Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Römische Chronik

Zuerst erschienen in »Sie sind jung«, Paul Zolsnay Verlag, Berlin - Wien - Leipzig, 1926

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

I.
Ein Priester ist eifersüchtig auf einen Seiler

In Via del Portico kannten alle den Priester Gambi Emilio, einen jungen Mann von einundzwanzig Jahren, der fast täglich dort auftauchte, auf dem Weg, wie er sagte, nach Santa Prisca am Aventin, wo er seine Angelegenheiten habe. Es sah aber eher aus, als habe er sie im Laden des Seilers Campestri. Dort saß Frau Filomena, die formenbegabte Gattin des Seilers. Ihre Haut war von so goldiger Farbe, daß sie dem Priesterchen eine Sonne schien. So schön wie die Filomena fand er keine, obwohl ihr schwarzes Haar schon zu ergrauen anfing, denn sie war gut vierzehn Jahre älter als er. Die Seilerin widerstand seinen Anträgen und seinen Drohungen, die beide immer stürmischer wurden. Sie war vernünftig und lachte über einen so wenig ernsten Priester. Am meisten lachte sie, weil er immer wieder sagte, leichter noch könne er ganz verzichten auf ihren Besitz, als daß er sie dem Seiler lassen könne.

Anders der Seiler selbst, der dem Priester das Haus verbot. Auch sperrte er die Gattin ein, sobald der junge Mensch in der Gasse sich nur blicken ließ. Da aber der Priester immer häufiger kam, verbrachte Frau Filomena halbe Tage unfreiwillig in einem Zimmerchen hoch oben, das auf die leere und rauhe Mauer des Theaters des Marcellus hinausging. Die Langeweile erbitterte sie wohl, und eines Tages, als der Gatte aus Unachtsamkeit und weil ein Kunde rief, den Schlüssel an der Tür gelassen hatte, hinderte sie es nicht, daß der Priester heraufkam, vielmehr, es scheint, sie hatte ihm sogar ein Zeichen aus dem Fenster gegeben. Als der Seiler sich seines Versäumnisses bewußt wurde, war schon das geschehen, was er verhüten wollte. Er hatte dies vorausgesehen und gleich ein Seil mitgebracht, mit dem er die beiden Beleidiger seiner Ehre so fest zusammenband, wie sie es in ihrer höchsten Leidenschaft nur hätten wünschen können – worauf er fortging, um den Kommissar zu holen. Indes sagte Filomena zu dem Priester, der weinte vor Zorn: »Emilio, beiß doch auf das Seil, du bist näher daran mit dem Mund!« Er antwortete unter Tränen: »Aber ich habe schlechte Zähne«, und er würgte so lange an dem Strick, bis er ihn in die Nähe der ihren geschoben hatte, so daß sie zubeißen konnte, denn die ihren waren gut. Sie biß auch durch, wickelte sich los und dann ihn. »Lauf!« sagte sie und machte die Tür auf. Er hingegen wollte, daß sie mitkomme, und als sie sagte, es seien genug Dummheiten gemacht, jetzt müsse man wieder vernünftig sein, wollte er sie zwingen. Sie war aber stärker, stieß ihn fort und fing an, die Treppe hinabzusteigen. Doch hatte sie ohne seine große Eifersucht gerechnet; denn er wollte um alles und auch bei ihrem und seinem Verderben nicht, daß sie wieder dem Seiler gehöre. Und so machte er aus dem Seil eine Schlinge, die er der Frau von hinten über den Kopf warf. Als sie dann hingefallen war, ging er mit aller seiner Kraft daran, sie zu erdrosseln. Da kam der Seiler mit dem Kommissar, es war gerade noch rechtzeitig. Indes sie aber die Frau befreiten, rannte der Priester das Haus hinunter und hinaus, durch die Leute hindurch, die schon eindrangen. Er rannte durch die Straße Bocca della verita zum Tiber hinab, wo Santa Maria del Sole steht, und die Menge hinterher, zuletzt der Seiler, der »Haltet! Mörder!« schrie. So jagten sie den Priester mehrmals um den alten Tempel her. Da aber schließlich einige umkehrten und ihm entgegenkamen, wich er aus und lief stracks in den Fluß hinein. Schon sah man ihn versinken. Aber der Kahnführer Ribaldi Agostino, wohnhaft Via Lunga 34, rettete ihn noch. Er ward in das Hospital Santo Spirito gebracht, wo man feststellte, daß er in der Schulter eine Quetschung habe, verursacht durch einen Steinwurf und heilbar in fünf Tagen, unter Vorbehalt.

Die Filomena ist ohne Schaden davongekommen.

 

II.
Im CaféAragno

Im CaféAragno wird jetzt viel gelacht, und zwar auf Kosten eines jungen Mannes, dessen Vater schon manchen zum Weinen gebracht hat. Es ist Gigoletti Sohn. Sie kennen ihn? Dann wissen Sie wohl, weniger als zwanzig Prozent nimmt Gigoletti Vater niemals. Die guten Geschäfte des Alten hindern aber den Gogo nicht, stets ohne Geld zu sein; und so wurde seine Bekanntschaft mit Nina Valiera ein Dornenweg – Sie wissen, die Nina, die vorigen Sommer im Eden auftrat und mitten in ihrem Sing-Sang hinauslief, weil sie nicht weiter wußte. Es war ein einmaliger Versuch, sie ist reumütig zurückgekehrt in das Haus am Spanischen Platz, wo der schönste Teil ihrer Jugend verläuft. Gigoletti Sohn verbrachte dort vergebens manche Stunde, wenn er sie nicht im CaféAragno anschwärmte mit Karpfenaugen. Denn sie saß immer in einem Kreis von Herren, denen allen sie so gefällig wie möglich gewesen war, und nur ihn, Gogo, wollte sie nicht; er trottete einsam hinterher, wenn ein Glücklicher sie nach Hause brachte. Alle anderen Damen des Hauses kannte er schon genau, nur aus Liebe zur Nina, machte ihnen ihre Besorgungen und spielte Morra mit dem Koch, ganze Nachmittage, solange, bis die Nina ihr Zimmer verließ und ausging. Dann stieg er vor ihr aus dem Boden auf und sagte seine Gebete her, die immer gleich waren und sie ungerührt ließen. »Warum, o Nina, Göttliche, warum denn nur ich nicht?« – »Weil der Sohn eines Wucherers Geld haben muß, und du hast keins.« – »Ich werde Geld haben«, schwor er eines Tages. »Wirst du dann mit mir nach Tivoli fahren und nur mir gehören an dem Tage?« Sie ließ sich herbei, es zu versprechen, worauf Gogo vor seinen Vater hintrat: er wisse einen Erben, der Geld brauche. »Zwanzig Prozent«, sagte der Alte, »und wer ist der Erbe?« – »Ich«, sagte Gogo, »und ich habe Sicherheiten.« Hier überreichte er seinem Vater gewisse Wertstücke, die jener annahm, indem er seiner Gewohnheit gemäß darauf verzichtete, zu erforschen, woher sie kämen. Gogo mit dem Geld fliegt zu Nina. »Du hast Unglück«, erwiderte sie. »Denn jetzt mischt auch mein Vater sich hinein, heute ist er angekommen, sieh nur!« Gerade kommt ein Alter von der Straße herein und geht bescheiden, aber würdig nach oben. Er hat rote rasierte Bäckchen, sein brauner Rock steht hinten am Hals spitz hinauf, und in der Taille sitzen blanke Knöpfe. Was will man noch mehr, sagt die Miene der Nina, ein richtiger Vater. Gogo versucht noch: »Dein Vater wird es nicht mißverstehen, wenn wir nach Tivoli fahren.« Aber Nina wird zornig. »Mein Vater ist vom Lande, er hat Religion, was glaubst du. Nie würde er hier wohnen, wenn er nicht glaubte, das Haus sei ein anständiges Hotel.« – Aber als Gogo, ganz eingeschüchtert, nur noch wimmert, fällt der Nina ein, man könne den Vater mitnehmen. Sie hört nicht, was der ärmste Junge einwendet, sie klatscht in die Hände: »Mein Vater hat sein Wägelchen, wir kutschieren selbst!«

Und so geschah es. Die Nina mit ihrem Vater und der Gogo mit seinem Geld trafen in Tivoli ein, Hotel zur Sibylle. Im gepflasterten Hof essen sie Makkaroni, Nieren, Filets vom Indian, und als Nina den Wein zu spüren beginnt, verlangt sie von Gogo, er solle auf den Tempel der Sibylle klettern, ja, auf das Dach. Er sieht es an, es steht über die Mauer hinweg und auch die Mauer lädt ihn nicht ein. »Das kann niemand«, erklärte er. Indes aber die Nina höhnisch lachte, meldet sich der Alte. »Ich könnte es wohl.« Seinerseits lacht Gogo. »Ich wette dagegen.« Nina: »Wieviel?« Gogo: »Was ich bei mir habe.« Nina: »Schlag ein!« Denn sie kennt das Augenblinzeln ihres Vaters. Der Alte legt sorgsam seinen Rock ab, nimmt vom Haus eine Leiter und steigt bequem auf das Tempeldach. Gogo schreit und will nicht zahlen, der Kellner Cäsar wird angerufen, er entscheidet für den Alten, der Apotheker auch. Als Gogo sich endlich seiner Barschaft entledigt hat, sagt die Nina: »Du tust mir leid, trotz deiner geringen Intelligenz. Obwohl du mich jetzt nichts mehr angehst, will ich dich auf dem Wägelchen mitnehmen.« Denn Gogo jammerte zu laut, daß er sogar für den Zug kein Geld mehr habe; die Zuhörer wurden bedenklich.

Unterwegs hat dann der Alte vom Lande so geschickt gefahren, daß Gogo hinausflog, er aber und sein Töchterchen blieben sitzen. Sie kommen zu Haus an, die Nina rühmt sich ihres Streiches und zeigt das Geld. Da schreit der Koch auf: »Vom Gigoletti! Ha! Mörder! So weiß ich denn, wer mich bestohlen hat!« Und eben jetzt, zu seinem Unglück, zeigt sich Gogo. Denn in allem Schrecken hat er doch von seinem Geld noch ein wenig gerettet und hat den Zug benutzt. Nun aber sieht er von der Treppe den Koch, sein großes Messer schwingend, über ihn hereinbrechen. Er, wie abgeschnellt, in ein offenes Zimmer und unter dem Bett hindurch. Der Koch, hinterher, kriecht auch und sticht, wo er hintrifft. Gogo, aufkreischend, tut einen Sprung zurück über das Bett, hinaus und die Treppe hinauf, durch die Luft fliegend vor dem Koch, der schreit: »Er mordet mich!« und dabei das Messer schwingt. Wäre jetzt nicht die Nina gewesen, um Gogo war es geschehen. Denn alle anderen Damen schlugen, sobald die Schlacht sich ihnen näherte, ihre Türen zu. Nina aber öffnete die ihre dem armen Verfolgten und hielt sie verriegelt vor dem Koch, so sehr er wütete und bat.

Man sagt sogar, und Gogo leugnet es nicht, daß er in so gefahrvoller Stunde und während nur die Bretter einer Tür ihn von einem schlimmen Ende trennten, doch noch die höchste Gunst, die er vom Schicksal erflehte, empfangen habe aus den Händen der Nina. Seitdem hält sie ihn wieder ein wenig kurz,, aber nicht zu sehr, und er spielt wieder Morra mit dem Koch. Denn der Vater Wucherer hat bezahlen müssen. Alle zufrieden, alle glücklich.

 

III.
Die Verjagten

Seit gestern ist nun auch die sechzehnjährige Linda Barocci gestorben. Alle, die sie kannten, sagen, daß sie glücklich zu leben verdient hätte, denn sie war gut und tapfer, was sie schon früher bewiesen hatte, draußen vor Porta Agnese bei ihrem Verwandten Nazzarri, der ihr nachstellte. Nazzarri Umberto hatte seine Gärtnerei gleich hinter dem Heiligtum Santa Agnese. Er war ein stattlicher Mann mit lebhafter Gesichtsfarbe. Die Linda, blond, weiß und sehr zierlich, fand ihr Heil, wenn die Laune ihn ankam, stets nur in ihrer Schnelligkeit. Denn der Garten ist groß und geht in das offene Feld über. Wenn der Nazzarri der Kleinen lästig fiel, trat manchmal seine Gattin dazwischen, die Frau Amelia, oder besser gesagt, sie rief ihrem Gatten von der Tür her Namen zu, die keine Kosenamen waren; aber persönlich zur Stelle zu sein ward ihr schwer wegen des Gewichtes ihres Körpers. Diese beleibte Person hatte ein gutes Herz, das die Linda die versuchte Untreue ihres Gatten nie entgelten ließ. Vielmehr bezeigte sie ihr das innigste Mitleid und warnte den Nazzarri vor allem Unglück, das seine böse Lust nicht verfehlen würde heraufzurufen. Er aber wollte nicht hören. Gereizt durch den Widerstand des Mädchens hetzte er sie öfter umher wie toll, und besonders zu der Stunde, wo auf die Campagna die Dämmerung herabsteigt. Dann sahen Nachbarinnen Linda dahinhuschen über den Boden, klein und leicht wie eine Fledermaus, und irgendwo darin verschwinden. Denn die Erde hat dort versteckte Löcher, die in die alten Katakomben hinabführen, und in ihnen findet man schwer den, den man sucht, wenn auch zuweilen solche, die man nicht gesucht hat, und die das Licht scheuen. Der Nazzarri mußte draußen warten, bis es der Linda gefiel, zurückzukehren. Einmal, sagten sie, habe er achtundvierzig Stunden lang warten müssen. So verzweifelt war das Mädchen, daß es sich drunten verirrt hatte und halb verhungert hervorkam.

Dem konnte die gute alte Tante Amelia nicht länger zusehen. Sie und die Linda taten soviel und soviel, bis endlich der Nazzarri dem Mädchen zu gehen erlaubte. Sie suchte sich eine Stelle als Magd in Rom, er war aber dahinter, daß es bei strengen Leuten wäre und in einem Haus ohne Jugend. Die Frau Gräfin Marinotti hat ihren Palast in Via Argentina und bewohnt ihn allein mit ihrer Zofe und Haushälterin Bona Chichetti, die bei Jahren ist wie sie selbst, und eine Gehilfin braucht, und diese war die Linda. Sie erlangte die Zufriedenheit der beiden Alten, und sooft der Onkel Nazzarri sich einstellte – er stellte sich aber jede Woche zweimal ein mit seinen Gemüsen – ward ihm geantwortet, daß nichts Unrechtes zu merken sei an der Linda. Denn sie gehe nur aus, wenn ihr Dienst es verlange, niemals am Abend, und kein Mann komme ins Haus. Eines Tages aber sollten die guten Alten einen kommen sehen. Er war erst achtzehn, und war ein Kohlenträger, Aldo Canta, von Montereale, Provinz Aquila, woher auch die Linda kam. So trug er ihr das Säckchen mit dem Holz, das sie geholt hatte für den Herd, und folgte ihr bis vor das Haus. Schon beim zweitenmal ging er mit ihr die Treppe hinauf, zu dem Saal im Herrschaftsgeschoß, wo die Frau Gräfin in Gesellschaft ihrer Zofe Chichetti bei einem Kohlenbecken saß. Und als sie die beiden jungen Leute auf der Schwelle sah, rief sie ihnen zu, herbeizutreten, und sie taten es, und Aldo sagte, daß er der Linda wohlwolle, und sie sagte, daß sie beschlossen habe, ihn zum Manne zu nehmen. Da aber die beiden Alten erwähnten, den Fall müßten sie dem Gärtner mitteilen, fing das Mädchen zu weinen an, und der junge Mann weinte mit ihr aus Zorn, weil sie ihm gesagt hatte, wie die Dinge standen. Die Tränen der jungen Leute bewogen sowohl die Gräfin wie die Zofe zum Mitleid, so daß sie dem Nazzarri, als er wiederkam, die Sache verschwiegen. Dennoch aber faßte er Verdacht, weil das Mädchen nicht mehr zaghaft schien, sondern den Kopf hob und sang. So kam es, daß der Aldo und die Linda, als sie eines Abends, schon im Dunkeln, vor dem Haus hin und her gingen, um die Ecke der Via Barbieri den Nazzarri erscheinen sahen, und dieses Mal ohne Gemüse, und in der Haltung eines Spähenden. Das Mädchen, zitternd vor Furcht, griff nach der Hand des Verlobten und zog ihn hinter die Haustür. »Er hat uns schon gesehen«, flüsterte sie: »O mein Aldo, was jetzt?« – Er sagte: »Ich will mich nicht verstecken, laß mich hinaus, Linda, und du sollst sehen, wie die Sache endet.« – Sie hielt ihn aber fest mit aller ihrer Kraft und beschwor ihn, daß er das, was er meinte, nicht tun dürfe, denn der Nazzarri sei der Bruder ihrer Mutter. Und damit er nichts unternehmen könne, zog sie ihn die Treppe hinauf. In die Haustür trat schon der Nazzarri und war sogleich hinter ihnen her. Sie liefen über die erste Treppe. Der Gärtner, auf ihren Fersen, rief: »Das sollst du mir bezahlen, Verführer meines Kindes!« und Aldo rief zurück, schon von der zweiten Treppe: »Bezahlen wirst du selbst!« Da waren sie im Herrschaftsgeschoß, und von dem Geschrei kamen die beiden Alten hervor. Durch sie ward der Gärtner aufgehalten, die jungen Leute erlangten einen Vorsprung, sie erreichten ein Zimmer unter dem Dach und sperrten sich ein.

Da atmeten sie nun nach dem Lauf, standen und sahen erregt einander an. »Ich wollte es nicht sagen«, gestand Linda, »aber ich wußte es, denn ich hatte einen Mönch von Sant' Agnese gesehen, der uns beobachtete, und so wußte ich, wir seien verloren.« – »Das sind wir nicht«, sagte Aldo. – »Aber er wird mich dir fortnehmen.« – »Das wird er nicht tun«, sagte Aldo. Und inzwischen hörten sie schon seinen Schritt vor der Tür. Er riß daran und trat dagegen, obwohl die beiden Alten ihm zuredeten; aber er hörte nichts und schrie nur immer nach dem Verführer seines Kindes. »Wohin mit uns, wenn die Tür zerbricht«, sagte Linda. Aldo aber öffnete die Fenstertür und sah, daß das Zimmer in einem Winkel des Hofes lag. An der anderen Wand des Winkels war ein Balkon, dorthin dachte er zu entkommen mit seiner Geliebten. Er sagte ihr, er wolle den Sprung wagen über den Abgrund, und dann werde er ihr zu helfen wissen. Aber sie zeigte ihm die klaffenden Risse in dem Stein des Balkons, seine lockeren Eisenklammern, und dahinter das verfallene Haus. Denn dieses ist ein Haus, das seine Bewohner verlassen haben, und die Arbeiter, die es wieder herstellen sollten, betraten es noch selten. Der junge Kohlenträger sprach nichts mehr, er schwang sich, indes Linda dastand ohne Regung, über das Fenster, er faßte ein Stück Eisen in der Mauer, trat in eine Lücke zwischen den Steinen, dann in die nächste, und so bis zu dem Balkon. Behutsam stieg er hinein, und aus dem Zimmer dahinter holte er eine Leiter, die schob er hinüber, in das Fenster zur Linda. »Komm!« sagte er, und sie kam – über die Leiter, die er nicht auf die unsichere Brüstung des Balkons legte, sondern in seiner festen Hand hielt. Wie sie aber mitten über der Tiefe kniete, gab im Zimmer hinter ihr die Tür nach und der Nazzarri stürzte hinein. Ein Blick, erstarrt waren sein Geschrei und seine geschwungene Faust. Die beiden Alten kam eine Schwäche an. Der Aldo drüben empfing in seinen Armen die Linda, und gemeinsam traten sie in das Dunkel des verlassenen Hauses.

Wer sich nicht zufrieden gab, war der Gärtner. Er machte Aufruhr im Hof und auf der Straße. Die meisten lachten ihn aus, auch die Wächter glaubten ihm nicht, denn das Haus war verschlossen von allen Seiten. Mehrere Neugierige fanden sich immerhin, die im Hof Übungen anstellten, um ein langes Seil bis dort hinauf und über den Balkon zu werfen. Zum Schluß gelang es ihnen, aber wie man ein wenig daran zog, fiel ein Stein herab, und so ließ man es. Erst am Morgen konnte der Nazzarri den finden, der den Schlüssel hatte, und das Haus öffnen. Hierbei drangen viele mit ein, denn der Fall war in der Straße herumgekommen, und sie sahen es als ein Abenteuer an, das nicht ohne Grauen und Gefahr wäre, führten einander irre im Haus, erschreckten einander und ahmten die Stimmen von bösen Geistern nach. Die Liebenden inzwischen zogen sich vor der nahenden Menge zurück, aus dem Inneren des Hauses hin und her bis in seinen äußersten Winkel, und so fanden sie sich am Ende wieder in dem Zimmer, durch das sie hineingelangt waren. Es sah so wüst und kahl aus im Tageslicht, als sagte es ihnen, hier ende die Welt. »Nun geht es in Wahrheit nicht weiter«, sagte Linda. »Nur einen Schritt noch«, sagte Aldo. »Mit dir!« sagte Linda, und sie traten auf den Balkon hinaus, an seinen Rand, der schon wankte. Vom Hof die Leute sahen es, welch ernste Gesichter sie beide hatten, die Augen groß aufeinander, und blauer Himmel nahm ihre Stirnen auf. Unter ihren Füßen geschah ein Krachen. Ihre Arme hoben sich, sie wollten wohl hingreifen wo ein Halt wäre; und so faßten sie eines um das andere. Umschlungen stürzten sie hinab. Aldo, der zuerst unten aufschlug, war sofort tot, die Linda fiel auf ihn, sie brachten sie noch lebend in das Hospital Santo Spirito. Zu ihrem Glück blieb sie ohne Bewußtsein. In der Nacht starb auch sie. Sie war sechzehn Jahre alt, ihr Aldo erst achtzehn. Sie hatte die Mutter in Montereale, Provinz Aquila.


 << zurück weiter >>