Jack London
Drei Sonnen am Himmel
Jack London

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Drei Sonnen am Himmel

Sitka Charley rauchte seine Pfeife und starrte nachdenklich auf ein Bild aus der Polizei-Zeitung, das an der Wand hing. Er starrte es schon seit einer halben Stunde ununterbrochen an, und ebenso lange beobachtete ich ihn verstohlen. Irgend etwas ging in seinem Kopfe vor. Was es aber auch sein mochte, so wußte ich jedenfalls, daß es verdiente, zur Kenntnis genommen zu werden. Er hatte vieles erlebt und seltsame Dinge gesehen, und er hatte das Wunder aller Wunder vollbracht, nämlich seinem eigenen Volke den Rücken zu kehren, und war – soweit es einem Indianer möglich ist – selbst in seiner Denkweise ein Weißer geworden. Oder wie er es selbst ausdrückte: er war in die Wärme gekommen, saß mit uns am Feuer und war einer der Unsrigen geworden. Er hatte nie lesen oder schreiben gelernt, aber sein Wortschatz war imponierend, und noch imponierender war, wie vollkommen er die Gesichtspunkte des weißen Mannes und die Stellungnahme des weißen Mannes den Dingen gegenüber erworben hatte.

Wir hatten diese einsame Hütte nach einem anstrengenden Reisetag unterwegs entdeckt. Die Hunde waren gefüttert, die Teller schon abgewaschen, die Betten bereitet, und wir genossen jetzt die schönste Stunde, die an jedem Tag, aber dafür nur einmal täglich, auf Wanderungen in Alaska wiederkehrt, nämlich die Stunde, da nichts mehr zwischen dem ermüdeten Körper und dem Bett steht, als das Rauchen der Abendpfeife. Irgendein früherer Bewohner der Hütte hatte ihre Wände mit Bildern aus Magazinen und Zeitungen dekoriert, und diese Bilder waren es, die Sitka Charleys Aufmerksamkeit seit dem Augenblick unserer Ankunft gefesselt hatten. Er hatte sie eingehend studiert, war immer wieder von einem zum andern zurückgekehrt. Und ich konnte sehen, daß in seinen Gedanken Unsicherheit und Verwirrung herrschten.

»Nun?« brach ich schließlich das Schweigen.

Er nahm die Pfeife aus dem Munde und sagte einfach: »Ich verstehe es nicht!«

Er sog an der Pfeife und nahm sie dann wieder aus dem Munde, um auf ein Bild aus der Polizei-Zeitung zu weisen.

»Das Bild – was bedeutet das? Ich verstehe es nicht.«

Ich schaute mir das Bild an. Ein Mann mit unwahrscheinlich häßlichem Gesicht fiel, die Hände dramatisch gegen das Herz gedrückt, rücklings zu Boden. Ihm gegenüber stand in Mann mit einem Gesicht, das eine Mischung von strafendem Engel und einem Adonis war, und hielt einen rauchenden Revolver in der Hand.

»Ein Mann tötet einen anderen«, sagte ich und merkte, daß ich selbst ein bißchen unsicher und auch nicht imstande war, es zu erklären.

»Warum?« fragte Sitka Charley.

»Das weiß ich nicht«, gestand ich.

»Dies Bild ist nur ein Abschluß«, sagte er. »Es hat keinen Anfang.«

»Es ist das Leben«, sagte ich.

»Aber Leben hat einen Anfang«, wandte er ein.

Für einen Augenblick war ich zum Schweigen gebracht, während sein Blick zu dem danebenhängenden Wandschmuck wanderte. Es war die photographische Wiedergabe einer »Leda mit dem Schwan« von irgendeinem unbekannten Maler.

»Das Bild da«, sagte er, »hat keinen Anfang. Es hat keinen Abschluß. Ich verstehe Bilder nicht.«

»Sieh dir das Bild da an«, gebot ich und zeigte auf ein drittes Bild. »Das stellt etwas dar. Sage mir, was es dir erzählt.«

Er betrachtete es einige Minuten.

»Das kleine Mädchen ist krank«, sagte er. »Da ist der Doktor, der sie untersucht. Sie sind die ganze Nacht aufgewesen. Sieh, es ist nur wenig Oel in der Lampe. Das erste Morgenlicht kommt zum Fenster herein. Es ist eine schlimme Krankheit – vielleicht wird das Kind sterben, deshalb sieht der Doktor so ernst aus. Da ist die Mutter. Es muß eine sehr schwere Krankheit sein, da die Mutter ihren Kopf auf den Tisch gelegt hat und weint.«

»Woher weißt du, daß sie weint?« unterbrach ich ihn. Du siehst ihr Gesicht ja gar nicht. Vielleicht schläft sie nur.«

Sitka Charley warf mir einen schnellen erstaunten Blick zu, dann sah er sich wieder das Bild an. Es war mir ganz klar, daß er seine Eindrücke nicht vernunftgemäß begründet hatte.

»Vielleicht schläft sie nur«, wiederholte er. Er betrachtete das Bild genauer. »Nein«, fügte er hinzu, »sie schläft nicht. An ihren Schultern kann man sehen, daß sie nicht schläft. Ich habe die Schultern einer Frau gesehen, die weinte. Die Mutter weint. Es muß also eine schwere Krankheit sein.«

»Und jetzt verstehst du das Bild also«, rief ich.

Er schüttelte den Kopf und fragte: »Das kleine Mädchen da . . . sag mal . . . stirbt das kleine Mädchen?«

Jetzt war die Reihe zu schweigen an mir.

»Stirbt es?« fragte er wieder. »Du bist ja ein Malermensch. Vielleicht weißt du Bescheid.«

»Nein, das weiß ich nicht«, gestand ich.

»Also ist es nicht das Leben«, erklärte er mit dogmatischer Strenge. »Im Leben würde das kleine Mädchen entweder sterben oder wieder gesund werden. Im Leben geschieht immer etwas. Im Bilde geschieht nichts. Nein, ich verstehe eure Bilder nicht.«

Er war ganz offensichtlich enttäuscht. Er hatte den aufrichtigen Wunsch, alles zu verstehen, was die weißen Männer verstanden, und hier, auf diesem Gebiet, versagte er. Ich empfand aber auch, daß eine gewisse Herausforderung in seiner Haltung lag. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß er mich zwingen wollte, ihm die Weisheit der Gemälde zu enthüllen. Im übrigen hatte er ganz beachtenswerte Fähigkeiten, Bilder in seinem Geiste zu gestalten. Das hatte ich schon längst bemerkt. Er gestaltete alles in Bildern. Er sah das Leben bildhaft, legte es sich in Bildern zurecht. Und dennoch verstand er Bilder nicht, wenn sie durch die Augen anderer gesehen waren und von ihnen mit Farben und Linien auf die Leinwand gebracht wurden.

»Bilder sind Ausschnitte aus dem Leben«, sagte ich. »Wir malen das Leben so, wie wir es sehen. Denke dir zum Beispiel, Charley, daß du den Weg heraufkommst. Es ist Abend. Du siehst eine Hütte. Das Fenster ist erleuchtet. Du guckst eine Sekunde, zwei Sekunden vielleicht, durch das Fenster, du siehst etwas und gehst dann weiter. Vielleicht hast du einen Mann gesehen, der drinnen saß und einen Brief schrieb. Du hast etwas gesehen, das ohne Anfang und ohne Abschluß war. Es geschah nichts. Und dennoch war, was du gesehen hast, ein Ausschnitt aus dem Leben. Du wirst dich später daran erinnern. Es steht wie ein Bild in deinem Gedächtnis. Das Fenster ist der Rahmen des Bildes.«

Ich konnte sehen, daß es ihn stark interessierte. Und während ich sprach, hatte ich das Gefühl, daß er zum Fenster hinein blickte und den Mann seinen Brief schreiben sah.

»Du hast ein Bild gemalt, das ich verstehe«, sagte er. »Es ist ein echtes Bild. Es hängt in deiner Hütte in Dawson. Es ist viel Wahrheit darin. Es ist ein Spieltisch. Männer sitzen daran und spielen. Es ist ein hohes Spiel. Ohne Grenze.«

»Wie kannst du wissen, daß die Höchstgrenze aufgehoben ist?« fragte ich aufgeregt. Hier bot sich nämlich eine Gelegenheit, mein Bild von einem unparteiischen Richter beurteilen zu lassen, der nur das Leben kannte und von Kunst keine Ahnung hatte – von einem Manne, der ein wahrer Meister der Wirklichkeit war.

Außerdem war ich sehr stolz auf eben dieses Werk. Ich hatte ihm den Titel »Das letzte Spiel« gegeben und fand selbst, daß es eine der besten Arbeiten war, die ich je verfertigt hatte.

»Es liegen keine Chips auf dem Tisch«, erklärte Sitka Charley. »Die Männer spielen mit Marken. Das heißt, daß das Spiel bis in die Puppen geht. Einer spielt mit gelben Marken – vielleicht bedeutet so eine gelbe Marke tausend, vielleicht sogar zweitausend Dollar. Einer spielt vielleicht mit roten Marken. Und die mögen fünfhundert oder tausend Dollar das Stück wert sein. Es ist ein sehr hohes Spiel. Sie spielen alle sehr hoch, bis in die Puppen. Wie ich das wissen kann? Du hast die Wange des Croupiers ein bißchen heiß werden lassen.«

Ich war entzückt.

»Den Mann gegenüber läßt du sich im Stuhl etwas nach vorn beugen. Warum lehnt er sich vor? Warum ist sein Gesicht sehr ruhig? Warum hat der Croupier so heiße Wangen? Warum sind alle Männer so still? Der Mann mit den roten Marken? Der Mann mit den gelben Marken? Der Mann mit den weißen Marken? Warum spricht keiner? Weil es um sehr viel Geld geht. Weil es das letzte Spiel ist.«

»Aber wie kannst du denn wissen, daß es das letzte Spiel ist?« fragte ich.

»Der König ist gedeckt. Und die Sieben wird offen gespielt«, antwortete er. »Keiner setzt auf die andern Karten. Die sind auch alle schon weg. Sie haben alle nur einen Gedanken, jeder spielt nur dahin, den König verlieren und die Sieben gewinnen zu lassen. Vielleicht verliert die Bank zwanzigtausend Dollar, vielleicht gewinnt sie. Ja, dieses Bild habe ich verstanden.«

»Und doch weißt du ja nicht, wie es ausgeht«, rief ich triumphierend. »Es ist das letzte Spiel, aber die Karten sind noch nicht aufgelegt. In dem Bilde werden sie es auch nie werden. Kein Mensch wird je wissen, wer gewinnt und wer verliert.«

»Und die Männer werden immer sitzenbleiben und nie sprechen«, sagte er, während sich Staunen und Ehrfurcht in seiner Miene ausprägten. »Und der Mann gegenüber wird sich immer vorlehnen, und die Wangen des Croupiers werden immer glühen. Es ist seltsam. Immer werden sie dasitzen, immer; und die Karten werden nie aufgelegt werden.«

»Es ist ein Bild«, sagte ich. »Es ist Leben. Du hast selbst derlei gesehen.«

Er sah mich an und überlegte. Dann sagte er, sehr langsam: »Ja, es ist, wie du sagst: es gibt da keinen Abschluß. Niemand wird je wissen, wie es ausgeht. Und doch ist es etwas Wahres. Ich habe es selbst gesehen. Es ist Leben.«

Lange saß er schweigend da und rauchte, während er über die Malerweisheit des weißen Mannes nachsann und sie durch Vergleiche mit dem wirklichen Leben auf ihre Wahrheit prüfte. Mehrmals nickte er, und ein- oder zweimal grunzte er. Dann klopfte er die Asche aus seiner Pfeife, stopfte sie sorgfältig und zündete sie, nach einer nachdenklichen Pause, wieder an.

»Dann habe auch ich viele Bilder aus dem Leben gesehen«, begann er. »Bilder, die nie gemalt worden sind, die nur meine Augen sahen. Ich habe sie geschaut, wie durch das Fenster, durch das ich den Mann den Brief schreiben sah. Ich habe viele Bruchstücke des Lebens geschaut, die ohne Anfang und ohne Abschluß, ja, ohne Sinn waren.«

Er änderte plötzlich seine Stellung, so daß er mir voll ins Gesicht blickte, und sah mich nachdenklich an.

»Sage mal«, meinte er. »Du bist doch ein Malermensch. Wie würdest du wohl das malen, was ich einst geschaut habe – ein Bild ohne Anfang, dessen Ende ich nicht verstanden habe, ein Stück Leben, das das Nordlicht zur Kerze und ganz Alaska zum Rahmen hatte?«

»Ein großes Bild«, murmelte ich.

Aber er hörte mich nicht, denn er sah das Bild seiner Erinnerung vor seinen Augen.

»Es gibt viele Titel für dieses Bild«, sagte er. »Aber es sind viele Nebensonnen darin, und deshalb fällt mir ein, es ›Die Nebensonnenwanderung‹ zu nennen. Es ist sehr lange her, sieben Jahre, es war im Herbst 97, daß ich die Frau zum ersten Male sah. Auf dem Lake Lindermann hatte ich damals ein Kanu, ein sehr gutes Peterborough-Kanu. Ich kam mit zweitausend Briefen, die nach Dawson sollten, über den Chilcootpaß. Ich war Briefkurier. Alle wollten damals nach Klondike. Sehr viele Menschen waren deshalb unterwegs. Sehr viele Leute fällten Bäume und machten Boote. Das Wasser gefror schon, es war Schnee in der Luft, Schnee am Boden, Eis auf dem See, Eis auf dem Fluß und auf den Wirbeln. Und mit jedem Tage kam mehr Schnee, mehr Eis. In einem, in drei, vielleicht in sechs Tagen – an irgendeinem Tage mußte alles gefrieren. Dann gab es kein Wasser mehr. Alles war vereist. Alle mußten zu Fuß gehen, sechshundert Meilen bis Dawson, ein sehr weiter Weg. Aber Boote sind schneller. Deshalb wollen alle in Booten hinfahren. Alle sagen sie: ›Charley, für zweihundert Dollar mußt du mich in deinem Kanu mitnehmen.‹ ›Charley, ich gebe dreihundert Dollar.‹ ›Charley, tu es für vierhundert Dollar.‹ Aber ich sage nein, immer wieder nein. Ich bin ja Briefkurier.

Früh am Morgen komme ich an den Lindermann-See. Ich bin die ganze Nacht gewandert und sehr müde. Ich bereite mir mein Frühstück, ich esse, dann schlafe ich drei Stunden am Ufer. Ich wache auf. Es ist zehn Uhr. Es schneit. Es ist windig, sehr windig, und der Wind ist günstig. Aber es ist auch eine Frau da, die im Schnee neben mir sitzt. Es ist eine weiße Frau, sie ist jung, sehr hübsch, vielleicht ist sie zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Ich sehe sie an. Sie ist sehr müde. Es ist keine Tänzerin. Das sehe ich ganz deutlich – sie ist eine richtige Frau. Und sie ist sehr müde.

›Sie sind Sitka Charley‹, sagt sie. Ich stehe schnell auf und rolle die Decken zusammen, daß kein Schnee hineingelangt. ›Ich gehe nach Dawson‹, sagt sie. ›Ich fahre mit Ihrem Kanu. Wieviel?‹

Ich wünsche niemand in meinem Kanu mitzunehmen. Aber ich liebe es auch nicht, nein zu sagen. Also sage ich ›tausend Dollar‹. Ich sage es nur zum Spaß, damit die Frau nicht mit mir geht – es ist besser, als ein richtiges Nein zu sagen. Sie sieht mich sehr hart an. Dann sagt sie: ›Wann fahren Sie ab?‹ Ich sage: ›Sofort.‹ Da sagt sie, daß sie einverstanden ist und mir tausend Dollar geben will.

Was kann ich einwenden? Ich wünsche die Frau nicht mitzunehmen, aber ich habe nun einmal erklärt, daß sie für tausend Dollar mitkommen darf. Ich bin überrascht. Vielleicht scherzt sie nur, und ich sage daher: ›Zeigen Sie mir die tausend Dollar.‹ Und die Frau, diese junge Frau, die ganz allein unterwegs ist und hier im Schnee sitzt, nimmt tausend Dollar in Hundertdollarscheinen heraus, legt sie mir in die Hand. Ich sehe das Geld an, ich sehe sie an. Was soll ich sagen? ›Mein Kanu ist nur sehr klein‹, sage ich. ›Es hat keinen Platz für eine große Ausrüstung.‹ Sie lacht. Sie sagt: ›Ich bin ein großer Reisender. Das hier ist mein ganzes Gepäck.‹ Sie gibt einem kleinen Bündel im Schnee einen Fußtritt. Es sind zwei Pelzschlafsäcke, außen Leinen, und darin stecken ein paar Frauenkleider. Ich hebe das Bündel auf. Vielleicht im ganzen dreißig – vierzig Pfund. Ich bin überrascht. Sie nimmt es mir aus der Hand. Sie sagt: ›Kommen Sie, wir wollen abfahren!‹ Sie legt das Bündel in das Kanu. Was kann ich einwenden? Ich lege meine Decken auch hinein. Wir brechen auf.

Und so lernte ich die Frau kennen. Der Wind war günstig. Ich setzte ein kleines Segel. Das Kanu lief sehr schnell – es flog wie ein Vogel über die hohen Wellen. Die Frau hatte sehr große Angst. ›Warum gehen Sie nach Klondike, wenn Sie Angst haben?‹ frage ich. Sie lacht, ein hartes Lachen, aber sie ist immer noch sehr ängstlich. Sie ist auch sehr müde. Ich führe das Kanu durch die Stromschnellen nach dem Bennetsee. Das Wasser ist sehr schlimm, und die Frau schreit, weil sie sehr viel Angst hat. Wir überqueren den Bennetsee, Schnee, Eis, Wind wie ein Sturm, aber die Frau ist sehr müde und schläft ein.

In dieser Nacht lagern wir beim ›Windigen Arm‹. Die Frau sitzt am Feuer und ißt ihr Abendbrot. Ich betrachte sie. Sie ist hübsch. Sie ordnet ihr Haar. Es ist viel Haar, und es ist braun, aber manchmal, wenn sie den Kopf dreht, funkelt es wie Gold im Schein des Feuers und sprüht wie goldene Flammen. Die Augen sind groß und braun, manchmal warm wie eine Kerze hinter einem Vorhang, manchmal sehr hart und klar, wie das Eis, das birst, wenn die Sonne darauf scheint. Wenn sie lächelt – wie soll ich es ausdrücken – wenn sie lächelt, weiß ich, daß ein weißer Mann sie gern küssen möchte, genau so ist es, wenn sie lächelt. Sie hat nie schwere Arbeit getan. Ihre Hände sind weich wie die Hände eines kleinen Kindes. Sie ist überall rund und weich wie ein Kind. Sie ist nicht mager, sondern rund wie ein Kind. Ihre Arme, ihre Beine, ihre Muskeln rund und weich wie bei einem Kind. Ihr Leib ist schmal, und wenn sie aufsteht, wenn sie geht oder ihren Kopf oder ihren Arm bewegt, dann ist es – ja, ich kenne das Wort nicht – dann ist es sehr schön anzusehen, wie – nun, vielleicht kann ich sagen, daß sie Linien hat, wie die Linien eines guten Kanus, genau so ist sie, und wenn sie sich bewegt, ist es genau, wie wenn ein gutes Kanu sachte durchs Wasser gleitet, oder wie wenn es hüpft und springt, wenn das Wasser weiß, schnell und zornig ist. Es ist sehr gut anzusehen.

Warum kommt sie nach Klondike, ganz allein, mit einer Menge Geld? Ich weiß es nicht. Am nächsten Tage frage ich sie. Sie lacht und sagt: ›Sitka Charley – das ist etwas, das Sie nichts angeht. Ich gebe Ihnen tausend Dollar, um mich nach Dawson zu bringen. Das allein ist Ihre Sache.‹ Am nächsten Tage wieder frage ich, wie sie heißt. Sie lacht und sagt: ›Mary Johnson – so heiße ich.‹ Ich kenne sie nicht, aber eins weiß ich, nämlich, daß sie nie Mary Johnson geheißen hat.

Es ist sehr kalt im Kanu und wegen der Kälte ist ihr oft nicht gut. Manchmal fühlt sie sich wohl, dann singt sie. Ihre Stimme ist wie eine silberne Glocke, und mir ist sehr wohl dabei, ganz wie wenn ich in die Mission vom Heiligen Kreuz gehe. Und wenn sie singt, fühle ich mich stark und paddele wie ein wahrer Teufel. Dann lacht sie und sagt: ›Glaubst du, daß wir Dawson vor dem Frost erreichen?‹ Manchmal sitzt sie im Kanu, ihre Gedanken wandeln in weiter Ferne, und dann sind ihre Augen ganz leer. Sie sieht Sitka Charley nicht, sieht weder Eis noch Schnee. Sie ist ganz fern. Und wenn sie so in weiter Ferne weilt, geschieht es, daß ihr Gesicht einen Ausdruck hat, der nicht gut ist. Dann sieht ihr Gesicht aus, als wäre sie sehr zornig. Es ist das Gesicht eines Mannes, der einen anderen Mann töten will.

Der letzte Tag vor Dawson ist sehr schlimm. Ufereis, selbst auf den Wirbeln, Treibeis in der Strömung. Ich kann nicht paddeln. Ich kann nicht zur Küste gelangen. Es ist sehr gefährlich. Immer weiter treiben wir mit dem Eis nach Dawson. Diese Nacht hören wir viel Lärm von dem Eise. Dann bleibt das Eis stehen, das Kanu bleibt stehen, alles. ›Lassen Sie uns ans Ufer gehen‹, sagt die Frau. Ich sage nein, besser ist es, zu warten. Allmählich treibt alles wieder den Strom hinab. Es fällt viel Schnee. Ich kann nichts sehen. Um elf Uhr abends macht alles wieder halt. Um drei Uhr bleibt wieder alles stehen. Das Kanu zerschellt wie eine Eierschale, liegt aber oben auf dem Eis und kann deshalb nicht sinken. Ich höre Hunde heulen. Wir warten. Wir schlafen. Allmählich wird es Morgen. Der Frost ist da, und dort liegt auch Dawson. Das Kanu ist unmittelbar vor Dawson zerschellt und bleibt dort liegen. Sitka Charley und seine zweitausend Briefe sind mit dem allerletzten freien Wasser angekommen.

Die Frau mietet sich eine Hütte auf dem Hügel, und eine ganze Woche sehe ich sie nicht. Dann kommt sie eines schönen Tages zu mir. ›Charley‹, sagt sie, ›wollen Sie für mich arbeiten? Sie fahren Hunde, machen das Lager, reisen mit mir.‹ Ich sage ihr, daß ich als Briefkurier zuviel verdiene. Sie sagt: ›Charley, ich gebe Ihnen mehr Geld.‹ Ich erzähle ihr, daß Männer mit Hacke und Schaufel in den Minen fünfzehn Dollar täglich verdienen. Sie sagt: ›Das macht vierhundertfünfzig Dollar im Monat.‹ Und ich sage: ›Sitka Charley ist kein Mann für Hacke und Schaufel.‹ Da sagt sie: ›Ich verstehe, Charley. Ich werde Ihnen siebenhundertfünfzig Dollar monatlich geben.‹ Das ist eine gute Bezahlung, und ich beginne für sie zu arbeiten. Ich kaufe Hunde und Schlitten für sie. Wir fahren den Klondike, den Bonanza und den Eldorado hinauf, nach dem Indianerfluß hinüber, nach Sulphur-Creek, nach dem Dominion, zurück über die Wasserscheide nach Gold Bottom und nach ›Zuviel Gold‹ und wieder nach Dawson hinab. Und immer sucht sie irgend etwas. Ich weiß nicht, was. Ich bin verwirrt. ›Was suchen Sie?‹ frage ich. Sie lacht. ›Suchen Sie Gold?‹ frage ich. Sie lacht. Dann sagt sie: ›Das ist nicht Ihre Sache, Charley.‹ Und dann frage ich nie mehr.

Sie trägt einen kleinen Revolver in ihrem Gürtel. Manchmal übt sie sich unterwegs im Revolverschießen. Ich lache. ›Warum lachen Sie, Sitka Charley?‹ fragt sie. ›Warum spielen Sie mit so einem Ding?‹ frage ich. ›Er taugt nichts. Er ist zu klein. Er ist nur für Kinder, ein kleines Spielzeug.‹ Als wir nach Dawson zurückkehren, bittet sie mich, ihr einen guten Revolver zu kaufen. Ich kaufe ihr einen Colt 44. Er ist sehr schwer, aber sie trägt ihn immer im Gürtel.

In Dawson kommt der Mann. Welchen Weg er kommt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er ein Chechaquo ist – das, was ihr einen Grünschnabel nennt. Seine Hände sind weich wie ihre. Er hat nie schwere Arbeit getan. Er ist durch und durch weich. Zuerst denke ich, daß er ihr Mann ist. Aber er ist zu jung dazu. Außerdem brauchen sie immer zwei Betten nachts. Er ist vielleicht zwanzig Jahre alt. Seine Augen sind blau, sein Haar ist gelb, er hat einen kleinen Schnurrbart, der auch gelb ist. Er heißt John Jones. Vielleicht ist er ihr Bruder. Ich weiß es nicht. Ich stelle keine Fragen mehr. Nur denke ich mir, daß er nicht John Jones heißt. Andere Leute nennen ihn Herr Girvan. Ich glaube auch nicht, daß das sein Name ist. Ich glaube auch nicht, daß sie Frau Girvan heißt, wie andere Leute sie nennen. Ich denke, daß niemand ihren wirklichen Namen kennt.

Eines Nachts bin ich in Dawson eingeschlafen. Da kommt er und weckt mich. Er sagt: ›Schirren Sie die Hunde an. Wir wollen abfahren.‹ Ich stelle keine Fragen mehr. Also schirre ich die Hunde an und wir fahren ab. Es geht den Yukon hinab. Es ist Nacht, es ist November und es ist sehr kalt – fünfundsechzig Grad unter Null. Sie ist schwach. Er ist schwach. Die Kälte schneidet. Sie werden müde. Sie weinen leise vor sich hin. Schließlich sage ich, daß es besser ist, wir machen halt und schlagen das Lager auf. Aber sie sagen, sie wollen weitergehen. Dreimal sage ich, daß es besser ist, zu lagern, aber jedesmal sagen sie, daß sie weitergehen wollen. Da sage ich nichts mehr. Die ganze Zeit, Tag und Nacht, geht es so weiter. Sie sind sehr schwach. Sie sind ganz steif und wund. Sie verstehen nichts von Mokassins, und ihre Füße quälen sie sehr. Sie humpeln, sie taumeln wie Betrunkene, sie weinen leise. Aber immer sagen sie: ›Weiter, weiter. Wir wollen weitergehen.‹

Sie sind wie Verrückte. Immer gehen sie, gehen und gehen. Warum gehen Sie weiter? Ich weiß es nicht. Nach Gold sind sie nicht aus. Es hat keine Goldfunde gegeben. Außerdem geben sie eine Menge Geld aus. Aber ich frage nicht mehr. Auch ich gehe nur immer weiter, weil ich ein guter Wanderer bin und gut bezahlt werde.

Wir kommen nach Circle City. Das, was sie suchen, ist nicht da. Ich denke, daß sie jetzt ausruhen werden, und daß auch die Hunde ruhen dürfen. Aber wir ruhen nicht, nicht einen einzigen Tag ruhen wir aus. ›Komm‹, sagt die Frau zu dem Mann. ›Laß uns weitergehen.‹ Und wir gehen weiter. Wir verlassen den Yukon. Wir überschreiten die Wasserscheide im Westen und biegen in das Tananaland ein. Hier sind neue Goldfunde gemacht. Aber das, was sie suchen, ist nicht da, und wir wandern wieder nach Circle City zurück.

Es ist eine schwere Reise. Der Dezember ist schon fast vorüber. Die Tage sind kurz. Es ist jetzt sehr kalt. Eines Morgens sind es über siebzig Grad Kälte. ›Besser, heute nicht weiterzugehen‹, sage ich. ›Sonst wird die kalte Luft nicht warm beim Atmen und wird ihren Lungenrand zerfressen. Dann werden sie einen sehr schlimmen Husten bekommen und vielleicht im nächsten Frühjahr eine Lungenentzündung.‹ Aber es sind Chechoquos. Sie verstehen das Wandern nicht. Sie sind wie tote Menschen, so erschöpft, aber sie sagen immer nur: ›Wir wollen weitergehen.‹ Wir gehen weiter. Der Frost beißt in ihre Lungen, und sie bekommen den trockenen Husten. Sie husten, bis ihnen die Tränen über die Wangen laufen. Wenn wir Speck braten, müssen sie vom Feuer weggehen, eine halbe Stunde im Schnee stehen und husten. Ihre Wangen erfrieren, daß die Haut schwarz und sehr wund wird. Dem Mann erfriert auch der eine Daumen, bis es ist, als ob ein Stück abfallen wollte, und er muß einen großen Däumling an seinem Fausthandschuh tragen, um den Finger warm zu halten. Und zuweilen, wenn der Frost sehr beißt, und der Daumen sehr kalt geworden ist, muß er den Fäustling ausziehen und die Hand auf die bloße Haut zwischen den Beinen legen, damit der Daumen wieder warm wird.

Wir humpeln in Circle City ein, und selbst ich, Sitka Charley, bin müde. Es ist Weihnachtsabend. Ich tanze, trinke, mache mir einen gemütlichen Abend, denn morgen ist Weihnachten, und wir werden rasten. Aber nein – es ist fünf Uhr morgens, Weihnachtsmorgen. Ich habe zwei Stunden geschlafen. Der Mann steht an meinem Bett. ›Kommen Sie, Charley‹, sagt er. ›Schirren Sie die Hunde an. Wir brechen auf.‹

Habe ich nicht gesagt, daß ich nicht mehr frage? Sie bezahlen mir siebenhundertfünfzig Dollar im Monat. Sie sind meine Herren. Ich gehöre ihnen. Wenn sie sagen: ›Charley, kommen Sie, wir wollen nach der Hölle fahren‹, dann schirre ich die Hunde an, nehme die Peitsche und fahre nach der Hölle. Deshalb lege ich den Hunden das Geschirr an, und wir wandern den Yukon hinab. Wohin gehen wir? Sie sagen es nicht. Sie sagen nur: ›Weiter! Weiter! Wir wollen weiter!‹

Sie sind sehr müde. Sie sind jetzt viele hundert Meilen gewandert, und sie verstehen das Wandern nicht. Dazu ist ihr Husten sehr schlimm geworden, dieser trockene Husten, der starke Männer fluchen und schwache Männer weinen macht. Aber sie gehen immer weiter. Tag für Tag wandern sie weiter. Nie lassen sie die Hunde ausruhen. Ueberall kaufen sie neue Gespanne. In jedem Lager, bei jeder Poststation, in jedem Indianerdorf spannen sie die müden Hunde aus und schirren frische an. Sie haben sehr viel Geld, Geld ohne Ende, und sie geben es aus, als ob es Wasser wäre. Sind sie verrückt? Manchmal glaube ich es, denn es ist ein Teufel in ihnen, der sie immer vorwärts treibt, immer weiter. Was ist es, das sie suchen? Es ist nicht Gold. Niemals versuchen sie im Boden zu graben. Ich denke schon sehr lange darüber nach. Dann meine ich, daß es ein Mann sein muß, den sie suchen. Aber was für einen Mann? Nie haben wir den Mann gesehen. Und doch sind sie wie lächerliche Wölfe, wie weichliche Wölfe, wie Wolfskinder, die noch nicht wissen, wie man einer Fährte folgt. Sie schreien nachts im Traum laut auf. Im Schlaf wimmern und stöhnen sie unter den Qualen ihrer Erschöpfung. Und am Tage weinen sie vor sich hin, während sie vorwärts wanken. Sie sind wirklich komische Wölfe.

Wir passieren Fort Yukon. Wir passieren Fort Hamiliton. Wir passieren Minook. Der Januar ist gekommen und schon halb vorbei. Die Tage sind sehr kurz geworden. Erst um neun Uhr wird es hell. Um drei Uhr wird es Abend. Und es ist sehr kalt. Selbst ich, Sitka Charley, selbst ich bin müde. Wollen sie denn diesen Weg ewig ohne Ende weiterlaufen? Ich weiß es nicht. Aber immer beobachte ich die Fährte, um zu sehen, was sie suchen. Es sind nur wenige Leute unterwegs. Manchmal wandern wir hundert Meilen und sehen kein lebendes Wesen. Es ist sehr still. Kein Laut ist zu hören. Manchmal schneit es, und wir sind wie wandelnde Gespenster. Hin und wieder wird es klar, und gegen Mittag scheint die Sonne über den Hügeln im Süden zu uns herab. Das Nordlicht flammt am Himmel auf, drei Sonnen tanzen da oben, und die Luft ist mit Reif gefüllt.

Ich bin Sitka Charley, ein starker Mann. Ich bin auf der Wanderung geboren und habe all meine Tage unterwegs verbracht. Und jetzt haben diese beiden Wolfssäuglinge mich doch müde gemacht, ich bin mager wie ein ausgehungerter Kater, ich freue mich jeden Abend auf mein Bett, und wenn ich morgens aufstehe, bin ich noch mächtig müde. Aber immer sind wir wieder unterwegs, ehe es hell geworden ist, und wir sind noch unterwegs, wenn es Abend geworden ist und die Dunkelheit über uns hereinbricht. Diese beiden Kinderwölfe! Wenn ich so mager wie ein ausgehungerter Kater bin, sind sie so mager wie Katzen, die überhaupt nie etwas zu fressen bekommen haben und schon tot sind. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen und brennen manchmal wie im Fieber, dann wieder sind sie matt und welk wie die Augen eines Toten. Ihre Wangen sind hohl wie Höhlen in einer Felswand. Ihre Wangenhaut ist auch schwarz und rauh vom Frost. Manchmal sagt die Frau morgens: ›Ich kann nicht aufstehen. Ich bin außerstande, mich zu bewegen. Laßt mich sterben.‹ Und der Mann, der neben ihr steht, sagt: ›Komm – laß uns weitergehen.‹ Und sie gehen weiter. Und manchmal kann der Mann nicht weiter, und die Frau sagt zu ihm: ›Komm – laß uns weitergehen!‹ Aber das eine, was sie immer tun und nie lassen, ist, daß sie weitergehen. Immer wandern sie weiter.

Manchmal erhalten der Mann und die Frau an den Poststationen Briefe. Ich weiß nicht, was in den Briefen steht. Aber sie sind die Fährte, die sie verfolgen, diese Briefe selbst sind die Fährte. Einmal gibt ein Indianer ihnen den Brief. Ich spreche heimlich mit ihm. Er sagt, ein Mann mit einem Auge habe ihm den Brief gegeben – ein Mann, der schnell den Yukon hinab zieht. Das ist alles. Aber jetzt weiß ich wenigstens, daß die beiden Kinderwölfe den einäugigen Mann verfolgen.

Es ist Februar geworden, und wir sind schon fünfzehnhundert Meilen weit gewandert. Wir nähern uns der Beringssee, und dort gibt es Orkane und Schneestürme. Es ist ein schweres Wandern. Wir kommen nach Anvig. Ich weiß es nicht, aber ich bin überzeugt, daß sie in Anvig einen Brief bekommen haben, denn sie sind sehr aufgeregt und sagen: ›Kommen Sie schnell, wir wollen weitergehen.‹ Aber ich sage, daß wir erst etwas Lebensmittel kaufen müssen, und sie sagen, daß wir schnell und mit leichter Ausrüstung weiter müssen. Dazu erklären sie, daß wir Lebensmittel in Charley Mac Keons Hütte bekommen können. Da weiß ich, daß sie den Richtweg einschlagen wollen, denn Charley Mac Keon wohnt dort, wo der Schwarze Berg steht.

Ehe wir abfahren, spreche ich vielleicht zwei Minuten mit dem Priester von Anvig. Jawohl, ein Mann mit einem Auge ist vorbeigekommen und wandert schnell weiter. Und ich weiß, daß das, was sie suchen, der einäugige Mann ist. Wir verlassen Anvig mit sehr wenig Lebensmitteln und wandern schnell und mit kleiner Ausrüstung. Wir haben drei frische Hunde in Anvig gekauft und kommen schnell vorwärts. Der Mann und die Frau sind wie verrückt. Wir stehen morgens noch früher auf und wandern noch tiefer in die Nacht hinein. Manchmal erwarte ich, sie sterben zu sehen, diese beiden Wolfskinder, aber sie wollen nicht sterben. Sie gehen weiter, immer weiter. Wenn der trockene Husten sie allzusehr plagt, drücken sie die Hände gegen den Leib, krümmen sich im Schnee und husten und husten und husten. Sie können nicht gehen, sie können nicht sprechen. Vielleicht husten sie zehn Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, und dann richten sie sich auf, während die Tränen vom Husten auf ihren Wangen zu Eis werden, und das erste, was sie sagen, ist: ›Kommt, laßt uns weitergehen.‹

Selbst ich, Sitka Charley, bin schrecklich müde, und ich finde, daß siebenhundertfünfzig Dollar im Monat eine sehr schlechte Bezahlung für die Arbeit ist, die ich leiste. Wir schlagen den Richtweg ein, und die Fährte ist ganz frisch. Die beiden Wolfskinder haben ihre Nasen ganz unten an der Fährte und rufen: ›Schnell!‹ Immerfort rufen sie: ›Schnell! Noch schneller!‹ Es ist hart für die Hunde. Wir haben nicht viel Futter und können ihnen nicht genügend zu fressen geben, und sie verlieren die Kräfte. Sie müssen auch schwere Arbeit leisten. Die Frau hegt ernste und aufrichtige Sorge um sie, und oft hat sie ihretwegen Tränen in den Augen. Aber der Teufel in ihr, der sie immer weitertreibt, erlaubt nicht, daß wir halt machen und den Hunden Ruhe gönnen.

Und dann erreichen wir den einäugigen Mann. Er sitzt im Schnee am Wege, und sein Bein ist gebrochen. Deshalb hat er sich ein kümmerliches Lager bereitet, liegt schon drei Tage auf seinen Decken und nährt das Feuer. Als wir ihn finden, flucht er. Er flucht wie der Teufel. Nie habe ich jemand fluchen hören wie diesen Mann. Ich bin sehr froh. Jetzt, da sie gefunden haben, was sie suchen, werden wir Ruhe bekommen. Aber die Frau sagt nur: ›Laßt uns weiterkommen! Los!‹

Ich bin überrascht. Aber der Mann mit dem einen Auge sagt: ›Kümmern Sie sich nicht um mich, Geben Sie mir nur Ihre Lebensmittel. Sie können neue in der Hütte von Mc Keon bekommen. Schickt mir Mc Keon nach, aber geht selbst gleich weiter!‹ Hier ist wieder ein Wolf, aber ein alter Wolf, und auch er hat nur den einen Gedanken, weiterzugehen. Also geben wir ihm unsere Lebensmittel – es ist nicht viel – und wir schlagen Brennholz für sein Feuer, nehmen seine stärksten Hunde und gehen weiter. Wir ließen den einäugigen Mann im Schnee zurück, und er ist dort gestorben, denn Mc Keon kam nie, um ihn zu holen. Und wer dieser Mann war und warum er hierblieb, das weiß ich nicht. Aber ich denke mir, daß er von der Frau und dem Mann gut bezahlt worden war, um für sie zu arbeiten, wie ich es tat.

An diesem Tage und diesem Abend hatten wir nichts zu essen, und den ganzen nächsten Tag wanderten wir schnell weiter, aber wir waren alle schwach vor Hunger. Dann kamen wir an den Schwarzen Berg, der sich fünfhundert Fuß aus der Ebene erhob. Es war gegen Ende des Tages. Die Dunkelheit brach herein, und wir konnten die Hütte Mc Keons nicht finden. Wir schliefen hungrig ein, und am nächsten Morgen sahen wir uns nach der Hütte um. Sie war nicht da, was uns sehr seltsam erschien, denn jedermann weiß, daß Mc Keon in einer Hütte am Schwarzen Berge wohnte. Wir waren nahe der Küste, wo der Wind gewaltig weht und es sehr viel schneit. Ueberall waren kleine Schneehügel, die der Wind aufgehäuft hatte. Ich hatte einen Einfall und begann, in irgendeinem Hügel zu graben. Bald finde ich die Wände der Hütte und grabe weiter, bis die Tür frei ist. Ich gehe hinein. Mc Keon ist tot. Vielleicht liegt er schon seit zwei oder drei Wochen tot da. Er war erkrankt und hatte seine Hütte nicht verlassen können. Wind und Schnee hatten seine Hütte zugedeckt. Er hatte seine Lebensmittel aufgezehrt und war dann gestorben. Ich sah in seinem Depot nach, aber es waren keine Lebensmittel mehr da.

›Laßt uns weitergehen‹, sagt die Frau. Ihre Augen sind hungrig, und sie drückt die Hand auf ihr Herz, als ob es drinnen schmerzte. Sie schwankt wie ein Baum im Winde. ›Ja, laßt uns weitergehen‹, sagt der Mann. Seine Stimme klingt hohl wie das Krächzen eines alten Raben, und er ist wild vor Hunger. Seine Augen glimmen wie glühende Kohlen, und wie sein Körper schwankt, so schwankt auch seine Seele. Auch ich sage: ›Ja, wir wollen weitergehen.‹ Denn dieser eine Gedanke, der mich wie eine Peitsche jede einzige der fünfzehnhundert Meilen weitergehetzt hat, hat sich auch in meine Seele hineingebrannt. Und ich glaube, daß auch ich verrückt geworden bin. Und wir gehen weiter, ohne dem einäugigen Manne im Schnee einen Gedanken zu schenken.

Dieser Richtweg wird nur selten von Menschen benutzt. Es können zwei oder drei Monate vergehen, ohne daß jemand ihn geht. Die Fährte ist daher vom Schnee vergraben, und es gibt keine Anzeichen, daß Menschen je hier gewesen sind. Jeden Tag weht der Wind, und der Schnee fällt, und jeden Tag wandern wir weiter, während die Gier in unsern Mägen frißt und unsere Körper mit jedem Schritt schwächer werden. Zuerst beginnt die Frau zu fallen. Dann kommt die Reihe an den Mann. Ich falle nicht, aber meine Füße sind sehr schwer geworden, und ich bleibe oft mit den Zehen hängen und stolpere einmal über das andere.

Es ist die letzte Nacht im Februar. Ich töte drei Schneehühner mit dem Revolver der Frau, und wir kommen wieder ein bißchen zu Kräften. Aber die Hunde haben nichts mehr zu fressen. Sie versuchen ihre Sielen zu verzehren, die aus Leder und Walroßhaut sind. Ich muß sie mit einem Knüppel zurückscheuchen und die Geschirre an einem Baum aufhängen. Und die ganze Nacht heulen sie und streiten sich unter dem Baum. Aber wir kümmern uns gar nicht darum. Wir schlafen wie die Toten, und morgens stehen wir auf, wie Tote aus ihren Gräbern steigen, und wandern weiter.

An diesem Morgen war der erste März, und am selben Morgen sah ich die ersten Spuren dessen, den die beiden jungen Wölfe suchten. Das Wetter ist klar und kalt. Die Sonne bleibt länger am Himmel, schimmernde Nebensonnen stehen zu beiden Seiten, und die Luft klirrt vor Reif. Es schneit nicht mehr, und ich sehe die frischen Fährten von Hunden und Schlitten. Es ist nur ein Mann dabei, und an den Spuren im Schnee sehe ich, daß er keine Kraft mehr hat. Auch er hat nichts zu essen. Die jungen Wölfe sehen die frischen Spuren und sind sehr aufgeregt. ›Schnell!‹ rufen sie. Immer wieder sagen sie: ›Los, Charley, schneller! Schneller!‹

Aber wir kommen nur sehr langsam weiter, denn immer wieder fällt bald der Mann, bald die Frau. Wenn sie versuchen, auf dem Schlitten zu sitzen, sind die Hunde zu schwach, um sie zu ziehen, und fallen um. Zudem ist es so kalt, daß sie erfrieren werden, wenn sie auf dem Schlitten liegen. Ein hungriger Mensch erfriert nämlich sehr leicht. Wenn die Frau fällt, hilft der Mann ihr, wieder aufzustehen. Manchmal hilft die Frau dem Mann, wenn er gefallen ist. Ab und zu fallen sie beide, können nicht aufstehen, und ich muß ihnen immer wieder helfen, sonst bleiben sie liegen und müssen im Schnee sterben. Es ist eine sehr schwere Arbeit, denn ich bin selbst furchtbar müde – ich muß ja gleichzeitig die Hunde antreiben, und der Mann und die Frau sind sehr schwer, weil sie keine Kräfte mehr in ihren Körpern haben. Deshalb geschieht es auch hin und wieder, daß ich selbst falle, und ich habe keinen, der mir beim Aufstehen helfen kann. Ich muß allein aufstehen. Und ich komme auch wieder allein auf die Beine und treibe die Hunde an.

An diesem Abend schieße ich ein Schneehuhn. Wir sind schrecklich hungrig. Und an diesem Abend sagt der Mann zu mir: ›Um welche Zeit werden wir morgen aufbrechen, Charley?‹ Seine Stimme klingt wie die eines Gespenstes. Ich sage: ›Die ganze Zeit sind Sie immer um fünf Uhr morgens aufgebrochen.‹ ›Morgen‹, sagt er, ›morgen werden wir um drei Uhr aufbrechen.‹ Ich lache mit großer Bitterkeit und sage: ›Sie sind ein toter Mann.‹ Und er sagt: ›Morgen fahren wir um drei Uhr weiter.‹

Und wirklich, wir brechen um drei Uhr auf, denn ich bin in ihrem Dienst, und was sie wünschen, das tue ich auch. Es ist klar und kalt. Kein Windhauch regt sich. Als es hell geworden ist, können wir weithin sehen. Und es ist sehr still. Wir hören keinen andern Laut als das Pochen unserer Herzen, und in der großen Stille ist dieses Geräusch sehr laut. Wir sind wie Schlafwandler und gehen wie im Traum, bis wir umfallen. Und dann wissen wir, daß wir wieder aufstehen müssen, und wieder sehen wir die Fährte vor uns und hören das harte Pochen unserer Herzen. Hin und wieder kommen mir, wie ich so in Träumen den Weg wandere, seltsame Gedanken. Warum lebt Sitka Charley, frage ich mich. Warum arbeitet Sitka Charley so schwer, warum hungert er, warum erduldet er alle diese Qualen? Für siebenhundertfünfzig Dollar im Monat tut er es, antworte ich mir. Und ich weiß, daß es eine sehr törichte Antwort ist. Aber es ist auch eine wahre Antwort. Und nach diesem werde ich mir nie mehr etwas aus Geldverdienen machen. Denn an diesem Tage kam eine große Erleuchtung über mich. Es war ein helles Licht, und ich sah klar, und ich weiß jetzt, daß ein Mensch nicht des Geldes wegen leben darf, sondern um einer Seligkeit wegen, die kein Mensch geben oder kaufen oder verkaufen kann, und die jenseits allen Geldwertes in dieser Welt liegt.

Im Laufe des Morgens erreichten wir das Lager, wo der Mann, der vor uns war, die letzte Nacht kampiert hatte. Es ist ein armseliges Lager, wie ein Mann es macht, wenn er hungrig ist und keine Kräfte mehr hat. Im Schnee sehen wir Fetzen von Decken und Leinwand, und ich wußte, was geschehen war. Die Hunde hatten ihr Geschirr gefressen, und er hatte aus den Decken neues verfertigt. Der Mann und die Frau starren mit harten Augen auf das, was übrig ist, und wie ich sie ansehe, fühle ich, daß es mir kalt über den Rücken läuft, wie wenn der kalte Wind meine bloße Haut berührt. Ihre Augen sind wild und verrückt vor Hunger und Erschöpfung und glimmen wie Kohlen tief in ihren Höhlen. Und ihre Gesichter sind wie die Gesichter von Menschen, die Hungers gestorben sind, und ihre Wangen sind schwarz von dem toten Fleisch der vielen Frostbeulen. ›Laßt uns weitergehen‹, sagt der Mann. Aber die Frau hustet und stürzt in den Schnee. Es ist der trockene Husten, der kommt, wenn der Frost die Lungen angefressen hat. Sie hustet sehr lange, dann kommt sie mühsam wieder auf die Beine, wie eine Frau, die aus ihrem Grabe kriecht. Die Tränen auf ihren Wangen sind zu Eis geworden, und ihr Atem röchelt, wenn er kommt und geht, und doch sagt sie: ›Laßt uns gehen!‹

Wir brechen auf. Und wir wandern wie im Traum durch die Stille. Und die ganze Zeit, die wir gehen, ist ein Traum, und wir fühlen keinen Schmerz mehr. Und jedesmal, wenn wir stürzen, werden wir aus dem Traum gerissen, wir sehen wieder, wach, den Schnee und die Berge und die frische Fährte des Mannes, der vor uns geht, und fühlen wieder unsere ganze Qual. Wir erreichen eine Stelle, wo wir eine weite Strecke überblicken können, und wir sehen auch das, was sie immer gesucht haben. Eine Meile vor uns sind schwarze Flecke auf dem Schnee. Die schwarzen Flecke bewegen sich. Meine Augen sind nicht klar, und ich muß meine Seele absteifen, um sehen zu können. Und dann sehe ich einen Mann mit Hunden und Schlitten. Auch die beiden jungen Wölfe sehen sie. Sie können nicht mehr sprechen, aber sie flüstern sich zu: ›Vorwärts! Vorwärts! Laßt uns eilen!‹

Und sie stürzen wieder, gehen aber doch weiter. Das Geschirr des Mannes vor uns reißt häufig, und er muß stehenbleiben und es flicken. Unser Geschirr ist in Ordnung, denn ich habe es jede Nacht an den Bäumen aufgehängt. Um elf Uhr ist der Mann nur noch eine halbe Meile vor uns. Er ist sehr schwach. Wir sehen ihn immer wieder im Schnee umfallen. Einer von seinen Hunden kann nicht weiterlaufen, und er schneidet ihn aus dem Geschirr. Aber er tötet ihn nicht. Ich töte ihn im Vorbeigehen mit meiner Axt, wie ich es mit meinen Hunden mache, wenn einer von ihnen ein Bein gebrochen hat und nicht weiter kann.

Jetzt sind wir nur dreihundert Schritt von ihm entfernt. Wir gehen sehr langsam. Vielleicht machen wir in zwei oder drei Stunden eine Meile. Immer wieder stürzen wir. Wir stehen auf und wanken einige Schritte, vielleicht drei oder vier, weiter, dann stürzen wir abermals. Und immerfort muß ich der Frau oder dem Manne helfen. Manchmal heben sie sich auf die Knie und fallen vornüber, vier- oder fünfmal, ehe sie wieder auf die Beine kommen, um wieder zwei oder drei Schritte zu gehen und abermals zu fallen. Aber sie fallen immer nach vorn. Ob sie stehen oder knien – immer stürzen sie vornüber und kommen dadurch jedesmal um eine Körperlänge weiter.

Hin und wieder kriechen sie auf Händen und Knien, wie wilde Tiere, die in den Wäldern leben. Wir bewegen uns wie die Schnecken vorwärts, wie sterbende Schnecken, so langsam gehen wir. Und doch gehen wir immer noch schneller als der Mann vor uns. Auch er stürzt immerfort, aber er hat keinen Sitka Charley, der ihm beim Aufstehen helfen kann. Jetzt ist er nur noch zweihundert Schritt entfernt. Nach sehr langer Zeit sind es nur noch hundert.

Es ist ein komisches Bild! Ich hätte Lust, laut zu lachen. Ha, ha! So, so lächerlich ist es. Es ist ein Wettrennen zwischen toten Menschen und toten Hunden. Es ist wie ein Traum, wie ein Alpdruck, in dem man um das Leben laufen muß und nur ganz langsam laufen kann. Der Mann, den ich bei mir habe, ist verrückt. Die Frau ist verrückt. Ich bin auch verrückt. Die ganze Welt ist verrückt. Und ich muß lachen – so komisch ist es.

Der fremde Mann vor uns läßt seine Hunde zurück und wandert allein weiter durch den Schnee. Nach langer Zeit erreichen wir seine Hunde. Sie liegen hilflos im Schnee, in ihren Sielen aus Deckenfetzen und Leinwand, den Schlitten hinter sich, und als wir vorbeigehen, winseln und heulen sie uns entgegen, wie kleine Kinder, die hungrig sind.

Dann lassen auch wir unsere Hunde zurück und gehen allein weiter durch den Schnee. Der Mann und die Frau sind ganz fertig, sie stöhnen und jammern und schluchzen, aber sie gehen doch immer weiter. Ich habe nur einen Gedanken: ›Den fremden Mann dort vorn einzuholen. Denn dann kann ich mich ausruhen, und erst dann darf ich es tun, und mir kommt es vor, als ob ich mich hinlegen und mindestens tausend Jahre ununterbrochen schlafen müßte, so müde bin ich.‹

Der fremde Mann ist jetzt fünfzig Ellen vor uns, ganz allein in dem weißen Schnee. Er fällt und kriecht, schwankt und fällt und kriecht wieder weiter. Er ist wie ein Tier, das schwer verwundet ist und jetzt versucht, dem Jäger zu entfliehen. Jetzt kriecht er auf Händen und Knien weiter. Er steht gar nicht mehr auf. Und auch der Mann und die Frau stehen nicht mehr auf. Auch sie kriechen ihm auf Händen und Knien nach. Aber ich stehe noch. Manchmal falle ich um, aber ich stehe immer wieder auf.

Es ist ein seltsamer Anblick. Rings sind Schnee und Schweigen, und durch den Schnee kriechen der Mann und die Frau und der fremde Mann, der vor uns ist. Zu jeder Seite der Sonne stehen andere Sonnen, drei Sonnen stehen gleichzeitig am Himmel! Der Reif ist wie Diamantenstaub, und die ganze Luft ist damit erfüllt. Jetzt hustet die Frau, und sie bleibt im Schnee liegen, bis der Anfall vorbei ist – dann kriecht sie gleich weiter. Jetzt späht der Mann nach vorn, er ist triefäugig wie ein Greis und muß sich erst die Augen reiben, ehe er überhaupt den Fremden sehen kann. Und der fremde Mann blickt über die Schulter zurück. Und Sitka Charley, der noch aufrecht geht, fällt und steht wieder auf.

Nach langer Zeit kriecht der fremde Mann nicht mehr weiter. Langsam stellt er sich auf die Beine und schwankt hin und her. Er zieht sich den einen Fäustling aus und wartet mit dem Revolver in der Hand, und während er wartet, schwankt er hin und her. Sein Gesicht besteht nur aus Haut und Knochen und ist voll schwarzer Frostbeulen. Es ist ein hungriges Gesicht. Die Augen liegen ganz tief in ihren Höhlen, und die Lippen heben sich wie zum Schnappen. Der Mann und die Frau erheben sich auch und gehen sehr langsam auf ihn zu. Und rings ist die Stille, ist der Schnee. Und am Himmel stehen drei Sonnen, und die ganze Luft strahlt und flimmert vom Diamantenstaub des Reifs.

Und da war es, daß ich, Sitka Charley, sah, wie die beiden jungen Wölfe ihren Mann töteten. Kein Wort wurde gesprochen. Nur der fremde Mann mit dem hungrigen Gesicht fauchte. Er stand schwankend da, seine Schultern hingen vornüber, seine Knie waren gebeugt und die Beine weit gespreizt, um nicht zu fallen. Der Mann und die Frau blieben in einer Entfernung von vielleicht fünfzig Fuß stehen. Auch sie spreizten die Beine, um nicht zu fallen, und auch ihre Körper schwankten hin und her. Der fremde Mann ist sehr schwach. Sein Arm zittert, so daß die Kugeln, die er auf den Mann schießt, in den Schnee spritzen. Der Mann kann seine Handschuhe nicht ausziehen. Der Fremde schießt wieder auf ihn, und diesmal geht die Kugel durch die Luft an ihm vorbei. Da zieht sich der Mann den Handschuh mit den Zähnen aus. Aber seine Hand ist erfroren, und er kann den Revolver nicht halten, so daß er in den Schnee fällt. Ich sehe die Frau an. Sie hat ihren Fäustling schon ausgezogen, und der schwere Colt ruht in ihrer Hand. Dreimal schießt sie, schnell hintereinander. Das hungrige Gesicht des Fremden sieht noch immer aus, als ob er beißen wollte, während er vornüber in den Schnee taumelt.

Sie sehen den Toten gar nicht an. ›Laßt uns gehen‹, sagen sie. Und wir gehen. Aber jetzt, da wir das gefunden haben, was sie solange suchten, sind sie so erschöpft, als wären sie tot. Die letzte Kraft haben sie hergegeben. Sie können nicht mehr auf den Füßen stehen. Sie haben nicht einmal Willen genug zum Kriechen, sondern nur den einen Wunsch, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Nicht weit entfernt sehe ich einen guten Lagerplatz. Ich versetze ihnen Fußtritte. Ich hebe meine Hundepeitsche, und ich lasse sie den Riemen spüren. Sie schreien laut auf, aber sie müssen weiterkriechen. Und sie kriechen, bis sie den Lagerplatz erreichen. Ich lege das Feuer so an, daß sie nicht erfrieren können. Dann gehe ich zum Schlitten zurück. Ich töte die Hunde des fremden Mannes, so daß wir Nahrung genug haben und nicht zu sterben brauchen. Ich wickle den Mann und die Frau in ihre Schlafsäcke, und sie schlafen ein. Hin und wieder wecke ich sie und gebe ihnen ein klein wenig zu essen. Sie werden gar nicht richtig wach dabei, nehmen es aber zu sich. Die Frau schläft anderthalb Tag. Dann wird sie einen Augenblick wach und schläft abermals. Der Mann hingegen schläft zwei Tage ununterbrochen – dann wird er wach, legt sich aber wieder schlafen. Als das vorbei ist, gehen wir nach der Küste bei St. Michael hinunter. Und als die Beringsee wieder vom Eise befreit ist, fahren der Mann und die Frau mit einem Dampfer weg. Vorher aber zahlen sie für jeden Monat siebenhundertfünfzig Dollar, die ich guthabe. Dazu machen sie mir ein Geschenk von tausend Dollar. Und es ist dasselbe Jahr, in dem Sitka Charley der Mission vom Heiligen Kreuz sehr viel Geld schenkt.«

»Aber warum haben sie den Mann getötet?« frage ich.

Sitka Charley wartet mit der Antwort, bis er sich die Pfeife angezündet hatte. Er starrte das Bild aus der Polizeizeitung an und nickte ihm vertraut zu. Dann sagte er – und er sprach langsam und nachdenklich:

»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Ich weiß es nicht. Es ist einfach etwas, das geschehen ist. Es ist ein Bild, dessen ich mich erinnere. Es ist, wie wenn man zum Fenster hineinblickt und einen Mann sieht, der dort sitzt und schreibt. Sie sind in mein Leben getreten und wieder aus meinem Leben verschwunden. Und das Bild ist, wie ich sagte, ohne Anfang, ohne Ende und ohne Erklärung.«

»Du hast viele Bilder in dieser einen Erzählung gemalt«, sagte ich.

»Oh ja«, nickte er. »Aber sie waren auch alle ohne Anfang und ohne Abschluß.«

»Das letzte Bild aber hatte doch einen Abschluß«, sagte ich.

»Oh ja«, antwortete er. »Aber was für einen?«

»Ein Stück Leben«, sagte ich.

»Ja«, bestätigte er. »Es war ein Stück Leben.«

 


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