Longus
Daphnis und Chloe
Longus

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nachwort

Eine Analyse des berühmten Hirtenromans Daphnis und Chloe wird an dieser Stelle niemand erwarten: es hieße seinen Eindruck stören, wollte man ihn zergliedern. Doch wird es manchem nicht unlieb sein, unsern größten Dichter über dieses Dichtwerk sprechen zu hören. In Eckermanns Gesprächen mit Goethe finden wir unter Sonntag, dem 20. März 1831, folgende Würdigung:

»Das Gedicht ist so schön, daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann, und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der hellste Tag, und man glaubt lauter herkulanische Bilder zu sehen, sowie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hilfe kommen.

... Und nun die Landschaft! die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Höhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgärten sehen, unten die Weideplätze mit dem Fluß und ein wenig Waldung, sowie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste, reinste Himmel, die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte. Das ganze Gedicht verrät die höchste Kunst und Kultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt, und alle von der gründlichsten, besten Art sind, wie z. B. das von dem Schatz bei dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Geschmack und eine Vollkommenheit und Delikatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt, das je gemacht worden. Alles Widerwärtige, was von außen in die glücklichsten Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Städter, und zwar auch dort nicht in den Hauptpersonen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebenen. Das ist alles von der ersten Schönheit.

... In allen diesen Dingen ist ein großer Verstand; so auch, daß Chloe gegen den beiderseitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres kennen als nackt nebeneinander zu ruhen, durch den ganzen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behält, ist gleichfalls vortrefflich und so schön motiviert, daß dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache kommen.

Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden.«

Zehn Tage vorher hatte Eckermann Goethe erzählt, er lese Daphnis und Chloe in Couriers Übersetzung. »Das ist auch ein Meisterstück«, erwiderte Goethe, »das ich oft gelesen und bewundert habe, worin Verstand, Kunst und Geschmack auf ihrem höchsten Gipfel erscheinen, und wogegen der gute Virgil freilich ein wenig .zurücktritt. Das landschaftliche Lokal ist ganz im Poussinschen Stil und erscheint hinter den Personen mit sehr wenigen Zügen vollendet.«

Goethe findet an dem ethischen Charakter des Romans, wie man sieht, nichts zu tadeln, anders Dunlop in seiner History of Fiction (I, p. 73), wo er sagt: »Obgleich die allgemeine Moral, die der Roman einzuprägen versucht, nicht absolut schlecht ist, finden sich darin doch einzelne Stellen, die so außerordentlich tadelnswert sind, daß ich ihnen nichts in irgendeinem anderen Buche zu vergleichen weiß. Diese Verdorbenheit ist um so weniger entschuldbar, als es die erklärte Absicht des Autors war, einen Zustand der vollkommensten Unschuld zu malen.«

Mit Recht bemerkt hierzu Friedrich Jacobs in seiner Vorrede zu Daphnis und Chloe: »Dieses Urteil ist im ganzen und im einzelnen schief. Die Richtung des Romans von Longus ist in ethischer Rücksicht weder gut noch schlecht, und es ist auf keine Weise die Absicht seines Verfassers gewesen, einen Zustand der vollkommensten Unschuld darzustellen. Wenn aber Dunlop meint, den schlüpfrigen Stellen dieses Buches keine andere in irgend einem Buche vergleichen zu können, so ist dies eine unhistorische Übertreibung, bei der, um von neueren Erotikern zu schweigen, welche die Alten bei weitem überboten haben, an die viel schlimmeren Gemälde in Lukians (Pseudolukians) verwandeltem Esel und seinen Hetärengesprächen, an Apuleius und Petronius nicht gedacht ist.«

Über den Verfasser unseres Hirtenromans ist nichts bekannt. Selbst sein Name ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Longos soll er geheißen haben und Sophist gewesen sein. An letzterem ist kaum zu zweifeln: der ganze Charakter der Erzählung spricht dafür. Auf Lesbos scheint er sich ausgekannt zu haben, doch wird nicht jeder Leser die Empfindung haben, daß das Örtliche mit den Augen des Autochthonen gesehen sei.

Wichtiger als Name und Herkunft des Verfassers ist die Zeit der Abfassung seines Werkes, dieses »für uns einzigen Vertreters einer eigentümlichen Romangattung«. Aber auch hier läßt sich keine bestimmte Behauptung wagen. »Diese reizend erzählten Schicksale von Daphnis und Chloe würden aber das ganze ästhetische Urteil über dasjenige Jahrhundert – am ehesten doch noch das dritte! – wesentlich mit bestimmen, welchem der fragliche Verfasser angehört. Über den von Theokrit ererbten bukolischen Gesichtskreis gehen diese Schilderungen mit ihrem sehr durchgeführten Naturalismus der Szenerie, mit ihrer verfeinerten Seelenbeobachtung weit hinaus; eine Zeit, die dieses Buch schaffen konnte, war – so scheint es – auch von einer ausgebildeten Genre- und Landschaftsmalerei nicht mehr weit entfernt« – sagt Jakob Burckhardt (Die Zeit Constantins des Großen, II. Aufl., S. 274). Erwin Rohde (Der griechische Roman, II. Aufl., S. 535), bei dem man eine eingehende Würdigung unseres Romans findet, sagt, daß der Autor »nach dem Ausgang des zweiten« Jahrhunderts gelebt haben müsse und stellt für seine Lebenszeit das dritte, vierte und die erste Hälfte des fünften nachchristlichen Jahrhunderts zur Wahl. Andere setzen ihn in das zweite.

Es mag bedauerlich sein, daß wir über die berührten Fragen so wenig Gewißheit haben und teilweise ganz im Dunkeln tappen, die Freude an dem Kunstwerk wird für den unbefangenen Leser dadurch aber nicht beeinträchtigt, sein ohnehin starker Reiz im Gegenteil noch erhöht. Möge sich diese frühlingsgleiche Erzählung in ihrer neuen Bearbeitung viele neue Freunde erwerben!

Der Herausgeber


 << zurück