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Der Toupetkünstler

I

Viele glauben bei uns, daß der Titel »Künstler« nur den Malern und Bildhauern zukomme, und auch nur solchen unter ihnen, die ihn von einer Akademie verliehen bekommen haben. Unsere berühmten Silberschmiede Ssasikow und Owtschinnikow werden von vielen für einfache Handwerker gehalten. In anderen Ländern ist es sicher nicht so. Heine erzählt von einem Schneider, der ein »Künstler« war und »eigene Ideen« hatte, und die Damenkleider aus dem Atelier von Worth gelten heute als Kunstwerke. Über einen solchen Künstler schrieben neulich die Zeitungen, daß er in seinem Schnitt »eine ungewöhnlich künstlerische Phantasie« beweise.

In Amerika wird das Gebiet des künstlerischen Schaffens noch viel weiter aufgefaßt. Der berühmte amerikanische Schriftsteller Bret-Harte erzählt von einem Künstler, dessen Objekt Leichen waren: Er verlieh den Gesichtern der Verstorbenen einen »Ausdruck des Trostes«, der von dem mehr oder weniger glückseligen Zustande der entschwebten Seele zeugen sollte. Dieser Ausdruck hatte mehrere Abstufungen; ich kann mich nur an drei erinnern: 1. »Ruhe«, 2. »erhabene Beschaulichkeit« und 3. »Seligkeit des unmittelbaren Verkehrs mit dem Herrn«. Die Berühmtheit des Künstlers entsprach durchaus der hohen Vollkommenheit seiner Arbeit: Sie war ganz kolossal. Leider fiel der Künstler als Opfer der rohen Menge, die für die Freiheit des künstlerischen Schaffens wenig Verständnis hatte. Er wurde gesteinigt, weil er den Ausdruck des »seligen Verkehrs mit dem Herrn« dem Gesicht eines verstorbenen Bankiers verliehen, der die ganze Stadt ausgeraubt hatte. Die glücklichen Erben des Schwindlers hatten dem Verstorbenen auf diese Weise ihren Dank bezeugen wollen, dem Künstler aber kostete es das Leben ...

Auch bei uns in Rußland gab es einen Meister auf diesem nicht ganz gewöhnlichen Gebiete der Kunst.

II

Die Kinderfrau meines jüngsten Bruders war eine lange, ausgetrocknete, doch recht proportioniert gebaute Alte namens Ljubow Onissimowna. Sie war in ihrer Jugend leibeigene Schauspielerin am Haustheater des Grafen Kamenskij zu Orjol gewesen, und alles, was ich hier erzähle, hat sich zu Orjol in den Tagen meiner Kindheit abgespielt.

Mein Bruder war um sieben Jahre jünger als ich: Als er zwei Jahre alt war und von Ljubow Onissimowna gepflegt wurde, war ich schon über neun und konnte die Geschichten, die sie mir erzählte, gut verstehen.

Ljubow Onissimowna war damals noch nicht sehr alt, hatte aber schon schneeweißes Haar. Ihre Gesichtszüge waren fein und zart, die schlanke Figur ungewöhnlich gut gebaut und graziös wie bei einem jungen Mädchen.

Meine Mutter und Tante sagten, wenn sie sie ansahen, daß sie in ihrer Jugend wohl wunderschön gewesen sein mußte.

Sie war von einer grenzenlosen Ehrlichkeit, Sanftheit und Empfindsamkeit; sie liebte im Leben alles Tragische, trank sich aber zuweilen einen Rausch an.

Sie führte uns meistens auf den Friedhof bei der Dreifaltigkeitskirche spazieren. Sie setzte sich immer auf das gleiche armselige, mit einem einfachen Holzkreuz geschmückte Grab und erzählte mir oft Geschichten.

So hörte ich hier von ihr einmal die Geschichte vom »Toupetkünstler«.

III

Er war Kollege unserer Kinderfrau am Theater; der Unterschied lag nur darin, daß sie »auf der Bühne Vorstellungen gab und Tänze aufführte«, während er nur ein »Toupetkünstler«, das heißt Friseur und Schminkmeister war und alle leibeigenen Schauspielerinnen des Grafen »anzumalen und zu frisieren« hatte. Er war aber kein alltäglicher Meister mit dem Frisierkamm hinterm Ohr und der Büchse mit der Fettschminke in der Hand, sondern ein Mann mit eigenen Ideen, mit einem Worte ein Künstler.

Ljubow Onissimowna behauptete, daß niemand so gut wie er einem Gesicht »einen Ausdruck« zu verleihen verstanden habe.

Ich kann heute nicht mehr genau sagen, unter welchem von den Grafen Kamenskij diese beiden Künstler gewirkt haben. Es sind drei Grafen dieses Namens bekannt, und alle drei galten in Orjol als »grausame Tyrannen«. Der Feldmarschall Michailo Fedotowisch wurde im Jahre 1809 von seinen eigenen Bauern wegen seiner Grausamkeit erschlagen. Er hatte zwei Söhne: Nikolai und Ssergej, von denen der erste im Jahre 1811 und der zweite im Jahre 1835 gestorben war.

Als Kind, in den vierziger Jahren, ging ich oft an einem riesengroßen, hölzernen Gebäude vorbei, auf dessen Fassade mit schwarzer und brauner Farbe falsche Fenster gemalt waren und das von einem langen, halb eingefallenen Bretterzaun umgeben war. Es war das verrufene Herrenhaus des Grafen Kamenskij; gleich daneben befand sich auch das Theater. Das letztere stand so, daß man es vom Friedhof an der Dreifaltigkeitskirche aus gut sehen konnte, und Ljubow Onissimowna leitete alle ihre Erzählungen mit den Worten ein: »Schau mal hinüber, mein Lieber ... Siehst du das schreckliche Gebäude?«

»Ja, es ist schrecklich, Kinderfrau!«

»Nun will ich dir etwas noch Schrecklicheres erzählen.« Eine ihrer Erzählungen vom Toupetkünstler Arkadij, einem empfindsamen und kühnen jungen Mann, der ihrem Herzen nahestand, will ich hier wiedergeben.

IV

Arkadij hatte nur die Schauspielerinnen »anzumalen und zu frisieren«. Für die männlichen Schauspieler gab es einen eigenen Friseur, und Arkadij betrat nur in jenen seltenen Fällen die Männergarderobe, wenn er vom Grafen selbst den Auftrag hatte, jemanden »in edelster Form anzumalen«. Seine künstlerische Kraft lag darin, daß er einem jeden Gesicht die feinsten und verschiedenartigsten Ausdrücke zu verleihen verstand.

»Man läßt ihn kommen«, berichtete Ljubow Onissimowna, »und sagt ihm: ›Dieses Gesicht da soll den und den Ausdruck bekommen.‹ Arkadij tritt etwas zurück, läßt den Schauspieler oder die Schauspielerin sich vor ihn hinsetzen oder hinstellen, kreuzt die Arme auf der Brust und denkt eine Weile nach. In solchen Augenblicken war er schöner als der schönste Mann, denn er war zwar von mittlerem Wuchs, aber so schlank, wie ich es gar nicht beschreiben kann, hatte eine feine und stolze Nase, Augen voller Engelsgüte und einen dichten Haarschopf, der ihm von der Stirn auf die Augen fiel, so daß er zuweilen wie durch eine Nebelwolke hindurch blickte.«

Der Toupetkünstler war, mit einem Wort, ein hübscher Mann und »gefiel allen«. Der »Graf selbst« liebte ihn, zeichnete ihn vor allen anderen aus, ließ ihm schöne Kleider machen, »hielt ihn aber sehr streng«. Er wollte es nicht haben, daß Arkadij außer ihm noch irgendeinen Menschen rasiere oder frisiere. Arkadij mußte sich daher immer im gräflichen Ankleidezimmer aufhalten, außer wenn er am Theater beschäftigt war.

Man ließ ihn nicht einmal in die Kirche zur Beichte und zum Abendmahl gehen, denn der Graf selbst glaubte nicht an Gott und konnte die Geistlichen nicht leiden. Einmal ließ er sogar die Popen von der Borissogljeber Kirche, die zu ihm mit dem Kreuze gekommen waren, mit Hunden hetzen.

Der Graf war, berichtete Ljubow Onissimowna, vor lauter Bosheit abstoßend häßlich und sah allen wilden Tieren zugleich ähnlich. Arkadij verstand aber auch diesem tierähnlichen Gesicht, und wenn auch nur für kurze Zeit, einen solchen Ausdruck zu verleihen, daß der Graf, wenn er abends in seiner Loge saß, würdiger als mancher andere aussah.

Der »Natur« des Grafen gingen aber, zu seinem großen Ärger, am meisten die Würde und der »kriegerische Ausdruck« ab.

Damit ein so unvergleichlicher Künstler wie Arkadij niemand andern mit seinen Diensten beglücken könne, »mußte er sein Leben lang zu Hause sitzen und bekam niemals bares Geld in die Hand«. Er war aber schon über fünfundzwanzig Jahre alt, und Ljubow Onissimowna stand im neunzehnten. Sie waren natürlich miteinander bekannt, und zwischen ihnen waren Beziehungen entstanden, die in diesem Alter häufig sind: Sie hatten einander lieb. Sie konnten aber von ihrer Liebe nur in entfernten Andeutungen und nur vor fremden Ohren während des Schminkens sprechen.

Zusammenkünfte unter vier Augen waren unmöglich, ja sogar undenkbar.

»Wir Schauspielerinnen«, erzählte Ljubow Onissimowna, »wurden ebenso streng überwacht wie die Ammen in vornehmen Häusern; wir standen unter der Aufsicht älterer Frauen, welche Kinder hatten, und wenn mit einer von uns, Gott behüte, etwas passierte, so wurden jenen Frauen die Kinder weggenommen und furchtbaren Martern unterzogen.«

Das Gebot der Keuschheit durfte nur der übertreten, der es selbst aufgestellt hatte.

V

Ljubow Onissimowna stand um jene Zeit nicht nur in der Blüte ihrer jungfräulichen Schönheit, sondern auch in der interessantesten Entwicklungsperiode ihres vielseitigen Talents: Sie sang in den Chören die »Potpourris«, tanzte »die ersten Pas in der Chinesischen Gärtnerin« und kannte, von einem Drang nach dem Tragischen erfüllt, »alle Rollen vom bloßen Zuschauen«.

Ich weiß nicht mehr genau, in welchen Jahren sich das abspielte. In Orjol würde der Kaiser (ich weiß nicht recht, ob es Alexander Pawlowitsch oder Nikolai Pawlowitsch war) erwartet; er sollte in der Stadt übernachten und am Abend einer Vorstellung im Theater des Grafen Kamenskij beiwohnen.

Der Graf lud zu dieser Veranstaltung den ganzen Adel ein (sein Theater war für Geld überhaupt nicht zugänglich) und gab sich Mühe, die Aufführung möglichst glanzvoll zu gestalten. Ljubow Onissimowna sollte das »Potpourri« singen und die »Chinesische Gärtnerin« tanzen; bei der letzten Probe aber fiel eine Kulisse herab und verletzte die Schauspielerin, die im Stück »Die Herzogin de Bourblanc« die Hauptrolle spielen sollte, am Fuß.

Ich habe noch nie etwas von einem Stück mit diesem Titel gehört, aber Ljubow Onissimowna sprach den Namen der Heldin so aus, wie ich ihn hier wiedergebe.

Die Theaterarbeiter, die die Kulisse fallen ließen, bekamen im Pferdestall ihre Prügel, die Verletzte wurde in ihre Kammer getragen, es gab aber niemand, der die Rolle der Herzogin de Bourblanc hätte übernehmen können.

»Ich erklärte mich bereit«, erzählte Ljubow Onissimowna, »diese Rolle zu spielen, denn es gefiel mir so gut, wie die Herzogin de Bourblanc ihren Vater auf den Knien um Verzeihung bittet und nachher mit aufgelösten Haaren stirbt. Ich hatte schönes, langes, blondes Haar, und Arkadij verstand es wunderbar zu frisieren.«

Der Graf war über die unerwartete Bereitwilligkeit des Mädchens, die Rolle zu spielen, sehr erfreut und sagte dem Regisseur, als dieser bestätigte, daß »Ljuba die Rolle nicht verpatzen werde«: »Wenn sie die Rolle verpatzt, wirst du es mir mit deinem Rücken büßen, ihr aber bringe von mir die Quamarin-Ohrringe.«

Die »Quamarin-Ohrringe« waren ein ebenso schmeichelhaftes wie verhaßtes Geschenk. Ihre Verleihung bedeutete die hohe Ehre, für einen Augenblick zur Odaliske des Grafen erhoben zu werden. Einige Zeit oder auch unmittelbar nach der Verleihung der Ohrringe bekam Arkadij den Auftrag, das zum Opfer auserwählte Mädchen gleich nach der Vorstellung als »heilige Cäcilie« zu kostümieren; das Mädchen wurde ganz weiß gekleidet, bekam den Heiligenschein um den Kopf und eine Lilie, das Symbol der Unschuld, in die Hand und wurde so in die Gemächer des Grafen geschafft.

»Das kannst du in deinem Alter noch nicht verstehen«, sagte die Kinderfrau, »es war aber das Schrecklichste, besonders für mich,, denn ich sehnte mich damals nur nach Arkadij. Also begann ich zu weinen. Ich warf die Ohrringe auf den Tisch und konnte mir gar nicht denken, wie ich am Abend spielen würde.«

Um dieselbe Stunde trat an Arkadij eine ebenso verhängnisvolle Versuchung heran.

Ein Bruder des Grafen, der immer auf seinem Gut lebte, kam in die Stadt, um sich dem Kaiser vorzustellen. Dieser Bruder war noch viel häßlicher als der andere: Er hielt sich ständig auf dem Lande auf, zog nie die Uniform an und ließ sich niemals rasieren, weil sein Gesicht voller Beulen und Höcker war. Bei dieser außergewöhnlichen Gelegenheit mußte er aber die Uniform anlegen, sein Äußeres in Ordnung bringen und jenen »kriegerischen Ausdruck« annehmen, der damals verlangt wurde.

Es wurde aber sehr viel verlangt.

»Heute weiß man gar nicht mehr, wie streng damals alles war«, sagte die Kinderfrau. »In allen Dingen wurde damals viel auf die Form gesehen, und den vornehmen Herren war sowohl der Gesichtsausdruck, als auch die Haartracht genau vorgeschrieben. Manchem stand aber dieses vorschriftsmäßige Aussehen gar nicht: Wenn man ihn nach der Vorschrift mit dem aufrecht stehenden Schopf über der Stirne und den an den Schläfen nach vorn gekämmten Haaren frisierte, so sah er wie eine Bauern-Balalaika ohne Saiten aus.«

Die vornehmen Herren hatten davor große Angst. Alles kam auf die Kunst des Friseurs und Raseurs an: von der Art und Weise, wie die Stege zwischen dem Backenbart und dem Schnurrbart ausrasiert, wie die Locken gebrannt und wie sie angeordnet waren, hing der ganze Gesichtsausdruck ab. Die Herren vom Zivil hatten es, wie die Kinderfrau sagte, viel leichter, denn man schenkte ihnen weniger Beachtung und verlangte von ihnen nur ein bescheidenes Aussehen; die Militärpersonen sollten aber den Vorgesetzten gegenüber Bescheidenheit und allen anderen Menschen gegenüber maßlosen Kampfesmut ausdrücken.

Arkadij verstand aber mit seiner wunderbaren Kunst, dem häßlichen und unbedeutenden Gesicht des Grafen eben diesen Ausdruck zu verleihen.

VI

Der ländliche Graf aber war noch viel häßlicher als der städtische und so furchtbar verwachsen und verroht, daß er es auch selbst fühlte. Er hatte aber niemand, der sein Äußeres in Stand hätte halten können; seinen eigenen Friseur hatte er aus lauter Geiz gegen Zins nach Moskau entlassen, auch hatte er so viele Höcker im Gesicht, daß man ihn unmöglich rasieren konnte, ohne ihm die ganze Haut zu zerschinden.

Er kommt also nach Orjol, beruft alle Barbiere der Stadt zu sich und sagt ihnen: »Wer von euch mich so herrichten kann, daß ich meinem Bruder, dem Grafen Kamenskij gleiche, bekommt zwei Dukaten. Für denjenigen aber, der mich dabei schneidet, lege ich zwei Pistolen auf den Tisch. Wer seine Sache gut macht, kann das Gold nehmen und gehen; wer mir aber auch nur ein Pickelchen verletzt oder den Backenbart auch nur um ein Haar verschneidet, den töte ich auf der Stelle.«

Er wollte den Leuten nur Angst machen, denn die Pistolen waren gar nicht geladen.

In Orjol gab es damals nur sehr wenige Barbiere, und diese hielten sich meistens in den Bädern auf, um Schröpfköpfe und Blutegel anzusetzen, hatten aber weder Geschmack noch Phantasie. Das sahen sie auch selbst ein und weigerten sich, den Grafen Kamenskij umzuwandeln. Gott sei mit dir und deinem Gold! dachten sie sich. »Was Sie von uns verlangen«, sagen sie ihm, »können wir gar nicht machen, denn wir sind nicht wert, eine so erhabene Person auch nur anzurühren. Uns fehlen auch die richtigen Rasiermesser; wir haben nur gewöhnliche russische Messer, für Ihr Gesicht braucht man aber ein englisches. Nur des Grafen Barbier Arkadij allein könnte so was fertigbringen.«

Der Graf läßt die städtischen Barbiere hinauswerfen, und die sind froh, daß sie mit heiler Haut davongekommen sind. Er selbst aber fährt zu seinem älteren Bruder und sagt: »Lieber Bruder, ich komme zu dir mit einer großen Bitte: Überlasse mir vor dem Abend deinen Arkadij, damit er mich in einen ordentlichen Zustand bringt. Ich habe mich schon lange nicht mehr rasieren lassen, und die hiesigen Barbiere können das nicht machen.«

Und der Graf antwortet seinem Bruder: »Die hiesigen Barbiere taugen selbstverständlich den Teufel. Ich wußte gar nicht, daß es hier welche gibt: Ich lasse selbst meine Hunde von eigenen Leuten scheren. Was aber deine Bitte betrifft, so verlangst du von mir etwas Unmögliches, denn ich habe den Eid geleistet, daß Arkadij, solange ich lebe, keinen Menschen außer mir anrühren wird. Glaubst du denn, daß ich mein Wort vor meinem leibeigenen Sklaven brechen kann?«

Der andere antwortet: »Warum denn nicht? Du hast es so angeordnet und kannst es auch selbst wieder abschaffen.«

Der ältere Graf sagt aber, daß er diese Ansicht sehr merkwürdig finde: »Wenn ich das tue, was kann ich dann von meinen Leuten verlangen? Arkadij weiß, daß ich es einmal so festgesetzt habe, und alle wissen es, dafür wird er auch, viel besser als die anderen, behandelt. Wenn er sich aber untersteht, seine Kunst auf jemand andern anzuwenden, so muß ich ihn zu Tode prügeln und unter die Rekruten stecken.«

Der Bruder erwidert darauf: »Du kannst ja nur das eine von beiden tun: ihn entweder zu Tode prügeln oder unter die Rekruten stecken; beides zugleich kannst du gar nicht machen.«

»Gut«, sagt der Ältere, »ich will deinen Wunsch erfüllen. Ich werde ihn aber nicht zu Tode, sondern nur halbtot prügeln und dann unter die Rekruten stecken.«

»Ist das dein letztes Wort, Bruder?«

»Ja, das allerletzte.«

»Ist das dein einziges Bedenken?«

»Ja, das einzige.«

»Dann ist es wunderschön; ich hatte schon geglaubt, daß dein leiblicher Bruder dir weniger wert ist als ein leibeigener Sklave. Du brauchst also deinen Befehl gar nicht aufzuheben, schick mir nur deinen Arkadij, damit er mir meinen Pudel schert. Das weitere ist dann schon meine Sache.«

Der Bruder konnte ihm diese Bitte nicht gut abschlagen.

»Gut«, sagte er, »deinen Pudel darf er wohl scheren.«

»Das ist alles, was ich brauche.«

Er drückte dem Bruder die Hand und fuhr heim.

VII

Das war um die Dämmerstunde im Winter, wo man eben die Lampen anzündet.

Der Graf läßt Arkadij kommen und sagt ihm: »Geh zu meinem Bruder ins Haus und scher ihm seinen Pudel.«

Arkadij fragt: »Ist das alles, was Sie mir befehlen?«

»Das ist alles«, sagt der Graf. »Komm aber bald zurück, denn du mußt noch die Schauspielerinnen frisieren. Ljuba wird heute in drei Rollen spielen, nach dem Theater aber sollst du sie mir als heilige Cäcilie einkleiden.«

Arkadij Iljitsch fiel beinahe um.

Der Graf fragte: »Was hast du denn?«

Arkadij aber antwortete: »Verzeihung, ich bin auf dem Teppich ausgeglitten.«

Der Graf witterte wohl etwas: »Paß auf, daß es kein Unglück gibt!«

Arkadij war es aber schon so zumute, daß er nicht mehr an Glück und Unglück dachte.

Als er den Befehl hörte, mich als heilige Cäcilie einzukleiden, verging ihm Hören und Sehen. Er nahm das Lederfutteral mit dem Rasierbesteck und ging hinaus.

VIII

Er kommt zum Bruder des Grafen. Vor dem Spiegel brennen schon die Kerzen, und auf dem Tisch liegen wieder zwei Pistolen und daneben Dukaten, aber nicht zwei, sondern zehn, und die Pistolen sind diesmal mit tscherkessischen Kugeln geladen.

Der Bruder des Grafen sagt: »Ich habe gar keinen Pudel, verlange von dir aber folgendes: Richte mich so her, daß ich ein mutiges Aussehen bekomme. Du kriegst dafür zehn Dukaten, wenn du mich aber schneidest, bist du auf der Stelle tot.«

Arkadij überlegte sich die Sache und machte sich plötzlich daran – Gott allein weiß, was über ihn gekommen war –, den Bruder des Grafen zu frisieren und zu rasieren. Im Nu war er mit seiner Arbeit fertig, steckte das Geld in seine Tasche und sagte: »Leben Sie wohl.«

Jener antwortet: »Geh! Ich möchte aber nur das eine wissen: Wie hast du dich dazu entschließen können?«

Arkadij aber sagt: »Warum ich mich dazu entschlossen habe, das weiß nur mein Herz.«

»Oder bist du vielleicht kugelfest oder kennst irgendeinen Zauber, daß du selbst die Pistolen nicht fürchtest?«

»Die Pistolen sind das wenigste, an die habe ich gar nicht gedacht.«

»Was? Wagtest du denn zu denken, daß das Wort deines Grafen mehr gelte als das meinige und daß ich dich, wenn du mich schneidest, nicht erschösse? Wenn du nicht kugelfest bist, so wärest du auf der Stelle tot.«

Als Arkadij den Namen seines Herrn hörte, fuhr er zusammen und sagte wie aus dem Schlaf: »Ich bin nicht kugelfest, Gott hat mir aber Vernunft verliehen: Noch eh du die Hand nach der Pistole ausstrecktest, hätte ich dir mit dem Rasiermesser die Gurgel durchschnitten.«

Mit diesen Worten stürzt er hinaus und kommt ins Theater, gerade noch zur rechten Zeit, um mich herzurichten. Er zittert am ganzen Leibe, und wie er sich über mich beugt, um eine Locke zu wickeln, flüstert er mir zu: »Hab nur keine Angst, ich werde dich entführen.«

IX

Die Aufführung gelang vortrefflich, denn wir alle waren gut abgerichtet und alle Ängste und alle Marter gewohnt. Wir machten unsere Sache so gut, wie wenn wir aus Stein gewesen wären, so daß niemand sehen konnte, wie uns dabei zumute war.

Wir sahen von der Bühne aus den Grafen und seinen Bruder: Sie waren einander sehr ähnlich. Selbst als sie hinter die Kulissen kamen, konnte man sie schwer voneinander unterscheiden. Der unsrige war aber auf einmal ganz still und sanft geworden. So war er immer vor seinen grausamsten Wutausbrüchen.

Wir zittern alle und bekreuzigen uns: »Herr, errette uns und sei uns gnädig! Wen wird diesmal sein Zorn treffen?«

Wir wußten noch nichts von der verzweifelten Tat Arkaschas; er selbst aber wußte natürlich, daß er keine Gnade zu erwarten hatte, und erbleichte, als der Bruder des Grafen ihn anblickte und unserm Grafen etwas zuflüsterte. Ich aber hatte scharfe Ohren und hörte, was er ihm sagte: »Bruder, ich rate dir, nimm dich vor ihm in acht, wenn er dich rasiert.«

Der Unsrige lächelte nur leise.

Ich glaube, daß auch Arkadij etwas gehört hatte, denn er war außer sich vor Aufregung: Als er mich für die letzte Rolle der Herzogin herrichtete, legte er mir – was ihm sonst nie passierte – soviel Puder an, daß der Franzose, der Garderobier, sagte: »Trop beaucoup, trop beaucoup!« Und er nahm mit einem Bürstchen den überschüssigen Puder von mir ab.

X

Als aber die Vorstellung zu Ende war, zog man mir das Kleid der Herzogin von Bourblanc aus und kleidete mich als Cäcilie ein: Es war ein einfaches, weißes Gewand ohne Ärmel, das an den Achseln nur von den Schleifen gehalten wurde. Wir konnten diese Tracht nicht ausstehen. Und nun kommt auch schon Arkadij, um mir die Frisur der heiligen Cäcilie zu machen, wie sie auf den Bildern dargestellt wird, und mir einen dünnen Reifen als Heiligenschein im Haare zu befestigen. Und er sieht, daß vor der Tür meiner Kammer sechs Mann stehen. Die sollten ihn, sobald er mit mir fertig sein und aus meiner Kammer wieder herauskommen würde, ergreifen und zum Foltern schleppen, Es gab bei uns im Hause Foltern, die schlimmer waren als jeder Tod. Es gab da Wippen, Spannböcke und die fürchterlichsten Instrumente. Wer das einmal durchgemacht hatte, hatte vor gerichtlichen Strafen gar keinen Respekt mehr. Unter dem ganzen Haus gab es geheime Verliese, wo lebendige Menschen wie die Bären an Ketten saßen. Wenn man vorbeikam, hörte man zuweilen die Ketten klirren und die Menschen stöhnen. Die Eingekerkerten wollten wohl, daß die Obrigkeit etwas davon erführe; die Obrigkeit wagte aber nicht, für sie einzutreten. Viele Leute saßen hier lebenslänglich. Einer von ihnen verfaßte, nachdem er viele Jahre gesessen hatte, den Vers:

Es kommen die Schlangen und fressen die Augen,
Und Skorpione das Blut aus den Adern saugen.

Wenn man an den Kellern vorbeiging, flüsterte man den Vers vor sich hin und zitterte am ganzen Leibe.

Manche waren neben lebendigen Bären so angekettet, daß diese sie gerade noch mit den Tatzen berühren konnten.

Es gelang ihnen aber nicht, Arkadij Iljitsch zum Foltern zu holen: Als er zu mir in die Kammer trat, packte er im gleichen Augenblick den Tisch, schlug das Fenster ein, und was weiter geschah, weiß ich nicht mehr ...

Ich kam zum Bewußtsein, als ich Kälte in den Füßen fühlte. Ich will die Beine anziehen und merke, daß ich in einen Pelz aus Wolfs- und Bärenfell eingewickelt bin. Um mich herum ist es stockfinster, und ich rase auf einer Troika dahin ... Ich weiß gar nicht, wohin. Neben mir sitzen im breiten Schlitten zwei Männer: Der eine – es ist Arkadij Iljitsch – hält mich fest, der andere aber treibt die Pferde an ... Der Schnee sprüht nur so unter den Hufen der Pferde empor, und der Schlitten schüttelt mächtig: Wenn wir nicht auf dem Boden des Schlittens gesessen und uns nicht mit den Händen festgehalten hätten, wären wir längst hinausgeflogen.

Und ich höre sie ängstlich miteinander reden und verstehe nur das eine: »Man setzt uns nach! Jage, was du jagen kannst!«

Wie Arkadij Iljitsch sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, beugt er sich über mich und sagt: »Ljuba, mein Täubchen! Man jagt uns nach, bist du bereit zu sterben, wenn sie uns einholen?«

Ich antworte, daß ich mit Freuden sterben werde.

Er hoffte, nach der türkischen Stadt Rustschuk zu entkommen, wohin schon viele von unseren Leuten vor dem Grafen Kamenskij geflohen waren.

Wir sausten plötzlich über eine Brücke, in der Ferne tauchte etwas wie eine menschliche Behausung auf, und wir hörten Hundegebell. Der Kutscher hieb tüchtig auf die Pferde ein, warf plötzlich den Schlitten um, Arkadij und ich fielen in den Schnee hinaus, der Schlitten, die Pferde und der Kutscher waren aber im Nu verschwunden.

Arkadij sagt: »Fürchte nichts, so muß es sein, denn ich kenne den Kutscher, der uns gefahren hat, nicht, und er kennt uns nicht. Er hat es für drei Dukaten übernommen, dich zu entführen, und muß jetzt an die Rettung seiner eigenen Seele denken. Wir sind in Gottes Hand: Da ist das Dorf Ssuchaja-Orliza, und hier wohnt ein kühner Pope, der die gewagtesten Ehen traut und der schon vielen von unseren Leuten zur Flucht verholfen hat. Wir geben ihm ein Geschenk, er wird uns die Nacht über bei sich behalten und morgen trauen; am Abend wird aber der gleiche Kutscher wiederkommen, und wir werden uns davonmachen.«

XI

Wir klopfen an und treten in den Flur. Der Pope selbst läßt uns ein – er ist ein kleiner, alter Mann, und vorne fehlt ihm ein Zahn. Seine alte Frau macht Licht. Wir stürzen ihnen zu Füßen: »Rettet uns, laßt uns in die warme Stube ein und versteckt uns bis morgen abend!«

Der Pope fragt: »Habt ihr was gestohlen, oder seid ihr einfach durchgebrannt?«

»Nichts haben wir gestohlen; wir sind auf der Flucht vor dem grausamen Grafen Kamenskij und wollen nach der türkischen Stadt Rustschuk, wo nicht wenige von unsern Leuten wohnen. Man wird uns nicht finden, wir haben aber Geld bei uns und wollen Ihnen für das Übernachten einen goldenen Dukaten geben und für das Trauen – drei Dukaten. Wenn Sie es können, trauen Sie uns, sonst werden wir uns in Rustschuk trauen lassen.«

Und er antwortet: »Warum sollte ich es nicht können? Ich kann es sehr wohl. Was braucht ihr euer Geld nach Rustschuk zu schleppen? Gebt mir für alles zusammen fünf Dukaten, und ich werde euch gleich hier zusammenkoppeln.«

Arkadij gab ihm die fünf Dukaten, und ich nahm mir die Quamarin-Ohrringe ab und gab sie der Popenfrau.

Der Pope nahm das Geld und sagte: »Ach, meine Lieben, ich habe schon ganz andere Paare getraut, es ist aber nicht gut, daß ihr von des Grafen Leuten seid. Und wenn ich auch Pope bin, so habe ich doch Angst vor seiner Grausamkeit. Aber ich will es schon machen, komme, was kommen mag. Gebt mir noch einen Dukaten, und wenn auch einen beschnittenen, dazu und versteckt euch.«

Arkadij gibt ihm den sechsten Dukaten, sogar einen guten, und er sagt zu seiner Popenfrau: »Alte, was stehst du noch da? Gib der Entlaufenen irgendeinen Rock und eine Jacke, denn es ist eine Schande, sie anzuschauen – sie ist ja nackt.« Dann wollte er uns in die Kirche führen und in den Kasten mit Kirchengewändern verstecken. Kaum hatte aber die Popenfrau begonnen, mich hinter dem Vorhang umzukleiden, als an die Tür geklopft wurde.

XII

Uns beiden standen die Herzen still. Der Pope aber flüstert Arkadij zu: »Mein Lieber, in den Kasten mit den Kirchengewändern werdet ihr ja jetzt nicht mehr kommen können, schlüpfe aber unter das Federbett.«

Und zu mir spricht er: »Und du, meine Liebe, komm einmal hier.«

Er stellt mich ins Gehäuse der großen Standuhr, sperrt es zu und steckt den Schlüssel in die Tasche. Und dann geht er die Tür aufmachen. Ich höre, daß es viele Menschen sind. Die einen stehen in der Türe, und zweie schauen von außen durchs Fenster herein.

Sieben Mann von den Jägern des Grafen kommen in die Stube. Alle haben Mordwaffen und Peitschen in der Hand und Stricke im Gürtel; der achte im langen Wolfspelz und hoher Mütze aber ist der Haushofmeister.

Das Uhrgehäuse, in dem ich stand, war vorne wie ein Gitter durchbrochen und mit altem Tüll bespannt. Durch diesen Tüll konnte ich alles sehen.

Der alte Pope merkt wohl, daß die Sache schlimm steht: Er zittert vor dem Haushofmeister, bekreuzigt sich in einem fort und stammelt: »Ach, meine Lieben, meine Lieben! Ich weiß wohl, was ihr hier sucht, ich stehe vor dem durchlauchtigsten Grafen unschuldig da! Ich bin unschuldig, bei Gott, unschuldig!«

Während er sich aber bekreuzigt, zeigt er immer mit den Fingern über die linke Schulter auf das Uhrgehäuse, in dem ich eingesperrt bin.

Ich bin verloren! dachte ich mir, als ich diesen Zauber sah.

Auch der Haushofmeister verstand den Wink und sagte: »Uns ist alles bekannt. Gib mal den Schlüssel von dieser Uhr her.«

Der Pope begann wieder mit den Händen zu fuchteln: »Ach, meine Lieben! Verzeiht, straft mich nicht, ich habe vergessen, wo ich den Schlüssel habe, bei Gott, ich habe es vergessen!« Und dabei fuhr er sich immer mit der Hand über die Tasche.

Der Haushofmeister merkte auch diesen Zauber. Er nahm ihm den Schlüssel aus der Tasche und holte mich aus der Uhr heraus.

»Komm mal heraus, Täubchen«, sagt er mir, »der Täuberich wird sich schon von selbst melden.«

Arkascha meldet sich auch gleich: Er wirft das Popenbett von sich und spricht: »Es ist wohl nichts zu machen, ihr habt gewonnen. Nun könnt ihr mich wieder zurückbringen und den Folterknechten überliefern. Sie aber ist unschuldig: Ich habe sie mit Gewalt entführt.«

Dann wendet er sich zum Popen um und spuckt ihm nur ins Gesicht.

Dieser aber sagt: »Meine Lieben, seht ihr, wie er mein Priesteramt und meine Treue beschimpft? Meldet es doch dem durchlauchtigsten Grafen!«

Der Haushofmeister antwortet: »Hab nur keine Angst: Alles wird ihm angerechnet werden!« Und er gibt seinen Leuten den Befehl, mich und Arkadij hinauszuführen.

Wir setzten uns in drei Schlitten: In den vorderen Schlitten kam der gebundene Arkadij mit den Jägern, mich setzte man unter der gleichen Bewachung in den letzten Schlitten, und die übrigen fuhren in der Mitte.

Als das Volk uns so fahren sah, machte es Platz: Alle glaubten, daß es ein Hochzeitszug sei.

XIII

Wir waren sehr bald wieder zu Hause. Als wir in den Hof einfuhren, war vom ersten Schlitten, auf dem man Arkadij gebracht hatte, nichts mehr zu sehen. Man sperrte mich in meine alte Kammer und nahm mich ins Verhör: Wie lange ich mit Arkadij allein gewesen sei?

Ich sage ihnen: »Auch nicht einen Augenblick!«

Das war mir wohl schon so vom Himmel beschieden, daß mich nicht der Geliebte, sondern der Verhaßte bekam. Diesem Schicksal entging ich nicht. Als ich in meine Kammer zurückkehrte und den Kopf in die Kissen vergrub, um mein Unglück zu beweinen, hörte ich von unten furchtbares Stöhnen.

Bei uns war das so eingerichtet: Wir Mädchen wohnten im ersten Stock des hölzernen Hauses, unten aber war ein großes, hohes Zimmer, in dem wir singen und tanzen lernten. Oben konnte man alles, was unten vorging, hören. Und der Fürst der Hölle, Satanas, gab den Grausamen den Gedanken ein, Arkadij gerade unter meiner Kammer zu foltern.

Als ich hörte, wie man ihn peinigte, stürzte ich zur Türe, um zu ihm zu laufen. Die Türe aber war verschlossen ... Ich wußte selbst nicht, was ich tun wollte, und ich fiel hin ... Auf dem Boden war aber alles noch viel deutlicher zu hören. Und ich hatte keinen Nagel und kein Messer, ich hatte gar nichts, um mich zu töten. Und ich nahm meinen Zopf, und wickelte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn mir um den Hals, und ich drehte ihn immer fester zusammen.

Zuletzt hörte ich nur ein Klingen in den Ohren und sah Kreise vor den Augen, und alles erstarb in mir ...

Und als ich zum Bewußtsein kam, sah ich mich an einem Ort, den ich gar nicht kannte, in einer großen hellen Stube. Kälber waren um mich her, viele Kälber, mehr als zehn Stück ... So freundlich waren sie: Eines nach dem andern kam auf mich zu, schnupperte mit kalten Lippen an meiner Hand, glaubte wohl, das Euter der Mutter zu saugen. Ich war auch darum erwacht, weil das so kitzelte. Ich sehe mich um und frage mich: Wo bin ich? Und ich sehe: Eine ältere große Frau kommt herein, ist ganz in blaue Leinwand gekleidet, hat ein sauberes Tuch um den Kopf, und das Gesicht ist so freundlich und liebevoll. Wie die Frau sieht, daß ich zum Bewußtsein gekommen bin, fängt sie freundlich zu sprechen an und erzählt mir, daß ich mich im Kälberstall am Grafenhaus befände.

Siehst du, dort stand dieser Stall – erklärte Ljubow Onissimowna, mit der Hand auf den entferntesten Winkel des halbzerfallenen Bretterzaunes zeigend.

XIV

Man hatte sie auf den Viehhof gebracht, weil man glaubte, sie sei verrückt geworden. Geisteskranke Leibeigene, die zum Vieh herabgesunken waren, pflegte man »zwecks Prüfung« auf den Viehhof zu schaffen, denn die Viehwärter, lauter ältere und solide Leute, galten als berufen, Geisteskranke zu beobachten.

Die Frau in blauer Leinwand, bei der Ljubow Onissimowna zu sich kam, hieß Drossida und war sehr gutherzig.

Am Abend – fuhr die Kinderfrau fort – machte sie mir ein Lager aus frischem Haferstroh. Sie zerfaserte es, daß es weich wie Daunen war, und sagte mir: »Ich will dir alles eröffnen, Mädchen, komme, was kommen mag. Ich bin ebenso wie du und habe nicht immer diese blaue Leinwand getragen. Auch ich habe schon ein anderes Leben gesehen. Ich mag daran gar nicht zurückdenken, dir aber will ich nur dieses sagen: Gräme dich nicht, daß du auf den Viehhof verbannt worden bist, in der Verbannung ist es viel besser, nimm dich aber vor diesem schrecklichen Placon in acht ...«

Und sie holt aus dem Busentuch ein weißes Fläschchen und zeigt es mir.

Ich frage: »Was ist das?«

Und sie antwortet: »Trink es nicht: Es ist Schnaps. Ich habe mich einmal nicht beherrschen können. Gute Menschen hatten es mir gegeben. Jetzt kann ich ohne das Placon gar nicht leben ... Du aber enthalte dich, solange du kannst, und verurteile mich nicht, wenn ich ein wenig davon sauge, denn es ist mir gar zu weh ums Herz. Du sollst aber noch einen Trost im Leben erfahren: Gott hat ihn schon von der Tyrannei erlöst ...«

Ich schrie auf: »Er ist tot!« und griff mir an die Haare. Ich erkenne meine Haare nicht: Ganz weiß sind sie geworden ... Was ist das?

Und sie sagt mir: »Erschrecke nicht, deine Haare sind dort, als man dich aus deinem Zopf befreite, weiß geworden. Er aber lebt und ist von der Tyrannei erlöst: Der Graf hat ihm eine Gnade erwiesen, die noch niemand erlebt hat. Wenn die Nacht kommt, werde ich dir alles erzählen, jetzt will ich noch ein wenig an meinem Placon saugen. Das Herz brennt mir so ...«

Und sie sog so lange daran, bis sie einschlief.

Nachts aber, als alle schon schliefen, stand Tantchen Drossida wieder auf, ging ans Fenster, sog wieder am Placon, versteckte es und fragte mich leise: »Schläft der Gram oder schläft er nicht?«

Und ich antwortete: »Der Gram schläft nicht.«

Sie kam an mein Bett und erzählte mir, daß der Graf den Arkadij nach der Züchtigung zu sich berufen und ihm gesagt hatte: »Du mußtest alles durchmachen, was ich für dich festgesetzt hatte. Da du aber mein Favorit warst, werde ich dir meine Gnade erweisen: Morgen stecke ich dich unter die Soldaten. Da du nun meinen Bruder, den durchlauchtigsten Grafen, trotz seiner Pistolen nicht gefürchtet hast, will ich dir den Weg der Ehre eröffnen – ich will nicht, daß du tiefer stehst als auf der Stufe, auf die du dich mit deinem edlen Geist selbst gestellt hast. Ich will einen Brief schreiben, daß man dich sofort in den Krieg schickt, und du wirst nicht als gewöhnlicher Soldat, sondern als Sergeant kämpfen. Zeige nun deinen Mut. Und du stehst jetzt nicht mehr unter meinem Willen, sondern unter dem Willen des Zaren.«

»Jetzt hat er es leichter«, sagte Tantchen Drossida, »und hat nichts zu fürchten. Jetzt droht ihm nur eine Gefahr: in der Schlacht zu fallen. Die Tyrannei des Grafen aber ist er los.«

Ich glaubte ihr jedes Wort und träumte drei Jahre lang jede Nacht von Arkadij Iljitsch, wie er kämpfte.

So vergingen die drei Jahre, und Gott war mir gnädig: Man schickte mich nicht mehr ans Theater, sondern ließ mich bei der Tante Drossida im Kälberstall als ihre Gehilfin. Hier hatte ich es gut, und die Frau tat mir sehr leid. Wenn sie nicht allzuviel getrunken hatte, erzählte sie mir nachts Geschichten, und ich hörte ihr gerne zu. Sie konnte sich noch erinnern, wie der alte Graf von seinen eigenen Leuten erstochen worden war. Sein Kammerdiener war der Haupttäter gewesen – die Leute hatten seine Grausamkeit einfach nicht länger ertragen können. Ich trank aber noch immer nicht und tat mit großer Freude die Arbeit für Tantchen Drossida: Die Kälbchen waren mir wie Kinder. Ich hatte sie so lieb, daß ich sie bekreuzigte und dann drei Tage lang beweinte, wenn man sie aus dem Stalle nahm, um sie für den gräflichen Tisch zu schlachten. Fürs Theater taugte ich nicht mehr, denn ich konnte die Beine nicht mehr richtig bewegen. Einst hatte ich einen wunderschönen leichten Gang. Auf der Flucht mit Arkadij Iljitsch hatte ich mir wohl die Beine erkältet und hatte nicht mehr die einstige Kraft in den Spitzen. Ich kleidete mich in die gleiche blaue Leinwand wie Drossida, und Gott allein weiß, wie ich mein Leben beschlossen hätte. Aber eines Abends bei Sonnenuntergang, als ich in der Stube sitze und Garn aufwickele, fliegt ein Steinchen zum Fenster herein, und das Steinchen ist in ein Papier eingeschlagen.

XV

Ich schaue hin, ich schaue her, blicke zum Fenster hinaus – niemand ist da.

Jemand hat wohl den Stein aus der freien Welt hereingeworfen, denke ich mir, hat aber aus Versehen unser Fenster getroffen. Und ich frage mich: Soll ich das Papier aufmachen oder nicht? Es ist wohl besser, daß ich es aufmache, denn es ist sicher etwas darauf geschrieben. Vielleicht eine wichtige Nachricht. Ich kann das Geheimnis für mich behalten und den Stein mit dem Zettel demjenigen zuwerfen, für den er bestimmt ist. Ich mache das Papier auf, beginne zu lesen und traue meinen Augen nicht ...

XVI

Und ich lese: »Meine treue Ljuba! Ich war im Krieg, habe für meinen Kaiser gefochten, habe mehr als einmal mein Blut vergossen und bin dafür mit dem Offiziersrang und dem Adel belohnt worden. Jetzt habe ich Urlaub zur Heilung meiner Wunden bekommen und wohne im Gasthof in der Kanoniervorstadt. Morgen lege ich alle meine Orden und Kreuze an, gehe zum Grafen, gebe ihm mein ganzes Geld, die fünfhundert Rubel, die man mir zur Heilung meiner Wunden gegeben hat, und bitte ihn, dich freizulassen, in der Hoffnung, daß wir uns nun vor dem Altar des Höchsten trauen lassen können.«

Und weiter hieß es in dem Brief, fuhr Ljubow Onissimowna mit unterdrückter Erregung fort: »Was aber die Schmach betrifft, die Sie über sich ergehen lassen mußten, so halte ich sie für ein bloßes Unglück und rechne sie Ihnen nicht als Sünde und Schwäche an. Gott allein mag Sie richten, ich aber empfinde Ihnen gegenüber nur Achtung.« Und der Brief ist unterschrieben: »Arkadij Iljin.«

Ljubow Onissimowna verbrannte den Brief sofort im Ofen, sagte keinem Menschen etwas davon, selbst der Alten nicht, und betete die ganze Nacht zu Gott. Sie betete aber nicht für sich, sondern nur für ihn: Er war zwar Offizier, mit Wunden und Ehrenzeichen bedeckt, sie konnte sich aber gar nicht denken, daß der Graf ihn anders behandeln würde als früher.

Sie fürchtete einfach, daß man ihn schlagen würde.

XVII

Am nächsten Morgen führte Ljubow Onissimowna die Kälbchen in aller Frühe in die Sonne und gab ihnen Milch und eingeweichte Brotrinden. Plötzlich hörte sie draußen, hinter dem Zaun, »in der Freiheit« viele Menschen rennen und laut sprechen.

Was sie sprachen, erzählte sie, hörte ich nicht, aber ihre Worte schnitten mich wie Messer ins Herz. Der Mistführer Philipp kam gerade in den Hof gefahren, und ich fragte ihn: »Filjuschka, Väterchen, hast du nicht gehört, worüber die Leute draußen sprechen?«

Und er antwortet: »Sie gehen in die Kanoniervorstadt, wo in dieser Nacht der Gastwirt einen schlafenden Offizier erstochen hat. Er hat ihm die Kehle durchschnitten und fünfhundert Rubel von ihm geraubt. Man hat ihn schon ergriffen, er war ganz blutig und hatte noch das ganze Geld bei sich.«

Und wie er mir das sagt, falle ich wie tot zu Boden ...

So war es auch: Der Wirt hatte meinen Arkadij Iljitsch erstochen – und man beerdigte ihn hier, in diesem selben Grabe, auf dem wir jetzt sitzen. Er liegt jetzt unter uns, in dieser Erde ... Darum führe ich euch ja immer hierher spazieren. Ich habe gar keine Lust, dorthin zu schauen (sie zeigte mit der Hand auf die morschen Ruinen des Grafenhauses), möchte nur hier in seiner Nähe sitzen und ... einen Tropfen zu seinem Gedächtnis trinken.

XVIII

Ljubow Onissimowna hielt inne – sie war wohl mit ihrer Erzählung zu Ende –, holte das Fläschchen aus der Tasche und sog daran. Ich fragte sie: »Wer hat denn den berühmten Toupetkünstler hier beerdigt?«

»Der Gouverneur, mein Liebling, der Gouverneur war selbst bei der Beerdigung dabei. Wie denn sonst? Er war doch Offizier, und der Geistliche und der Diakon nannten ihn bei der Totenmesse ›den Edlen Arkadij‹. Und als man den Sarg ins Grab versenkte, gaben die Soldaten blinde Schüsse in die Luft ab. Der Gastwirt wurde aber übers Jahr auf dem Iljinkaplatze vom Henker mit der Knute bestraft. Dreiundvierzig Knutenhiebe bekam er wegen Arkadij IIjitsch, blieb aber am Leben und kam mit gebrandmarktem Gesicht nach Sibirien. Alle unsere Leute, die gerade frei hatten, liefen hin, um zuzuschauen, und die Alten, die sich noch erinnerten, wie man den Mörder des alten Grafen bestraft hatte, sagten, daß dreiundvierzig Schläge viel zu wenig wären: Arkascha war eben von einfacher Abstammung; für den Grafen aber hatte man hundertundeinen Schlag gegeben. Nach dem Gesetz darf man ja keine gerade Zahl von Schlägen geben, es muß immer eine ungerade Zahl sein. Damals hatte man sich einen Henker aus Tula kommen lassen und ihm vorher drei Glas Rum zu trinken gegeben. Er hatte die ersten hundert Schläge nur zur Peinigung gegeben, so daß der Verbrecher immer noch am Leben blieb; mit dem hundertsten Schlag aber zerschmetterte er ihm das Rückgrat. Als man ihn vom Brette aufhob, war er schon halbtot. Man deckte ihn mit einer Bastdecke zu und wollte ihn ins Zuchthaus bringen ... Unterwegs gab er den Geist auf. Und der Henker aus Tula schrie: »Gebt mir noch jemand her, alle Leute von Orjol will ich totschlagen!«

»Nun, waren Sie auch selbst bei der Beerdigung?«

»Gewiß, wir alle waren dabei: Der Graf hatte befohlen, daß man alle Leute vom Theater hinführe, damit sie sähen, wie weit es einer von den unsrigen bringen kann.«

»Haben Sie ihn auch im Sarge liegen sehen?«

»Gewiß! Alle gingen zum Sarge und nahmen von ihm Abschied. Auch ich ging hin ... Er war so verändert, daß ich ihn gar nicht wiedererkannt hätte: So blaß und mager war er – die Leute sagten, er hätte sein ganzes Blut verloren, weil ihn der Mörder um Mitternacht erstach ... So viel Blut hat er verloren ...«

Sie hielt inne und wurde nachdenklich.

»Und Sie«, fragte ich, »wie haben Sie es überstanden?«

Sie erwachte gleichsam aus ihren Träumen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Wie es mir anfangs zumute war, weiß ich nicht mehr, ich weiß auch nicht, wie ich nach Hause kam. Ich ging ja mit allen zusammen vom Friedhof fort, also hat mich wohl jemand geführt. Am Abend aber sagte mir Drossida Petrowna: ›So geht es nicht, du schläfst nicht und liegst wie ein Stein da. Das ist nicht gut! Du mußt weinen, damit das Herz einen Ausfluß hat.‹

Ich sage ihr drauf: ›Ich kann nicht weinen, Tantchen – mein Herz brennt wie eine Kohle und hat keinen Ausfluß.‹

Und sie antwortet: ›Also kannst du dem Placon nicht mehr entgehen.‹

Sie schenkte mir aus ihrem Fläschchen ein und sagte: ›Bisher habe ich dich davon zurückgehalten und es dir abgeraten. Jetzt ist aber nichts mehr zu machen: Sauge daran und lösche die Kohle.‹

Ich ihr drauf: ›Ich habe keine Lust.‹

›Närrchen‹, sagt sie mir, ›kein Mensch hat anfangs Lust dazu. Der Gram ist bitter, und das Gift ist noch bitterer. Wenn man die Kohle mit diesem Gift begießt, erlischt sie für eine Weile. Saug schnell daran!‹

Ich trank das ganze Placon auf einmal aus. Es war mir widerlich, ich konnte aber anders nicht einschlafen. Und so war es auch in der nächsten Nacht ... Heute kann ich ohne das Placon nicht mehr auskommen. Habe mir selbst eins angeschafft und kaufe mir Schnaps ... Und du, liebes Kind, sag der Mama nichts davon: Du sollst die einfachen Menschen niemals verraten, du sollst mit ihnen Mitleid haben, denn sie sind alle Dulder. Und wenn wir jetzt nach Hause gehen, werde ich gleich an der Ecke ans Fenster der Schenke klopfen ... Wir werden nicht hineingehen, ich werde nur das leere Placon abgeben, und man wird es mir gefüllt durchs Fenster reichen.«

Ich war gerührt und versprach ihr, keinem Menschen von ihrem Placon zu erzählen.

»Ich danke dir, Lieber – sag es niemand: Denn ich muß es haben.«

Ich sehe sie auch heute noch vor mir: Jede Nacht, wenn alle im Hause schlafen, steht sie von ihrem Bette auf, so leise, daß kein Knöchelchen knackt, sie lauscht und schleicht auf ihren langen erkälteten Beinen zum Fenster ... Sie steht eine Weile da, sieht sich um und lauscht wieder, ob meine Mutter nicht aus dem Schlafzimmer kommt. Dann höre ich den Hals des ›Placons‹ gegen ihre Zähne klappern. Sie nimmt einen Schluck, einen zweiten und einen dritten ... So hat sie die Kohle für eine Zeitlang gelöscht und eine Totenfeier für ihren Arkascha abgehalten. Und dann schlüpft sie wieder unter die Decke, und ich höre sie nur leise mit der Nase pfeifen. Sie schläft!

Eine schrecklichere und herzzerreißendere Totenfeier habe ich noch nicht erlebt.

 

ENDE


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