alba!«

»Da bin ich, Nello!« – und aus dem Schatten langten diese geliebten Hände.

»Du hast mich erwartet: ich wußte es, meine Alba!«

»Du kamst: ich wußte es, mein Nello!«

»Aber wenn ich nicht mehr bis zu dir gelangte? Denn ich habe vergessen, mich zu bewaffnen.«

Sie ließ eine Klinge funkeln.

»Das ist das Messer, das dich treffen sollte. Ich bin da: wehe den Feinden meines Geliebten!«

Und weich, die Hände gefaltet auf seiner Schulter:

»Du hast mich vor der Schlange errettet: jetzt lasse zu, daß ich dich verteidige. Ich werde es besser können als du. Denn dein Leben ist mir teurer als dir.«

Sie führte ihn rasch über den mondhellen Platz vor der Villa. Als sie hinter ihnen das Gitter verschlossen hatte:

»Hier sind wir allein. Kann man auf Erden so allein sein wie wir?«

Sie sanken sich Brust auf Brust, sie betasteten die Umrisse ihrer Gesichter.

»Die Nachtigall singt ganz leise: nur wir sollen sie hören. Die Rosen duften heute so schwach, als sei es im Schlaf. Es ist still, sogar unsere Herzen gehen ruhig vor Glück. Hörst du, mein Geliebter, um uns her das Meer sich wiegen? Sanft spült es an unsere Insel, an unsere dunkle kleine Insel. Laß uns hinaussehen!«

Sie traten unter den silbern blitzenden Rand der Laube aus Steineichen. Ohne Ufer wogten Schleier des Mondlichtes vor ihnen dahin.

»Und morgen löst sich unsere Insel und treibt von dannen, o Glück! Wir stehen, und ich habe alles vergessen, was nicht du bist, und du hast alles vergessen, was nicht ich bin, o Glück!«

»Halte die Spitzen deiner Finger in das Licht hinaus: siehst du, nun haften Blüten aus Mond daran. Willst du mir nicht einen Kranz daraus machen?«

»Denn ich vergesse alles, was nicht du bist, Geliebter. Habe ich nicht die Armen weggeschickt, die um ihr Mehl kamen? Zum erstenmal tat ich das, und tat es, weil wir das Geld zur Reise brauchen, drum ist es keine Sünde. Denn die Religion will, daß wir zuerst unsere Pflichten erfüllen, dann Gott dienen. Meine Pflicht aber bist du, weil ich dich liebe.«

»Und ich dich, o Alba!«

»Nie habe ich es so sicher gewußt, daß du mich liebst, o mein Geliebter, und daß wir immer glücklich sein werden.«

»O Glück!«

»… Warum hat, während wir uns küßten, die Nachtigall geschwiegen?«

»Ich hörte sie nicht verstummen, unsere Küsse, du Lieber, waren zu tief; nun aber ist es mir, sie habe geschluchzt, immer süßer, immer schrecklicher, und dann aufgeschrien … Da liegt sie.«

»Sie ist tot!«

»Wir wollen sie mit Blättern zudecken. Wir wollen sie beneiden: sie ist durch Liebe gestorben.«

»Auch ich werde sterben durch Liebe, Alba!«

»Was hülfe es dir? Meinst du, ich ließe von dir im Tode? … Schon verließen wir wohl die gewohnte Erde, denn sieh, dort drüben geht, mitten über dem Mondlande, die rote Sonne auf.«

»Wie gewaltig der Himmel sich färbt! Eine unbekannte Stadt mit zauberhaften Palästen drückt ihre schwarzen Umrisse in das brennende Rot. Sehnst du dich nicht dahin, meine Geliebte?«

»Aber wenn es ein Brand wäre?«

»Ein Brand? Welcher? Wo?«

»In der Stadt. Horch, sie läuten schon, und da, der Rauch! … Links vom Dom steigt er auf, am Corso … Vielleicht unterhalb des Corso?«

»Alba! Es ist das Gasthaus!«

»Ich wollte es nicht sagen.«

»Das Gasthaus brennt, worin ich wohne! Jetzt vermissen sie mich. Wir sind verloren, was tun?«

»Du mußt hingehen, dich ihnen zeigen.«

»Laß uns fliehen, Alba, sogleich fliehen!«

»Man würde uns zurückholen. Wer weiß, was man denken würde.«

»Was denn! Ja, was denn!«

Und da sie schwieg:

»Nein. Ich eile hin. Leb wohl! Ich laufe am Fluß entlang und springe über die Gartenpforte.«

»Am Fluß werden sie Wasser holen und dich kommen sehen. Gehe lieber über den Corso. Er wird voll erregter Leute sein; vielleicht, daß sie dich nicht beachten … Geh, Lieber, wenn wir uns wiedersehen, ist's für immer.«

»Für immer«, rief Nello zurück.

 

Schon beim Rathaus roch er den Rauch. Drüben im Corso drängte sich das Volk und quoll bis auf den Platz hinaus. Auf der Treppe vor dem Dom stand eine Gruppe: Nello suchte umsonst, voller Befürchtungen, die Gesichter zu erkennen. Auf dem Platz war kein Licht. Die schwarzen Formen der Menge wurden flackernd eingefaßt vom Schein der roten Säule über den Dächern, der alle Hälse sich nachreckten. Nello Gennari drückte sich an den Häusern hin. Vor dem ganz verstopften Eingang des Corso tat er plötzlich einen Sprung, riß zwei Männer an den Schultern auseinander und schrie:

»Platz! Platz für den Advokaten Belotti!«

»Was denn! Buffone!« keifte die Stimme des Galileo Belotti von der Domtreppe herab. »Kommen etwa wir durch? Und ist der Advokat wichtiger als wir?«

»Der Advokat ist schon beim Gasthaus«, sagte jemand im Gedränge.

»Ich weiß es!« rief Nello verzweifelt. »Ich habe einen Auftrag vom Advokaten und muß zurück zu ihm.«

»Der Advokat hat keine Aufträge mehr zu geben«, sagte grollend der Schlosser Fantapiè. »Hätte er statt euch Komödianten eine Dampfspritze angeschafft! Jetzt brennen wir auf.«

»Hilfe! Unsere Federboas! Unsere Hüte! Alles wird zerdrückt!«

Die beiden Fräulein Pernici jammerten durchdringend. Sie trugen den ganzen Inhalt ihres Ladens auf den Armen.

»Fertig ist der Advokat!« brüllte der Schlächter Cimabue. »Er hat den Prozeß verloren, und Don Taddeo behält den Eimer. Komm her, Komödiant, ich will dich deinem Advokaten an den Kopf werfen.«

Da Nello bis unter die Domtreppe zurückwich, hörte er eine unheimlich sanfte Stimme.

»Sie glauben doch nicht, daß dieser Komödiant einen Auftrag vom Advokaten hat? Er ist nur davongelaufen, als es brannte: nein, seltsam, einen Augenblick vorher; denn ich habe ihn laufen gesehen.«

Entsetzt fuhr Nello herum: Frau Camuzzi sah ihm von oben gierig in die Augen. Ihm stockte der Atem vor der Glut dieses Hasses. ›Ich bin verloren!‹ dachte er, ganz starr.

»Glauben Sie denn wirklich«, fragte droben der Cavaliere Giordano, »daß die ganze Stadt aufbrennen wird?«

»Sprechen Sie doch nicht davon!« flehte der Kaufmann Mancafede und rieb sich die Beine; denn er hatte nicht Zeit gefunden, die Unterhosen anzuziehen. »Mein unversichertes Lager! – und mein Haus wird das erste sein, das brennt.«

»Wie wollen Sie, daß das Feuer hinter den Turm dringt?« meinte Frau Camuzzi mit Achselzucken; aber Mama Paradisi warf sich wogend gegen die Schulter des Kaufmannes.

»Mein Isidoro, wenn unsere Häuser in Flammen aufgehen, werden wir zusammen in die Welt hinauswandern und ein neues Leben anfangen.«

»Und Ihre Töchter?« fragte Frau Camuzzi. Aber Mama Paradisi wehrte, fessellos, mit der Hand ab.

»Auch ihnen wird Gott helfen. Ach! Ach! ich fürchte, mein Isidoro, dies Feuer ist eine Strafe für uns beide, weil wir zusammen glücklich waren, ohne uns um die Religion zu kümmern.«

Der Cavaliere Giordano rang seinerseits die Hände.

»Welch Unglück für mich, wenn das Rathaus zerstört würde! Das Rathaus, woran ich meine Gedenktafel haben sollte!«

»Ihre Gedenktafel!«

Das rote Nußknackergesicht des Bäckers Crepalini schalt herauf.

»Sie wissen also noch nicht, mein Herr, daß der Gemeinderat sie heute abgelehnt hat? Ah! die Zeiten des Advokaten sind vorüber, er hat den Prozeß verloren. Man errichtet nicht mehr, sobald es ihm paßt, Gedenktafeln für Landstreicher.«

»Landstreicher? Ich? der ich ein Haus habe in Florenz, voll von Geschenken der Fürsten und der –«

Der Barbier Nonoggi stieß den Alten unehrerbietig beiseite, er machte sich an den Savezzo, der abseits, die Arme verschränkt, am Dom lehnte, und er wisperte:

»Masetti hat entdeckt, daß das Feuer gelegt worden ist: ja, an der Holztreppe zum Balkon ist es gelegt worden. Er hat es dem Allebardi gesagt, denn er und der Kutscher arbeiten an der Spitze, und der Allebardi –«

Nonoggi rang nach Atem und tanzte.

»Nun?« fragte Savezzo und nickte schwer.

»– hat mich zu Euch geschickt, im tiefsten Schweigen, damit ich Euch frage, was man tun soll, ob man sprechen soll; denn da Don Taddeo sich nicht sehen läßt, seid Ihr, Herr Savezzo, seit dem Unglück des Advokaten der größte Mann der Stadt!«

Und Nonoggi strich, tief gebückt, mit der Hand im Bogen über das Pflaster hin. Der Savezzo trennte die Brauen voneinander, unwiderstehlich öffnete sich sein Mund zu einem schwarzen Lächeln, und er schielte heftig auf seine Nase.

»Ich werde mich Eurer zu erinnern wissen, Nonoggi«, sagte er mit einer großen Gebärde. Und leiser: »Es wird ein günstigerer Augenblick kommen, dem Volk die Wahrheit zu sagen. Wir müssen als Politiker handeln, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind. Geht, Nonoggi, und schweigt! schweigt!«

»Und Ihre Tochter, Herr Mancafede?« fragte Frau Camuzzi. »Wird sie, wenn Ihr Haus brennt, herauskommen?«

»Was denken Sie?« antwortete er gekränkt. »Neun Jahre sind es, daß sie nicht ausgeht … Wehe, wehe!« – und er hielt sich, wieder ganz zusammengesunken, die Ohren zu. Eine Funkengarbe schoß dahinten aus dem Dunkel; es knatterte; das Volk schrie auf. Die Kleinen des Schusters Malagodi, droben in ihrem Fenster, klatschten; und auch auf der Straße durchbrach den Schrecken heller Jubel.

»Nun sage, Pomponia«, rief die Magd Felicetta, »ob das nicht schöner ist als das Feuerwerk am Verfassungsfest!«

»Ich werde dir ein Feuerwerk machen!« – und der Bäcker kniff sie, daß sie schrie.

»Ihr Herr brennt ab, und sie unterhält sich. Aber die Gemeinde soll mir mein Pachtgeld zurückgeben, wenn sie mich abbrennen läßt. Der Advokat! Er ist mir verantwortlich, er, der gegen die Dampfspritze gestimmt hat!«

»Nieder der Advokat!« rief man, »er hat den Eimer verloren! Don Taddeo gehört der Eimer!«

Der Barbier Bonometti widersprach allein:

»Es lebe der Advokat! Glaubt nicht den Verleumdern! Er ist ein großer Mann, der Advokat!«

Aber sobald er gerufen hatte, mußte er von seinem Platz weichen. Jeder stieß ihn weiter, und er wiederholte, einsam und verzweifelt:

»Es lebe der Advokat!«

»Nieder der Advokat!« schrie man einander in den Nacken, immer tiefer in den Corso hinein, bis vor die Brandstätte; die Pipistrelli schrie es im Takt mit Frau Nonoggi und Frau Acquistapace:

»Nieder der Advokat!«

»Don Taddeo hat es vorausgesagt: das ist das Gericht Gottes, weil ihr die Komödianten hergerufen habt!« – und die Pipistrelli schwang ihren Krückstock über der Menge. Es ward gemurmelt:

»Don Taddeo hat es vorausgesagt.«

Aber jemand rief:

»Da ist einer von ihnen!«

Und mit gellendem Geheul fiel die Frau des Kirchendieners den Tenor Gennari an, der fast schon bis zum Gasthaus hindurchgeschlüpft war. Sie griff ihm mit der Krücke unter den Rock, und sie ließ sich von ihm schleifen.

»Haltet ihn! Das Gericht Gottes! Haltet ihn!«

Schon faßten Hände zu.

»Laßt mich!« rief Nello. »Ich wohne im Gasthaus!«

»So wollen wir dich hineinwerfen, damit du es warm hast, du schöner Kleiner!« – und die Weiber, roten Feuerschein in den verzerrten Gesichtern, hoben ihn auf. Plötzlich flogen sie heulend auseinander; der Bariton Gaddi war da und verteilte Stöße. Rasch und sicher zog er den Freund ins Freie.

»Wir brauchen noch einen bei der Spritze«, erklärte er dem Leutnant Cantinelli, der mit seinen Untergebenen Fontana und Capaci die Menge von der Brandstätte abdämmte. Die Pipistrelli, Frau Nonoggi und Frau Acquistapace versuchten, die bewaffnete Macht zu überrennen, fanden sie aber unerschütterlich. Von weitem riefen sie den Wirt an, der, die Hände um den Kopf, durch den Hof seines brennenden Hauses irrte.

»He, Malandrini! Da habt Ihr's. Warum beherbergt Ihr die Feinde Gottes. Nun laßt Euch von den Komödianten Euer Haus bezahlen! Gewiß haben sie es angesteckt. Sind denn wenigstens Eure Gäste gerettet?«

»Das Vieh ist aus den Ställen gezogen«, antwortete er.

»Aber die Gäste!«

»Der Engländer ist mit der Komödiantin hinuntergelaufen.«

»Ah! hätte er sie doch brennen lassen. Aber natürlich brauchte er sich nur zu rühren, und sie war wach. Es wird nicht viel Platz gewesen sein zwischen den beiden.«

»Man hat sie gesehen«, sagte Frau Nonoggi. »Die Felicetta und die Pomponia haben sie gesehen. Sie werden jetzt anderswo weiterschlafen.«

Der Wirt griff mit beiden Händen aus, als machte er sich Platz.

»Meine Frau!« rief er. »Findet mir meine Frau wieder!«

»Wie? Ihr habt Eure Frau verloren?«

»Ich habe das Haus durchsucht, sie ist fort. Ich wache auf, es brennt, sie ist fort.«

Die Frauen sahen sich gierig an. Frau Acquistapace sagte:

»Sie wird die Kinder gerettet haben und Euch in der Eile vergessen haben. Ich begreife das.«

»Die Kinder«, stöhnte der Wirt, »sind da, sie aber –«

»Au, au! Oh, über uns! Rettet euch! –« und die Weiber rannten, die Hände im Nacken, zurück, – indes, in einem langen Aufschrei des Volkes, der hölzerne Balkon herunterkrachte und eine hohe Flamme vom Boden aufschoß.

»Der Schuppen!« schrie donnernd der Apotheker Acquistapace und schwang die Faust. »He, Masetti, Allebardi! Eure Spritze auf den Schuppen!«

»Ihr Komödianten«, kommandierte der Apotheker, »und Ihr, Chiaralunzi, richtet Euren Schlauch auf das Dach, denn diese verdammten dürren Maiskolben, die darunter liegen, brennen schon … Aber ihr anderen, rettet mir den Schuppen! Sonst wird er das Haus Polli in Brand setzen, und die Stadt ist zum Teufel … Mit Macht! Öffnet ihn! Reißt ihn doch auf!«

Aber er selbst riß vergebens.

»Malandrini, den Schlüssel!«

»Gebt mir meine Frau wieder!«

»Das ist aber kein Spaß mehr!« – und der Tabakhändler Polli brach sich Bahn. »Wie? Ich soll keine Erlaubnis haben? Aber jene haben wohl die Erlaubnis, mir mein Haus anzuzünden!«

Der Leutnant Cantinelli ließ ihn durch, so sehr schrie er.

Der Herr Giocondi drang mit ein.

»Ich habe ihn versichert! Malandrini, habe ich dich versichert oder nicht? Keine vier Wochen sind's, – und das ist nun dein Dank, daß du mir abbrennst!«

»Solange es sich nicht um mein Haus handelte«, schrie Polli, »sondern nur um deins, Malandrini, habe ich nichts gesagt. Ich habe geschlafen, bis meine Frau mich weckte. Habe ich nicht sogar beim Erdbeben geschlafen? Niemand schläft wie ich …!«

»Wenn du auch nur eine einzige Prämie bezahlt hättest! Ein schönes Geschäft für die Gesellschaft! Sie wird mich vor die Tür setzen.«

Und der Herr Giocondi stieß den Wirt wieder dem Tabakhändler zu.

»Aber es scheint, daß ich gerade noch rechtzeitig komme!« schrie Polli. »Einen Augenblick, und meine Zigarren fangen an, sich selbst zu rauchen. Es fehlte nichts weiter. Setzt den Schuppen unter Wasser! Schlagt die Tür ein! Ein Beil!«

Die Arbeiter aus der Zementfabrik des Herrn Salvatori, die jungen Leute vom Elektrizitätswerk, die in einer langen Kette vom Fluß her Wasser holten, ließen die Eimer in der Luft schweben: solchen Lärm machten die beiden kleinen Alten.

»Kaltes Blut, ihr Herren«, sagte der Advokat Belotti und trat hinzu. »Freund Acquistapace sorgt schon dafür, daß der Schuppen nicht Feuer fängt. Seht ihr nicht, daß die Trümmer des Balkons schon gelöscht sind? Bravo, Acquistapace!« – und der Advokat klatschte leicht in die Hände. Giocondi und Polli betrachteten ihn, die Fäuste auf den Hüften, mit Gesichtern, die immer dunkler wurden, aber ohne einen Laut.

»Die Sachen gehen gut, ich verbürge mich dafür«, sagte der Advokat und legte sich die Hand auf die Brust. Da brachen sie los:

»Er verbürgt sich! Der Advokat verbürgt sich! Sieh ihn dir an!«

Sie stießen sich, böse kichernd, mit den Schultern an.

»Und worin besteht die Bürgschaft, Advokat? Zahlst du mir einen schwarzen Punsch beim Gevatter Achille, wenn ich abbrenne?«

»Darum also«, fiel der Herr Giocondi ein, »hat der Advokat die Dampfspritze abgelehnt, weil er für jeden Feuerschaden persönlich zu haften gedachte. So sehr liebt er die Stadt! Solch guter Bürger ist er!«

Die beiden drehten plötzlich um. Die Bäuche heraus und mit erhobenen Armen wackelten sie laut scheltend um den Hof.

»Der Advokat! Ein gefährlicher Narr: jetzt sieht man es.«

»Der Advokat ist verurteilt, und der Eimer gehört dem Don Taddeo!« keifte es dahinten im Corso. Der Advokat griff, zusammenzuckend, an die rote, gestrickte Mütze, die sein Haupt bis zur Hälfte der Ohren überzog; es schien, er wollte grüßen. Rechtzeitig ließ er es; er näherte sich den Spritzen. Aber Allebardi schrie ihn an: »Achtung, Advokat!« und spritzte ihm über die Füße. Da kehrte der Advokat, und er hielt den Rock zusammen, als fröre ihn, ganz allein auf die Mitte des Hofes zurück. Der Unterpräfekt, Herr Fiorio, der vorüberkam, nahm rasch den Arm seines Begleiters, des Steuerpächters, und machte einen Bogen. Der Advokat schnitt ihm den Weg ab.

»Die Sachen gehen gut, Herr Unterpräfekt. Man sollte meinen, daß es Ahnungen gibt, denn noch vor acht Tagen habe ich meinen Freund Acquistapace veranlaßt, eine Spritzenprobe abzuhalten. Drum arbeiten seine Braven auch glänzend. Das Feuer ist, kann man sagen, eingedämmt. Mag noch das Dach einstürzen: was kümmert uns das Dach, nicht wahr, Herr Unterpräfekt?«

Da man ihn allein reden ließ, wurden die Gesten des Advokaten immer größer.

»Und auch das Dach würde niemals brennen, wenn nicht dieser Esel von Malandrini in dem offenen Speicher gerade darunter seine Maiskolben zum Trocknen hingelegt hätte. Jetzt fehlt freilich wenig, und das Feuer dringt vom Speicher ins Haus. Welch Unglück, Herr Unterpräfekt!«

Er betastete seine rote Mütze. Der Unterpräfekt sah sich ungewiß um. Vom Dach rasselten Schindeln herunter. Das Volk antwortete:

»Nieder der Advokat!« – und dahinten das Vieh brüllte unheilvoll.

Da entschloß sich der Beamte; seine Miene ward unverkennbar kühl, und er sagte:

»Die Nacht ist schon frisch in dieser Jahreszeit, finden Sie nicht, Herr Advokat? Möge der Morgenwind die Luft nicht noch mehr abkühlen.«

Bei dem Gedanken an den Wind ward der Advokat fahl. Die Stadt brannte! Der Himmel war ein Feuermeer, darin verkohlten auf immer seine Größe und sein Ruhm! Mit geschlossenen Füßen sprang er auf ein loderndes Stück Holz.

»Ihre Jagdstiefel eignen sich vorzüglich dafür«, sagte der Unterpräfekt. Der Advokat bemerkte erst jetzt, was er in der Eile angezogen hatte: nur einen Überzieher und keinen Kragen! Er begann zu plappern:

»Müssen mir diese Stiefel in die Hand geraten, die ich seit drei Jahren nicht angehabt habe. Oder wie lange ist es schon, daß das öffentliche Wohl mir keine Zeit mehr läßt, auf die Jagd zu gehen.«

Der Unterpräfekt sah wohlgefällig an seiner untadeligen Kleidung hinab. Er strich sich den Bart, warf dem Steuerpächter einen Blick zu und versetzte:

»Sie haben vielleicht heute nacht im Traum vorausgefühlt, daß das öffentliche Wohl Ihnen jetzt bald wieder Zeit lassen werde, diese Stiefel anzuziehen.«

Sofort richtete der Advokat sich auf. Mit gefesteter Stimme:

»Dann, Herr Fiorio, werde ich stolz sein, dem öffentlichen Wohl diesen letzten Dienst zu erweisen. Wir alle, Herr Unterpräfekt, sind nur Beauftragte des Volkes, und wenn es uns fortschickt –«

»Nieder der Advokat!«

Eine Sekunde schloß er die Augen; dann:

»– werden wir unserer Würde am besten dienen, wenn wir ihm danken und gehen.«

Der Advokat wandte sich und verließ den Beamten. Im selben Augenblick brach, um den Schornstein her, das Dach ein. Dicke Ballen Rauch wälzten sich aus den Fenstern des oberen Stockwerkes. Alles hielt den Atem an; – plötzlich eine gelle Stimme aus dem Haufen und gleich darauf ein Schreien durcheinander: »Jemand ist drinnen! Seht am Fenster! Seht am Fenster! Jemand brennt lebendig!«

Und jetzt erkannten alle im Rauch, der sich lichtete, etwas Weißes.

»Meine Frau, da ist sie!« – und Malandrini warf sich, die Arme erhoben, vorwärts, als wollte er hinauffliegen. Die Arbeiter fingen ihn ab.

»Die Treppe brennt. Man muß zuerst die Spritze hinaufführen.«

»Ersilia! Komm herab, Ersilia!« schrie er, weinend und winkend.

»Es ist nicht Ersilia!« antwortete dahinten eine Stimme. »Es ist die Komödiantin!«

Eine Minute der Starrheit. Alle staunten zu dem Gesicht im Fenster hinauf, das blöde und unwissend über die Köpfe hinhing. Gleich danach zuckte es auf, ein Schrei zerriß es; und indes man es noch schreien hörte, verschloß schon wieder der schwarze Rauch es.

»Das Fräulein Italia!« rief der Apotheker. »Helft mir sie retten!« – und er stürzte umher. Vom Corso kam es schrill wie eine Pfeife.

»Romolo!«

Und der Alte griff sich an den Kopf, fand nicht mehr nach links, noch nach rechts. Chiaralunzi und die Komödianten waren dabei, die Spritze über die Treppe zu ziehen; die Arbeiter hasteten mit Wassereimern hinein; – da schnellte etwas Schwarzes an ihnen vorbei: rannte oder kroch, man wußte nicht, denn es war schon droben und fort im Rauch. Man sah nur, daß der Kutscher Masetti in einem Eimer saß, und er erklärte, Don Taddeo habe ihn hineingestoßen.

»Don Taddeo! Ah! Don Taddeo!« ein Aufschrei; und das ganze Volk reckte sich nach jenem Fenster im Rauch, von dem er die Komödiantin fortriß. Er lud sie sich auf, er stürzte davon, eine Flamme schoß ihm entgegen. Man sah einander eine stürmische Stille lang in die Augen.

»Beim Bacchus!« sagten die Männer.

»Er ist verloren, Don Taddeo«, sagten die Frauen; und:

»Wenn aber die Komödiantin lebend herabkommt, bringe ich sie um.«

»Man muß beten!« – und der Chor schwoll an. Plötzlich:

»Da ist er! Wunder! Wunder!«

In einem mächtigen Stoß brach das Volk über die bewaffnete Macht hinweg in den Hof. Don Taddeo war aufrecht gegen die Mauer gefallen, gleich neben der Tür, aus der er die Komödiantin getragen hatte. Als die klatschenden Hände auf ihn zustürmten, schloß er die Augen; Italia flatterte in ihrem Hemd, laut kreischend, um den Hof. Die Frauen hielten sie auf.

»Falle ihm zu Füßen! Wenn du ihm das Leben gekostet hättest, meinem Don Taddeo: weh dir!«

Sie schien auf einmal zu erschlaffen; gehorsam sank sie vor ihn hin. Er ward, ohne daß er die Augen öffnete, ganz weiß, sobald ihre Lippen seine Hand berührten. Seine lange Nase ward weiß und zitterte; unter der zerrissenen Soutane zitterten seine Schultern. Seine Hand flog so heftig, daß ihre Lippen sie verloren.

»Würde man nicht sagen: Jesus und die Magdalena?« fragten die Frauen, indes die Männer bis dicht vor das Gesicht des Priesters in die Hände klatschten.

»Aber er muß ruhen, er wird krank werden. Ein Heiliger, der sich opfert! Da seht ihn an, ihr Männer! Wo wart ihr, die ihr breite Schultern habt und so viel Wein trinkt? Cimabue, wo warst du? Ein Heiliger mußte kommen, sonst war diese Arme verloren … Erlaube nur, daß ich deinen Ärmel küsse, und meine kleine Pina wird gesund werden!«

Sie schoben Italia fort, jede wollte ihn berühren; ihre Masse trug ihn; – und erst, als sie ihn fortziehen wollten: »Nach Haus, Reverendo, Ihr müßt ruhen«, da merkten sie, daß er ohne Bewußtsein war. Sie legten ihn nieder, rieben ihn, baten und schalten ihn.

»Steht auf, Reverendo, was tut Ihr da. Es wird Morgen, und Ihr sollt uns predigen.«

Sie horchten. Dann erinnerten sie ihn:

»Der Eimer ist Euch zugesprochen, er ist Euer. Der Advokat ist besiegt, niemand hört auf ihn. Euch aber lieben alle, denn Ihr habt die Komödiantin vom Feuer errettet und seid ein Heiliger.«

Eine Pause. Plötzlich griff die sanfte Frau Zampieri sich in die Haare. Da schrien sie auf und warfen sich hin.

»Er ist tot! Was soll aus uns werden!«

»Nein, er hat die Augen geöffnet«, sagte allein eine Stimme wie ein Engel; und man sah Flora Garlinda, die Primadonna, ihre Augen, die glänzten, unverwandt auf Don Taddeo halten. Don Taddeo seufzte, sah sich um und schloß, zusammenzuckend, noch einmal die Lider. Dann erhob er sich, wehrte denen, die mitwollten: »Ich habe zu beten, meine Töchter, ich habe so viel zu beten«, und ging durch die Bahn, die sie ihm ließen, aus dem Hof.

Vorn und allein stand der Advokat Belotti. Er bewegte, als der Priester vorbeikam, die Hände wie zum Klatschen. Dabei nickte er stark.

»So wird auch Judas Ischariot geklatscht haben«, sagte an der Spitze eines Haufens der Bäcker Crepalini. Der Advokat wandte ihm das Gesicht zu, worin eine Träne hing.

»Für einen redlichen Bürger bleibt eine schöne Tat eine schöne Tat, auch wenn ein politischer Gegner sie tut.«

»Ein redlicher Bürger?« wiederholte der Bäcker, und sein dicker Kopf, auf dem es flackerte vom Schein des Feuers, wackelte höhnisch. »Wir alle sind redliche Bürger. Immerhin kennt man gewisse Geschichten von Waschhäusern, die auf Terrains gebaut sind, die den Verwandten gewisser Witwen gehörten.«

»Gewisser Witwen«, fuhr der Schuster Malagodi fort, »die die Schwestern gewisser Advokaten sind.«

»So daß«, ergänzte der Mechaniker Blandini, »jene Verwandten ihr Terrain aus öffentlichen Mitteln erstaunlich gut bezahlt bekamen.«

»Man erinnert sich auch«, sagte der Schlosser Fantapiè, »mancher Vorgänge bei den letzten Wahlen …«

»Eh! wie viele Umstände mit einem Advokaten«, rief in der Nachbarschaft ganz laut Frau Malagodi. »Als ob es nicht so viele kleine Advokaten gäbe, – die er alle selbst gemacht hat, der Mädchenjäger, der Verführer! Die Andreina in Pozzo hat einen, aber bekümmert sich der Alte vielleicht um ihn? Man sieht, was ein gottloser Wüstling ist!«

Der Advokat hob die Schultern; aber wohin er sich wandte, sprang es ihn an, aus dem Dickicht des Volkes.

»Wo sind die Gelder für die Komödianten hergekommen? … Ist nicht das Haus in der Via Tripoli eine Schande für die Stadt? Aber der Advokat verteidigt es.«

»Es werden seine Töchter sein«, wisperte hinter dem Rücken des Advokaten der Barbier Nonoggi den Weibern zu und verrenkte das Gesicht, daß sie lachten. Gleich darauf war er in einen anderen Haufen geschlüpft und wisperte etwas anderes. Plötzlich aber war auch er bei der Laube, wohin der Advokat sich zurückzog, und hielt die Hand an den Mund.

»Achtung, Herr Advokat! Die Leute denken nicht gut von Ihnen; ich sage es, weil es die Wahrheit ist. Ich selbst aber: Sie wissen zu wohl, Herr Advokat –«

»Ich kenne Euch, Nonoggi«, sagte der Advokat, drückte ihm die Hand und verschwand ins Dunkel. Der Barbier war schon drüben, am Schuppen, beim Savezzo, der ihm gewinkt hatte.

»Sollen wir beginnen? Sollen wir sagen, daß das Feuer –?«

Der Savezzo schnappte zu, daß es klappte. Er fuhr sich ins Haar; rauh brachte er hervor:

»Ich übersehe die Lage, dies ist der Augenblick: wir handeln!«

»Zurück!« schrie vorn der Apotheker Acquistapace. »Ihr Herren, ihr Damen, zurück! Es ist uns unmöglich, zu manövrieren.«

Die Arbeiter versuchten, mit gefüllten Wassereimern, einen Ausfall gegen die Menge. Sie wurden mit Entrüstung zurückgeschlagen.

»Das Haus wird abbrennen, wenn ihr es wollt!« schrie Acquistapace. »Sind wir denn in Anarchie? Advokat, herbei!«

»Es gibt keinen Advokaten mehr!« antwortete die Menge.

Der Apotheker sah sich vergebens nach seinem großen Freunde um. Die Menge gab ihm Befehle.

»Steige aufs Dach und spritze von oben!«

»Als noch ein Dach da war, hätte er hinaufsteigen sollen. Alles macht ihr verkehrt. Warum habt ihr nicht zuerst die Maiskolben herabgeholt? Rettet nun wenigstens die Betten!«

Und sie drängten hinein. Der Schneider Chiaralunzi empfing sie mit einem Wasserstrahl. Der Rest des hölzernen Balkons brach, funkensprühend, herab. Alles warf sich mit Zetern im dichten Rauch durcheinander.

»Das Ende der Welt!« ächzte flüchtend der Wirt Malandrini. »Wo ist meine Frau? Ich bin ruiniert!«

»Malandrini«, sagte der Advokat und zeigte sich in der Laube, »es heißt nun, ein Mann sein. Glauben Sie mir, es gibt noch größeres Ungemach als Ihres.«

»Ach, über mich!« und er schlug sich mit den Fäusten auf den Bauch, er setzte die Nägel an seinen runden Kahlkopf.

»Auch die Mütze ist mir verbrannt! Ich werde betteln gehen!«

Der Advokat zog ihn in die Laube.

»Sehen Sie her, Malandrini: hier auf dem Tisch liegen Ihre Kinder und schlafen. Wenn sie denn wirklich keine Mutter mehr haben, was ich nicht glauben will, so trösten Sie sie! Das wird auch Sie trösten. Denn im Unglück ist es ein Trost, gütig zu sein.«

Der Wirt schluchzte am Tischrand.

»Das ist nicht alles … Advokat, ich will Ihnen etwas Schreckliches sagen. Meine Frau – sie ist fort mit allem Gelde.«

»Wie? Was sagen Sie, Malandrini? Sie haben doch nicht –«

Der Advokat brach ab, denn draußen gingen Stimmen durcheinander.

»Der Brand ist gelegt, sage ich euch … Der Wirt ist ein Schuft … Unter der hölzernen Treppe zum Balkon ist das Feuer gelegt. Masetti hatte es schon längst bemerkt. Man hat ihm gedroht, damit er nichts sage. Man will schweigen, weil hochgestellte Personen kompromittiert sind … Ah! Das Volk soll belogen werden!«

Malandrini schluchzte.

»Denn alle meine Wertpapiere waren in ihr wollenes Unterhemd genäht. Nirgends sonst wollte ich sie aufbewahren. Eine Frau, nicht wahr, ist das sicherste, was ein Mann hat: sicherer als ein eiserner Schrank. Was soll man noch glauben!«

Der Advokat setzte an, aber über allem Wirrsal von Lauten schrie draußen der Herr Giocondi:

»Ah! Malandrini, Brigant, der du bist, darum also hast du dich versichern lassen und noch keine Prämie gezahlt! Aber zeige dich nur, und du endest schlimm! Wo bist du? Malandrini! Er ist geflohen, der Brandstifter!«

Der Wirt richtete sich auf.

»Wie? Er spricht von mir?«

»Lassen wir sie schwatzen«, sagte der Advokat bitter. »Es ist das Volk.«

»Was denn, der Wirt!« sagte jemand. »Ganz andere Leute sind verdächtig.«

Und die Stimme der Pipistrelli:

»Die Komödianten! Don Taddeo hat das Unglück vorausgesagt! Nun haben sie die Stadt angezündet!«

»Du bist eine böse Alte!«

»Hat sie denn nicht recht? Wer sonst konnte denn stehlen, indes das Haus brannte, wenn nicht der Komödiant, der darin wohnte.«

»Wir wissen es längst; alle sagen es.«

»Ganz andere Leute! Was wißt ihr von den hohen Geheimnissen. Es gibt Dinge … Wer ist denn der Feind des Don Taddeo und will sich rächen? Wer hat denn den Ankauf der Dampfspritze verhindert?«

»Man muß den Stolz des Advokaten kennen. Don Taddeo hat seine Macht gebrochen, das macht ihn zu allem fähig. Lieber soll die Stadt untergehen, als seine Herrschaft!«

»Ah! Der Advokat ein Schurke? … Wenn man es bedenkt … Die Herren sind alle Schurken! Man muß sie alle auf die Galeere schicken!«

Das Geschrei der Weiber kam wieder obenauf.

»Der Komödiant! Es ist der schöne! Wir werden ihn mit einer dicken Kette um den Hals sehen!«

»Man merkt, daß er euch nicht angesehen hat! Der Advokat ist es, der Advokat!«

»Vielleicht, daß der Komödiant ihm geholfen hat?«

Der Advokat in der Laube warf die Schultern.

»Da haben Sie das Volk! Sie, den Gennari, mich, es weiß nicht, wen es noch beschuldigen soll.«

Aber der Wirt rückte, den Kopf schief, seitwärts Schritt für Schritt aus seiner Nähe. Der Advokat sah sich um: er war fort. Durch das einsame Dunkel der Laube zuckten Lichter wie rote Schlangen. Zwischen den Blättern erschien manchmal ein aufgerissenes, wild überflackertes Gesicht wie eine höllische Maske. Zum erstenmal heute nacht seufzte der Advokat. Er beugte sich über sich selbst und bedeckte die Augen.

Draußen geschah ein großer Stoß; eine Frau heulte auf, weil die anderen sie überrannten.

»Der Komödiant!« schrien sie. »Was tun denn die Carabinieri? Soll er auch unsere Häuser anzünden?«

Nello Gennari war schon von der Spritze weggerissen, schon umringt und auf einen Tisch geworfen. Sie türmten um ihn her die Stühle, die er selbst aus dem Hause gerettet hatte. Gaddi, Chiaralunzi und der alte Acquistapace mußten die Barrikade stürmen, um Nello zurückzuholen. Bestürzt sah er die sanftesten Gesichter der Stadt, Haß fauchend, auf sich eindringen. Nina Zampieri klatschte mit diesen weich gebogenen Händen, die nur zum Tasten auf den Saiten der Harfe bestimmt schienen, klatschte, weil er fiel und sich verletzte. Ersilia und Mina Paradisi, die sich seinetwegen geohrfeigt hatten, schrien nun gemeinsam auf ihn ein.

»Er ist es! Man hat ihn gesehen. Er ist davongelaufen, einen Augenblick, bevor es brannte. Alle haben gesehen, daß er aus dem Tor lief!«

»Fontana! Capaci! Verhaftet ihn! Cantinelli, befiehl es ihnen!«

Die Soldaten wurden vorwärts gestoßen. Da trat ihnen der Advokat Belotti entgegen und griff an seine rote Mütze.

»Meine Herren, einen Moment! Meine Damen, Sie begehen einen Irrtum!«

Er stellte seine Hand beschwörend gegen alle diese heulenden und pfeifenden Köpfe, diese zum Sturm vorgeworfenen Leiber.

»Ich tue meine Pflicht, o meine Damen, und leiste Ihnen einen Dienst –«

»Schweige! Du und deine Partei auf die Galeere!« – und dazu pfiff es.

»– da ich Sie davor bewahre, ein Unrecht zu begehen. Denn dieser junge Mann ist unschuldig: glauben Sie mir, unschuldig. Ich kenne sein Leben, und ich weiß, welches Geschäft er vor dem Tor hatte … Soll ich es ihnen sagen?« raunte er Nello zu.

»Nein.«

»Sie sind in ernster Gefahr. Sie haben sich dem Volk verdächtig gemacht.«

»Um Gottes willen, schweigen Sie!«

»Sie sind ein tapferer junger Mann … Ich darf Ihnen nichts weiter sagen, meine Damen«, keuchte er angestrengt, »als daß dieser hier unschuldig ist. Denken Sie denn nicht mehr an die Stimme, mit der er Sie so oft gerührt hat? Solche Stimme lügt nicht. Ich, der Advokat Belotti –«

Er hob sich auf die Zehen, reckte die Hand hinauf und öffnete die Augen, so weit er konnte.

»– ich bürge euch für diesen hier!«

Auf einmal fuchtelten alle Arme nur noch gegen ihn. Das Pfeifen betäubte ihn. Er verstand nicht die Stimmen, die sich überschrien. Die Männer warfen sich durch die Frauen hindurch. An ihrer Spitze stand unversehens auf einem Stuhl der Savezzo, massig, mit einer stählernen Geste nach dem Advokaten und auf seinem Gesicht die drohende und dunkle Kraft der ganzen Menge.

»Ich bin da, um auszusprechen, was ihr alle denkt!« rief er ehern. »Hier bürgt ein Verdächtiger für den anderen!«

»Du hast recht! So ist es!«

»Der Advokat verdient nicht mehr Glauben als der Komödiant! Auch er ist ein Komödiant!«

»Gut!«

»Zu lange schon betrügt er das Volk!«

»Zulange!«

Der Savezzo schlug mit der Linken dem Chor den Takt. Dann, die Faust gegen seine Brust schmetternd, die vorgetreten war wie ein Panzer: »Ich, Mitbürger, nenne euch den Namen des öffentlichen Feindes, und wenn er's nicht ist, dann richtet statt seiner mich selbst!«

»Nenne ihn!«

»Es ist der Advokat Belotti!« – und damit sprang der Savezzo hinunter in das Wogen und Geheul, zeigte nach allen Seiten seinen schwarz aufgerissenen Mund und legte sich, allen voran, zum Sturm aus. Der Advokat war von Acquistapace, Gaddi und Chiaralunzi umringt. Sie hielten ihm die Arme, und er zeigte der Menge seine offenen Hände, wie um ihr zu beweisen, daß sie rein seien. Sie schrie trotzdem:

»Das Waschhaus! Die Dampfspritze! Die Wahlen! Auf die Galeere mit ihm! Werft ihn zu Boden! Ah! auch die Arbeiter hat er bestochen, daß sie den Schlauch gegen uns richten. Wehe, wenn wir dich erst haben!« – und dazu brüllte das Vieh, und die Glocken läuteten immerfort Sturm.

»Welch häßlicher Narr«, schrien Weiberstimmen, »mit seiner roten Nachtmütze!«

Der Advokat bewegte heftig den Mund, ohne daß man ihn hörte. Aber die Adern schwollen ihm.

»Ich bin euer Freund«, hörten die, die seine Arme hielten, ihn keuchen. »Aber ihr sollt sehen, ob ich ein Mann bin und stark auch gegen euch. Ich werde zu kämpfen wissen.«

»Reize sie nicht, Advokat!« flüsterte Acquistapace. »Tue es für mich! Lieber will ich allen feindlichen Heeren der Welt gegenüberstehen, als dem Volk!«

»Es sind gute Leute, Herr Advokat«, sagte der Schneider Chiaralunzi. »Teufel, in diesem Augenblick sind sie verrückt. Man muß Geduld haben.«

Wo der Savezzo sich abarbeitete, brachen übermächtige Rufe hervor.

»Was hat er mit dem Malandrini in der Laube gesprochen? Malandrini, rede! Er hat dir dein Grundstück abkaufen wollen, damit er das Doppelte fordern kann, wenn hier das städtische Schlachthaus gebaut wird. Denn das will er! Und darum hat er das Gasthaus in Brand gesteckt!«

»Auf die Galeere! Auf die Galeere!«

Der Advokat keuchte:

»Ich merke euch mir! Ihr werdet mich kennenlernen! Ah! sogar du, Scarpetta, den ich genährt habe? Wie? Giocondi, du hast das Herz, die Faust gegen mich zu erheben?«

Er schwieg; denn dahinter fuchtelte auch Polli. Die Hand des alten Acquistapace fühlte sich lockerer an um seinen Arm. Es gab keine Freunde mehr. Der Advokat betrachtete, in einer stolzen Marter, jedes einzelne dieser hundert vom Morgenlicht fahlen Gesichter, bis dahinten, wo im erlöschenden Widerschein des Brandes die letzten durcheinanderflossen. Und Jole Capitani, wo war sie? Liebe und Ruhm, wo waren sie? Alles verschlungen von der despotischen Laune des Volkes. Der Advokat bäumte sich. »Ihr hättet eine Schreckensherrschaft nötig!«

In der Nähe wiederholte sein Bruder Galileo den Schrei der Menge:

»Auf die Galeere! Pappappapp, versteht sich, auf die Galeere: wohin denn sonst mit dem Buffonen! Er wollte prahlen, er wollte den großen Mann machen, und das bringt ihn nun auf die Galeere.«

Von unten, zwischen den Beinen hervor, rang sich manchmal ersticktes Jammern.

»Alles nur Verleumdung! Der Advokat ist ein –«

»Wie? ein großer Mann sagst du? Ah! du sollst einen sehen!« – und der Barbier Bonometti bekam neue Fußtritte. Er jammerte lauter, – indes im Haufen der Weiber, den die Menge gegen die verschlossene Tür des Schuppens drängte, die Witwe Pastecaldi ein Schluchzen erhob:

»Der Advokat auf die Galeere. So endet er nun: ich habe es immer gefürchtet.«

»Tröstet Euch«, sagte die Magd Felicetta. »Euer Bruder ist nicht der einzige. Auch der Komödiant geht auf die Galeere. Denn wir wissen jetzt, daß sie das Haus zusammen angesteckt haben.«

»Es ist wahr!« schrien die Frauen. »Denn der Advokat und der Komödiant sind aneinandergeraten, wie sie beide zu der Italia wollten. In ihrer Eifersucht haben sie die Kerzen umgeworfen; und als es dann brannte, ist die Ersilia Malandrini darüber dazugekommen. Da haben sie sie, damit nichts herauskäme, gebunden und verschwinden lassen. Vielleicht haben sie sie umgebracht, die Arme.«

»Sie haben sie umgebracht! Denn für eine schlechte Frau wie jene Komödiantin sind die Männer zu allem fähig.«

»Auf die Galeere die beiden!« – und ein letzter Stoß drängte die Verteidiger des Tenors und des Advokaten von ihrer Seite. Die Hände der Feinde packten sie an; – da kreischten auf einmal alle Weiber auf. Sie fielen in der Tür des Schuppens, die klaffte, durcheinander, kugelten eine über die andere fort in das Heu, und unter ihren umgeschlagenen Röcken kreischten sie … Plötzlich schwiegen sie. Bewegung entstand im Dunkel des Schuppens, dumpfe Rufe, eine fassungslose Stille. Die Menge hielt an und spähte hin. Die ersten erstarrten Gesichter erschienen in der Tür, und zwischen ihnen, im Hemd, Frau Malandrini. Hinter ihr zeigte sich widerwillig der Baron Torroni.

 

Ein Gelächter brach aus; zuerst waren es mächtige Stöße, zwischen denen man anhielt und sich besann, dann Wellen, ununterbrochen hin und her über den Hof, durch den Corso, bis dahinten auf den Platz. Die letzten setzten sich vor Lachen auf das Pflaster: »Die Frau des Malandrini hat – ah! das ist ein wenig stark, sein Haus brennt, sie aber und der Baron zerstreuen sich«; – und sie lachten weiter, indes die Vordersten beim Schuppen dem Paar applaudierten. Frau Malandrini rief zornig ihrem Manne entgegen:

»Was machst du denn? Du läßt unser Haus abbrennen, und mich sperrst du in den Schuppen?«

»Meine Frau!« – und mit einem rauhen Schrei hing der Wirt an ihren Schultern.

»Die Papiere? Du hast sie?« keuchte er.

»Wie denn, wer soll sie sonst haben?«

Darauf wandte Malandrini ein jäh beseligtes Gesicht der Menge zu.

»Wir leben noch«, schluchzte er. »Wir sind noch da.«

»Auch der Baron«, antwortete man ihm.

»Er war zufällig da«, sagte die Frau. Der Baron erklärte barsch, er habe den Brand gerochen und im Schuppen nachgesehen.

»Du aber stößt mich, deine Frau, hinein und sperrst ab!«

»So ist es! Du hattest den Kopf verloren, armer Malandrini!« schrie die Menge und schüttelte sich. Der Wirt griff sich an die Glatze. Die Frau schalt weiter, weil er sie all die Zeit im Hemd bei einem Herrn gelassen habe.

»Konnte ich etwa hervorkommen und der ganzen Stadt zeigen, was nur du sehen darfst? Gib mir deinen Rock, und fort ins Haus, daß wir Kleider suchen!«

Die Menge trat in Reihen auseinander wie bei Don Taddeo, dem Heiligen, und klatschte an ihrem Wege. Plötzlich riefen mehrere zugleich:

»Aber die Komödiantin! Dann war nicht sie es, die der Baron besuchte, sooft er ins Gasthaus kam!«

»Augenscheinlich, – und was den Baron betrifft, ist sie unschuldig.«

»Wie, nur den Baron? Und wird auch der Advokat nicht etwa nur mit ihr geprahlt haben?«

»Die Komödiantin ist ein ehrbares Mädchen!«

»Wie die Männer uns verleumden!« rief Mama Paradisi.

»Wir Mädchen sind recht sehr zu beklagen«, bemerkten Felicetta und Pomponia. »Die Komödiantin, wir haben es immer gesagt, ist so ehrbar wie wir.«

»Wer will noch behaupten«, sagte mit sanftem Nachdruck Frau Zampieri, »daß sie ihm etwas gewährt habe, was nicht erlaubt ist?«

»Wer will es behaupten?« wiederholte die Menge drohend.

Die Herren Polli, Giocondi und Cantinelli sahen einander nachdenklich an und schwiegen.

»Sie hat es verdient, von einem Heiligen aus dem Feuer gerettet zu werden!« rief Frau Nonoggi.

»Wo hat sie sich versteckt? Wenn wir sie finden, wollen wir sie belohnen.«

»Da ist sie!« – und die Mägde Fania und Nanà zogen sie aus der Laube, wo der junge Severino Salvatori sie mit seinem Mantel bedeckt hatte. Die Menge lobte ihn dafür. Italia, rot und wirr, wie sie war, ward von ihr geherzt.

»Sie hat eisige Füße, die Arme!«

Die Frauen rieben sie ihr.

»Wer hätte es gedacht, daß die Komödiantinnen ehrbar sind«, sagte der alte Seiler Fierabelli zum Schlosser Fantapiè. »Wer einen Sohn hätte, könnte ihn ihr zum Manne geben.«

Der Schneider Coccola rief:

»Und Polli, der sich weigert, seinem Sohn Olindo die gelbe Choristin zu geben!«

»Das ist nicht recht von Euch«, sagten die Männer; und die Frauen:

»Ihr beleidigt uns alle.«

Der Tabakhändler wollte entwischen, aber sie stellten ihn.

»Da sieh, wie sie sich lieben!« – und die Menge zog Olindo mit der Gelben hinter dem Schuppen hervor, sie führte die beiden dem Vater zu. Polli rötete sich; er drang auf seinen Sohn ein. Die Menge riß ihn zurück; er zappelte wütend.

»Ihr wollt wohl sagen, daß auch diese ehrbar ist?«

»Warum nicht?«

»Aber wenn doch ich selbst sie –«

Der Aufschrei der Frauen deckte seine Stimme zu.

»Ah! wir wissen wohl, weshalb er nicht will: sie ist arm.«

Und von allen Seiten:

»Wir Armen sind Eurer Herrlichkeit nicht gut genug. Nieder die Reichen!«

»Man muß die Mädchen nicht nach dem Gelde fragen«, riet der Herr Giocondi, im Gedanken an die eigenen Töchter. »Sieh nur auf das Herz!«

»Gib ihnen deinen Segen!« rief das Volk; – und da dort hinten schon ein unheilvolles Pfeifen ausbrach, entschloß sich Polli.

»Mir hätte statt dessen das Haus abbrennen können«, brummte er. »Da die Nacht nicht ohne ein Unglück vorübergehen soll –«

Aber beim Zusammenlegen der Hände kniff er seinen Sohn so heftig in den Arm, daß Olindo aufhüpfte. Die große Gelbe fächelte sich erstaunt.

»Welche sympathische Familie!« rief das Volk und klatschte.

»Alle hinaus!« befahl dahinten der Apotheker Acquistapace seinen Leuten. »Der Schornstein wird ins Haus fallen.«

Gaddi aber zog Nello hinter die Tür.

»Nello, du bist in Gefahr.«

»Ich weiß es, aber ich war heute schon in größerer, und man gewöhnt sich daran.«

»Du scherzest, Nello, ohne zu wissen, worüber. Ich bin den Verdächtigungen nachgegangen, die gegen dich ausgeschickt sind; ich habe ihre Quelle entdeckt … Die meisten haben sie von einem Kommis des Kaufmanns Mancafede, und der Kommis hat sie von seinem Herrn. Der Kaufmann aber stand beim Dom mit Frau Camuzzi.«

Und da Nello aufzuckte –

»Es ist also wahr. Ich dachte es mir: der Haß einer Frau. Höre, Nello: flieh! Flieh sogleich!«

»Heute morgen, wenn ihr andern fort seid.«

»Das ist nicht früh genug. Bis zur Stunde, wo wir fortziehen, wird sie etwas Neues gegen dich erdacht haben. Was sie bisher schon gewagt hat, beweist dir das nicht, daß sie nicht eher einhalten wird, als bis sie dich vernichtet hat?«

Mit dem Arm um die Schulter des jungen Mannes:

»Ich sehe dich verloren, Freund.«

Nello senkte die Stirn.

»Vielleicht bin ich's. Trotzdem, Virginio« – und er drückte die Hand des Freundes, »kann ich dir nicht folgen. Ich folge nur meinem Schicksal, und es heißt Alba. Oh! nie mehr wird es anders heißen … Du weißt nicht –«

Mit heißeren Händedrücken, voll hastigen Glückes:

»Dies war die letzte Nacht ohne sie: in wenig Stunden sind wir vereint für immer. Wenn ihr anderen die Stadt verlassen habt, – ich verziehe noch, ich verstecke mich. Werden nicht viele euch begleiten, wird nicht die Stadt in Verwirrung sein? Dann enteile ich zu ihr, der Wagen steht bereit hinter der Hecke, sie wartet darin, sie winkt: ich komme, ich komme: und, o Virginio! wir leben trotz allem nicht umsonst: ich habe sie neben mir, sie ist bei mir, wohin immer das Leben uns führt … Und wenn es –«

Er warf den Kopf zurück, breitete leicht die Hand hin und lächelte rein.

»– wenn es selbst zum Tod führt, mit ihr!«

Eine Pause; das Klatschen und Gelächter der Menge.

»So willst du nicht fliehen?« fragte Gaddi nochmals. Auch Nello lachte auf und schlug in die Hände.

»Du bist gut! Fliehen, – wenn ich doch im Schutz meiner Heiligen stehe. Frau Camuzzi mag die Ratschläge der Hölle selbst haben: was kann sie gegen Alba!«

Er drängte den Freund hinaus ans Frühlicht.

»Und sieh, ob irgend jemand hier Verderben sinnt. Die Menschen können nicht lange böse sein, das Leben ist zu gut. Den Advokaten wollten sie auf die Galeere schicken. Jetzt lachen sie, und er lacht mit ihnen!«

Denn der Advokat ging umher und zeigte, daß er lachte. Seiner Schwester Pastecaldi raunte er zu:

»Ich bitte dich, Artemisia, laß das Weinen! Es wird mich kompromittieren. Ein öffentlicher Mann muß heiter sein. Solange gelacht wird, ist nichts verloren.«

»Der Advokat auf die Galeere?« – und seine Nichte Amelia starrte aus ihrem weißen Mullkleid entgeistert zum Himmel auf. Der Advokat machte »Schü! Schü!« Er erstickte das Schluchzen der Witwe Pastecaldi mit der Hand.

»Hast du wenigstens meine Perücke mitgebracht?« zischelte er. »Daß du sie mir auch gerade gestern abend wegnehmen mußtest, um sie zu kämmen … Gottlob, da ist sie.«

Er duckte sich hinter seine weiblichen Verwandten, um die rote Mütze abzuziehen.

»Das alles wäre mir vielleicht nicht zugestoßen, wenn ich nicht diese gesegnete Mütze aufgehabt hätte. Die Weltgeschichte ist reich an solchen folgenschweren Zufällen … Es geht mir schon besser«, – und er kam mit der Perücke auf dem Kopf wieder zum Vorschein. Die Schwester zog aus ihrer Schürze auch seinen braunen Strohhut; sofort schwenkte er ihn mit einem Kratzfuß gegen Flora Garlinda, die herzukam.

»Sie sind ein tapferes Mädchen, Sie haben sich frisiert!«

»Sie haben einen Mißerfolg gehabt, Advokat? Sie sind ausgezischt? Wie werden Sie sich rächen?«

»Indem ich meine Pflicht tue«, antwortete der Advokat und stieß die geöffnete Hand edel nach unten. Bei ihrem spöttischen Lächeln:

»Dies Volk scheint Ihnen ein wenig eigenwillig, ein wenig zügellos. Aber wenn es demütig wäre, möchte ich nicht sein Beauftragter sein, weil ich es verachten würde, – und nicht sein Herr, denn der Herr ist noch verächtlicher als der Knecht, aus dessen Erniedrigung er Nutzen zieht … Nicht doch!« rief er in einen Kreis von Bürgern hinein, worin die Herren Salvatori, Mancafede, Torroni dem Leutnant Cantinelli zustimmten, der eine Vermehrung der bewaffneten Macht verlangte.

»Nicht doch, ihr Herren! Je weniger Macht geübt wird in der Welt, desto besser ist es!«

»Ihre Sache«, sagte Flora Garlinda. »Ich war nur gekommen, um Ihnen zu Ihrer Rache zu verhelfen.«

»Wie?«

»Denn ich schulde Ihnen einen Gegendienst für Ihren Artikel in der ›Glocke des Volkes‹. Sie werden sehen, daß niemand zu kurz kommt, der meine Partei nimmt … Lassen Sie uns beiseite treten … Man hat Sie beschuldigt, dieses Haus angezündet zu haben. Was würden Sie sagen –«

Sie senkte schief den Kopf. In den Taschen ihres schmutzfarbenen Regenmantels öffnete und schloß sie die Hände.

»– wenn ich Ihnen den wirklichen Brandstifter nennen würde?«

Da er nur mit dem Mund klappte, sagte sie und ließ die Laute, jeden für sich, leicht und klar in die Luft gehen:

»Es ist Don Taddeo, der Heilige.«

Der Advokat prallte zurück. Er sah sie ruhig die Lippen schließen, als ob alles entschieden sei: – da begann er wild den Körper umherzuwerfen, den Hals nach allen Seiten hinauszustoßen; die Augäpfel quollen ihm hervor, und er stöhnte mehrmals schwer. Endlich wischte er sich den Schweiß; er atmete zischend aus.

»Es wäre unnötig. Wer würde mir glauben? … Übrigens glaube ich selbst es nicht.«

Sie ließ ihn vollends zu sich kommen. Ihre Augen glitzerten.

»Er ist es, Don Taddeo«, wiederholte sie mit einem Lächeln, das sie schön machte. Der Advokat brauste auf:

»Aber woher wissen Sie's? Haben Sie etwas gesehen?«

»Nicht mehr als Sie. Nicht mehr, als alle sehen konnten, hier auf dem Hof voll Menschen, als Don Taddeo die Italia rettete und als er in Ohnmacht lag.«

»Und daraus, daß er ein Held ist; denn man muß die Wahrheit sagen: er ist ein Held, dieser Priester, und wäre er nicht ein Feind des Staates, würde ich ihn einen guten Bürger nennen: – daraus also ziehen Sie den Schluß, er habe ein gemeines Verbrechen begangen? Sie wollen scherzen, Fräulein.«

»Ich habe meine Beweise. Aber den wichtigsten finde ich darin, daß es ihm gut stehen würde … Entrüsten Sie sich nicht, Advokat! Es würde ihm soviel besser stehen, als Ihnen. Seit ich ihn, nach eurer Schlacht auf dem Platz, besiegt wie er war, hinter seinem Turm sich krümmen und quälen sah, kenne ich ihn; und wenn wir jetzt über den Brand, Italia und das übrige miteinander nur einige Worte wechselten, ich bin sicher, wir würden uns verständigen.«

»Ah! Ah!«

Der Advokat legte sich breit zurück und stieß ein tief beruhigtes Lachen aus.

»Jetzt verstehe ich alles. Ich hatte wahrhaftig vergessen, daß Sie eine Künstlerin sind.«

Er holte ihre Hand aus der Tasche, um sie zu küssen.

»Eine große Künstlerin!«

»Wie es Ihnen gefällt«, schloß Flora Garlinda und hob die Schultern.

 

»Haltet ihn!« schrie alles, und mehrere setzten sich hart hin, weil der Brigadiere Capaci über sie hinweggerannt war. Man sah dahinten noch seine langen Beine schweben, aber Coletto, der Konditorjunge, war schon um die Ecke.

»Hast du den Salame?« rief Malandrini dem Gendarmen entgegen, der zurückkehrte. Seine Hände waren leer, die Buben jubelten, und der alte Zecchini schlug seinen Zechbrüdern vor, den Keller des Wirtes zu untersuchen.

»Wer weiß, ob das Feuer aus seinem Wein nicht Kognak gemacht hat.«

»Nonoggi, deine Frau hat unten ein Bettuch und oben ein Handtuch an; es scheint, die Geschäfte gehen schlecht.«

Die Menge entdeckte erst jetzt, wie sie aussah.

»Welche Furcht wir gehabt haben müssen!«

»Gina, was hättest du getan, wenn die Stadt gebrannt hätte?«

»Gib dein Ohr her: ich wäre zu Renzo gelaufen.«

»Flüstere nur, ich habe es doch gehört; und wir wären uns auf halbem Wege begegnet, Gina.«

»Der Doktor Ranucci! Der alte Narr hat seine Frau im Hause eingeschlossen, um nachzusehen, was es gibt. Galileo Belotti aber hat ihr ins Fenster gerufen, die Stadt brenne. Jetzt schreit sie. Wir wollen dem Alten sagen, ein Mann sei bei ihr!«

»Ah! sind unsere Männer tapfer gewesen. Masetti! Chiaralunzi! ihr habt uns alle gerettet. Dir aber haben sie das Haus erhalten, Malandrini. Warum jammerst du? Deine Betten sind ein wenig naß geworden, das ist alles; aber deine Frau hat nicht darin gelegen, sie lag im Schuppen.«

»Sie lag im Schuppen!«

»Und du knauserst mit dem Wein? Du Glückspilz? Unsere Männer haben geschwitzt für dich!«

»Mein Mann schwitzt am meisten von allen«, sagte die Frau des Baritons Gaddi und zeigte dem Volk seine Hemdärmel.

»Man muß sagen, daß auch die Komödianten tapfer waren; sogar der junge, der doch mit dem Advokaten das Feuer angelegt hat. Warum ist er noch nicht im Gefängnis?«

»Redet keinen Unsinn!« sagte der Schneider Chiaralunzi. »Als der Balkon herabfiel, wäre ich fast erschlagen: dieser aber hat mich fortgezogen.«

»Nein, das war Virginio«, sagte Nello.

»Die Post geht ab!« rief Masetti; aber er ward zur Ruhe verwiesen. Ob er die Komödianten denn nackt mitnehmen wolle, da ihnen alles verbrannt sei? Ob er so gottlos sei, daß er nicht zuerst die Messe hören wolle, zum Dank für die Rettung der Stadt?

»Aber nicht alle sind so gute Leute unter diesen Künstlern«, setzte der Schneider hinzu. »Unser Spritzenwagen steckte einmal im brennenden Holz, wir sind gerade nicht genug Leute: ›Fasse einer mit an!‹ rufe ich, und jener steht dabei, aber glaubt ihr, er rührt sich?«

Die Menge betrachtete mißbilligend den Kapellmeister, der, eine große Rolle fest unter dem Arm, von einem Fuß auf den andern trat. Der Schneider hatte sich dunkelrot gefärbt.

»Mag er ein Maestro sein und ich blase nur das Tenorhorn: hier aber sind wir, um die Stadt zu retten, und das ist kein guter Mann, wer nicht helfen will.«

Auch der Kapellmeister war rosig überzogen. Er stieß den freien Arm in die Höhe, legte ihn aber sogleich behutsam auf seine Rolle. Sich abwendend:

»Was wißt ihr?! Laßt mich gehen!«

Hinter ihm wisperte der Barbier Nonoggi:

»Seht Ihr, wie der Schneider das Volk gegen Euch hetzt? Er möchte Euch aus der Stadt verdrängen, denn am liebsten wäre er selbst der Maestro. Der Tenor, mit dem seine Frau eine Liebschaft hat, will ihm dazu helfen.«

»Was kann ich tun?« sagte der Kapellmeister zu den Umstehenden. »Sollte ich, um einen Spritzenwagen herauszuziehen, meine Messe verbrennen lassen und meine Oper? Denn hier, das sind meine Kompositionen, und ich durfte sie nicht aus der Hand lassen. Schließlich, wie auch Sie wissen, war es möglich, daß die Stadt abbrannte.«

»Er ist ein böser Mann«, – und Chiaralunzi schnob, daß sein langer Schnurrbart aufflog. »Er denkt nur an sich und seine Musik. Wir sind gut genug, sie ihm aufzuführen, dann dürfen wir verbrennen, wenn es uns gefällt.«

Blandini und Allebardi erklärten, sie sähen es wohl und hätten keine Lust mehr, heute morgen in der Messe des Maestro mitzuspielen.

»Geben Sie mir recht, Herr Mancafede!« rief der Kapellmeister und fuhr sich durchs Haar, daß der Hut hinabfiel. »Sie selbst waren in Sorge um Ihr Warenlager, das immer noch keine Opernpartitur ist. Sollte ich sie dem Untergange aussetzen? Ich weiß, wieviel ich der Stadt schulde, und diesem Volk, das dieselbe Musik gefühlt hat wie ich, das ich liebe, von dem ich das Beste empfange. Aber danke ich ihm nicht besser mit Werken, als indem ich ein Haus rette? Was bedeutet ein Haus, das abbrennt, gegen Italien, gegen die Menschheit, die auf meine Werke wartet!«

Der Kaufmann Mancafede lächelte von unten, indes die andern murrten.

»Immerhin«, äußerte Polli, »zahlt Ihnen nicht die Menschheit Ihre hundertfünfzig Lire, sondern wir.«

Der Kapellmeister drehte die Augen nach oben. Dann maß er schweigend den Schneider, der weiterschalt. Abseits bemerkte der Advokat:

»Was alles mit uns vorgeht! Wie kommt es, daß diese beiden braven Leute sich hassen?«

»Ich benachrichtige die Herren, daß der Kaffee fertig ist«, rief der Gevatter Achille und schob seinen Bauch durch die Menge. »Man hat nicht geschlafen heute nacht, da glaubte ich dem geehrten Publikum zu dienen, indem ich meinen Kaffee extrastark machte.«

Er stellte sich in die Mitte.

»Alle ins Café ›Zum Fortschritt‹!«

Aber wer noch da war, wollte den Schornstein einstürzen sehen; denn er ragte kahl und ungestützt aus dem offenen Dach und neigte sich schief und schiefer. Alles wartete gedrängt am Ausgang des Hofes; nur Coletto und die Seinen wagten sich vor und warfen mit Steinen nach dem Schlot. Der Wirt fiel über sie her, aber man rief ihm zu:

»Eh! Malandrini! Er wird umfallen, ob du sie prügelst oder nicht. Wir haben durch deine Schuld die ganze Nacht Angst gehabt, jetzt wollen wir uns unterhalten.«

»Auch deine Frau hat sich unterhalten.«

Und man feuerte einander an, vorzulaufen und Steine zu werfen. Plötzlich: »Er fällt! Hoho! Rettet euch!«

 

Unter dem Knall und Geprassel des Kamines, der ins Haus sank, stob alles mit Lachen und Gekreisch von dannen. Der Wirt nur irrte, die Hände um die Ohren, wehklagend durch seinen vereinsamten Hof. Der Advokat Belotti war da und spendete ihm Trost; – und obwohl es vergeblich war, ließ er auch den Freund Acquistapace samt seinen Leuten abziehen und blieb zurück.

»Armer Freund, man sieht es ihm an, daß er sich nicht gern an meiner Seite zeigen würde. Manchmal, sagen wir nur die Wahrheit, ist das Leben schwierig.«

Gleich darauf zuckte er zusammen.

›Da ist Camuzzi!‹

Er tat, als habe er ihn nicht gesehen, und stöberte in den Trümmern. Wie er sich ins Haus stehlen wollte, rief der Gemeindesekretär ihn an:

»Guten Morgen, Herr Advokat!«

Der Advokat kam zögernd hervor. Der Sekretär hatte seinen neuen Herbstmantel an, frisch glänzende Schuhe und duftete gut. Der Advokat klopfte an seinem beschmutzten Rock, auch versuchte er, ihn zu schließen, es fand sich aber kein Knopf mehr.

»Sie hier, Herr Camuzzi«, brachte er hervor.

»Ja, ich bin ein wenig früher aufgestanden. Die Leute erzählen einem Fabeln; können nicht Sie, Herr Advokat, mir sagen, was eigentlich geschehen ist?«

»Sie haben geschlafen?« fragte der Advokat und behielt den Mund offen.

»Da hier, wie ich sehe, nur ein Dach eingestürzt ist, habe ich offenbar wohl daran getan, die Nacht nicht unter den Gaffern und Schwätzern zu verbringen. Sollte man jetzt nicht an das Frühstück denken?«

Er kehrte wieder um.

»Sie konnten schlafen!« wiederholte der Advokat ergriffen.

»Vielleicht hätte ich nicht geschlafen«, erklärte der Sekretär, »wenn ich an den Brand geglaubt hätte.«

»Wie? Sie haben nicht daran geglaubt? Aber die Glocken haben geläutet! Der Himmel war rot!«

»Meine Frau sagte es mir, als sie mich weckte. Aber gewöhnt, wie ich es bin, an die Übertreibungen dieses Volkes: – denn dies Volk, Sie wissen es wie ich, lebt von Übertreibungen, Dunst und Lärm, und es bereitet dem nüchternen, die Ordnung liebenden Menschen nur Plage. Noch jetzt ist es meine Überzeugung, daß der Eifer der guten Bürger dem Hause Malandrini größeren Schaden zugefügt hat als das Feuer!«

»Eh! Eh!« – und der Advokat arbeitete, ohnmächtig krächzend, mit Schultern und Händen.

»Sie leugnen also die Sonne, Herr Camuzzi! Nach Ihrem Gefallen leugnen Sie sie! Ich antworte Ihnen nur, daß ein Brand wohl nicht jeder Wirklichkeit entbehren kann, wenn sogar jemand da ist, der ihn gelegt hat.«

Der Gemeindesekretär hob die Schultern.

»Man hat mir auch davon gesprochen. Man hat mir, unter mehreren anderen, sogar Sie als den Brandstifter genannt, Herr Advokat.«

Der Advokat begann mit künstlicher Wildheit zu kichern. Er schielte nach dem Gesicht seines Begleiters.

»Ich sehe, daß Sie mich für unschuldig halten, vielen Dank. Ich will Ihnen gestehen, daß ich soeben bei Ihrem Anblick nicht ohne Besorgnis war. Die Verschiedenheit unserer Temperamente, Herr Camuzzi, hat es mit sich gebracht, daß wir uns im öffentlichen Leben zuweilen gegenübergestanden haben. Freilich gibt mir das noch nicht das Recht, an der Klarheit Ihres Denkens zu zweifeln … Wollen Sie das Absurdeste wissen, was eine erhitzte Phantasie heute nacht erfunden hat?«

»Die Nacht der Dichter«, sagte der Sekretär.

»Wenn ich selbst, der Advokat Belotti, der seit dreißig Jahren all seine Tätigkeit, sein Genie und seinen Ehrgeiz dem Wohl dieser Stadt widmet, sie eines schönen Nachts in Brand gesteckt haben soll, will ich es noch als reine und strenge Logik hinnehmen. Aber auch Don Taddeo soll sie angezündet haben. Sie haben richtig gehört: Don Taddeo!«

Er lachte so stürmisch, daß mehrere Bewohner des Corso auf ihre Schwellen traten. Der Sekretär begnügte sich mit verächtlichem Feixen.

»Man muß sich vor dem Landstreicher schämen«, bemerkte er, »der das Feuer vielleicht gelegt hat: – falls es gelegt worden ist und falls es ein Feuer war. Er wird uns alle für verrückt halten.«

»Wieviel Geist Sie haben, Herr Camuzzi!«

Aber der Advokat seufzte plötzlich tief.

»Das alles soll nicht heißen, daß ich mich den Verantwortlichkeiten zu entziehen denke, die auf mich fallen. Das Volk hat recht, oh, wie recht, wenn es Rechenschaft von mir fordert über die Ablehnung der Dampfspritze.«

Er drückte beide Hände auf die Brust und nickte.

»Soll man nicht an das Fatum glauben und an den Neid der Götter? Hier sehen Sie einen Mann, der im Dienst des Volkes höher gestiegen war als die meisten, und den ein Fehltritt herabgestürzt hat. Das Volk aber, weit entfernt, ihn zu bemitleiden, setzt ihm den Fuß auf die Brust. Und doch bemitleidet es oft Unwürdige. Vielleicht haßt es mich nur, weil wir uns zu sehr geliebt haben und ich ihm einmal nicht groß genug war?«

Der Advokat blieb stehen. Da der Gemeindesekretär die Frage unentschieden ließ, ging er weiter.

»In jedem Fall hat es recht, das Volk. Ich beging ein unverzeihliches Versäumnis, als ich, sparsam aus Liebe zu Größerem, die Dampfspritze ablehnte. Nicht nur der Ruin des Hauses Malandrini fällt mir zur Last, sondern die Unsicherheit, in der ich die Stadt ließ, die Ungeschütztheit dieses Volkes, das mir vertraute!«

Der Sekretär wiegte den Kopf. Er stellte lächelnd die Hand gegen den Advokaten.

»Ihr Kopf geht durch. Woher wissen Sie, daß mit der Dampfspritze, die auch ich abgelehnt habe, der Schaden geringer gewesen wäre? Ich glaube es nicht, und das Geschrei des Volkes beweist es mir nicht. Übrigens halte ich es mit dem Satze, daß die Dinge ihr Maß in sich tragen: auch das Feuer. Wir sollen nicht zu viel handeln: nicht einmal gegen das Feuer.«

Der Advokat schlug durch die Luft und sprach in die Rede des anderen hinein:

»Dies ist das Prinzip des Übels: daß ich zu stürmisch den Fortschritt wollte, um mich auf die Erhaltung dessen, was da war, noch besinnen zu können. Der Geist der meisten aber ist vor allem auf Erhaltung gerichtet. So teilte sich durch meine Schuld dies Volk, so kam, ach, über mich! der Bürgerkrieg.«

»Da ist der Advokat! Er wagt sich zu zeigen. Nieder mit ihm!« – und beim Café »Zum heiligen Agapitus« war alles auf den Beinen. Der Advokat, am Rande des Platzes, nahm die Hand, mit der er sie beschattet hatte, von den Augen, und sein Begleiter sah Tränen rollen.

»Nicht das Unglück ist meine Strafe, sondern die Reue«, stöhnte der Advokat.

Dort hinten überschrien sie einander, – indes beim Café »Zum Fortschritt« eine tödliche Stille lagerte. Die Herren wendeten sich nicht her; der alte Acquistapace hielt den Kopf gesenkt.

»Die Freunde, verführt und mitgerissen durch mich, leiden nun Furcht und hassen mich dafür. Bemerken Sie, Camuzzi, den seltsamen Fall, daß ich nur noch mit Ihnen sprechen kann, der Sie immer mein Gegner waren. Sie haben Mut!«

»Pöh!« machte der Sekretär. »Da ich an das öffentliche Leben nicht glaube, wird es mir nicht schwer, zu tun, was mir beliebt. Indessen –«

Der Sekretär befestigte vor seinen halb geschlossenen Augen den Klemmer.

»– wäre dies nicht der Augenblick für Sie, sich zu fragen, wozu Sie soviel gewollt, sich abgearbeitet und gehandelt haben? Was bleibt davon, nun Sie im Dunkel des Privatlebens verschwinden sollen?«

Und er wollte, befriedigt durch seine Frage, weitergehen. Aber der Advokat verharrte noch auf der Mitte des Platzes; er nahm den Hut ab, und um den Platz, der tobte und schwieg, sandte er einen gefaßten Blick.

»Was bleibt?« antwortete er. »Ich will nicht von den Werken sprechen, die vielleicht bleiben. Aber es bleibt die Liebe. Andere, die mich kannten, werden die Stadt lieben, wie ich sie geliebt habe. Und schließlich ist es für einen Mann wie für ein Volk ehrenvoller, das Gute zu wollen und auf halbem Wege unterzugehen, als immer weiterzuleben, ohne Schuld, weil ohne Tat.«

Sie umschritten den Brunnen; die Tauben flogen auf.

»Sie fliegen auf und setzen sich wieder«, sagte der Sekretär. »Das ist der menschliche Fortschritt. Die Stunde, als Sie mit mir zusammen die Dampfspritze ablehnten, jene Stunde, Advokat, war Ihre weiseste.«

»Ah! ich verwahre mich. Nicht aus denselben Gründen haben wir sie abgelehnt. Ihnen, Herr Camuzzi, kam schon eine Dampfspritze zu schnell und zu neu, ich aber war ihr voraus, voraus …«

»Gleichviel.«

»Gleichviel«, wiederholte der Advokat und streckte die Hand hin. »Wir sind uns wenigstens einmal begegnet, – als wir denselben Fehler machten. Lassen Sie uns Freunde sein!«

Er stieg, schleppenden Schrittes, in die Treppengasse hinein. Der Gemeindesekretär wandte sich nach dem Café »Zum Fortschritt«. Von der anderen Seite kam die alte Ermenegilda aus dem Pfarrhause. Eine Strecke vom Tisch der Herren blieb sie stehen.

»Ich grüße die Dame«, rief der Gevatter Achille. »Wünscht Don Taddeo etwas Stärkendes? Und wie geht es dem heiligen Mann?«

»Ja, wie geht es ihm?« fragten die Herren. Ihr taubes Gesicht bewegte sich nicht unter der Haube; sie sagte:

»Ist der Herr Giocondi da?«

»Was gibt's?« fragte der Herr Giocondi. Sie sah ihn sich mit ihren still durchdringenden Augen an.

»Kommen Sie mit mir, Herr«, sagte sie. »Der Reverendo will Sie sprechen.«

»Wie?« – und der Herr Giocondi setzte sich die Finger auf die Brust. »Irrt Ihr Euch nicht? Ich bin der Herr Giocondi.«

»Sie suche ich. Der Reverendo hat etwas für Sie. Das sind seine Sachen.«

Der Herr Giocondi ließ die Backen hängen, als habe er etwas ausgefressen, und sah von einem zum andern. Sie zuckten stumm die Achseln. Darauf gab er sich einen Ruck.

»Nun also. Es ist nur, wenn man so viele Jahre nicht in der Beichte war …«

»Meinen Respekt dem Reverendo, wissen Sie«, sagte ihm der Gevatter Achille noch, und die andern riefen ihm nach:

»Auch den meinen, weißt du.«

Darauf räusperten sie sich und rückten mit den Gläsern. Der Leutnant Cantinelli wagte zu sagen:

»Eine sonderbare Geschichte!« – und der Kaufmann Mancafede, wispernd:

»Was mag er wollen?«

»Eh!« machte Polli, aber er hustete rasch. Der Gemeindesekretär wischte seinen Klemmer ab, er vermutete gelassen:

»Er wird wissen wollen, wieviel der Malandrini von der Versicherungsgesellschaft bekommen wird. Die Priester sind neugierig, wie man weiß.«

Die andern schwiegen vor Schrecken. Drüben hatte sich der Lärm gelegt; die Hände in den Taschen, kam der Savezzo herüber.

»Was gibt's?« fragte er, ohne an den Hut zu greifen. Die Herren Salvatori und Polli rückten sofort auseinander und zogen einen Stuhl zwischen sich.

»Auch wir fragen uns umsonst, Herr Savezzo. Was hat Don Taddeo mit dem Giocondi zu tun?«

»Ein Heiliger mit einem Versicherungsinspektor!«

»Die Sache ist einfach«, erklärte der Savezzo, faßte den Stuhl und stieß ihn auf das Pflaster. »Don Taddeo will sein Leben versichern, denn er hat gesehen, wessen der Advokat fähig ist.« Die Herren nickten starr; nur Camuzzi wiegte den Kopf, – indes der Apotheker nicht aufsah. Der Gevatter Achille rollte die Zunge im Munde.

»Dahin also wäre es mit dem Advokaten gekommen?«

»Der Advokat!« und der Herr Salvatori lachte bitter auf. »Wissen Sie, daß er meinen Arbeitern eine Lohnerhöhung versprochen hat, wenn sie für die Freiheit wären?«

»Bezahlen Sie also die Freiheit!« sagte der Savezzo. Der Kaufmann Mancafede wimmerte:

»Ihre Partei kauft nicht mehr bei mir, ich sehe keine Bauern kommen, ich bin ruiniert, und doch habe ich nie etwas mit dem Advokaten zu tun gehabt.«

»So wenig wie ich«, behauptete der Gevatter Achille. »Der Advokat hat uns alle ruiniert. Sie, Herr Savezzo, sind ein anderer Mann, Sie haben dem Freund Giovaccone zu einer Teufelskundschaft verholfen.«

Der Leutnant Cantinelli sagte:

»Niemand sollte, wie der Advokat, die Parteien zum Bürgerkrieg antreiben. Uns Soldaten kann der Bürgerkrieg, so oder so, unsere Stellung kosten; in Mailand sind die Carabinieri ins Gefängnis gesetzt; – und ich habe eine Frau.«

»Der Advokat wird sie trösten«, sagte der Savezzo.

Polli schlug plötzlich zwischen die Gläser. Sein Hals schwoll an, und er schrie erstickt:

»Jetzt habe ich eine Schwiegertochter! Und was für eine!«

»Und Sie verdanken sie der Politik des Advokaten«, sagte der Savezzo.

»Die Komödianten packen ihre Koffer und hüten sich hervorzukommen; sie wissen wohl, daß ich ihnen die Köpfe einschlagen würde. Aber statt ihrer werde ich den Advokaten durchprügeln! Ich werde ihn zwingen, die große Gelbe selbst zu heiraten!«

Camuzzi bemerkte trocken:

»Es war einfacher für Sie, heute nacht in Ihrem Bett zu bleiben; dann würden Sie noch immer keine Schwiegertochter haben. Überhaupt, wenn die Herren ruhig geschlafen hätten wie ich –«

»Was denn!« murrte der Herr Salvatori. »Man kann nicht schlafen, wenn in der Stadt ein Räuber umgeht, der den Arbeitern mehr Lohn verspricht. Als heute nacht die Feuerglocke zu läuten anfing, – fragen Sie nur meine Frau, ob nicht mein erstes Wort war: was wird der Advokat wieder angerichtet haben.«

»So ist es!« und alle riefen durcheinander. »Wir sind in den Händen eines Räubers.«

»Wer rettet uns!« wimmerte Mancafede.

»Wir sind schon gerettet«, sagte der Leutnant und verbeugte sich gegen den Savezzo. Der alte Acquistapace richtete sich unversehens auf, er holte unter dem Tisch die geballte Faust hervor. Aber als alle ihm auf den Mund sahen, schloß er ihn wieder und senkte den Kopf. Nur der Gemeindesekretär neben ihm verstand, was er murmelte.

»Zwei Söhne auf der Universität … Die Zeiten sind vorbei … Man muß leben …«

»Es ist eine Tatsache, Herr Savezzo«, äußerte der Gevatter Achille, »daß Sie der einzige sind, der uns retten kann.«

Angstvolles Schweigen; – aber der Savezzo stemmte die Fäuste auf die Schenkel und ließ sich Zeit.

»Ihr habt den Zorn des Volkes verdient. Ihr habt dem Advokaten die Stange gehalten, dafür müßt ihr nun büßen, in der Politik und in den Geschäften. Adieu, ich gehe, dem Volk zu sagen, daß ihr euren Untergang vorauswißt und ihn fürchtet.«

Er stand auf, aber die Herren Salvatori und Polli legten sich auf seine Arme.

»Ein Wort, Savezzo! Verständigen wir uns! Was kostet es Sie, ein Wort anzuhören. Der Advokat hat uns betrogen, er hat uns gedroht, durch Schrecken hat er uns gezwungen, das Geld des Volkes zu verschwenden und mit Don Taddeo und dem Mittelstand in Krieg zu leben.«

»Wie oft«, – und der Leutnant legte die Hand aufs Herz, »haben wir untereinander dem Advokaten geflucht!«

»Wäre nicht der Advokat gewesen«, rief der Gevatter Achille, »niemand hätte uns gehindert, die öffentliche Sache in Ihre Hand zu legen, Herr Savezzo.«

Und alle durcheinander:

»Wer hat gegen Sie intrigiert? Wer hat Ihnen den Advokatentitel genommen und Sie bei den Gemeindewahlen von der Liste gestrichen? Etwa ich? Etwa ich? … Aber ich bin es, der Sie auf die Liste setzen wird … Ich vielmehr, ich, denn ich habe im stillen die Sympathien des Advokaten untergraben … Hören Sie mich, ich habe mehr getan!« – und der Kaufmann Mancafede zeigte, über den Tisch gereckt, seine blanken, flehenden Augen. »Ich bin heimlich beim Bürgermeister gewesen. Ich habe ihn gebeten, er solle Sie in den Gemeinderat bringen, er solle, wenn denn sein Alter ihn zum Rücktritt nötige, nicht den Advokaten zu seinem Nachfolger machen, sondern den Herrn Savezzo, unsern großen Mann.«

»Unsern Staatsmann, den Retter der Stadt!« rief der Herr Salvatori und schwang anfeuernd den Arm.

»Einen Künstler«, setzte der Gevatter Achille hinzu, »der so gut auf dem Bleistift bläst!«

»Ah!« machten alle, – indes der Savezzo dastand und heftig auf seine Nase schielte.

»Was verlangen Sie?« fragte der Herr Salvatori. »Wir sind bereit, den Advokaten zu opfern«; – und Polli bestätigte es.

»Beim Bacchus, hat nicht etwa er auch uns geopfert?«

»Wir liefern ihn aus!« schrie Mancafede in der Fistel. »Ich bin der erste gewesen, der es verlangt hat. Wir schicken ihn, wie das Volk es will, auf die Galeere!«

»Das ist nur gerecht, wenn er das Haus des Malandrini angesteckt hat«, meinte der Gevatter Achille. »Nur müssen wir Zeugen haben.«

»Eure Sache, sie zu finden«, ließ der Savezzo vernehmen. »Beseitigt den Advokaten, und ich will an euch Gnade üben.«

»Wir haben Zeugen, so viele wir wollen«, riefen sie; der Kaufmann packte sich vorn an seiner wolligen Jacke und schüttelte sich.

»Ich! Ich habe es gesehen. Und meine Tochter: sie, die, wie die ganze Stadt weiß, alles sieht und hört, meine Tochter sagt, es ist der Advokat.«

Camuzzi drückte ihn an den Schultern auf seinen Stuhl.

»Ihnen wird es sogleich sehr schlecht werden, das ist leicht vorauszusehen. Auch Ihre Tochter sollte ihre Diät ändern, dann würde ihr vielleicht manches vergehen.«

Sogleich fuhren alle gegen ihn los.

»Wie? Sie, Camuzzi, wollen die Evangelina leugnen?«

»Noch niemand«, – und der Kaufmann schnellte den Finger gegen den Sekretär, »hat es je gewagt, auch Sie nicht; und es wird Ihnen Unglück bringen!«

Camuzzi hielt still und blinzelte nur; um ihn her stürmte es.

»Sie werden sehen, ob wir den Advokaten seinem Verderben preisgeben! Wer sein Freund ist und nicht der des Herrn Savezzo, muß fallen. Hüten Sie sich, Herr Camuzzi!«

Der Gemeindesekretär wehrte ab.

»Von alledem wird nichts geschehen. Geht, ich kenne die Stadt; und ich glaube nicht, daß irgend etwas geschieht.«

Da rief in den Lärm der Gevatter Achille:

»Der Herr Giocondi! Seht ihr nicht, daß er wieder da ist?«

Alle fuhren herum, jeder mit seiner halb hinausgeworfenen Geste. Da der Herr Giocondi mit umständlichem Ächzen Platz nahm –

»Nun, was sagt Don Taddeo?«

»Soll ich den Advokaten sogleich verhaften?« fragte der Leutnant.

»Keine Scherze, Giocondi! Was gibt's?«

»Nichts«, sagte der Herr Giocondi, bewegte flüchtig eine Schulter und sah weg. »Nichts. Er ist verrückt geworden.«

»Wie? Von wem sprichst du?«

»Ich spreche von Don Taddeo. Er ist verrückt geworden, er will meiner Gesellschaft den Schaden des Malandrini bezahlen.«

Alle setzten sich, stumm, nur der Savezzo nicht. Nach einer Weile sagte Polli und zog die Stirn in Falten:

»Versteht sich, er ist ein Heiliger.«

Der Herr Giocondi fuhr fort:

»Er sagt, er sei an allem schuld … Nun ja, was wollt ihr von mir, ich wiederhole, was ich gehört habe. Der Advokat sei unschuldig, sagt Don Taddeo, und er will zahlen.«

Ein wilder Schrei des Jubels: und der Apotheker Acquistapace tanzte auf seinem Holzbein um den Tisch.

»Er wird nicht zahlen«, meinte zögernd der Herr Salvatori.

»Wenn er mir doch die Papiere schon in die Hand schieben wollte. Ich hatte Mühe, ihm begreiflich zu machen, daß zuerst die Gesellschaft sich entscheiden müsse, ob und unter welcher Form sie seine zwanzigtausend Lire annehmen will. Denn das ist alles, was er hat.«

Der Savezzo tat, die Arme verschränkt, einen Schritt gegen den Herrn Giocondi:

»Was Sie sagen, ist nicht wahr! Sie wollen das Volk betrügen! Hierher!« rief er über den Platz, »da ist ein Spion des Advokaten!«

Der Barbier Nonoggi lief schon herbei. Dahinten setzte das ganze Café »Zum heiligen Agapitus« sich in Bewegung. Aber der Herr Giocondi polterte, rot vor Entrüstung:

»Ich ein Spion? Ein Inspektor der ›Gegenseitigen‹ bin ich, und wenn mir jemand anbietet, er wolle für die Gesellschaft zahlen, dann weiß ich, was ich zu tun habe.«

»Er weiß, was er zu tun hat!« brüllte der Apotheker, »und der Advokat bleibt ein großer Mann!«

»Und warum will er zahlen?« fragte der Barbier. Der Bäcker Crepalini, an der Spitze des murrenden Haufens, wiederholte gebieterisch:

»Und warum will er zahlen?«

»Ah, das –«, und der Herr Giocondi zog Brauen, Schultern und Arme hoch, »das ist ein anderes Paar Ärmel. Er stand vom Betstuhl auf, wie ich kam, und kaum, daß er sich auf den Beinen hielt. Wird Besuch gehabt haben von den anderen Heiligen. Wie soll ich das wissen, ich bin ein Inspektor der ›Gegenseitigen‹.«

»Er hat nicht gesagt, daß der Advokat unschuldig ist!«

Der Savezzo hielt dem kleinen Alten die beiden Fäuste vors Gesicht. Der Herr Giocondi schob sie weg.

»Er hat sogar gesagt, er selbst sei sündhafter als der Advokat. Die ganze Stadt sei sündhaft, er aber am meisten. Und er will keinen Bürgerkrieg mehr, sondern lieber zwanzigtausend Lire zahlen. Übrigens wird er euch sogleich in seiner Predigt alles selbst erklären, also laßt mich und geht zum Teufel! … Zum Teufel!« schnob er den Männern zu, die ihn bedrängten.

»Don Taddeo soll bezahlen, und der Advokat soll die Macht behalten!« riefen sie einander über die Köpfe weg auf den Platz hinaus, der sich füllte.

»Wir sind verraten!« keifte der Bäcker; und ein Gemurmel des Schreckens griff um sich.

»Don Taddeo soll hunderttausend Lire bezahlen, weil wir den Advokaten nicht mehr wollten … Was denn, Don Taddeo: wir alle sollen zahlen. Der Advokat wird uns aus Rache aushungern.«

»Wo ist Don Taddeo?« kreischte in der Mitte des Gedränges eine Frau auf. »Sie halten ihn gefangen!«

»Das ist ein wenig stark«, sagten die Männer, daß es an den Mauern hinrollte. Beim Turm stieg eine Stimme auf:

»Der Advokat ist in der Unterpräfektur; man hat ihn gesehen!«

Und drüben beim Rathaus eine andere:

»Die Regierung steckt mit ihm zusammen; sie haben telegrafiert, und sogleich wird ein Regiment Soldaten hier sein.«

»Wir sind verloren!«

»Was, verloren! Auf, nach der Unterpräfektur!«

»Nein, zu Don Taddeo, ihn befreien!«

Die Menge stieß sich hin und her. Durch sie hindurch brach, die Stirn vorgestreckt, der Savezzo.

»Lügen!« brüllte er rauh und unförmlich. »Alles Lügen! Ich hole euch den Don Taddeo, damit ihr die Wahrheit hört. Auf die Galeere der Advokat! Oder ich selbst auf die Galeere!«

Aber beim Dom prallte er zurück: Don Taddeo erschien im Corso. Schon umringten ihn Frauen, sie hängten sich an ihn: »Unser Heiliger! Wer ihn uns nehmen will, ist tot!« Das Volk warf sich ihm, die Arme erhoben, entgegen: »Sprich, Don Taddeo!« Er aber: mit einem gehetzten Lächeln, mit roten Lidern, die zuckten, wich er im Zickzack den Anstürmenden aus; seine bleich tastenden Hände, auf die so viele Hilfesuchende sich stürzten, schienen selbst zu flehen.

»Sprich, Don Taddeo!«

Er öffnete die Lippen, fuhr mit der Zunge darüber, man sah seinen Kehlkopf arbeiten, aber niemand hörte etwas … Nun stand er oben auf der Domtreppe; alle sahen ihn nun; ein Klatschen erhob sich – und gleich fiel es wieder. Er war fort.

»Er hat etwas gesagt? Was ist es?«

»Er hat uns ein Geheimnis gesagt, denn es geschehen furchtbare Dinge.«

»Niemand hat es gehört. Niemand wird es je hören. Der heilige Mann wird sterben.«

»Er wird uns retten. Er wird predigen. Kommt alle in den Dom!«

»Alle in den Dom!«

Sie ergossen sich hinein, ihr Strom gurgelte durch die Tür. Ihr Getrappel, Gemurr, ihre Aufschreie waren schon verschlungen; die letzten Rinnsel Volkes waren hinweg; – und beim Café »Zum heiligen Agapitus« stand, das Kinn über den gekreuzten Armen, der Savezzo auf dem leeren Pflaster … Plötzlich griff er um sich, riß vom Tisch eine Flasche und schmetterte sie hin. Dann plumpste er auf einen Stuhl. Der Freund Giovaccone schlüpfte aus seinem dunkeln Spalt, dienerte schief, rieb sich die Schenkel und wollte das Geld für seinen Likör; aber der Savezzo nahm nicht die Faust von der Schläfe. Der Freund Giovaccone berührte sein Knie: da war der Savezzo mit einem Krach auf den Beinen; er grub in den Taschen, zog die Finger leer heraus, stieß den Freund Giovaccone um und sprang polternd in den Dom.

Beim Café »Zum Fortschritt« sahen sie noch immer versteint einander an. Der Apotheker schlug ein neues Freudengebrüll auf und stampfte. Darauf schalt Polli:

»Es hat keinen Zweck, den Verrückten zu spielen. Es handelt sich darum, was man jetzt tut.«

»Deixel, man geht in die Predigt«, meinte der Herr Giocondi. »Vielleicht, daß Don Taddeo von der ›Gegenseitigen‹ spricht.«

Der Herr Salvatori äußerte starr:

»Der Advokat ist entschieden stärker, als man glauben konnte. Was hat er nur angezettelt.«

»Wenn man es wüßte!« sagte der Leutnant. »Für die bewaffnete Macht ist es schwierig, zu handeln, bevor wir den Ausgang kennen.«

Der Kaufmann Mancafede wimmerte in sich hinein.

»Ich habe genug davon. Ich schließe mich ein und lasse sie die Stadt verbrennen oder beschießen, wie sie wollen.«

»Auf jeden Fall scheint es –«, und Polli kratzte sich den Kopf, »daß wir uns übereilt haben. Der Savezzo ist vielleicht nur ein Prahlhans.«

Der Gemeindesekretär betrachtete lächelnd seine Fingernägel.

»Habe ich euch nicht vorausgesagt, daß nichts geschehen werde? Jetzt schlage ich den Herren vor, in den Dom zu gehen. Denn das einzige Sichere ist schließlich die Religion.«

»Tatsächlich«, erklärte der Gevatter Achille, »wird es das Klügste sein, sich dort aufzuhalten, wo alle sind.«

Polli schlug vor:

»Wir werden uns nicht gerade so hinstellen, daß alle uns sehen, und wenn Don Taddeo siegt, sind wir dennoch dagewesen.«

»Auch verlangt der Sicherheitsdienst meine Gegenwart«, schloß der Leutnant, und man brach auf. Der Apotheker wollte sich davonmachen, um den Advokaten vom Umschwung der Dinge zu unterrichten; alle mußten ihn festhalten.

»Du bist ein Mann ohne Gewissen, daß du deine Freunde bloßstellen willst.«

Beim Dom fing man den Kaufmann ein, der fast entwischt wäre.

»Das ist nicht hübsch, Mancafede. In einem solchen Augenblick!«

 

Auf den Fußspitzen drückten sie sich durch den Schweif von Menschen im Vorraum. Drinnen war es still zum Erschrecken, und nur die Stimme vom Hochaltar:

»Feuer! Alles wird brennen!«

Sie fuhr durch die tausend, von ihrem Sturm gebeugten Köpfe hin. Ihr Echo fiel von den Pfeilern herab und schlug mit ein auf die demütige Menge.

»Nicht nur das Haus Malandrini wird brennen; auch das Haus Polli und alle Häuser am Corso! Der Platz wird brennen, und niemand weiß mehr, wohin flüchten!«

Die Menge zitterte. Die Ohren zuckten bei jedem neuen Schreckenswort. Polli drehte wirr den Hals umher.

›Vielleicht hat er recht, und es brennt bei mir?‹

»Denn diese Stadt war's, über die Jesus weinte, als er über Jerusalem weinte! Kein Stein, sage ich euch, bleibt auf dem anderen. Wehe! schon stürzt das Rathaus ein, und ich sehe, wie es euch erschlägt: dich, Fierabelli, dich, Coccola euch Weiber da, – und haltet das Kind, haltet!«

Ein langer Schauder. In der Kapelle Torroni fiel vom Schenkel des Posaunenengels ein kleiner Druso herunter und winselte. Die Mutter überrannte jammernd die Leute.

»Die Sache wird ernst«, murmelte unter dem Chor der Gevatter Achille. »Hat er nicht auch mich genannt?«

»In den Dom!« rief Don Taddeo, und seine Stimme überschlug sich. »Alle in den Dom! Kein anderes Dach mehr gegen den Feuerregen. Vielleicht, daß Gott ihn aufhält, wenn ihr betet. Nein, Gott zählt euch: ist ein Gerechter unter euch, einer? Dies ist die äußerste Minute …«

Die Augen des Priesters gingen von Mensch zu Mensch; jedem brach die Hitze aus, niemand atmete mehr. Seine Lippen öffneten sich wieder; noch kam aus ihnen kein Hauch, aber eine Frau schrie schwach auf: Frau Zampieri war in Ohnmacht gefallen, – und da kreischten sie, eine hinter ihr, eine drüben, kreischten, die Augen verdreht, in ihre gepreßten Hände, kreuz und quer durch das Schiff bis vor die Füße des Priesters. Er ließ langsam den Kopf auf die Brust hinab und sagte halb erloschen: »Keiner. Es komme das Feuer.«

Ein Fall: alle lagen auf den Knien. Die gebückten Nacken zitterten, als erwarteten sie einen Griff. Die Menge gab Laute von sich, wie der bewegte Halbschlaf eines Sterbenden.

»Nur ein Haus bleibt stehen!« befahl Don Taddeo schrill. »Von der ganzen Stadt nur eins: das Haus in der Via Tripoli!«

»Wie?« fragte man und richtete sich auf. Frauen kicherten. Junge Leute sahen sich nacheinander um. In der Kapelle Cipolla entstand ein Gewühl; der Konditor Serafini steckte den Kopf hinter das Grabmal der guten Prinzessin Ginevra und sagte:

»Da seid ihr. Heute abend komme ich und gehe gar nicht mehr fort, – da ihr die einzigen sein sollt, die übrigbleiben.«

Theo und Lauretta widersprachen.

»Wir sind wie die anderen, und wenn Don Taddeo alle umkommen läßt, ist es nicht gerecht, daß wir allein übrigbleiben sollen.«

Und sie schluchzten feucht ins Tuch, – indes Mama Farinaggi, unbekümmert um die Damen draußen in den Bänken, Kreuze schlug und die große Raffaella aus ihren gemalten Augen den Blick der Frau Camuzzi erwiderte, noch verächtlicher und fremder als sie.

Der Kaufmann Mancafede nahm die Hände vom Kopf, über den er sie als Dach gestellt hatte, und hob sich aus seiner hockenden Stellung.

»Wie? Ah! welch schlechter Scherz. Ich glaubte wirklich, mein Haus stände nicht mehr, meine Tochter sei tot, und nun ginge es an mich.«

»Wer weiß, wie es jetzt draußen aussieht«, entgegnete Camuzzi. »Es geschieht so wenig, daß wohl endlich Gott selbst eingreifen muß, damit etwas geschieht.«

Don Taddeo schlug mit der Hand wie nach Fliegen; er bekam rote Flecken, und er schrie:

»Es bleibt stehen und eure verdammten Seelen wohnen darin!«

»Gute Unterhaltung!« sagten die Mägde Fania und Nanà, und obwohl sie immer fester an die Wand gedrückt wurden, glucksten sie laut. Hier und da pruschte jemand ins Tuch. Don Taddeo brach ab; sein Gesicht entfärbte sich ganz, – und dann, wie einzeln ausgesandte Glockentöne, und so sanft:

»Darüber am Himmel aber steht geschrieben: die Stadt ging unter durch ihre Laster. Jesus hat über sie geweint, aber sie hat nicht gehört.«

Die Töne zitterten dahin, bis in die dunkeln Winkel; – und als alle die Lider gesenkt hatten, senkte Don Taddeo selbst sie. Leiser, in der gepreßten Stille:

»Denn alle Laster – und die Stadt hat sie alle – sind eins. Sie kommen alle daher, daß wir Gott nicht lieben. Das höchste Gebot heißt, wir sollen Gott lieben und unsern Nächsten. Aber wir liebten sie nicht: darum verdarben wir.«

Und mild eindringlich, überallhin, wo ein Schluchzen sich löste: »Denn wir lieben auch Gott nicht, wenn wir unsern Nächsten nicht lieben. Es ist nicht wahr. Es genügt nicht, einen Geist zu lieben, der Gott heißt. Liebt die Menschen, dann liebt ihr Gott!«

Er sah Frau Acquistapace an, in der vordersten Bank.

»Sei gut und duldsam gegen deinen Mann, und du liebst Gott, auch wenn du nicht jede Woche beichtest.«

Vor den Bänken der Bürgerfrauen, gleich zu seinen Füßen, hockten hinter ihren Strohstühlen die kleinen Leute. Er neigte die Augen zu ihnen.

»Hasse den Krämer Serafini nicht«, sagte er zu der Frau des kleinen Zollbeamten Cigogna vom Tor; »wenn er schlecht gewogen hat, denke, daß er sechs Kinder hat … Sprich Gutes von der Rina«, sagte er zu Elena, der Arbeiterin des Schusters Malagodi, »obwohl sie dich verklatscht hat.«

Und zu der Pipistrelli:

»Verfolge die Sünder nicht! Wir sollen weder die Komödianten noch den Advokaten verfolgen, denn was sind wir selbst. Wenn die Stadt brennt, wo ist dann der, der nicht mitschuldig wäre, weil seine Sünden das Feuer herabriefen.«

Don Taddeo seufzte und schloß die Lider.

»Was sagt er? Was will er?« – und bei den Männern in dem Raum zwischen den Bänken und den Pfeilern ward es unruhig. »Man erstickt, und Don Taddeo spricht nur zu den Weibern.«

»Er sagt, wir sollen den Advokaten lieben«, erklärte der Schneider Coccola; und der Schlosser Fantapiè:

»Es fehlte nichts weiter.«

»Er sagt, wer den Advokaten haßt, ist mitschuldig an dem Brand beim Malandrini.«

»Man muß gestehen«, äußerte der Wirt von den ›Verlobten‹, »daß Malandrini bei der Partei des Advokaten ist. Sollte wirklich einer der Unseren –?«

»Du selbst, Gigoletti, wirst es getan haben, denn wer macht, nun der ›Mond‹ abgebrannt ist, so gute Geschäfte wie du?«

»Alle, wenn man näher nachdenkt, alle sind verdächtig.«

»Es ist schrecklich.«

»Man hört nichts«, sagte hinten, unter dem Chor, der Herr Giocondi. »Spricht er von der ›Gegenseitigen‹?«

»An meinem Platz«, – und Polli hißte sich auf die Fußspitzen, »sitzt die Frau des Schmiedes. Der Mittelstand nimmt uns die Kirchenbänke weg, dann soll er uns wenigstens die Logen lassen.«

»Ihr alle seid mitschuldig«, wiederholte Don Taddeo, wich gegen den Altar zurück und spreizte die Hände. Aber da traf er in ein Gesicht: mitten unter den kleinen Leuten zu seinen Füßen in ein Gesicht, das er kennen mußte und doch nicht kannte. Es hatte Augen, die forschten und forderten, still und fest. Umsonst versuchte er fortzusehen; diese Augen riefen ihn zurück, wie die einer vertrauten Heiligen, die viele Jahre lang über seinem Betstuhl gestanden hätte, alles von ihm wußte, ja so sehr mit seiner Seele vermengt war, daß sie seine Schwester schien und tiefe Rechte an ihn hatte. Ihn schauderte, er sagte rasch:

»Nein! Sie haben keine Schuld. Was wissen sie? Einer nur war wissend genug, um zu sündigen.«

Er atmete, ohne es zu wollen, tief auf zwischen den Worten. In seiner Brust quoll es, als sollte sie springen.

»Denn einer nur liebte nicht die Menschen, liebte Gott im Geist, und das heißt, daß er den Geist zu seinem Gott machte, und durch den Geist, seinen Gott, stolz und einsam ward. Seine Strafe aber war, daß noch immer eins ihn an die Menschen band: das Niedrigste. Er hatte die Liebe verleugnet, da mußte er die Brunst leiden; mußte sich hassen, der vom Geist abgefallen war, und die Welt, die ihn verführt hatte; mußte auf sie und auf sich das Feuer herabrufen; mußte mit eigener Hand es entzünden …«

»Don Taddeo, man versteht ihn nicht, er muß sich sehr schlecht fühlen«, – und Frau Salvatori beugte sich aus ihrer Bank zu Mama Paradisi hinüber. »Es ist kein Wunder, nachdem er sich für die Komödiantin geopfert hat.«

»Man sagt, daß er vom Altar aus predigt, weil er voll Brandwunden ist und nicht die Kraft hat, auf die Kanzel zu steigen.«

»Und dennoch will er die Komödianten, noch bevor sie fortziehen, zu Christen machen. Denn er spricht nur noch zu der Primadonna, – als habe er uns alle vergessen.«

Die Blicke der Frauen hefteten sich, ergriffen, an den großen goldenen Haarknoten dort vorn, unter dem weißen, verbogenen Filzhut.

»Er spricht zu ihr! Wie er zu ihr spricht! Er hat die Tropfen auf der Stirn. Sie muß eine Frau von großem Verdienst sein. Ich werde niemals wieder glauben, daß eine Komödiantin keine anständige Frau sei. Welch Heiliger, Don Taddeo! Er lehrt uns die Menschen kennen und gerecht sein gegen sie. Wie er leidet um unserer Sünden willen! Seht seine Augen! Sie erlöschen …«

»Wie?« fragte Don Taddeo, vorgebeugt, vorwärts gezogen von jenen hellen unbeugsamen Augen. »Muß ich noch mehr sagen? Alles denn?«

Die Zähne schlugen ihm zusammen, er keuchte. Die Pipistrelli plapperte laut aus ihrem Gebetbuch. Die Frauen ringsum raunten miteinander. Don Taddeo griff sich an die Brust; er riß daran, er riß es heraus:

»Ja, ich bin's, ich habe es getan!«

Da bewegten sich jene Lider, die nie gezuckt hatten. Jene schrecklichen und erlösenden Augen senkten sich. Don Taddeo griff um sich.

»Er schwankt! Er fällt! Wehe! Der Heilige stirbt.«

Alles sprang auf, ein heißer Stoß warf alle nach vorn. Bevor sie ihn erreicht hatten, rang Don Taddeo sich vom Altar empor. Das Chorhemd fiel zurück.

»Seht die Brandlöcher in seiner Soutane!«

Weinende Gesichter, betende Hände strebten zu ihm herauf. Er streckte über sie hin die Arme.

»Friede!« rief er auf einmal mit läutender Stimme. »Das Opfer ist gebracht, wir sollen Frieden haben. Laßt euren Zwist! Fragt nicht länger nach dem Brandstifter! Er hat gebeichtet, und er ist fort. Ihr habt ihn nicht gekannt. Beschuldigt niemand! Seine Tat gehört nicht ihm; wir selbst –«, und Don Taddeo schlug sich, »haben sie begangen! Denn wir hatten nicht genug Liebe. Wir haßten uns, wir befeindeten uns; jeder hielt sich für den Gerechten, und dadurch wurden wir eine Stadt von Ungerechten, die brennen mußte. Ich klage mich an –«

Die Hand hinaufgereckt –

»– des Bürgerkrieges, in den ich die Stadt gestürzt habe, des geistigen Stolzes, der mich verdarb, – und ich will Buße tun. Holt den Advokaten, damit ich ihm den Schlüssel zum Eimer ausliefere. Er ist ein großer Bürger –«

Don Taddeo stockte, er schluckte hinunter, – aber er breitete die Arme aus.

»– den ich ungerecht habe leiden lassen.«

Aus dem dichten Volk um den Altar stiegen Hände, Stimmen setzten an:

»Aber! Reverendo!«

»Den ich ungerecht habe leiden lassen!« rief Don Taddeo noch einmal, hoch und zitternd. »Niemand hat mehr für euch getan als er.«

»Ihr! Ihr!« antwortete es ihm.

Er reckte den Hals noch höher, als entflöhe er den Stimmen dort unten.

»Liebt euch! seid gütig! gütig!«

Da geschah ein Krach, als stürzte das Gewölbe ein. Es polterte, inmitten eines großen Aufschreies, durch das Schiff. Man sah Weiber rennen und am Boden einen Knäuel. Alles stob fort vom Hochaltar; – und ein Kopf rollte herbei und blieb liegen vor Don Taddeo: der steinerne Kopf einer Frau.

Im weiten Halbkreis starrte das lautlose Gedränge. Da lag in seinen geflochtenen Weiberhaaren der Kopf und sah Don Taddeo an, der ihn ansah. Er war weiß wie der Kopf, und die Hände hielt er gespreizt. Plötzlich schlug er sie vors Gesicht und war fort. Kaum, daß im Vorhang hinter dem Altar noch eine Falte von ihm flatterte.

 

»Was ist geschehen? Das war der Teufel, rettet euch! … Nein, nein! es kommt aus der Kapelle Cipolla. Es ist der Kopf der guten Fürstin Ginevra.«

Man lief hin. Die Buben hatten auf dem Grabmal der Fürstin gehockt. Um Don Taddeo zu sehen, waren sie ihr auf den Kopf geklettert, – und welchen dünnen Hals die Ginevra hatte! Sie waren heruntergestürzt, als der Kopf abbrach, über Fania und Nanà, über die Mädchen aus der Via Tripoli, und mit ihnen allen gegen das Gitter der Kapelle, das zuschlug und einen Haufen Leute von den Stufen fegte. Da wälzten sich noch welche.

»Seht den Savezzo! Er hat den Schuh verloren und sucht ihn zwischen den Beinen der andern. Wie du komisch bist! Ja, dein Schuh hat ein Loch bekommen, es nützt nichts, daß du uns anbläst wie ein Kater.«

Die Frauen lachten. Der Savezzo hatte seinen Schuh wieder am Fuß und stampfte auf.

»Seht ihr nicht, daß das wieder eine Intrige des Advokaten ist? Er wollte mich umbringen lassen, weil ich ihn gestürzt habe.«

Die Männer sahen sich an. Der alte Seiler Fierabelli äußerte zögernd: »Eh! der Advokat wird kein Mörder sein.«

»Man redet nicht mehr gegen den Advokaten«, sagte Frau Zampieri entschlossen. »Don Taddeo will es nicht.«

»Don Taddeo will es nicht«, wiederholten die Frauen.

»Was, Don Taddeo! Er ist krank, und er schwatzt.«

Sofort war der Savezzo umringt und hatte gekrümmte, scharfe Finger vor den Augen.

»Nichts gegen den Heiligen, oder du bist tot!«

»Frieden! Frieden!« rief der Seiler. »Da kommt Don Taddeo mit dem Kelch.«

Die Frauen drängten eilig in die Mitte.

»Wie er doch schön ist in seinem Meßgewand!«

Aber sie sahen, daß ihm das Haar herabgefallen war und spitz bis über die Nase lief. Das linke Auge war ganz klein, sein Gesicht schien schief. Sie flüsterten:

»Wie er sich zerwühlt hat! Er hat geweint um uns.«

Der Barbier Nonoggi bohrte sich drehend durch die Menge.

»Ich habe es euch von Anfang an gesagt, wie? daß der Advokat wieder obenauf kommen werde. Wer jetzt bei ihm in Gnade will«, – und er schnitt dem Bäcker Crepalini eine Fratze, »der wende sich an mich, seinen Freund.«

Da er des Schneiders Chiaralunzi habhaft ward –

»Rasch hinauf! Woran denkt Ihr denn? Der Maestro wartet nur noch auf Euch.«

»So wird er umsonst warten«, entgegnete der Schneider, »denn ich werde in seiner Messe nicht spielen.«

Der Barbier entsetzte sich. Der alte Zecchini griff ein.

»Tut es für mich, Chiaralunzi! Ich liebe die Musik, sie ist die Schwester des Weines.«

Alle redeten dem Schneider zu.

»Es handelt sich nicht um den Maestro, den Ihr haßt; es handelt sich um unser aller Erbauung, was Deixel.«

Die Frauen sagten: »Es handelt sich um Don Taddeo. Wollt Ihr ihn beleidigen?«

Und sie schoben, indes vom Chor herab der Kapellmeister stumm und wild die Arme warf, den Schneider vor sich her in die Wendeltreppe. Sie hielten Wache, bis er droben war.

»Immer Ihr!«

Der Kapellmeister atmete regellos, er griff sich ans Herz.

»Ich sehe es voraus: Euretwegen wird meine Messe durchfallen. Aber dann –: ah! Wenn ich Euch vor mir habe, fühle ich, wessen ich fähig wäre.«

Der Lehrer Zampieri vor der Orgel sah in seinem Spiegel das Gesicht des Maestro zerrissen, Lohe in den blauen Augen, und wandte sich erstaunt um. Die Musiker ließen die Instrumente sinken. Der kleine alte Beamte Dotti sagte:

»Seien wir vernünftig, Maestro. Wir spielen zur Ehre Gottes.«

»Und meine Ehre?« fauchte der Kapellmeister. Die großen Schulmädchen im Chor stießen sich an und kicherten.

Der Schneider sagte kein Wort, aber er blies, wie er es probierte, so stark in sein Horn, daß alle auffuhren. Man lugte hinauf und lachte.

»Still doch, Don Taddeo betet, er bekennt seine Sünden … als ob er welche hätte, der heilige Mann.«

»Signora Eufemia, Eurem Kleinen ist das Chorhemd zu groß.«

»Aber er schwingt den Weihrauchkessel geschickter als Eurer.«

»Woran hast du während des Sündenbekenntnisses gedacht, Scarpetta? Ich habe mich daran erinnert, daß der Advokat meinem Bruder den Schreiberposten in der Unterpräfektur verschafft hat.«

Der dicke alte Corvi brummte:

»Soll es die letzte gute Tat des Advokaten bleiben, daß er mir die Stelle bei der öffentlichen Waage gegeben hat?«

Der Schlosser Fantapiè schüttelte den Kopf.

»Man muß gestehen, daß wir seit vier Wochen nicht immer richtig gehandelt haben. Ich glaubte wahrhaftig, der Advokat habe das Feuer gelegt. Wußten es nicht alle, und war nicht der Advokat für die Freiheit und für die Komödianten? Aber wenn Don Taddeo sagt, daß es ein anderer ist und daß er ihn kennt –«

»Es wird der Engländer sein, denn er ist in aller Frühe abgereist.«

»Du redest Unsinn, Coccola: ein Engländer! Aber ein Landstreicher hat bei Malandrini im Hof gelegen, sagt man; er ist verschwunden.«

»Warum schickt nicht Cantinelli seine Leute auf die Suche! Was tut die Regierung! Bürgerkrieg und Feuer: ah! man kann sagen, daß wir in Not sind, dank unsern Sünden.«

Und da vorn rief Don Taddeo die Hilfe Gottes an. Dreimal rief er um Hilfe gegen das Elend der Unwissenheit. »Ich habe dich nicht gekannt, o Herr, da ich die Liebe nicht kannte; und ach, wie jene, die seufzen, mich bei dir anklagen, weil ich dich ihnen nicht offenbarte!« … Dreimal rief er um Hilfe gegen das Elend der Schuld. Dreimal rief er um Hilfe gegen das Elend der Strafe, – rief langgezogen, nasal und zitternd; und sein letzter Ton irrte noch, ein armer, suchender Mißklang, durch das Aufbrausen der Orgel hin, das wie der stöhnende Atem von Tausenden war. Chorgesang brach aus gleich einem großen Weinen, und alle Instrumente hoben leidenschaftlich zu klagen an.

»Das ist das Kyrie. Hört Ihr mich, Signora Eufemia? Ach, ach, ich will Euch nur bekennen, daß Euer Carluccio hübscher ist als mein Lino. Darum sagte ich, ihm sei das Chorhemd zu groß.«

»Ach, ach«, ging es durch die Bänke. Das Volk in den Kapellen erbebte.

Don Taddeo aber brachte alle Laute des menschlichen Elends zum Schweigen. Seine Stimme erhob sich, in einsamer Tapferkeit:

»Gloria in excelsis!«

Und es antwortete ihm der Chor:

»Gloria in excelsis!«

Der Strich der Violinen errichtete Staffeln nach oben, die Hörner stürmten feierlich. Wie der Wind schwang sich die Orgel auf.

Als es wieder still war, bekreuzigte sich der Schlosser Fantapiè.

»Mir scheint, daß Gott will, wir sollen den Advokaten zurückholen.«

»Ich sage nicht nein«, antwortete der Krämer Serafini, »aber wird Crepalini wollen?«

Denn der Bäcker wühlte umher.

»Eh! Coccola, eh! Malagodi, scheint es euch so leicht, den öffentlichen Feind zurückzurufen? Don Taddeo: ah! Don Taddeo mag reden; er ist nicht in den Geschäften. Wir aber; der Advokat wird sich an uns rächen! Dir, Scarpetta, entzieht er die Arbeiten im Rathaus, und mir, wer weiß, erneuert er nicht das Monopol.«

»Welch Glück für alle!« riefen die jungen Leute mit bunten Halstüchern; – und der Bäcker, kirschrot bis in die Augen, kollerte vergeblich gegen das Volk an, das sich beglückwünschte. Der Herr Giocondi wagte sich hervor:

»Seitdem der Advokat nichts mehr zu sagen hat, ist Euer Brot noch viel kleiner geworden, Crepalini. Wenn Ihr an der Macht wäret, müßten wir alle verhungern! –«, und der Herr Giocondi blinzelte dem Volk zu, das ihm recht gab. Er kehrte, den Bauch heraus, zu den Herren unter dem Chor zurück.

»Mut!« sagte er. »Ich haue euch alle heraus, und ich rette den Advokaten. Seit ich mit Don Taddeo gesprochen habe, geht alles gut. Die Tätigkeit eines Versicherungsinspektors ist die beste Schule für Diplomaten.«

Der Savezzo war da und sagte zwischen den Zähnen:

»Und die Herren glauben, der Advokat werde nicht erfahren, daß Sie alle von ihm abgefallen waren? Er wird es erfahren, ich schwöre es Ihnen.«

»Nicht antworten!« raunte der Herr Giocondi dem Apotheker zu, der schon losfuhr. »Man muß vorsichtig sein in unserer verwickelten Lage.«

Und alle zogen sich zurück von dem Savezzo. Er hörte ein Hüsteln und fand sich neben der Bank, worin Frau Camuzzi kniete. Der Spitzenschleier stand weit um ihren Kopf; niemand konnte sie sprechen sehen.

»Unsere Sachen gehen schlecht, wie es scheint … Blicken Sie auf Don Taddeo! Er betet um unsere Würdigung; beten auch wir.«

Sie neigte sich tiefer; sie fingerte sanft am Rosenkranz. Er knirschte.

»Man kann es nicht leugnen. Der Tenor ist mir entkommen, und der Advokat, den ich getötet habe, kehrt zurück, wie ein Gespenst.«

Sie blieb lange stumm; sie hob und neigte den Kopf, wie die Betenden. Dann, flüsternd:

»Knien Sie hin!«

Und als sein Ohr ganz nahe war:

»Um den Tenor bekümmere ich mich: er mag ruhig sein. Er glaubt, er solle heute abend eine große Sünde begehen und ein Mädchen entführen, das dem Herrn bestimmt ist. Ich aber werde ihn hindern, zu sündigen, und werde Alba retten. Lassen Sie mich beten!«

Nach einer Weile, mit Aufseufzen:

»Ich fühle, daß der heilige Agapitus mich hört. Wissen Sie nicht, daß er schon einmal eine Jungfrau, die einem Verführer in die Hände gefallen war, rettete, indem er durch sein Gebet dem Verführer jede Fähigkeit nahm, einer Frau gefährlich zu werden?«

Da sie den Savezzo schnauben hörte:

»Hätten Sie doch den Glauben! Dann hätten Sie auch den Erfolg … Den Advokaten lasse ich Ihnen. Sie haben nicht versucht, Don Taddeo umzustimmen? Es wäre auch unnötig. Er ist krank, – und die Leute verehren ihn als Heiligen, das macht ihn noch schwächer. Sie müssen ihn aufgeben und sich an den Advokaten halten.«

»An wen?«

»An den Advokaten. Sogleich müssen Sie zu ihm gehen, denn sonst kommen andere Ihnen zuvor, – und sich ihm anbieten. Sie sagen ihm, jetzt, da er Ihre Kraft kennt, wollen Sie sie nicht mehr gegen ihn gebrauchen. Sie machen sich anheischig, ihm Ihre Partei zuzuführen und gemeinsam mit ihm zu herrschen.«

»Niemals«, sagte der Savezzo ganz laut. Sie ließ Zeit verstreichen. Dann:

»Er wird zu glücklich sein, sich an Ihrer Hand halten zu können; und da Sie den Frieden zurückbringen, werden alle Sie gut empfangen. Dann ist Zeit gewonnen, etwas Neues anzuzetteln, das uns endgültig von dem Advokaten befreit.«

Sie neigte sich tiefer.

»Libera nos a malo!«

»Niemals!« wiederholte er. »Ich hasse ihn zu sehr. Zu lange mußte ich heucheln. Für einen von uns hat die Stadt nur Raum. Kehrt er zurück, dann habe ich verspielt … Aber er wird nicht zurückkehren. Ich werde dem Volk verbieten, ihn zurückzurufen. Ich werde Gewalt brauchen, ich werde –«

»Still da!« – und Frau Camuzzi wandte sich zur Frau Acquistapace. »Finden Sie nicht, man sollte nicht sprechen, während Don Taddeo betet?«

Don Taddeo verneigte sich und faltete die Hände, ergeben wie der, für den er handelte, dessen irdisches Leben seine Gesten zurückbannten. Er ging von der linken Seite des Altars auf die rechte. ›Sein Wandel war noch schwerer‹, dachte er; und wie aus den Kesseln der kleinen Nonoggi und Coccola der Weihrauch um ihn her dampfte: ›Aber seine Werke duften. Seine duften.‹

»Es ist höchste Zeit«, – und der Savezzo packte den Schlosser Fantapiè und den Schuster Malagodi am Arm. »Don Taddeo liest die Epistel, jetzt heißt es wählen. Wollt ihr die Macht nehmen oder den Tyrannen zurückrufen?«

»Eh! auch das kleine Volk ist noch da«, sagte der Schuster.

»Und Don Taddeo«, setzte Fantapiè hinzu. Druso, Scarpetta, die beiden Serafini, alle sagten dasselbe.

»Ohne Don Taddeo gibt es keine Partei des Mittelstandes, denn wie bekommen wir ohne ihn das Volk?«

Der Unterpräfekt, Herr Fiorio, stand in der Nähe, der Savezzo tat einen Schritt auf ihn zu. Sofort verschwand er hinter dem Pfeiler, – und der Savezzo spürte eine Kälte auf dem Scheitel: geradeso hatte der Unterpräfekt – wie viele Stunden war's her? – den Advokaten fallengelassen!

Jeder, nach dessen Hand er griff, steckte sie in die Tasche. Sie zuckten die Achseln.

»Fragt das Volk, ob es Euch will, statt des Advokaten. Fragt das Volk.«

Der Savezzo stieß, die Stirn nach vorn, in die Kapelle Torroni, über deren Stufen es, mit starkem Zwiebelatem, herausquoll. Es stand in Pyramiden bis auf den Altar; es kniete, die Beine durcheinander; es trug Kinder auf den Schultern; und in den verschränkten Händen eines jungen Mannes stand ein Mädchen, für das am Boden kein Platz mehr war.

»Da bin ich! Da ist der, der euch befreit hat!« – und der Savezzo wollte die Arme schwingen; die aber, die er damit getroffen hatte, schlugen sie ihm herunter. Statt der Arme rollte er die Augen.

»Der Advokat ist gestürzt! Jetzt sollt ihr die Freiheit kennenlernen!«

»Laß uns in Ruhe! Siehst du nicht, daß du uns trittst?«

»Ich bin kein Herr, ich bin einer von euch: da seht!« – und er hüpfte auf einem Fuß, um den andern aus der Enge herauszuziehen. »Meine Schuhe sind durchlöchert. Und hier!«

Er hielt ihnen seine plumpen Finger hin mit den abgerissenen Nägeln. Sie antworteten:

»Schon recht, die Schuhe und die Hände. Aber dein Gesicht gefällt uns nicht.«

Der Mann, der das Mädchen trug, sagte:

»Du denkst zuviel an dich selbst, um die Freiheit zu lieben.«

»Don Taddeo will dich nicht, er will den Advokaten«, rief eine Frau; und eine andere:

»Der Advokat ist lustiger als du, er liebt die Frauen und das Volk.«

Auf dem Altar hielt ein junger Mann in buntem Halstuch die Arme gekreuzt, um Raum zu sparen für seine Nachbarn. Von dort oben sah er dem Savezzo in die Augen.

»Der Advokat liebt die Freiheit, das fühlt man. Ihr, Herr Savezzo, wollt bewundert werden; und wenn Ihr den Advokaten damit besiegen könntet, würdet Ihr vom Gipfel des Glockenturmes bis hinüber zum Rathaus auf einem Seil gehen.«

Alle murmelten Beifall. Aus einem großen Zahntuch sagte jemand:

»Der Advokat ist ein großer Mann.«

Dort in der Ecke versuchte sogar einer zu klatschen. Der Kapellmeister, droben im Chor, hörte es.

»Ach ja, ich weiß wohl, daß das schön ist«, – und er dirigierte ganz leise, den Kopf auf die Schulter gelegt, mit einem verkniffenen Lächeln.

»Und es ist so schön, dieses Graduale, weil ich es in jener Nacht erfunden habe, als Flora Garlinda so böse war und mich so unglücklich machte. Wie gut, daß ich jene schlimme Nacht gehabt habe! Damals zeigte sich, daß alles, was ich um sie gelitten hatte, in diesen ›Fortschritt des geistlichen Lebens‹ paßte; und als er fertig war, da war ich sicher, ich hätte sie gewonnen, und vor Freude machte ich sogleich mein Halleluja.«

Den Taktstock in der Schwebe, sah er nach Don Taddeo aus. Das Herz ging ihm auf einmal heftig. »Mein Halleluja! Jetzt kommt es! Nur diese Minute noch leben!« Und der Stock zitterte.

»Halleluja!« sang Don Taddeo.

Der Kapellmeister sah fliegend noch einmal alle an. Wie er langsam die Hand senkte, ergriff ein Lächeln fiebriger Seligkeit ihn unwiderstehlich … Da zuckte er auf. »Das Tenorhorn! Ich wußte es.« Er war plötzlich weiß wie der Pfeiler hinter ihm, hatte wirre Augen und streckte den Hals lang aus.

»Falsch eingesetzt, Chiaralunzi! Versteht sich, Ihr müßt falsch einsetzen.«

»Er tut es mit Absicht, um Euch den Erfolg zu verderben«, zischelte der Barbier Nonoggi über seine Klarinette hinweg, während der Schneider, dunkelrot, das Horn von sich stieß.

»Wie? Ihr wagt mittendrin aufzuhören? Ich tue Euch unrecht? Dann also« – und der Kapellmeister sprang, die Arme erhoben, vom Podium, »nehmt doch Ihr den Stock, Ihr werdet es besser machen, Ihr kennt meine Musik besser als ich.«

Einer nach dem andern senkte sein Instrument, der Chorgesang versiegte. Die Orgel allein führte das Halleluja zu Ende, und nur noch Nina Zampieri ließ ein paar Harfentöne hineinfallen wie Tropfen in ein Gewitter. Der Schneider hatte seinen Stuhl umgeworfen; sie standen sich gegenüber. Dem Kapellmeister quollen die Augen hervor, sein Gesicht lief blau an. Er griff sich an den Hals. Ganz heiser:

»Ihr glaubt, Ihr versteht etwas von Musik, weil Eure Frau mit einem Tenor schläft.«

Schon waren alle auf den Beinen. Blandini, Allebardi und der junge Mandolini waren noch nicht genug, um den Schneider zu halten. Der schöne Alfò hängte sich um seine Schenkel, – indes Nonoggi und der kleine alte Beamte Dotti in die Wendeltreppe flüchteten. Der Chor drängte gegen die Wände. Jemand rief: »Hilfe!«

»Was trampelt ihr dort oben?« fragte man hinauf. »Was gibt's?«

Der Lehrer Zampieri lehnte sich hinüber.

»Dem Maestro ist nicht wohl. Es ist ein so schwieriges Werk, und er hat es selbst geschrieben.«

»Man muß jetzt still sein; Pipistrelli ist schon dabei, die Kerzen anzuzünden.«

Don Taddeo ging zurück auf die linke Seite des Hochaltars.

»Wie er gebückt geht!« bemerkte Mama Paradisi; Frau Zampieri setzte hinzu:

»Man würde glauben, er steige einen Berg hinauf.«

Und auf den Stufen der Kapelle Cipolla, hingekniet im Gewühl, mit Augen übergroß und voll Kerzenschein, drückten die Mägde Fania und Nanà die kleinen schwarzen Hände vor die Brust.

»Siehst du das Kreuz? Er trägt das Kreuz. Er trägt für uns das Kreuz.«

Nun brannten alle Kerzen und vermischten auf dem goldenen Grund der Apsis ihre Flammen zum Geflirr. Die Kessel der kleinen Druso und Coccola schwangen höher, dichter ballte sich der Weihrauch, woraus die Stimme des Evangeliums erklang.

Blandini, Allebardi und der junge Mandolini schoben den Schneider hinunter. Er keuchte nach seiner Frau; aber sie saß dahinten im Haufen, er mußte in der Vorhalle bleiben. Man hörte noch seine ungleichen Schritte hin und her, man riet, was er habe, – da stieg eine Melodie wie aus einer einzigen befreiten Brust, schwungvoll und voll Zuversicht.

»Das Kredo! Aber das ist glänzend!«

»Es ist aus der ›Armen Tonietta‹«, behauptete Polli.

»Sieh nur den jungen Mann, ich hätte es ihm nicht zugetraut.«

Und da das Stück aus war, unterdrückt, mit Hälserecken:

»Bravo, Maestro!« – indes Don Taddeo sich, schillernd und funkelnd in seinem bestickten Gewand, demütiger über den Altar neigte und seine Hände höher hinauftasteten.

»Komm, Heiliger Geist!«

Er wusch sich murmelnd die Hände. Sein Ruf:

»Orate, fratres!«

Ein jähes Aufschwellen des Chores:

»Sanctus! Sanctus! Sanctus!«

Und die bewegte Stille der Erwartung. Schnell flüsterten die Frauen noch miteinander, durch die Männer ging eine letzte Unruhe … Das Klingeln.

In einem großen Rauschen rutschte alles von Bänken, Mauerwerk und Stufen. Man hörte die Krücken der alten Nonoggi klappern, wie sie hinkniete. Frau Giocondi, die schnarchte, bekam von ihren Töchtern einen Stoß und tauchte eilig nieder. Alle Stirnen senkten sich tief, nun Don Taddeo das strahlende Gefäß erhob. Das kleine weiße Rund darin sah über alles Volk hin, wie des Gottes gebrochenes Auge, – und ihm zur Seite erloschen, in einer langen Stille, vor Müdigkeit und Gram die Augen des Priesters.

»Auch uns Sündern«, sagte er schwach; mit Anstrengung, die Arme wie am Kreuz, weit offen gegen das Volk: »Pax Domini!« – und indes alles sich räusperte, Stühle umherstieß und hinausdrängte, antwortete seinem Gebet der Chor:

»Sondern erlöse uns von dem Übel.«

 

Der Apotheker Acquistapace ward unter den ersten aus der Tür geschoben.

»Was hast du? Was gibt's denn zu weinen?« fragte Polli ihn.

»Ah! wie sie schön das Agnus Dei spielen! Wie die Messe rührend und erbauend war! Ich bin so lange nicht in der Bude gewesen.«

Und da in einem Schub seine Frau erschien, umfaßte er sie und drückte ihr, links und rechts, zwei dicke Küsse auf. Sie hielt ganz still.

»Es handelt sich nicht darum«, sagte Polli. »Es handelt sich um den Advokaten. Wir müssen ihn holen.«

Er trat an Malagodi, den Seiler und Scarpetta heran.

»Habe ich nicht recht, ihr Herren? Dies ist die Stunde, Frieden zu schließen. Er ist besser für die Geschäfte, – und schließlich sind wir Menschen.«

»Eh! ich sage nicht nein«, erwiderten sie. »Denn wegen des Bürgerkrieges bleiben die Bauern aus, heute am Sonntag. Das trifft euch: gut; aber es trifft auch uns.«

Der Gevatter Achille sammelte auch den Bäcker Crepalini und seine Freunde vor dem Dom.

»Ah! ihr glaubt, der Advokat werde sich an euch rächen? Ihr kennt ihn nicht. Der Advokat ist ein Gentleman mit dem edelsten Herzen.«

»Ich verbürge mich für meinen Freund«, sagte der Apotheker, »daß er Euch das Monopol erneuert.«

Dennoch kratzte der Bäcker sich den Kopf und verkroch sich sacht in den Haufen, der den Kapellmeister beglückwünschte. Er lehnte am Dom, drückte die heißen Handflächen gegen die Mauer und lächelte verstört. ›Ich habe sie also erbaut‹, dachte er. ›Ich habe ihre Leidenschaften verklärt; sie fühlen Frieden. Ich aber mußte leiden, als ich meine Messe erfand, leiden für Flora Garlinda.‹

Da er nichts sagte, schwand der Haufe. Der Kapellmeister lehnte noch immer und lächelte. Auf einmal streckte ihm, mit einem Gesicht voll glänzender Gnade, der Cavaliere Giordano die beringte Hand hin.

»Maestro, ich habe eine gute Nachricht für Sie: – gestern abend schon ist sie mir mit der Post gekommen; aber ich wollte den Erfolg Ihrer Messe abwarten, um Ihr Glück verdoppeln zu können, Maestro –«

Mit einer Geste, leicht und glücklich, als bewegte sie einen Zauberstab:

»– Sie sind zweiter Orchesterdirigent bei der Gesellschaft Mondi-Berlendi und werden zur Herbstsaison nach Venedig gehen.«

Das Lächeln des Kapellmeisters erstarrte. Der Cavaliere Giordano winkte die nächsten zu Zeugen herbei.

»Wie? das ist eine wohlverdiente Auszeichnung. Denn unser Maestro Dorlenghi ist nicht nur ein Talent, er ist ein sympathisches Talent.«

Man stimmte bei. Frau Camuzzi stieß Frau Paradisi an.

»Ah! Signora Aida, noch soeben stellten wir fest, daß uns nie so fromme Gedanken gekommen sind wie in der Messe des Maestro, und jetzt verläßt er uns.«

»Das ist zu natürlich«, sagte Flora Garlinda. Sie hatte auf einmal große blasse Halbkreise unter ihren Augen, die todernst blieben, obwohl sie die Lippen, wie zum Lächeln, von den Zähnen zog. Sie hob die schlaffe Hand des Kapellmeisters auf und schüttelte sie hart.

»Es war leicht vorauszusehen, daß er uns andere überholen werde. Ich, die Sie hinter sich lassen, empfehle mich Ihnen, Maestro. Sie müssen wissen, daß ich Ihnen geholfen habe. Denn ich habe von der Gesellschaft Mondi-Berlendi der kleinen Rina gesprochen: Sie erinnern sich, Maestro, Ihrer Geliebten, der Dienstmagd Rina, die Sie dem Cavaliere Giordano abgetreten haben.«

Man kicherte. Der alte Zecchini pruschte aus. Der Kapellmeister warf sich plötzlich herum; man sah seinen Nacken heftig zucken, während er sich auf der Mauer um die Ecke drückte. Der Cavaliere Giordano ging ihm mit ausgestreckten Händen nach.

»Mein lieber Dorlenghi, wie kann der Irrtum dieser braven Leute –. Ich versichere Sie, daß nur Ihr ungewöhnliches Talent –.«

»Lassen Sie, Cavaliere, es ist das unverdiente Glück, dem meine Nerven nicht widerstehen. Und bei alledem –«

Unvermittelt stieß er nach allen Seiten, er hielt sich die Stirn, er stöhnte wund.

»– habe ich Sie kompromittiert und in Gefahr gebracht: Sie, meinen Wohltäter!«

Der Cavaliere begann zu schnuppern.

»Wie denn, mein Lieber? Erklären Sie sich.«

Der Kapellmeister machte, die Fäuste an den Schläfen, fortwährend:

»Oh! Oh!«

Vom Platz kam ein Durcheinander von Rufen:

»Wir wollen Frieden! Wir wollen den Advokaten!« – und immer wieder das Gebrüll des Savezzo:

»Wenn ihr ihn ruft, werde ich machen, daß ihr die ersten seid, die seine Rache spüren!«

Der Cavaliere Giordano sah sich unruhig um.

»Was habe ich zu fürchten? Sie müssen nun sprechen.«

»Der Schneider …«

Der Kapellmeister legte die Hand um den Mund und preßte die Worte zwischen den Fingern hervor:

»Ich war von Sinnen, ich wußte seine Beleidigungen nicht mehr zu erwidern … Da habe ich ihm gesagt, Sie betrögen ihn mit seiner Frau.«

Der alte Tenor lachte meckernd.

»Eh! und wenn es wahr wäre?«

»Aber der Schneider tobt, er wird Sie vielleicht umbringen.« Die Miene des Alten fiel zusammen; er spreizte die Hand.

»Es ist nicht wahr! Ich schwöre, daß es nicht wahr ist. Möglich, daß ich es versucht habe. Ich leugne nicht, daß ich –«

»Wir wollen den Advokaten! Die Herren sollen ihn holen! Schweige, Intrigant!«

Der Kapellmeister und der Cavaliere Giordano irrten, die Hände gerungen, im Kreise umeinander her.

»Ah! diese jungen Leute!« jammerte der Alte. »Immer gleich ist der Kopf dahin. Die Leidenschaften! Das heiße Blut! Schöne Sache!«

»Was habe ich getan!« stöhnte der Kapellmeister. Der Alte blieb stehen, sein Kopf wackelte vor Zorn.

»Aber Sie schuldeten mir Rücksicht für meine Wohltaten! Was Sie getan haben, ist niedrig und gemein!«

Gleich darauf, einknickend, zum Weinen verzogen:

»Er bringt mich um. Wohin verkrieche ich mich jetzt. Ah! ich wußte wohl, daß ich hier enden würde: in einer Stadt mit weniger als hunderttausend Einwohnern und umgeben von Geheimnis. Es ist jene verdammte Unsichtbare, die mich umbringen wird durch die Hand des Schneiders!«

Plötzlich lief er auf krummen Knien davon, in den Corso hinein, lief und kam nicht von der Stelle. Frau Camuzzi erschien an der Ecke.

»Cavaliere!«

Sie holte ihn ein; sie flüsterte:

»Nicht dorthin. Der Schneider ist auf dieser Seite.«

Da er stöhnend herumfuhr –

»Der Platz ist voller Leute: dort werden Sie am sichersten sein. Gut, daß Sie noch heute die Stadt verlassen.«

»Ich werde sie nie mehr verlassen.«

»Man muß Vorkehrungen treffen. Ich könnte Sie bei mir verstecken; aber da der Schneider Ihre Wohnung kennt –.«

»Retten Sie mich!«

Der Alte klammerte sich an ihren Arm. Sie wiegte nur den Kopf. Dem weiten, stürmischen Haufen, den, aus seinem Innern heraus, die Leidenschaften hin und her über den Platz schoben, entrangen sich Polli und Acquistapace.

»Alle sind einig; wir gehen zum Advokaten.«

Aber der Savezzo brach hervor:

»Umsonst! Er ist verhaftet, er geht auf die Galeere.«

Der Savezzo riß sich aus der Brust einen Packen schmutziger Papiere, machte den Finger naß:

»Das ist sein Geständnis! Er hat gestanden, daß er das Feuer gelegt hat.«

Die Menge wich zurück – und plötzlich stürzte sie vor.

»Laß sehen! Wo!«

»Es ist falsch!« rief donnernd der Apotheker und griff mächtig zu. Er hielt das Papier in die Höhe. »Der Schurke hat es gefälscht. Da habt ihr den Schurken. Jetzt wißt ihr, wen ihr auf die Galeere schicken sollt.«

Er stellte die Hand gegen das Geheul des Volkes, stampfte mit dem Holzbein und schrie, daß ihm die Adern schwollen:

»Laßt ihn! Vergreift euch nicht! Ah! bewundert die Milde des Advokaten. Er verzeiht allen, die etwas gegen ihn unternommen haben: er verzeiht sogar diesem und gibt ihm sein Papier zurück.«

Und der Alte reichte es mit großer Geste dem Savezzo, der auf seine Nase schielte. Das Volk klatschte.

»Bravo! Hole den Advokaten!«

»Der Schneider«, sagte Frau Camuzzi, »hat vom Maestro nicht Ihren Namen gehört, wie, Cavaliere? Nur, daß ein Tenor bei seiner Frau ist, weiß er. Aber ihr seid zwei Tenöre hier. Schicken Sie den andern hin!«

Da er sie ansah –

»Ja, schicken Sie ihn, damit er Sie bei der Frau des Schneiders entschuldige. Er soll ihr eine Stunde geben statt Ihrer, er soll tun, was ihm gut scheint; – wir aber geben dem Schneider einen Wink. Ah! er wird nicht lange fragen, wie die Sachen liegen; er wird die Überlegung verlieren …«

»Aber das wäre ein Mord«, sagte der Cavaliere Giordano und zog sich einen Schritt zurück. Frau Camuzzi hob die Schultern. »Ich rate Ihnen, weil Sie es wünschen. Scheint es Ihnen nicht, daß hinter allen diesen Leuten, bei der Gasse der Hühnerlucia, der Schneider steht und herübersieht? Was er für Augen hat!«

»Hilfe! Ich will tun, wie Sie sagen.«

»Mut, Cavaliere! Ich gehe und versuche ihn zu besänftigen. Ah! er ist fort. Wo war er denn? Aber Sie sind nun gewarnt.«

 

Der Kaufmann Mancafede stürzte hinter Acquistapace und Polli drein.

»Ihr werdet nicht ohne mich gehen! Bin ich nicht der treueste Parteigänger des Advokaten, der keinen Augenblick an ihm gezweifelt hat?«

Auch, der Herr Giocondi wackelte herbei.

»Und ich? Denn, man muß gerecht sein, ohne meine Verhandlungen mit Don Taddeo wäre der Advokat niemals wieder an die Oberfläche gelangt.«

Sie erklärten ihm, seine diplomatischen Talente seien im Augenblick nötiger auf dem Platz, um das Volk in seiner guten Gesinnung zu erhalten.

Vor der Treppengasse warf sich ihnen noch einmal der Savezzo in den Weg. Er schlug blindlings sich selbst mit den Fäusten, und wie er sprechen wollte, spritzte es.

»Feiglinge! Elende Feiglinge!« heulte er. »Doppelte Verräter, die abfallen in der Gefahr und, wenn sich's wendet, wieder herbeikriechen. Ich: ah! ich gehe unter. Aber ich gehe unter, indem ich euch verachte.«

Mit einem Schlag auf seine Brust, daß sie dröhnte, machte er kehrt.

Sie stiegen schweigend … Der Kaufmann wandte sich zum Apotheker:

»Du hättest ihm antworten sollen. Warum hast du ihn nicht niedergeschlagen?« Nach einer Weile seufzte Polli:

»Es scheint, daß wir den Kopf verloren und manches geredet haben, was wir trotzdem niemals getan haben würden. Ich wenigstens darf von mir sagen, daß ich auch in der Not zum Advokaten gehalten hätte.«

Der Apotheker blieb stumm und ließ den Kopf gesenkt.

»… Im Zimmer des Advokaten steht seine Nichte am Fenster«, bemerkte Mancafede. Der Tabakhändler meinte:

»Er wird Trost gesucht haben im Schoß der Familie. Sogleich aber soll er sehen, daß es auch noch Freunde gibt.«

Und schon von weitem begann er hinaufzupfeifen. Die junge Amelia wandte sich ins Zimmer zurück.

»Advokat, da kommen drei Herren!«

Der Advokat zuckte im Bett mit den Schultern. Er behielt die Augen geschlossen. Die Witwe Pastecaldi sah hinaus.

»Gottlob, es sind Freunde.«

»Was denn, Freunde«, – und Galileo Belotti zog die Brauen bis unter die Haare hinauf. »Es gibt keine Freunde mehr. Sie werden dem Advokaten sagen wollen, daß er auf die Galeere kommt.«

»Du bist gottlos. Siehst du nicht, daß der Advokat krank ist? Du würdest besser tun, auf den Platz zu gehen zu den anderen häßlichen Leuten. Würde er nicht besser tun, Doktor?«

Der Doktor Capitani, der das Nachtgeschirr des Advokaten untersuchte, stimmte zu.

»Du würdest besser tun, du würdest besser tun, pappappapp. Aber wenn der Platz langweilig ist ohne den Advokaten?« Und Galileo kugelte polternd durchs Zimmer.

»Galileo!« rief, gleich unter dem Hause, die Stimme des Tabakhändlers. »Sage dem Advokaten, daß wir gekommen sind, um ihn zu verhaften.«

Die Witwe Pastecaldi stieß, die Faust an der Wange, einen Schrei aus wie ein kleines Mädchen.

»Was habe ich gesagt«, – und Galileo streckte die Brust heraus. Der Advokat tat einen Ruck; rasch stützte der Doktor ihn.

»Auch das härteste Geschick wird mich stark finden«, sagte der Advokat und beschrieb mit der Hand einen Bogen, der zitterte. »Aber ich fühle mich nicht verloren; denn –«

Er fand Stimme:

»– ich glaube an die Gerechtigkeit des Volkes.«

Da flog die Tür auf. Polli rief herein:

»Guten Tag die Gesellschaft. Ist der große Mann zu Hause?«

Aber sogleich verstummte er und machte einen Schritt rückwärts.

»Signora Artemisia«, flüsterte der Apotheker, »was gibt's? Der Advokat sieht uns nicht an, geht es ihm sehr schlecht?«

Da sie nur die gefalteten Hände erhob –

»Dann müssen wir dem Volk wohl sagen, daß es ihn nicht haben kann. Denn das Volk will ihn wiederhaben.«

»Wie? Wollt ihr ihn nicht verhaften?« fragte Galileo.

»Was denn! Versteht Ihr nicht, daß das ein Scherz war?« sagte Polli. »Das Volk ruft dich, Advokat.«

»Da bin ich«, sagte der Advokat und zog die Beine unter der Decke hervor. Er schob den Doktor fort, – aber dann saß er in seinen Unterhosen auf dem Bettrand und konnte nicht weiter. Seine Schwester stürzte herbei.

»Du wirst dich ruinieren, Advokat. Der Ruhm bringt dich um.«

»Was, Ruhm!« – und Galileo erklärte den Herren:

»Er hat zu viele warme Bäder genommen, der Advokat. Immer gerade, wenn man essen will, braucht er die ganze Küche für sein heißes Wasser. Und dann, versteht sich, sieht man in seinem Büro seit vier Wochen nichts anderes mehr als Unterröcke …«

Die Schwester jammerte auf.

»Ich habe es dir immer gesagt, Advokat, wenn du an der Macht wärest, könntest du den Frauen nichts abschlagen, und sie würden dich ruinieren. Jetzt ist es geschehen.«

»Denn der Advokat«, schloß Galileo, »hat heute morgen in der Badewanne einen Schlaganfall gehabt.«

Der Advokat war plötzlich auf den Füßen, er klopfte die Luft mit dem Handrücken.

»Was für Albernheiten! Einen Schlaganfall, ein Mann wie ich! Sagen Sie den Herren, Doktor, daß ich ganz gesund bin!«

»Es war nur ein wenig Schwäche«, entschied der Doktor; »denn, Advokat, es sieht ganz so aus, als hätten Sie wieder mehr Zucker verloren!«

Der Apotheker kam, schwer stelzend, herbei; er nahm die Hand des Advokaten.

»Mein armer Freund, du hast gelitten. Wir, das Volk, haben dir Leiden verursacht. Jetzt aber wollen wir dich wiederhaben und dir danken. Komm!«

»Ich komme, es geht schon besser. Meine Kleider! Ah! das Volk ruft mich. Sie, Doktor, wollen mich krank; aber das Volk will mich, gesund, und es ist stärker als Sie, ich hin gesund.«

Er umarmte den Freund, die Schwester und den Arzt.

»Ihr Gesicht ist schon weniger grau«, sagte der Doktor Capitani, »Ihre Augen haben schon Glanz. Ich lasse Sie also dem Volk, – wenn Sie mir versprechen, daß Sie in Zukunft nehmen wollen, was ich Ihnen gebe.«

»Mehr als das! Ich nehme auch, was Sie mir nicht geben!« – und der Advokat tätschelte ihm den Bauch, er küßte ihn schallend auf die breiten blonden Backen.

»Wie Sie sympathisch sind, Doktor! Ah! wie wir alle glücklich sind. Ich habe wohl gewußt, es werde so kommen. Nie habe ich den Glauben verloren an die Gerechtigkeit des Volkes.«

»Nicht diese Hose!« rief Polli. »Es ist ein großer Tag; der Advokat muß gekleidet sein wie zu seiner Hochzeit.«

»Wo hast du die neue?« fragte die Witwe Pastecaldi. »Sieh doch Galileo: er hat sie gefunden.«

Galileo polterte:

»Wenn einer die Sachen des Advokaten kennt, bin ich es.«

Die Schwester band dem Advokaten die Krawatte. Mancafede äußerte:

»Als ich sie dir verkauft habe, wer uns da gesagt hätte, du würdest sie auf einem solchen Feste tragen. Denn wir haben alle besiegt. Don Taddeo hat uns um Gnade gebeten.«

»Es ist nicht wahr«, sagte der Apotheker. »Er hat uns alle zum Frieden ermahnt. Gott hat ihn vernünftig gemacht: so hat er nun eingesehen, Advokat, daß du ein Mann von großem Verdienst bist.«

»Und daß auch er einer ist«, sagte der Advokat, »das weiß ich seit heute nacht.«

Er ließ sich vom Doktor den Rock anziehen und griff nach dem Hut.

»Gehen wir! Artemisia, komm!«

Sie betastete ihr ländliches Mieder.

»Wie kann ich. Das Volk wird dich auslachen, wenn es mich bei dir sieht.«

Er antwortete: »Sei ruhig, das Volk wird nicht verlangen, daß ich etwas anderes sei als es selbst.«

»Der Advokat auf die Galeere?« sagte am Fenster aus ihrem weißen Mullkleid die junge Amelia, die Augen weit verdreht. Man mußte ihr einen Stoß geben.

Wie sie aus dem Hause traten, ging gerade ein Schuß los, und drunten schrie das Volk auf.

»Beim Bacchus«, sagte Polli. »Sie haben auch die Kanone aus dem Rathaus geholt.«

»Wenn sie nur kein Unglück anrichten«, sagte der Advokat. »Ich werde nachsehen müssen.«

»Eh!« machte der Apotheker, »glaubst du, es sei nichts Wichtigeres zu tun? Don Taddeo will dir den Schlüssel zum Eimer geben.«

Da der Advokat mit offenem Munde stehenblieb, äußerte Mancafede:

»Du siehst, daß er Furcht vor uns hat.«

Der Advokat erlangte Worte:

»Wie? Das Gericht hat ihm den Eimer zugesprochen, und er will –. Das ist ja ein Dummkopf!«

Sein Lachen brach ab, er ging weiter.

»Ich wollte sagen, daß ich das nicht getan haben würde. Man sieht, daß Don Taddeo eine erlesene Seele hat.«

Bis zur Ecke sprach er nicht mehr, – und da öffnete drunten sich der Platz, summend und schwarz, und schon stürmten ausgestreckte Hände herauf, und Schreie knatterten:

»Da ist er! Da ist der Advokat! Es lebe der Advokat!«

Er hielt an auf dem letzten Absatz der Treppe; die Seinen zogen sich einige Stufen zurück; und in weitem Bogen senkte er den Hut vor dem Volk, das ihn begrüßte. Der Schatten des Rathauses fiel über ihn, über sein Gesicht, das er zurücklehnte, – und dennoch sah man breite Sonne darauf. Ja, sie dehnte die Muskeln im Gesicht des Advokaten, verklärte die gegerbte Haut, machte alle Runzeln hüpfen und sandte weithin einen Schein aus.

»Nie hat man den Advokaten so gesehen«, riefen die Frauen. »Er ist schön!«

Die Männer sagten einander:

»Wir sollten den Advokaten wirklich ins Parlament schicken, damit sie in der Hauptstadt sehen, welch einen großen Mann wir haben.«

»Meine lieben Freunde«, sagte der Advokat erstickt und schüttelte Hände. Der Apotheker drang vor. »Platz, ihr Herren!« und vom Dom her bahnte der Leutnant Cantinelli die Gasse. Wie der Advokat hineinging, sah er drüben einen andern sie betreten: Don Taddeo! Und über den Dom herab hing die päpstliche Fahne! Da fing auf dem Turm die Glocke an zu läuten, und sogleich dröhnte auf der andern Seite ein Schuß. Der Advokat fuhr herum: vom Rathaus flatterte die Trikolore.

»Es lebe der Advokat!«

Sie ließen ihn nicht weiter, bevor nicht jede Hand geschüttelt war; und er, bleich vor Glück, erkannte kaum noch die Gesichter. Plötzlich:

»Camuzzi! Ah!«

Mit einem Blick auf die Trikolore:

»Mein lieber Freund Camuzzi!«

»Den Hymnus an Garibaldi!« schrie der Apotheker. Denn vor seinem Hause, hinter dem Wogen des Volkes, blitzten die Musikinstrumente. Darüber schwenkte, auf einem Stuhl, der Gevatter Achille seine Fahne.

»Den Hymnus an Garibaldi!« wiederholte das Volk. Der Unterpräfekt, Herr Fiorio, konnte gerade noch dem Maestro in den Arm fallen. Er beschwor ihn um den Königsmarsch.

Der Marsch sprengte daher, man klatschte; der Advokat entriß sich dem Volk; er sah auf sich zu den großen rostigen Schlüssel kommen, den Don Taddeo mit beiden Händen vor sich hinhielt. Don Taddeo war bleich, als sei er tot; seine scharfroten Augen wichen nie von dem Advokaten. Wenn eine Frau sich nach seiner Soutane bückte, um sie zu küssen, tat er eine rasche Wendung, sonst aber hielt er, obwohl alle von ihm die Hände ließen, seine Schritte lange zurück, als wollte er diesen Gang verlängern, immer noch verlängern … Der Advokat streckte plötzlich beide Hände aus und begann zu eilen. Er hatte eine achtungsvolle Miene, und fast lief er. So trafen sie sich, noch ehe Don Taddeo beim Brunnen war. Er hielt den Schlüssel weiter von sich, der Advokat nahm ihn mit einem Kratzfuß. Dann zogen sie sich leise voneinander zurück. Das Volk wartete, verstummt. Der Advokat hüstelte, und Don Taddeo sah zu Boden. Auf einmal hatte er mit einem Lächeln die Augen aufgeschlagen und der Advokat die Arme ausgebreitet. Der Beifall des Volkes umstürmte sie, wie sie einander an der Brust lagen. Am Dom klatschte die Fahne des Papstes, gelb und rot gleißend, in ihre schweren Falten. Der Gevatter Achille warf über dem Gewimmel sein weißrotgrünes Tuch rasend hin und her durch die blaue Luft. Pipistrelli zog nun beide Glocken, er ließ sie tanzen. Die Musik setzte sich in Bewegung, im Eilschritt blies sie ihr Stück, wie einen berauschenden Wind, um den Platz; – und da ging zum drittenmal die Kanone los. Don Taddeo und der Advokat hielten sich an den Händen.

»Es lebe der Advokat! Es lebe Don Taddeo!« – und indes jeder sich nach seiner Seite verneigte, gaben in der Mitte ihre Hände sich manchmal einen Ruck, als leitete einer auf den andern den ganzen Beifall ab: gerade wie man es in der »Armen Tonietta« an der Primadonna und dem Tenor gesehen hatte.

»Es lebe Don Taddeo!«

Die Frauen brachen die Scheu, sie warfen sich über ihn, er bekam schallende Küsse auf die Wangen, stand da mit einem Fleck Röte unter den Augen und einem flüchtenden Lächeln.

»Es lebe der Advokat!«

»Meine lieben Freunde! Da ist der Schlüssel zum Eimer!« – und er reckte sich hinauf. »Wir haben ihn zurück; jetzt werden wir den Komödianten den Eimer zeigen!«

»Wir werden den Komödianten den Eimer zeigen!« rief das Volk. Der Advokat drückte den Finger auf den Mund, er schielte nach Don Taddeo. Aber Don Taddeo erklärte hastig, mit Spreizen und Einziehen der Hand, die Komödianten sollten nur kommen, er wolle mitgehen.

»Wie, Reverendo?« – und der Advokat lüftete mehrmals nacheinander den Hut.

»Welch Heiliger!« sagte das Volk, indes Gaddi und der Cavaliere Giordano herbeigeschoben wurden. Der Advokat stellte sie dem Priester vor.

»Der Cavaliere ist ein über den Erdkreis hin berühmter Mann, dem die Menschheit für hohe Dinge verpflichtet ist. Der Herr Gaddi aber hat heute nacht an der Spritze gearbeitet wie einer von uns. Sie freilich, Reverendo, der Sie mehr getan haben als alle –«

»Große Sünden«, sagte Don Taddeo rasch und preßte die Hand auf die Brust, »verlangen große Tugenden; und was ich erkannt habe, ist, daß unsere Verdienste eins sind mit unserer Schuld.«

»Ich bin Ihrer Meinung«, sagte der Advokat. »Wir werden immer nur tun können, was wir schulden, und das wenige Gute, das mir zu vollbringen erlaubt ist –«

Mit einem Bogen des Armes:

»– das kommt mir vom Volk.«

 

Es ward geklatscht, – und ein langer Schub beförderte die beiden samt ihren getragenen Mienen bis vor die Tür des Turmes. Keiner wollte vorangehen; sie drehten einander rundum, und wurden drehend hineingestoßen. Die Menge quoll nach. Über die Stufen zum Dom schwemmte eine Welle Volkes. Ihr entstieg der Savezzo und drückte sich unbemerkt unter die Matratze. Er schlich durch die Vorhalle. Aus all den leeren Bänken dahinten erhob sich ein einziges, dämmerweißes Gesicht.

»Sie hier, Herr Savezzo?« fragte Frau Camuzzi.

»Da Sie mir ein Zeichen gegeben haben –.«

»Ich, ein Zeichen?«

Die Stimmen klappten von den Pfeilern zurück; Frau Camuzzi flüsterte:

»Sie irren sich … Aber Sie sind im Mantel, und Sie tragen ein Bündel?«

»Ja. Denn ich gehe; ich verlasse den Schauplatz meiner Niederlage. Lieber in der Fremde einen neuen Kampf beginnen, als hier den frechen Triumph des alten Feindes erleiden.«

Gedämpfter Jubel drang in die Stille.

»Hören Sie?« – und er knirschte. Er warf seinen Hut auf den Boden.

»Heben Sie ihn auf«, sagte Frau Camuzzi, »wir sind in der Kirche. Da Gott selbst für den Advokaten ist, werden Sie die Dinge nicht ändern.«

»Ich werde sie ändern, – nachdem ich draußen gesiegt habe und groß geworden bin.«

»Ich«, sagte Frau Camuzzi und seufzte still, »habe einen Mann, der Gemeindesekretär ist und bleibt. So muß ich wohl in der Stadt mein Leben enden und warten, ob es den Heiligen gefällt, mich zu erhören.«

»Ich stürze mich in die große Welt! Welch andere Interessen und Leidenschaften!«

»Glauben Sie?« – ganz sanft den Kopf geneigt.

»Man wird von mir hören. Nachdem ich in der Hauptstadt ein großer Journalist geworden bin, den alle fürchten, kehre ich zurück, und der Advokat wird dann sehen, wen man ins Parlament schickt. Ah! wie ich aufräumen will in der Stadt. Zu welchem Brei ich die herrschenden Familien zerstampfe! Ich sehe den Platz mit bankrotten Leichen bedeckt.«

Er schielte schwarz, und das Knirschen verrenkte seinen Mund. Draußen heulte es auf:

»Zurück! Um Gottes Liebe! Man erstickt!«

Die beiden sahen sich an.

»Es scheint«, sagte langsam Frau Camuzzi, »daß der Turm, der ein wenig eng ist für solch großes Fest der allgemeinen Versöhnung, Ihnen die Mühe abnimmt, Herr Savezzo, und alle umbringt.«

Ihre Mundwinkel zitterten; durch ihre Augen strich ein Blitz, aber sie deckte sogleich die Lider darüber. Nach einer Weile:

»Sie fahren also mit den Komödianten in der Post?«

Er breitete die Flügel seines Mantels aus.

»Ich gehe zu Fuß, wie es sich für einen harten und armen Eroberer schickt, und in denselben Schuhen, die eine feindliche Menge mir zerrissen hat.«

»Dann wird es Ihnen um so leichter sein, unterwegs jemandem ein Wort zu sagen … Der Alba Nardini in Villascura: Sie sagen ihr, der Tenor werde sie warten lassen, er sei aufgehalten bei der Frau des Schneiders Chiaralunzi.«

Er schloß seinen Mantel über den Armen, die er kreuzte. Forschend von unten:

»Wie haben Sie das gemacht?«

»Die Heiligen! Das taten die Heiligen … Vielleicht war es mein Gebet, das sie bewog? Gleichviel, es handelt sich um die Interessen des Himmels, dessen Braut die arme Alba ist, – und sollen nicht, nun alle zur Eintracht bekehrt sind, auch wir ein wenig Gutes tun?«

»So hat dieser eine Tenor Sie tiefer gekränkt als mich die ganze Stadt?«

Da er einen schwarzen Blick bekam –

»Oh, lassen Sie! Ich weiß nichts, und ich tue, wie Sie wollen. Was daraus entsteht, kümmert es mich? Ich bin ein Fremder, der vorübergeht und ein Wort fallen läßt. Könnte davon die Stadt zusammenstürzen!«

Er warf den Zipfel seines Mantels um sich her, daß er über die andere Schulter wieder zurückflog.

»Auf Wiedersehen, wenn ich Sieger bin!«

Und er ging davon, mit Schritten, die wüst hallten. Wie hinter ihm die Matratze fiel, hob Frau Camuzzi leise die Schultern.

Draußen brach Geschrei aus:

»Der Savezzo!«

Der Überschuß von Volk, den der Turm zurückspie, umdrängte die Stufen zum Dom.

»Seht den häßlichen Affen! Es scheint, daß er es ist, der uns in den Bürgerkrieg gehetzt hat. Sollte er nicht auch das Gasthaus angezündet haben? Ergreift ihn doch!«

Der Savezzo grub das Kinn in den Mantel. Den Hut über den Augen, die Schultern nach vorn geworfen, sprang er polternd hinab, brach hindurch, stampfte von dannen.

»Hohoho!« machten die Fortgeschleuderten und rieben sich. Der Savezzo verschwand in der Rathausgasse. Eine Frau sagte:

»Auch er will leben, der Arme; und wer weiß, auf welche harte Reise er geht.«

 

»Da kommt das Fräulein Italia. Beeilen Sie sich, Fräulein, der Advokat zeigt euch Komödianten den Eimer. Warum sind Sie nicht früher gekommen?«

Italia hatte ihr Kleid ausbessern müssen; alle anderen waren ihr durch Feuer und Wasser verdorben.

»Wie?« riefen Frau Druso und die Magd Pomponia, »so werden Sie die Stadt ärmer verlassen, als Sie gekommen sind? Kann man es dulden, Signora Aida?«

»Platz für das Fräulein Italia!« – und der dicke alte Corvi nahm sie bei der Hand, er zwängte sich mit ihr in den Turm. Sein Bauch schob links und rechts die Leute an die Wand; und auf jeder Stufe hieß es:

»Ah! das Fräulein Italia. Sie ist gerade noch entwischt, dank Don Taddeo … Es freut mich so sehr, Sie gesund zu sehen, Fräulein … Er ist droben, Don Taddeo, im Zimmer des Eimers. Der Advokat hat schon nach Ihnen gefragt.«

Man hörte ihn sprechen. Wie Italia auf der Schwelle erschien, brach er ab.

»Treten Sie ein, Fräulein! Der Eimer erwartet Sie, er hat dreihundert Jahre auf diese Stunde gewartet. Sehen Sie ihn an, Fräulein, sehen Sie ihn gut an!«

Italia sah hinauf, wo er hing; es waren morsche kleine Bretter, die auseinanderklafften und durch eiserne Ringe vor dem Herabfallen behütet wurden; – und dann suchte sie, zweifelnd, die Gesichter der andern. Don Taddeo blickte, die Hände zusammengelegt, durch das Fenster starr ins Leere. Flora Garlinda verzog den Mund, und der Cavaliere Giordano hatte einen Taschenspiegel hervorgeholt. Hinter der Menge sah sie Nello Gennari sich heimlich wälzen wie ein Junge; Gaddi mußte ihn halten; da wagte Italia es.

»Mit dem Eimer könnte man kein Wasser schöpfen«, sagte sie.

»Aber eine Lehre läßt sich damit schöpfen«, erwiderte der Advokat pünktlich. »Dieser Eimer, ein so armes, verbrauchtes Ding er scheinen mag, lehrt uns dennoch«, – und der Advokat erhob die Stimme, »den Glauben an den menschlichen Fortschritt!«

Er bewegte die gerundeten Arme, als zöge er alle herein, die über die Schwelle des vollgestopften Gelasses die Hälse reckten.

»Denn als wir ihn zum erstenmal eroberten, da war es ein großer, grausamer Krieg, in dem die von Adorna so viel Blut lassen mußten, daß man den Eimer damit füllen konnte. Jetzt aber: niemand ist unterlegen. Wir alle bleiben Sieger, da jeder sich selbst besiegt hat und jeder entschlossen ist, nur noch im Wettstreit des Guten mit dem andern zu kämpfen!«

Er ließ, mit glänzendem Lächeln, den Beifall verrauschen.

»Sie aber, Fräulein Italia, umarmen Sie Ihren Retter, wie wir alle ihn umarmen; denn er rettete nicht nur Sie.«

»Wo ist Don Taddeo?«

Vergebens durchwühlte sich die Menge.

Auf der Treppe rief jemand:

»Er ist drunten auf dem Platz!«

Gerade zog er, ganz oben, den Riegel von der Tür zur Plattform. Er huschte hinaus, er hielt mit beiden Händen die Tür zu, er zitterte vor jäher Auflehnung: »Geht! Warum quält ihr mich noch! Ist's nicht genug, was ich euch geopfert habe?«

Niemand hörte ihn. Der Advokat gelangte, von einer Welle Volkes hinabgeschwemmt, auf den Platz. Er verlor, sooft er auch stolperte, sein seliges Lächeln nie, und den Schlüssel zum Eimer reckte er immer hoch aus dem Schwall.

»Der Advokat soll ihn um den Hals hängen!« verlangte das Volk; und man suchte nach einer Schnur.

»Das Band, das du im Haar hast, würde passen«, sagte der Doktor Capitani zu seiner Frau. Sie nahm es, mit hochroten Wangen, vom Kopf und zog es durch den Schlüssel. Als sie es ihm um den Hals knüpfte, sagte der Advokat:

»Man weiß, wie ich denke: all unser Ruhm wäre umsonst, ohne den Lohn der Frauen!«

Die Frauen klatschten. Der Advokat küßte der Jole Capitani die Hand; im Lärm flüsterte er ihr zu:

»Deine Liebe hat mich aufrechterhalten.«

Und er glaubte es, – so gut er auch wußte, daß heute nacht, als alle ihn verleugnet hatten, die Geliebte nicht stärker gewesen war als alle. Er drückte die Hände, wie sie kamen; und wo er sie zaudern sah, als hielte ein befangenes Gewissen sie auf, da zog er sie an sich.

»Eh! Scarpetta, die Lieferungen für das Rathaus sind heute nacht nicht mit verbrannt … Wie denn, Malagodi! das sind menschliche Irrungen, und im Grunde haben wir nie vergessen, daß wir zueinander gehören … Man sagt mir, Crepalini, Ihr fürchtet für Euren Vertrag? Welch seltsame Einbildung. Dagegen bitte ich Euch, wenn die Komödianten wiederkommen, um einen bescheidenen Platz in Eurer Loge, denn die mein war, wird dann Euer sein.«

Da er an den Apotheker geriet –

»Und du, Freund Romolo? Diese Freudentränen, man darf es sagen, haben wir uns verdient.«

Sie umarmten sich. Der alte Krieger stammelte am Hals des Freundes:

»Ich kann in die Hölle kommen; aber das eine weiß ich: aufhängen werde ich mich niemals mehr, – da ich es heute früh nicht getan habe.«

Der Advokat drückte ihn fester; – wie er aber dann das Schnupftuch zog, hatte er plötzlich ein Paar andere Arme um den Hals, und noch eins und noch eins. Billiger Puder stäubte ihm in die Nase, Federn kitzelten ihn; grelle kleine Stimmen, mehlweiße Stumpfnasen und bunte Fähnchen, alles wirbelte um ihn her.

»Du bist der schönste Mann der Stadt, Advokat, mit deinem Schlüssel am blauen Band … Wie glücklich ich bin, daß Sie wieder gesund sind … Nie werden wir unsern Direktor vergessen … Keiner mehr gibt uns solche Vorschüsse …«

Der Advokat sträubte sich, er lugte nach Jole Capitani umher.

»Seid gut, Kinder«, murmelte er. Die kleinen Choristinnen lachten auf, alle auf einmal, und entflatterten. Die jungen Leute in großen Hüten und bunten Halstüchern fingen sie ein.

»Alle hierher!« rief es vom Café »Zum Fortschritt«. »Die Herren zahlen.«

»Auch hier wird bezahlt!« schrie beim Café »Zum heiligen Agapitus« der Bäcker. Er setzte hinzu:

»Aber nur ein Glas, und du warst schon einmal hier.«

Es strömte rascher über den Platz. Alle Gesichter waren heller, alle Stimmen lauter. Mama Paradisi und ihre Töchter, Frau Camuzzi, die Damen Giocondi kehrten frisch gepudert aus ihren Häusern zurück. Man sagte: »Niemand würde glauben, daß wir die ganze Nacht auf den Beinen waren.«

»Welch schöne Sache: die Eintracht und die Freigebigkeit!« verkündete der Herr Giocondi. »Sogar der Herr Salvatori hat seinen Arbeitern den Lohn erhöht.«

»Ich denke nicht daran!« rief der Herr Salvatori. »Der Herr Giocondi will mich hineinlegen, weil seine Fabrik jetzt mir gehört.«

Aber es nützte ihm nichts; schon war er umringt, seine Arbeiter waren herbeigeholt, und er ward beglückwünscht und gerühmt, bis er vor Stolz weinte und den Arbeitern auch noch Wein gab.

»Und seit zwanzig Jahren nennt man ihn einen Geizhals«, sagte Frau Camuzzi, sanft zischelnd. »Wie viele Vorurteile müssen wir ablegen, arme Unwissende, die wir sind. Ich meinesteils halte eine Komödiantin für meinesgleichen.«

Sie umarmte Italia, und man klatschte. Die Mägde Fania und Nanà riefen umher, daß der armen Komödiantin alle Kleider verbrannt seien. Ringsum wallte es auf vor Mitleid; Frau Nonoggi war sogleich mit einer Winterjacke da, Frau Acquistapace mit einem Rock: »Möge er Euch Glück bringen, ich habe ihn öfter in der Kirche getragen als im Theater«; – und Mama Paradisi zog schon die Nadeln aus ihrem neuen Riesenhut. Ihre Hände zitterten dabei, aber obwohl man Einspruch erhob, er sei der Stolz der Stadt, beharrte sie bei ihrem Opfer: Italia mußte ihr erst weinend in den Arm fallen.

»Wie wir alle gut sind!« sagte Frau Camuzzi.

»He! Freund Giovaccone!« – und der Gevatter Achille wühlte sich hindurch. »Ich habe wohl gesehen, daß der Dummkopf von Savezzo dir einen Strega-Likör ausgeschüttet hat, und kann mir denken, daß es deine einzige Flasche war. In einem Geschäft wie meinem gibt es mehr davon; da hast du eine, ich helfe dir aus. Man muß vernünftig sein, die Stadt wird uns beide nähren.«

»Alle glücklich!« – und der Herr Giocondi kniff seine Frau in die Wange, so daß sie müde lächelte. »Unsere Töchter werden Männer bekommen, denn in meiner denkwürdigen Unterredung mit Don Taddeo hat er mir versprochen, euch welche zu verschaffen. He, was sagt ihr zu eurem Vater, der an nichts denkt als nur an euch?«

Er machte den Mund spitz, und Cesira warf sich unter erstickten Jubelschreien mit den Lippen darauf. Die Augen der entlobten Rosina wurden blank und weich; sie dachte:

›Sollte es dennoch ein Glück geben?‹

›Das alles ist so schön, weil wir glücklich sind, Alba und ich‹, sagte Nello sich und ging, allein und unermüdlich, hin und her durch das besonnte Volk. Wie alles schwebte, wie alles traumhaft leicht war! Man wünschte, und es war da. ›Ich wußte nicht, wo ich mich verstecken sollte, wenn die andern fortziehen: da spricht mir der Cavaliere von dem Schneider! Es ist, als habe Gott ihn geschickt, oder als komme er von Alba selbst. Aber ich wußte wohl, die Menschen könnten nicht böse bleiben, wie sie heute nacht waren; sie müßten glücklich werden wie wir. Nun wollen alle mir wohl …‹

Und er schickte dankbare Blicke zu den beiden Fräulein Paradisi, die sich früher seinetwegen geschlagen, in dieser Nacht aber tobend auf ihn eingeschrien hatten und die jetzt für ihn ihre Fächer spielen ließen. Nina Zampieri hängte sich, wenn sie an Nello vorbeikam, fester in den Arm ihres Verlobten, des jungen Mandolini, und sie schlug die Augen nieder, als erinnerte sie sich an den Beifall, den sie in der Nacht dem Sturz des jungen Sängers geklatscht hatte, wie an eine unkeusche Handlung.

Überall aber war der Barbier Bonometti, starrte aus seinem großen Zahntuch jeden stolz an und rief:

»Der Advokat ist ein großer Mann!«

Dann sahen viele weg oder verschwanden. Nello Gennari hielt ihn an.

»Ihr habt recht behalten, Herr Bonometti, und die Euch mißhandelt haben, fürchten Euch jetzt. Aber da alle sich versöhnen, solltet nicht auch Ihr sie lieber schonen?«

Nello lächelte zärtlich, er dachte: ›Welch schöner Gedanke! Habe ich selbst ihn gefunden? Es ist Alba, die durch mich denkt: es ist Alba!‹ Er setzte noch hinzu:

»Auch werdet Ihr dem Advokaten damit nützen.«

»Wer recht hat, sind Sie!« – und Bonometti riß sich das Tuch ab, er warf es in die Luft.

»Es lebe der Advokat!«

Da riefen alle mit, und der Advokat machte Kratzfüße. Plötzlich stürzte er sich auf die beiden Fräulein Pernici, die nicht mitriefen und die lange Mienen hatten.

»Wie? Es gibt noch Mitbürgerinnen, die nicht zufrieden sind? Ich weiß, meine Damen, Sie haben Schaden erlitten. Ich könnte Ihnen erwidern, daß Sie nicht nötig hatten, mit Ihren Federhüten auf dem Arm sich ins Gedränge zu begeben; aber ich werde es nicht erwidern. Die Furcht verdunkelte in Ihren, wie in unser aller Köpfen das Bild der Tatsachen. Auch war keine Dampfspritze da. Das ist die Wahrheit, die ich niemals leugnen werde: es war keine Dampfspritze da. Und darum, o meine Damen –«

Er bewegte den Arm über den Kreis der Zuhörer.

»– da Don Taddeo dem Malandrini sein Haus bezahlt: die Frauen nennen mich ihren Freund, sie sollen sich nicht geirrt haben: ich bezahle Ihnen Ihren Putz.«

Alle Hände rasten, – und der Advokat, die Brust gewölbt unter dem großen rostigen Schlüssel, suchte weiter.

»Gaddi!« – mit weit ausgestreckten Händen. »Sie, der Sie heute nacht an Bürgertugend uns alle übertroffen haben, wollen Sie uns denn wirklich verlassen? Wir verlieren Sie, Freund, mit Schmerz.«

Es sei nun so, erwiderte der Bariton, was soll man machen.

»Eh! und wenn wir Sie dabehielten? Ich will mit unserm Gemeindesekretär sprechen; er ist mein lieber Freund, ich bin sicher, daß er Ihnen in einem unserer Büros einen Posten als Vorstand gibt. Sie sind ein Familienvater, Gaddi, ein tüchtiger Mann. Wie? Kein Umherziehen mehr, keine Sorgen!«

Gaddi sagte:

»Die Sache verdient, überlegt zu werden … Und doch, nein. Ich danke Ihnen, Herr Advokat. Man stiege nicht länger in Lokalzüge, und die Zukunft wäre sicher, wohl wahr. Aber hätte man noch solche Freunde? – und würde man noch wie jetzt, so mittelmäßig man immer singen mag, zuweilen die großen Dinge fühlen, die das Leben hat?«

»Eh! auch andere fühlen sie … Sie wollen nicht? Es ist schade, denn Sie wären wert, einer der Unseren zu sein.«

Und da er den Cavaliere Giordano gewahrte –

»Sie wenigstens, Cavaliere, werden uns bleiben, auf marmorner Tafel. Ihr großer Name verläßt nie wieder die Stadt!«

Der alte Tenor geriet in Bewegung.

»Meine Gedenktafel ist also nicht abgelehnt?«

»Abgelehnt oder nicht: der Gemeinderat wird glücklich sein, seinen Irrtum berichtigt zu sehen. Beim Bacchus, ich werde ihm keine Tafel am Rathaus mehr zumuten. Man muß als Politiker handeln, der mit den menschlichen Schwächen rechnet: ein Mann wie Sie, Cavaliere, versteht mich. Aber – he, Malandrini!«

Er holte den Wirt herbei.

»Sie, Malandrini, dem Don Taddeo sein Haus neu aufbaut, werden sich nicht weigern, auf Ihre Kosten eine Gedenktafel für Ihren berühmtesten Gast daran zu befestigen.«

»Aber es war nicht mein Gast«; sagte Malandrini.

»Ich war nicht sein Gast«, sagte der Cavaliere Giordano. Der Advokat fuchtelte.

»Wenn schon! Soll an solcher Kleinigkeit ein großer Plan scheitern? Die Nachwelt, Cavaliere, wird Ihren Ruhm bewundern, wo immer sie ihn findet.«

»Ich sage nicht nein«, erklärte der Wirt. »Vielleicht, daß die Engländer kommen, um die Inschrift zu lesen.«

»Welch schönes Genie ist das Ihre!« – und der alte Sänger fiel dem Advokaten um den Hals.

 

Aber die Menge tat einen Stoß gegen die Treppengasse. Dort in der Ecke stand schimpfend auf seinem Postwagen das rote Gesicht des Kutschers Masetti.

»Man fährt nicht ab! Die Komödianten sollen hierbleiben!« befahl das Volk.

Der Advokat eilte hinüber; er stellte den Antrag, vor der Abreise der Komödianten sollten alle auf dem Platz frühstücken. Masetti schrie umsonst, es sei zehn Uhr; wenn man schon das Ende der Messe abgewartet habe –

»Herunter!« schrie das Volk und holte ihn vom Bock. Schon hatte es die Tische des Gevatters Achille und des Freundes Giovaccone schräg über den Platz geschoben, daß sie unter den Rathausbogen zusammenstießen. Man deckte sie, die Frauen schleppten ihr Geschirr herbei. Mama Paradisi trug selbst ihre riesige Suppenschüssel auf, der Krämer Serafini brachte Würste, und im Nu war die Witwe Pastecaldi mit ihren berühmten Ölkuchen zurück. Der alte Zecchini und seine Zechbrüder verfolgten den Kaufmann Mancafede, bis er von seinem Wein hergab. Polli hatte seine Frau, Olindo und die gelbhaarige Schwiegertochter mit Zigarren beladen.

»Eh! an einem Tage wie diesem muß man wohl die Frau aus dem Laden holen und ihn zumachen.«

Die Armen tränkten, in den Schatten der Häuser gelagert, ihr Brot mit Öl. Coletto klingelte an seinem Karren mit Kuchen; er machte dabei Pipistrelli nach, wenn er betete; und die Mädchen gingen fächelnd um den Karren herum, blinzelten und warteten, daß jemand ihnen etwas anbiete.

»Komm her, Corvi! Es gibt zu essen auch für die, die nichts haben.«

Frau Zampieri, Nina und der junge Mandolini aßen nicht, sie verteilten ihre Vorräte unter eine große Runde von Kindern, – indes Gesellen und Mägde die Hühnerlucia aus ihrer Gasse zogen.

»Sie soll neben dem Advokaten sitzen! Die Hühnerlucia neben dem Advokaten!«

Der Advokat empfing sie mit einer Verbeugung.

»Was denn! Es war Scherz. Neben dem Advokaten ist der Platz des Don Taddeo. Wo ist er?«

»Wie?« rief Galileo Belotti und versperrte dem kleinen buckligen Schreiber aus Spello die Rathausgasse, in die er entwischen wollte. »Habe ich vielleicht nicht recht? Sie sind buck–«

Er verschluckte das Wort.

»Aber darum sind wir doch alle gleich.«

Und er ging Arm in Arm mit ihm zu Tisch.

»Don Taddeo ist nicht zu finden! In der ganzen Stadt nicht!«

Teufel, ihm war etwas zugestoßen. Was denn! Gewiß schlief er, und man sollte ihn lassen, denn er hatte sich mehr ermüdet als alle andern. Auf die Gesundheit des Heiligen!

Der Advokat führte statt der Hühnerlucia, strahlend und schwänzelnd, Frau Jole Capitani auf den Ehrenplatz unter den Bogen, und an seine andere Seite nahm er den Cavaliere Giordano. Aber man ließ ihn sich nicht setzen.

»Der Chiaralunzi will weggehen, weil in seiner Nähe der Maestro sitzt!«

Der Advokat griff ein.

»Zwei Männer wie ihr! Niemand hätte euch zugetraut, daß ihr dies bürgerliche Fest stören würdet. Da Ihr Euch mit Eurer Frau versöhnt habt, Chiaralunzi –«

Denn die Frau lächelte, wenn auch mit geschwollenen Augen.

Der Maestro habe sie verleumdet, wiederholte der Schneider störrisch, er sei nun einmal sein Feind. Der Advokat behauptete, der Maestro habe das nur gesagt, um etwas Witziges zu sagen.

»Ihr wißt wohl, Chiaralunzi, daß es komisch ist, wenn die Frau den Mann betrügt.«

Der Kapellmeister spreizte die Hand.

»Haltet mich für einen Intriganten, obwohl ich nur zornig war, – aber glaubt nie wieder, oh, glaubt nie wieder, daß ich die Wahrheit gesprochen habe! Wie könnte ich's ertragen, Euch unglücklich gemacht zu haben, ich, der ich jetzt so glücklich bin.«

Er schluchzte; kaum verstand man ihn. Der Advokat sagte mit erschütterter Stimme:

»Könnt Ihr zweifeln?«

Der Schneider ward langsam rot, schnaufte unruhig, – und plötzlich griff er nach der Hand des andern. Der Advokat klatschte Beifall.

»So haßt ihr euch denn nicht mehr.«

»Haßten, wir uns wirklich?« sagte der Kapellmeister. »Es war wie der Haß eines andern, durch Zufall aufgelesen. Man wirft ihn nicht weg, weil man ihn hat. Es scheint, daß der menschliche Haß in unserem Stolze wächst; weil man ungerecht war, wird man noch ungerechter. Aber das größte Unrecht tut man sich selbst. Wie hätte ich noch meine Oper schreiben können!«

Zum Advokaten:

»Denn Sie glauben nicht, wie gut man sein muß, um zu schaffen.«

»Eh! wem sagen Sie das«, erwiderte der Advokat.

Dahinten, im Winkel bei der Treppengasse, lehnte Flora Garlinda sich zurück, betrachtete das Schmausen, unbedachte Schwatzen, das vertrauensvolle Gelächter, die Verbrüderungen … »Welch ärmlicher Betrug! Als ob man etwas hätte außer sich. Güte? Alles Große ist ohne Güte. Don Taddeo hat sich geirrt, als er herabstieg, und er wird es merken. Uns gebührt keine Gemeinschaft … Dennoch wird dem Unschuldigen dort der Weg geebnet, er geht zur Gesellschaft Mondi-Berlendi, indes ich weiter vor Bauern singe. Es ist anders gekommen, als ich dachte. Ich werde es wohl schwerer haben als er? Trotz meiner Bereitschaft, und obwohl ich ein so hartes Leben führe?«

»Hört doch, Fräulein!« riefen Zecchini und die Trinker, »Ihr sollt etwas singen. Da ist Wein, um Euch zu stärken. Kommt her!«

»Flora!« sagte, ihr gegenüber, Italia und wendete sich um, soweit die Aufmerksamkeit auf den jungen Severino Salvatori es ihr erlaubte, denn er wollte sie küssen. »Flora, man ruft dich! … Ah, sie hört nicht. Sie ist ein Mädchen, das zuviel denkt; drum hat sie auch schon Falten wie eine Alte.«

Die Primadonna sah hin, mit seltsam tiefen und starren Augen, die das Gesehene sogleich wieder verloren hatten.

»Er ist also sympathisch. Und er ist ihnen sympathisch, weil er sich ihnen gleichmacht; weil er ihnen gefällig ist, weil er mit ihnen das Herz tauscht. Aber es gilt, um groß zu werden, sein Herz ganz fest zu halten … Heute tritt er jenem Alten seine Geliebte ab und nimmt dafür den Lohn. Morgen wird er den Leuten seine Musik verkaufen. Nein! Er hat mich nicht überholt; und es könnte sein, daß dies der Tag ist, an dem sein Untergang begann. Möge er noch eine Weile die lustige Sympathie der Gassen haben, – bevor die große Kunst meiner Leidenschaft darüber hinfährt.«

Ihr Stuhl bekam einen Stoß. Jungen, die auf allen vieren unter den Tischen krochen, schnappten nach Bissen wie Hunde. Der weiße Koch von den »Verlobten« traf mit einem riesigen Kessel ein, und alles stürzte sich darauf. Der Cavaliere Giordano rief umher nach Nello Gennari. Frau Camuzzi hielt ihn zurück.

»Ich errate, Cavaliere, daß Sie im Begriff sind, eine Dummheit zu machen. Sie wollen dem jungen Manne sagen, er solle nicht mehr zum Schneider gehen.«

»Sie haben sich versöhnt! Ich bin gerettet, verstehen Sie? gerettet«, – und der Alte hüpfte auf. »Die Unsichtbare hat das Nachsehen, ich sterbe noch lange nicht!«

»Ich werde für Sie beten«, sagte Frau Camuzzi. »Aber darum trägt dennoch der Schneider Hörner. Wie? Ein Mann von Ihrer Erfahrung merkt nicht den Zusammenhang? Die Frau des Schneiders und der Gennari kennen sich schon längst.«

Da der Alte zurückwich –

»Machen sie sich doch sogar Zeichen! Man hat die beiden Tenöre verwechselt und den Verdacht auf Sie geworfen, Cavaliere. Ist es zu verwundern, daß man den Besieger der Frauen in Ihnen sieht?«

Frau Camuzzi seufzte. Der Alte wendete angstvoll den Kopf umher.

»Er darf nicht mehr zu der Frau des Schneiders gehen«, jammerte er. »Wenn der Schneider aufs neue Mißtrauen faßt, schlägt er, ohne hinzusehen, mich tot! Ah! was für verwickelte Dinge. Nello!«

Frau Camuzzi packte hart seine Hände.

»Schweigen Sie! Schweigen Sie doch!« zischelte sie, und ihr Mund stand verzerrt offen in ihrem kleinen, bleichen Kopf. Er hielt auf einmal still, er musterte sie aus gekniffenen Lidern. Sie ließ ihn sofort los und schlug die Augen nieder.

»Wie Sie mich quälen«, murmelte sie. »Schon so lange, ach, verrate ich Ihnen meine Eifersucht auf die Frau des Schneiders, aber Sie, Böser, wollen nichts sehen.«

Mit einem Ruck bekam der Alte eine Miene voll gnädiger Zärtlichkeit.

»Beruhigen Sie sich, nur meine allzu große Liebe zu Ihnen war schuld, daß ich nichts sah.«

Sie schickte vom Rande des Lides einen raschen Blick umher. Ihr Mann fuchtelte zusammen mit dem Advokaten. Polli, der Bäcker Crepalini, Malagodi, der Apotheker, Herren und Mittelstand lagen sich ringsum geräuschvoll in den Armen.

»Jetzt wissen Sie es, Grausamer. Sie werden geliebt.«

»Teure Frau! Welches Feuer ich fühle!«

Da sah sie auf. Der Alte erbebte.

»Wenn Sie nicht mehr an die andern denken wollen, nur noch an mich –. Gehen Sie nach Hause, ich folge Ihnen.«

 

In dem rauhen Gesang der Trinker schwebte, dünn und durchdringend, die Stimme des Kaufmannes Mancafede.

»Trinkt nur! Es ist mein Wein, und er kostet euch nichts. Wenn es nichts kostet, würde sich auch die Madonna betrinken. Dies Glas aber bekommt sie nicht.«

Und er goß es hinunter. Die Höhlen in seinen Wangen waren rosig, und seine gewölbten Hasenaugen glänzten wie Glas. Der alte Zecchini schlug ihn auf den Rücken; ob seine Tochter es vorausgewußt habe, daß er heute am hellen Tage betrunken sein werde.

»Eh!« machte der Kaufmann. »Wenn sie es nicht gewußt hat, sieht sie es auch jetzt noch früh genug.«

»Aber das Unglück?« fragte der Bariton Gaddi. »Ihre Tochter hat doch prophezeit, daß ein Unglück geschehen solle, während wir Künstler da seien. Heute reisen wir ab: wo ist nun das Unglück? Vielleicht kommt es noch?«

»Warum soll es noch kommen? Ist es nicht schon Unglück genug, daß ich euch meinen Wein geben muß?«

Und der Kaufmann begann zu kichern. Er krümmte sich über seinen Magen und ward blau. Man wich mit den Stühlen zurück.

»Ob man dich jemals so gesehen hat, Mancafede!«

»Gebt acht! Ich sage euch etwas.«

Und als er genug Luft hatte –

»Meine Tochter ist – ist eine –.«

Der Schluckauf fuhr dazwischen. Mit unsicherer Hand machte der Kaufmann nach dem verschlossenen Fensterladen seines Hauses eine lange Nase. Entsetztes Murren erhob sich. Die Trinker brüllten.

»Still da!« rief man. »Der Tenor singt.«

Denn Nello stand auf einem Tisch, hatte den Kopf in den Nacken gelehnt und sang in den blauen Himmel hinein:

»Sieh, Geliebte, unser umblühtes Haus –«

Alle drängten sich zusammen unter den Rathausbogen, im schmalen Schatten der Leinendächer: nur er hatte das weiße Gesicht mit den scharfen kleinen Spitzen der Wimpern nach der Sonne gebreitet, und wenn die Leidenschaft der Töne seinen Kopf schüttelte, schwankte ihm das Haar, düster glänzend, in die Stirn.

»Immer die ›Arme Tonietta‹«, sagte der Herr Giocondi. »Diese jungen Leute wissen entschieden nichts weiter.«

»Tut nichts«, – und Polli tätschelte seine Schwiegertochter. »Da nun einmal diese in die Familie eintritt, soll sie manchmal des Abends mit dem Phonographen zusammen die ›Arme Tonietta‹ singen, und man lädt die Freunde ein.«

»Wir wissen nicht von Schatten, noch Tod. Unser Himmel ist rein und ewig unser Glück«, schloß Nello, und sein hoher Ton dauerte, dauerte … Zuletzt hielten alle den Atem an und starrten, dem Schrecken nah: als schnitte durch den Himmel der unvergängliche Ruf eines Unsterblichen, eines Marmors, glühend von ungeheurem Leben.

Plötzlich sprang er herab.

»Welch tüchtiger Junge! Wir werden ihn nie vergessen.«

Alle griffen nach ihm. Mama Paradisi wogte fassungslos; sie küßte ihn laut auf beide Wangen. Wie er schwindlig unter der schwarzen Wolke ihres Hutes hervortauchte, zog Gaddi ihn in das Tor der Post.

»Auch ich, mein Nello, nehme nun von dir Abschied. Ich will dich nicht mehr warnen …«

Da Nello die Hand bewegte –

»Ich weiß, es wäre umsonst. Auch kenne ich keinen vernünftigen Grund, weshalb ich Furcht habe um dich. Aber ich habe Furcht. Ich ahne dich hier in einem Netz. Durchbrich es! Komm mit uns! Nein: ich weiß, daß du nicht kannst, und ich sollte schweigen. Aber ich sehe Blicke, die dich treffen, ich bin seltsam hellhörig; ich erscheine mir wie eine Frau und lächerlich.«

»Du bist nicht lächerlich, Virginio, du bist mein Freund So wohl wie du will keiner mir von den Menschen. Alba: ah! das ist mehr als menschlich.«

»Die Sache ist«, sagte Gaddi, »daß du der späteste Freund meiner Jugend bist. Solange ich dich jung sehe –. Als wir Freundschaft schlossen, war auch ich es fast noch. Erinnerst du dich an jenen Abend am Meer in Sinigaglia? Wir hatten nichts zu essen und brachen Muscheln von den Pfählen. Für die Nacht gingen wir in eine Sandgrube und fanden dort ein Mädchen, in das wir uns teilten. Die Zeiten sind vorbei.«

Nello lachte hell auf.

»Ja, sie sind vorbei. Aber es kommen immer schönere.«

»So grüße ich dich denn«, – und Gaddi umarmte ihn lange. »Adieu, mein Bruder!«

 

Gerade keifte der Bäcker Crepalini gegen den dicken Corvi, der noch immer aß. So sei es nicht gemeint, und er solle nicht die ganze Stadt bankrott essen, weil er selbst es sei. Der dicke Alte blinzelte gelassen; er erklärte:

»Ich esse, weil der Advokat ein großer Mann ist. Lange genug hat man nicht gewußt, was man glauben, zu wem man halten sollte. Jetzt, Gott sei Dank, habe ich wieder Appetit. Es lebe der Advokat, und es lebe die Freiheit!«

»Denn der Advokat«, sagte der Apotheker Acquistapace, »ist, und das findet Ihr nicht wieder, ein großer Mann, der die Freiheit liebt.«

Der Bäcker bellte:

»Er liebt die Freiheit, er liebt die Freiheit. Aber wir haben es ihn erst lehren müssen, sie zu lieben, indem wir ihm die Zähne zeigten. Die Freiheit ist eine gute Sache; darum soll man genau achtgeben, daß niemand zuviel davon nimmt.«

»Bravo, Advokat!« riefen alle, denn der Advokat erkletterte den Tisch in der Sonne. Er stellte die Hand vor sich hin und hielt die Brauen ganz hoch, bis es still wurde.

»Mitbürger! Unsre Künstler ziehen ab!« keuchte er, und schon ward geklatscht. Er wiederholte und bewegte den steilen Finger hin und her:

»Sie ziehen ab; aber sie verlassen uns anders, als sie uns gefunden haben. Durch große Dinge –« und er hob sich auf die Zehen, »durch große Dinge sind wir hindurchgegangen … Aber so warte doch, Masetti!«

Denn der Kutscher war nicht länger zu halten. Er klapperte mit seinem Gefährt aus dem Tor der Post und drohte alles umzuwerfen, wenn man ihn nicht durchlasse.

»Auch du, Masetti«, rief der Advokat, den Arm hingestoßen, »hast noch zu lernen, daß der Wille aller ehrwürdiger ist als ein einzelner, mag er sich selbst auf Regeln und Gesetze berufen!«

Er kehrte zum Volk zurück.

»Und mehr Schlimmes, mehr Gutes hat in wenigen Wochen unsere Herzen und Gassen erregt, als sonst durch Jahre.«

»Es ist wahr!«

»Was sind wir? Eine kleine Stadt. Was haben jene uns gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch –«

Der Advokat machte die Arme weit.

»– wir haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein Stück vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit!«

Er zog die Hände vor die Brust und sah beglänzt in den Beifall. Dann, mit einem großen Schwung und die Hände schwenkend droben in der Luft:

»Darum leben die Komödianten und lebe die Stadt!«

Alle wollten ihm herunterhelfen, und alle schrien: »Sie leben!« – indes schon die Tische fortgetragen wurden und die Hausfrauen ihr Geschirr retteten, bevor Masetti hineinfuhr.

»Warum weinst du denn?« fragte Galileo Belotti seine Schwester Pastecaldi und stieß ihr die Knöchel in die Seite. »Kann etwa eine andere Familie sich rühmen, daß sie solch einen Buffonen in ihrer Mitte hat wie wir? Kein Grund zu weinen.«

Aber er selbst riß die Augen auf, damit sie nicht überschwemmt wurden.

 

Masetti knallte mit der Peitsche, und aus den Gassen eilten die Komödianten. Der Wirt Malandrini drückte die Hände seiner Gäste, des Fräuleins Italia und des Herrn Nello Gennari, und er bat sie um Entschuldigung wegen der Störung ihrer letzten Nachtruhe. Die Primadonna Flora Garlinda kam, die Hände in den Taschen ihres Mantels, aus der Gasse der Hühnerlucia, und vor ihr her trug der Schneider Chiaralunzi wie bei ihrer Ankunft ihren kleinen Koffer turmhoch auf seinen Schultern. Der Cavaliere Giordano verabschiedete sich gnädig von allen, er ließ ringsum den Brillanten blitzen. Und wie in einem Windstoß flatterte aus allen Spalten der Stadt, mit den leichten Farben der Blusen, der gefärbten Haare und bemalten Gesichter der Schwarm der kleinen Choristinnen, fremde Insekten, aufgestört, man weiß nicht wovon, die noch einmal die alten Häuser entlang schillern und stäuben und sogleich verweht sein werden, man weiß nicht wohin.

Sie sollten auf den Gepäckwagen klettern; der Bariton Gaddi beaufsichtigte, in fester Haltung, das Laden, er hob seine Familie hinauf; – und inzwischen mußten sie den jungen Leuten, die ihnen die Bündel trugen, ewige Treue schwören. Renzo, der Gehilfe des Barbiers Bonometti, ließ seine kleine Bunte nicht aus den Armen, er wollte bei ihr bleiben und Sänger werden; er versuchte seinen Tenor zu zeigen und brachte vor Aufregung keinen Ton fertig. Die Freunde trösteten ihn; er solle ein Stück mitfahren, auch sie kämen; und sie holten ihre Räder.

»Wir alle kommen mit!« – und das Volk nötigte Masetti, der durchgehen wollte, im Schritt zu fahren. Kaum in der Rathausgasse, mußte er halten: der Tenor Nello Gennari rief nach seinem Freund Gaddi, auch er wolle im Leiterwagen nachkommen, und er stieg aus.

Masetti schrie auf die Pferde ein, da lief noch der Baron Torroni, zur Jagd gerüstet, hinterher. Auch Polli, Acquistapace, der Kaufmann Mancafede und der Herr Giocondi wollten mit hinein. Italia schluchzte immerfort.

»Und der Advokat?« fragte sie, wehte mit dem Tuch und schluchzte.

Die Primadonna Flora Garlinda reichte noch einmal die Hand aus dem Fenster nach dem Schneider Chiaralunzi, der reglos dastand und sie ansah. Er stürzte vor mit plötzlich verstörtem Gesicht; aber der Wagen rollte schon wieder, der Schneider verfehlte die Hand, er stolperte. Alle lachten; aber Flora Garlinda nahm ernst von ihrer Brust eine kleine staubige Rose aus Leinen und warf sie an die Brust des Schneiders.

Der Kapellmeister Dorlenghi stand abgewendet und sah zu Boden. Man verlangte, daß er mit der ganzen Musik ausziehe, aber da begann er die Arme zu werfen: »Ich soll hinter diesen armseligen Komödianten hermarschieren? Ich, der ich in Venedig die großen Opern dirigieren werde?« – und auf einmal brach er in Tränen aus. Das Volk schwieg, es ließ ihm eine Gasse; er entkam.

»Abfahrt! Alle hinterher!« – und als die Diligenza durch das Tor fuhr, wimmelte schon die ganze Rathausgasse. Die jungen Leute mit großen Hüten und bunten Halstüchern überholten im Eilschritt die Post, sie ließen die flinke, klirrende Musik ihrer Mandolinen dem Zuge voranspringen. Mitten darin tänzelte das Pferd des jungen Severino Salvatori, der leichte Korb wippte zwischen seinen zwei großen Rädern, und, ah! er hatte sie aufsteigen lassen, der schöne Herr – bunt schwirrend quoll es heraus von kleinen Choristinnen. Sie saßen übereinander, sie hingen dem jungen Salvatori um den Hals, nahmen ihm, indes er auf seinem niedrigen Kutschbock die Beine bis unter das Kinn hinaufzog, das Monokel aus dem Auge und setzten es, ohne daß er die elegante Miene verzog, wieder ein. Vor ihnen auf bliesen der Chiaralunzi und seine Freunde aus vollen Backen in ihre Instrumente, und, versteht sich, hinten lärmte um so mehr der Barbier Nonoggi mit seiner Bande.

Was die Damen in dem weiten Landauer des Wirtes »Zu den Verlobten« für betäubte Gesichter machten! – und dennoch erklärten alle, sie wollten bis Spello mitfahren. Eh! sie hatten es bequem, aber ringsum das Volk mußte sich wehren, weil der Schlächter Cimabue mit seinem Fleischwagen, worauf er seine Freunde hatte, durchaus allen voraus wollte. Der Krämer Serafini sagte zu seiner Frau:

»Du glaubst doch nicht, daß er sie zum Vergnügen hinauskutschiert? Bei der Rückkehr wird er ein Kalb mit einschmuggeln. Denn auch die vom Stadtzoll sind ausgezogen.«

Sie antwortete:

»Dann könnten auch wir vom Rufini die Weintrauben holen.« Und sie liefen zurück, um den Karren zu nehmen. Noch immer kamen Leute. Die Männer trugen die Kinder, die Frauen fächelten sich, ihre hohen Absätze klappten, und: »Guten Tag, Sora Anna, so begleitet man denn die Komödianten nach Spello. Welch schöne Sonne!« – da schlug schon Staub hinter ihnen auf. Die letzten eilten nach.

»In der Stadt ist keine lebende Seele mehr! Die nicht gehen konnten, haben sich wieder Beine gemacht. Seht nur! Die Frau Nonoggi fährt ihre Schwiegermutter auf einem Schubkarren. Man muß ihr helfen.«

Sie waren beim Waschhaus, da kam von rückwärts Getrappel. »Es scheint, daß es der große Schimmel des Schmiedes ist; aber wer sitzt darauf? … Beim Bacchus, der Advokat! Gruß Ihnen, Herr Advokat!«

Der Advokat grüßte zurück mit dem Strohhut und wippte dabei auf seinem, breiten Roß.

»Ist's erlaubt?« fragte er das Volk. Es antwortete:

»Ob es erlaubt ist! Das ist nicht wie mit dem Schlächter. Nur vorwärts, Advokat, Sie gehören an die Spitze.«

»Der Advokat an die Spitze!« – und alles wich aus nach beiden Seiten. Den Mund ein wenig offen von der Anstrengung, aber glorreich lächelnd, ritt der Advokat hindurch.

»Da ist auch Galileo! Es lebe der Esel des Galileo!«

»Versteht sich, daß er lebt!« polterte Galileo unter seinem glockenförmigen Strohhut; und streng hinausspähend über den blauen Klemmer, durchmaß er, im eiligen Getrippel seines kleinen braunen Tieres, die Spuren des Advokaten.

»Der Advokat ist ein großer Mann«, erklärte er. »Aber auch wir sind nicht von Pappe.«

Den Damen im Landauer machte der Advokat, schief im Sattel, eine Verbeugung.

»Welch schöner Tag! Welch Bild der bürgerlichen Eintracht, Fruchtbarkeit und Größe!« – und er führte die Rechte weithin über Stadt, Felder und Volk. Dann aber fragte er nach dem Tenor Gennari. Sein Freund auf dem Gepäckwagen wisse nichts von ihm. Aus der Post sei er ausgestiegen.

»Aber er ist wieder eingestiegen«, erklärte Frau Camuzzi.

»Sie haben es gesehen?«

»Alle haben es gesehen, nicht wahr, ihr Damen?«

Der Advokat warf sich anmutig in die Brust für Jole Capitani, bevor er seinen Schimmel wieder in Trab setzte. Alles strahlte, wo er hindurchritt; und die Kinder klatschten, nun Galileo auf dem Esel kam.

»Aber – der Gennari?« rief der Advokat, sobald er bei der Diligenza anlangte. »Du hast ihn also nicht mit, Masetti? Weißt du wohl, daß wir für unsere Gäste verantwortlich sind?«

»Beruhigen Sie sich, Advokat«, – und der Cavaliere Giordano winkte ihn ans Fenster, »es ist ein Zwischenfall von eher heiterer Art.«

Er flüsterte, und der Advokat schmunzelte.

»Ah! ihr Künstler. Ich hätte es mir denken können. Galante Abenteuer bis zum letzten Augenblick! Aber die Schönste von allen – das ist die Rache von uns Bürgern – die Schönste hat keiner von euch zu sehen bekommen. Denn sie tritt selten aus ihrem Schatten hervor …«

Und er wies auf den schwarzen Garten, dessen Kühle soeben die Vorbeiziehenden ergriff. Sie legte sich einem auf die Schultern, sie hatte den toten Duft uralter Zypressen; man wendete, zusammenschauernd, den Kopf, und bis man aus dem Knie der Straße heraus und wieder in der Sonne war, schwieg man. Dann sagte der Advokat:

»Dort wohnen die einzigen, die sich um euch nicht bekümmert haben. Bekümmern sie sich doch auch um uns nicht. Es ist erstaunlich, aber es gibt Menschen, denen die Stadt nichts gilt; Fanatiker, die den großen Dingen der Menschheit fremd bleiben. Ein enger Garten, und dann der Tod: das ist alles.«

Und eine Strecke weiterhin:

»Aber es ist ein Ort mit schwerer Luft. Am selben Fleck, wo man jetzt im Banne des Klosters lebt, haben einst die Häuser jener Hetären gestanden, die der Venus als Priesterinnen dienten und zuweilen sogar ihr Blut über den Altar der Göttin gossen.«

Er schrie in die Musik hinein, denn jenseits des Gartens fing Chiaralunzi mit den Seinen aus ganzer Kraft ein neues Stück an, und die Bande des Barbiers ließ sich nichts nehmen. Es war der Hochzeitsmarsch aus der »Armen Tonietta«; alle sangen ihn mit: ein wenig leiser und unsicherer, solange sie in dem düsteren Winkel gingen, und um so herzhafter, wenn sie draußen waren.

Und als die Räder und die Mandolinen, die Diligenza, der Advokat, Galileo und das Volk, die beiden Banden, der Korb voll Choristinnen und das Volk, die Damen im Landauer, das Gefährt des Schlächters, der Gepäckwagen mit Gaddi und dem männlichen Chor, das Volk ringsum und das Volk dahinter, bis zu den Kleinen, die die noch Kleineren im Staub nachschleppten, bis zu einem Paar, das sich versäumte, bis zu der alten Nonoggi auf ihrem Schubkarren: als sie alle einige leisere Atemzüge lang den Schatten von Villascura auf sich getragen hatten und ihm entronnen waren ins Licht, da bewegte er sich; ein Gesicht schimmerte hervor.

 

Alba hielt hinter sich die Hand am Gitter, zog den Schleier enger um den Kopf, späte vorgeneigt … Noch hing der Staub der Menge in der Luft. Ein Zucken – sie lief. Sie lief der Stadt zu, ungeschickt als sei's in einem Gedränge, mit ungeregeltem Atem, angstvoll geöffnetem Munde, – und immer krampfte ihre Hand sich auf der Brust, zwischen den dichten Knoten des Schleiers.

Plötzlich, ein Ebereschenbusch stand blutrot im Graben, riß sie den Schritt zurück, sah entsetzten Blicks in den leeren Staub der Straße, als läge irgend etwas Grauenhaftes quer darin, – und dann taumelte sie, die Hände vor das Gesicht geschlagen, auf einen Stein.

Sie hob die Stirn; die Reste der Musik klangen herüber, klein, ineinandergezogen, schwankend, und dazu ging das Glöckchen einer Kapelle in den Feldern. Ihr war es, alle jene Stimmen sängen ihr nach; sie wiederholten, als sei es Traum und Neckerei, ihren eigenen Schmerz. So hatte Piero, als er die Tonietta verlor, im Hochzeitszuge weit dahinten die Flöte der Pifferari gehört! Und das machte, daß Alba aufstand und, den Kopf gesenkt, auf den Heimweg trat. War ihr Schmerz nicht auch seiner? Gingen unser aller Schmerzen nicht ein in die große Harmonie der Welt?

Schwindelnd warf sie sich wieder herum und lief weiter: in Stürzen, mit Pausen der Atemlosigkeit, des Wankens. Einmal blieb sie stehen und sah, langsam den Kopf schüttelnd, umher. Der Wind roch noch immer nach dem Rauch auf den Feldern, sanft wie je glänzte das Öllaub, der Himmel war blau, – und Alba rang zu den kühlen Bäumen hinan die Hände.

Vor dem Stadttor blieb sie, das Taschentuch in den Mund gewühlt, daß niemand sie atmen höre, hinter der schwarzen Säule und horchte. Keine Stimme in der Zollwache, auf dem Pflaster kein Fuß. Sie griff sich an die Stirn; war's nicht vielleicht Lüge und Wahnsinn? Wenn sie bis zwanzig zählte und es blieb still, wollte sie umkehren … Ein Hahn krähte, sie trat ein.

Sie schlich auf den Zehen, sie tastete an den Häusern hin. Von einem Blinken in einer schwarzen Tür fuhr ihr Herz auf. Endlich: der Platz; sie lugte hinaus, er lag grell und leer. Eine Katze, die in der Sonne ihren Buckel machte, entfloh. Der Brunnen rann schwach. Welche zitternde Müdigkeit! Wie schwer die Füße! Kaum daß sie noch bis zur Gasse der Hühnerlucia gelangte, und sie fiel auf die Mauer und schloß die Augen.

Die Stille fing an; zu schwingen und zu dröhnen, als gingen alle Glocken der Stadt; und durch den Lärm ihres Fiebers hindurch neigte sie das Ohr nach der Ecke der Gasse. Die Sonne brannte ihr auf den Lidern, den klaffenden Lippen; ihr Rücken glitt kraftlos von der Wand ab, in dem Knoten des Schleiers krampfte sich ihre Hand; – Alba wartete und lauschte.

 

In der leeren, verstummten Stadt, stumm, als wartete sie mit Alba, geschah eine unmerkliche Regung: jener Fensterladen hinter dem Glockenturm zitterte, ganz sacht zitterte er und hob sich ein wenig.

Und am Ende der Stadt; hinter dem Corso, in seinem luftigen Zimmer oben auf der Schmiede setzte der Kapellmeister Dorlenghi über die Stühle weg, hielt sich keuchend das Herz, jagte weiter. Nur einmal stockte er jäh, wie vor etwas Unüberschreitbarem, ließ die Lippe hängen und die Hände sinken … Ein trotziger Satz: er hieb im Triumph auf das Klavier ein, und bei jedem Takt schnellte er mit kühnem Kopfrücken vom Sessel auf, als ritte er und hätte unter den Hufen die Welt.

Vom Glockenturm aber blickte Don Taddeo. Er stand in der engen Krone des Turmes, er sah unter sich nur den Ring der Zinnen. Von unsichtbaren Dächern stießen braune Falken zu ihm empor; um ihn wehte die Bläue; – und sein inständiger Blick folgte jenseits der Stadt, im weiten Land einem kleinen Gedränge, einem Häuflein Staub, das dahinschlich. Ein Korn dieses Staubes war die Welt gewesen! Es war Sehnsucht und Haß, Brunst und Erkenntnis, Sünde und Abdankung gewesen. Wo war es nun? Wer fand es heraus? Sie ging dahin, dahin. Welche Angst! »Noch einmal! O Gott, zeige sie mir noch einmal! Tue ein Wunder, zeige sie mir!« … Da ward feierlich sein Herz berührt. Don Taddeo kniete hin; Gott war vorbeigegangen, seine Worte klangen nach. »Da sie ein Korn Staubes ist, nimm allen Staub an dein Herz! Da du einen Menschen nicht lieben darfst, liebe alle Menschen!«

 

Ein Geräusch in der Gasse: Alba schlug die Zähne in die Lippe. Ein Schritt: der Kopf fiel ihr in den Nacken, sie griff um sich … Nein, noch nicht sterben, nicht ungerächt sterben! Sein unsichtbarer Schritt, näher und näher: wie er dumpf und schrecklich war! Er ging ihr auf dem Herzen, es spritzte Blut. Sie riß, verzerrt, am Schleier, sie würgte sich, schnitt sich, – bis endlich, endlich ihre Hand aufblitzte gegen diese verhaßte Brust.

Er brach in die Knie, gleich an der Ecke, mit einem erschreckten und unwissenden Blick. Dann sah er sie, seine Lippen bildeten, indes er vor ihr kniete, ohne Laut ihren Namen; und dann fiel er um. Er wälzte sich auf die Seite, wollte sich aufstützen …

Sie war taumelnd davongegangen, wenige Schritte, da drehte sie sich um sich selbst, wendete den Hals umher. »Allein? Allein? Ich wußte nicht, daß ich allein sein würde.« Und sie stürzte dahin, wo er lag, sie rüttelte ihn.

»Nello! Auf!« – den Atem angehalten.

»Böser, warum rührst du dich nicht?«

Und zusammensinkend, mit einem Blick in die leere Runde: »Habe ich es denn getan?«

Sie warf das Gesicht auf seine Brust, sie wimmerte, wimmerte …

Dahinten der Fensterladen zitterte heftig.

Alba trocknete sich das Gesicht an seinem Haar, sie küßte ihn auf den Mund und legte sich zu ihm, Leib an Leib. Indes ihre Hand am Boden suchte, sprach sie zu ihm:

»Die Sonne wärmt nun uns beide nie wieder. Wie es schon dunkel ist! Ich sehe mich nicht mehr in deinen Augen.«

Sie hatte das Messer gefunden; sie sagte:

»Wir Armen, die wir das Leben lassen mußten«; – und drückte es sich ins Herz.

Der Fensterladen hinter dem Turm klappte zu. Von den beiden dort am Rande des stillen, grellen Platzes zog sich, Strich um Strich, der Schatten zurück. Dann löste sich ein Glockenschlag, langsam und vergessen hallend … Als aber die zwölf gleichen Klänge vergangen waren, kam den Corso herauf ein dünnes Singen, eine Gespensterstimme mit einer Melodie, die kein Lebender kannte; – und der kleine Uralte trippelte geziert auf den Platz hinaus. Er zog den Hut, und er dienerte ringsum vor einer unsichtbaren Gesellschaft. Wie er jene beiden umarmt am Boden sah, wich er weit aus und legte, schelmisch lächelnd, den Finger auf die Lippen.

 


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