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Der Waldteufel

 

Angst hat große Augen

Sprichwort

 

Erstes Kapitel

Meine Kindheit verlebte ich in Orjol. Wir wohnten im Hause Njemtschinows, unweit der »kleinen Kathedrale«. Ich kann mich jetzt nicht mehr entsinnen, wo dieses hohe, hölzerne Haus stand, aber ich erinnere mich noch an den weiten Blick, den man vom Garten aus hatte, und an eine tiefe Schlucht mit steilen Abhängen, die von roten Lehmschichten durchzogen wurden. Hinter der Schlucht breitete sich eine große Weide aus, auf der staatliche Magazine standen, bei denen im Sommer die Soldaten exerzierten. Ich sah jeden Tag, wie man sie drillte und schlug. Es war dies damals noch in Übung, aber ich konnte mich durchaus nicht daran gewöhnen und weinte, so oft ich es sah. Damit sich das nicht allzu oft wiederholte, führte mich meine Kinderfrau, Marina Borissowna, eine alte Moskauer Soldatenfrau, in den Stadtgarten spazieren. Hier setzten wir uns an das Ufer der seichten Oka und sahen den dort badenden und spielenden kleinen Kindern zu, die ich um ihre Freiheit tief beneidete.

Der Hauptvorzug ihrer zwanglosen Lage bestand in meinen Augen darin, daß sie weder Schuhe noch Wäsche anhatten. Sie hatten ihre Hemdchen ausgezogen und das Halsloch mit den Ärmeln zugebunden, so daß kleine Säcke entstanden, die die Kinder gegen die Strömung hielten, um darin winzige silberglänzende Fischchen zu fangen. Sie waren so klein, daß man sie nicht ausnehmen konnte, was als hinreichender Grund angesehen wurde, um sie ungereinigt zu kochen und zu essen.

Ich hatte niemals den Mut gehabt, ihren Geschmack kennen zu lernen, aber ihr Fang durch die kleinen Fischer erschien mir als der Gipfel des Glücks, das ein Knabe meines Alters erlangen konnte.

Meine Kinderfrau wußte übrigens gute Gründe dafür daß eine solche Freiheit für mich ganz unziemlich wäre. Diese Beweisführungen schlossen immer damit, daß ich das Kind wohlgeborener Eltern sei, und daß jeder in der Stadt meinen Vater kenne.

»Im Dorfe«, sagte die Kinderfrau, »wäre es eine andere Sache. Dort bei den einfachen Bauern könnte ich es dir vielleicht auch erlauben, dich in solcher Freiheit zu belustigen.«

Gerade infolge dieser beschränkenden Erwägungen hatte das Dorf eine qualvoll starke Anziehungskraft für mich, und als meine Eltern ein kleines Gut im Kromschen Kreise kauften, kannte mein Entzücken keine Grenzen. Noch im gleichen Sommer siedelten wir aus dem großen Stadthause in das sehr behagliche, wenn auch kleine ländliche Haus mit einem Balkon und einem Strohdache über. Holz war im Kromschen Kreise schon damals teuer und selten. In der Gegend herrschen Steppen und Getreidefelder vor, und zudem ist sie gut von kleinen, aber klaren Flüßchen bewässert.

Zweites Kapitel

Im Dorfe machte ich gleich zahlreiche und interessante Bekanntschaften mit den Bauern. Während Vater und Mutter mit der Einrichtung des neuen Haushalts beschäftigt waren, verlor ich keine Zeit und befreundete mich aufs engste mit den Burschen und Kindern, die die Pferde auf den ausgerodeten Plätzen weideten. Vor allem aber erwarb sich der alte Müller, Großvater Ilja meine Anhänglichkeit. Er war ein schon ergrauter Alter mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart, der mehr als alle anderen für Gespräche zugänglich war, weil er nicht zur Arbeit fortging, sondern mit einer Mistgabel auf dem Mühldamm auf und abmarschierte oder auf dem zitternden Stauwehr saß und nachdenklich zuhörte, ob die Mühlräder gleichmäßig klapperten, oder ob nicht irgendwo das Wasser unter dem Wehr durchsickere. Wurde ihm das Nichtstun langweilig, so schnitzte er auf Vorrat Ahornzähne für das Treibrad. Von den beschriebenen Beschäftigungen konnte man ihn aber leicht abbringen, und er ließ sich dann gern in Gespräche ein, die abgerissen und zusammenhangslos, aber voller Anspielungen waren, wobei man nicht wußte, ob er sich über seine Zuhörer oder über sich selber lustig machte.

Seinem Beruf als Müller zufolge unterhielt Großvater Ilja recht nahe Beziehungen zu dem Wassergeist, der den oberen und unteren Teich und unsere beiden Sümpfe regierte. Sein Hauptquartier aber hatte dieser Dämon unter dem Stauwehr unserer Mühle.

Großvater Ilja kannte ihn genau und sagte: »Mich liebt er. Selbst wenn er zornig über einen Mißstand heimkommt, tut er mir nichts zu leid. Wenn sich jemand anderes an meiner Stelle auf die Säcke legte, den würde er vom Sack hinunterstoßen und hinauswerfen, mich aber rührt er im Leben nicht an.«

Alle jüngeren Leute bestätigten mir, daß die beschriebenen Beziehungen zwischen dem Großvater Ilja und dem »Wasseralten« wirklich bestünden, nur waren sie durchaus nicht der Ansicht, daß der Wassergeist den Großvater liebte, vielmehr wußte Ilja als echter, rechter Müller das echte, rechte Müllerwort, dem sich der Wassergeist samt seinem ganzen Teufelspack genau so widerspruchslos fügen, wie die Schlangen und Kröten unterm Wehr und auf dem Damm.

Ich fing zwar mit den Kindern Eiteln und Gründlinge, die es in unserem schmalen, aber klaren Flüßchen Gostomlja in großer Menge gab, aber dem Ernst meines Charakters entsprechend hielt ich mich doch mehr an die Gesellschaft des Großvaters Ilja, dessen erfahrener Sinn mir eine ganze Welt voll geheimnisvollen Reizes enthüllte, von der ich als Stadtkind keine Ahnung gehabt hatte. Von Ilja hörte ich über den Hausgeist, der auf der Mühlwalze schlief, über den Wassergeist, der unter den Rädern eine wunderschöne, vornehme Behausung hatte, und über die Spinnhexe, die so scheu ist, daß sie sich vor jedem zudringlichen Blick in den staubigsten Winkeln verbirgt, bald in der Scheune, bald in der Getreidedarre, bald in der Stampfmühle. Am wenigsten wußte der Großvater von dem Waldgeist, weil der weit weg, beim Hofe Sseliwans hauste und nur manchmal zu uns ins dichte Weidengebüsch kam, um sich da eine neue Weidenpfeife zu schneiden und im Schatten am Setzteich darauf zu spielen. Großvater Ilja hatte übrigens in seinem ganzen abenteuerreichen Leben den Waldgeist nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, und zwar am Nikolatage, an dem man bei uns die Kirchweih feiert. Der Waldgeist hatte sich Ilja als ganz friedliches Bäuerlein genähert und ihn um eine Prise Tabak gebeten. Als aber der Großvater ihm sagte: »Hol' dich der Teufel, – da schnupf'«, und seine Tabakdose aufmachte, konnte sich der Waldgeist nicht mehr beherrschen und benahm sich wie ein Schuljunge: er schlug mit der flachen Hand von unten gegen die Tabakdose, so daß der Tabak dem guten Müller in die Augen flog.

Alle diese lebendigen und interessanten Geschichten besaßen damals für mich volle Wahrscheinlichkeit, und ihr gedrängter bilderreicher Inhalt erfüllte meine Phantasie so, daß ich schier selbst zum Geisterseher geworden wäre. Als ich einmal mit großem Wagemut in die Stampfmühle hineinschaute, war mein Auge schon so fein und scharf, daß ich dort in einem staubigen Winkel die Spinnhexe sitzen sah. Als ich bei diesem Anblick, besinnungslos vor Schreck, davonlief, verriet mir mein anderer Sinn – das Gehör – die Anwesenheit des Waldgeistes. Ich kann mich nicht verbürgen, wo er gerade saß, wahrscheinlich auf einer hohen Weide, aber als ich vor der Spinnhexe davonlief, pfiff er mit aller Macht auf seiner grünen Pfeife und packte mich so fest am Fuß, daß mir der Absatz vom Stiefel abflog.

Außer Atem erzählte ich dies alles meinen Hausgenossen und mußte zum Lohne für meine Herzenseinfalt im Zimmer sitzen und die biblische Geschichte lesen, bis ein barfüßiger Knabe ins Nachbardorf zum alten Soldaten hinüberlief, der den vom Waldgeist an meinem Stiefel angerichteten Schaden kurieren konnte. Aber selbst das Lesen der biblischen Geschichte schützte mich nicht mehr vor dem Glauben an die Existenz dieser übernatürlichen Wesen, an die ich mich sozusagen durch Vermittlung des Großvaters Ilja gewöhnte. Ich kannte die biblische Geschichte genau und liebte sie und war auch jetzt bereit, sie zu lesen, aber trotzdem schien mir die liebliche Kinderwelt, in der diese Märchenwesen, von denen mir Großvater Ilja erzählte, lebten, unentbehrlich. Die Waldquellen würden verwaisen, raubte man ihnen die Genien, mit denen die Volksphantasie sie ausgestattet hat.

Zu den unangenehmen Folgen der Pfeife des Waldgeistes gehörte auch, daß Großvater Ilja wegen des Kollegs, das er mir über die Dämonologie gelesen hatte, von meinem Mütterchen einen Verweis erhielt und mir deshalb eine Zeitlang auswich und meine Ausbildung nicht fortsetzen wollte. Er stellte sich sogar, als wolle er mich von sich fortjagen.

»Geh nur weg von mir, geh zu deiner Kinderfrau!« sagte er, drehte mich um und gab mir mit seiner breiten schwieligen Hand einen Klaps aufs Gesäß.

Ich konnte aber schon stolz auf mein Alter sein und hielt eine solche Behandlung für unvereinbar damit. Ich war acht Jahre alt und brauchte durchaus nicht mehr zur Kinderfrau zu gehen. Das gab ich dem Großvater zu fühlen, indem ich ihm eine Spülschale voll Kirschen, die zur Zubereitung von Fruchtschnaps gedient hatten, brachte.

Großvater Ilja liebte diese Früchte; er nahm sie an, wurde weich, streichelte mir mit seiner rauhen Hand den Kopf, und zwischen uns waren die zärtlichsten und besten Beziehungen hergestellt.

»Paß auf,« sagte Ilja, »du sollst den Bauern immer mehr als alles andere achten und ihm gern zuhören, aber was du vom Bauern hörst, darfst du nicht allen wiedererzählen. Sonst jag' ich dich fort!«

Seit der Zeit hielt ich alles, was ich vom Müller hörte, geheim und erfuhr dafür so viel Interessantes, daß ich mich schließlich nicht nur Nachts fürchtete, wenn alle Hausgeister, Waldteufel und Hexen zudringlich und frech wurden, sondern selbst am hellen Tag. Diese Furcht bemächtigte sich meiner deshalb, weil sich unser Haus und unsere ganze Gegend in der Gewalt eines ganz schrecklichen Räubers und blutgierigen Zauberers befanden, der sich Sseliwan nannte. Er hauste sieben Werst von uns am Kreuzweg, wo sich die große Postchaussee in zwei Straßen gabelte, in die neue, die nach Kiew führte, und in die alte mit der Pappelallee »Jekaterinscher Pflanzung«, die nach Fatjesch ging. Jetzt ist sie aufgegeben und liegt verödet da.

Etwa eine Werst hinter dem Kreuzweg lag ein schöner Eichenwald und dicht am Walde ein offenstehender, elender und halb baufälliger Gasthof, in dem, wie man sagte, nie jemand Aufenthalt nahm. Und das konnte man auch gut glauben, denn der Gasthof bot nicht die geringsten Bequemlichkeiten zur Unterkunft, außerdem lag er zu nahe an der Stadt Kromy, wo man selbst in jenen halbwilden Zeiten auf eine warme Stube, einen Samowar und auf Fladen zweiter Güte hoffen konnte. In diesem unheimlichen Gasthofe, der immer leer stand, hauste der »leere Gastwirt« Sseliwan, der schreckliche Mensch, dem niemand gern begegnete.

Drittes Kapitel

Großvater Ilja erzählte mir über den »leeren Gastwirt« Sseliwan folgende Geschichte. Sseliwan war ein Kleinbürger aus Kromy; seine Eltern waren früh gestorben, und er hatte seine Knabenjahre bei einem Brezelbäcker verlebt und die Brezeln bei der Kneipe hinter dem Orjoler Schlagbaum verkauft. Er war ein gutartiger und gehorsamer Knabe, aber trotzdem redete man dem Bäcker stets zu, daß er mit Sseliwan vorsichtig sein müsse, da er ein feuerrotes Mal im Gesicht hatte, mit dem ein Mensch »nie ohne Grund gezeichnet ist«. Es gab auch Leute, die ein besonderes Sprichwort dafür wußten: »Gott zeichnet den Schelm.« Der Bäcker rühmte Sseliwans Eifer und Treue, aber alle anderen Leute, die ihm aufrichtig wohl wollten, sagten, daß ihn die wahre Klugheit zwingen müsse, vorsichtig gegen den Jungen zu sein und ihm nicht zu viel zu vertrauen – weil eben »Gott den Schelm zeichnet«. Wenn ein Mal auf sein Gesicht gesetzt ist, so doch nur, damit sich alle vertrauensseligen Menschen vor ihm in acht nehmen. Der Bäcker wollte hinter den klugen Leuten nicht zurückbleiben, aber Sseliwan war ein sehr guter Arbeiter. Er verkaufte die Brezeln richtig und schüttete jeden Abend vor seinem Herrn redlich den großen ledernen Geldsack mit den Fünfern und Groschen aus, die er von den durchfahrenden Bauern eingenommen hatte. Er trug aber das Mal nicht umsonst, nur wurde es, wie es immer so geht, erst später offenbar. Aus Orjol kam ein »ausgedienter Henker«, namens Borjka nach Kromy, und die Leute sagten ihm: »Borjka, du warst ein Henkersknecht, dein Leben bei uns sei bitter und schlecht.« Nun bemühten sich alle nach Kräften das Ihrige dazu beizutragen, daß diese Worte für den entlassenen Henker nicht in den Wind gesprochen seien. Als Borjka aus Orjol nach Kromy kam, brachte er eine Tochter, ein fünfzehnjähriges Mädchen mit, das im Zuchthause geboren war. Viele dachten freilich, sie wäre besser gar nicht geboren.

Sie kamen nach Kromy, um sich hier in die Gemeinde aufnehmen zu lassen. Das ist jetzt unverständlich, aber damals war es Brauch, daß den ausgedienten Henkern gestattet wurde, sich in die Einwohnerliste irgendeines Städtchens einzuschreiben, und das geschah einfach, ohne daß jemand nach seinem Wunsch oder Einverständnis gefragt worden wäre. So verhielt es sich auch mit Borjka: Der Gouverneur hatte befohlen, den alten Henker in Kromy aufzunehmen; man schrieb ihn ein, er kam in die Stadt, um hier zu leben, und brachte seine Tochter mit. Nun war auch in Kromy der Henker natürlich für niemand ein erwünschter Gast; alle ehrbaren Leute verabscheuten ihn, und keiner wollte ihm und seinem Töchterchen Wohnung geben. Um die Jahreszeit aber, als sie ankamen, war es schon sehr kalt.

Der Henker bat in einem Haus um Unterkunft, dann in einem anderen, aber schließlich hörte er zu bitten auf. Er sah, daß er in niemand auch nur eine Spur Mitleid erregte, und wußte, daß er dies auch vollauf verdient hatte.

»Aber das Kind,« dachte er, »das Kind hat doch keine Schuld an meinen Sünden – irgend jemand wird wohl mit dem Kinde Mitleid haben.«

Borjka ging wieder von Hof zu Hof und bat, wenn auch nicht ihn, so doch sein Töchterchen aufzunehmen... Er schwor, daß er sogar niemals kommen werde, um es zu besuchen.

Aber auch diese Bitte war vergeblich.

Wer hatte Lust, mit dem Henker etwas zu tun zu haben?

Die unglücklichen Ankömmlinge gingen nun um das Städtchen herum und baten um Aufnahme im Zuchthause. Dort war man wenigstens vor der herbstlichen Feuchtigkeit und Kälte geschützt. Aber auch im Zuchthause nahm man sie nicht auf, weil die Zeit ihrer Strafgefangenschaft abgelaufen war und sie nun freie Leute waren. Es stand ihnen frei, unter einem beliebigen Zaun oder in einem beliebigen Graben zu sterben.

Man gab zwar dem Henker und seiner Tochter hin und wieder Almosen, natürlich nicht ihrethalben, sondern um Christi willen, aber ins Haus ließ man sie nirgends ein. Der Alte mit dem Kind fand keinen Zufluchtsort, und so nächtigten sie bald irgendwo unter Abhängen in Lehmgruben, bald in leeren Wächterhütten in Gemüsegärten. Ein magerer Hund, der mit ihnen aus Orjol gekommen war, teilte ihr hartes Los.

Es war ein großer, zottiger Köter, dessen Fell ganz verfilzt war. Niemand wußte, womit ihn seine bettelarmen Besitzer ernährten, aber endlich erriet man, daß er überhaupt keine Nahrung brauchte, weil er »keinen Bauch hatte«, d. h. es war nichts an ihm, als Haut und Knochen und gelbe verquälte Augen. »In der Mitte« hatte er aber nichts und brauchte deshalb auch keine Nahrung.

Großvater Ilja erzählte mir, daß man dies »auf die einfachste Manier« erzielen könne. Man gibt einem beliebigen Hund, solange er noch jung ist, flüssiges Zinn oder Blei zu saufen, dann ist er »ohne Bauch« und kann nicht mehr fressen. Selbstverständlich mußte man dazu unbedingt ein besonderes »Zauberwort« wissen. Und weil der Henker dieses Wort offenbar wußte, erschlugen Leute von strenger Gesittung seinen Hund. Das gehörte sich natürlich auch so, weil man der Zauberei keinen Vorschub leisten darf. Aber für die Bettler war es ein großes Unglück, da das Kind immer mit dem Hund schlief, der dem Kinde von der Wärme seines Felles mitteilte. Aber solcher Dummheiten halber darf man mit Zauberern natürlich kein Mitleid haben, und alle waren der Ansicht, daß der Hund zu recht vertilgt worden war. Den Zauberern soll es nicht gelingen, den Rechtgläubigen zu betrügen.

Viertes Kapitel

Nach der Vertilgung des Hundes wärmte der Henker das Mädchen in den Zweighütten selber, aber er war schon alt, und zu seinem Glück hatte er die seine Kräfte übersteigende Sorge nicht mehr lange zu tragen. In einer frostigen Nacht spürte die Kleine, daß ihr Vater noch kälter war, als sie selbst, und es wurde ihr so schrecklich zumute, daß sie von ihm fortrückte und die Besinnung verlor. Bis zum Morgen verblieb sie in der Umarmung des Todes. Als es Tag wurde, schauten Leute, die zur Frühmesse gingen, aus Neugierde in die Hütte und sahen Vater und Tochter erstarrt daliegen. Die Kleine erwärmte man irgendwie wieder, und als sie den Vater mit seltsam starren Augen und wild gefletschten Zähnen daliegen sah, begriff sie das Geschehene und fing zu schluchzen an.

Den Alten begrub man hinter dem Kirchhof, da er verwerflich gelebt und ohne Beichte gestorben war, sein Töchterchen aber vergaß man ein wenig ... Allerdings für kurze Zeit, im ganzen vielleicht für einen Monat, aber als man sich einen Monat später an sie erinnerte, war sie nirgends zu finden.

Man konnte aber annehmen, daß die Waise in eine andere Stadt gelaufen war oder in den Dörfern um Almosen bettelte. Viel interessanter war, daß mit dem Verschwinden der Waise ein anderer seltsamer Umstand zusammenfiel: bevor man nämlich noch an das Mädchen dachte, bemerkte man, daß auch der Brezelbäcker Sseliwan spurlos verschwunden war.

Er verschwand so unerwartet und dazu so unüberlegt, wie es vor ihm sicher noch kein Flüchtling getan hatte. Sseliwan hatte entschieden von niemand etwas mitgenommen, selbst alle Brezeln, die man ihm zum Verkaufen mitgegeben hatte, lagen noch auf dem Brett, und ebenso unangetastet fand man auch das ganze Geld vor, das er für das Verkaufte eingenommen hatte; er selbst aber kehrte nicht mehr nach Hause zurück.

Die beiden Waisen galten volle drei Jahre als spurlos verschollen.

Da kam aber einmal der Kaufmann, dem der längst verödete Gasthof »am Kreuzweg« gehörte, auf den Jahrmarkt gefahren und erzählte, daß ihm ein Unfall geschehen sei: auf dem Knüppelweg habe er so ungeschickt kutschiert, daß ihn das umgestürzte Fuhrwerk schier erdrückt hätte, aber ein unbekannter Landstreicher habe ihn gerettet.

Später aber erkannte er den Landstreicher, und es stellte sich heraus, daß es niemand anderes als Sseliwan war.

Der Kaufmann, den Sseliwan gerettet hatte, war keiner von denen, die gegen einen erwiesenen Dienst unempfänglich sind; um nicht dereinst beim Jüngsten Gericht wegen Undankbarkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden, wollte er dem Landstreicher etwas Gutes tun.

»Ich will dich glücklich machen«, sagte er zu Sseliwan. »Ich habe am Kreuzweg einen leeren Gasthof; geh hin, werde dort Wirt und verkaufe Hafer und Heu. Mir zahlst du im ganzen hundert Rubel Pacht im Jahr.«

Sseliwan wußte, daß an der verödeten Straße, sieben Werst vom Städtchen entfernt, nicht der richtige Platz für einen Gasthof war und er dort keine Reisenden zu erwarten hatte; aber es war das erstemal, daß man ihm einen eigenen Winkel anbot, und so erklärte er sich einverstanden.

Der Kaufmann ließ ihn ein.

Fünftes Kapitel

Sseliwan kam mit einem kleinen, einrädrigen Mistwägelchen auf den Hof; auf dem Wägelchen befanden sich seine Habseligkeiten, und auf diesen lag, den Kopf zurückgelehnt, eine kranke Frau in elenden Lumpen.

Die Leute fragten Sseliwan:

»Wer ist denn das?«

Er antwortete:

»Das ist meine Frau.«

»Woher stammt sie denn?«

Sseliwan erwiderte kurz:

»Aus Gottes Welt.«

»Was fehlt ihr?«

»An den Füßen leidet sie.«

»Woher kommt denn das?«

Sseliwan runzelte die Stirn und stieß hervor:

»Von der irdischen Kälte.«

Weiter sprach er kein Wort, sondern hob den kranken Krüppel auf und trug ihn in die Hütte.

Sseliwan war weder gesprächig noch überhaupt ein angenehmer Gesellschafter. Er wich den Menschen aus und schien sie sogar zu fürchten. In der Stadt zeigte er sich auch nicht, und seine Frau sah niemand mehr seit der Zeit, als er sie auf dem Mistwägelchen hierhergebracht hatte. Aber seitdem dies geschehen war, waren schon viele Jahre verflossen – die damals jungen Leute fingen schon an alt zu werden, und der Hof am Kreuzweg wurde immer baufälliger und unwirtlicher, aber Sseliwan und der hilflose Krüppel lebten noch immer dort und zahlten sogar den Erben des Kaufmanns zum allgemeinen Erstaunen etwas für die Pacht.

Wo nahm nur dieser Kauz das Geld her, das er für seine eigenen Bedürfnisse brauchte und das er für den ganz verfallenen Hof zahlen mußte? Jeder wußte, daß niemals ein Durchreisender dort hineinschaute, und daß kein Fuhrmann dort seine Pferde fütterte; doch Sseliwan lebte zwar ärmlich, starb aber immerhin nicht vor Hunger.

Das war die Frage, die übrigens die Bauern in der Umgegend nicht sehr lange quälte. Bald wußten nämlich alle, daß Sseliwan es mit den unsauberen Mächten hielt.... Diesen unsauberen Mächten hatte er recht vorteilhafte, für gewöhnliche Menschen sogar unmögliche Geschäftchen zu verdanken.

Es ist bekannt, daß der Teufel und seine Gehilfen die größte Lust daran haben, den Menschen alles Üble anzutun; besondere Freude macht es ihnen aber, den Menschen die Seele so unerwartet zu nehmen, daß sie sich nicht mehr durch Buße entsündigen können. Wer von den Menschen diese Ränke unterstützt, dem erweist die gesamte unsaubere Gesellschaft, als da sind Waldteufel, Wassergeister und Hexen, gern verschiedene Gefälligkeiten, wenn auch unter sehr schweren Bedingungen. Der Gehilfe der Teufel muß ihnen selber in die Hölle folgen – früher oder später, aber unweigerlich. Sseliwan befand sich in dieser verhängnisvollen Lage. Um in seinem zerstörten Häuschen leben zu können, hatte er schon lange seine Seele gleich mehreren Teufeln auf einmal verkauft, die ihm seit der Zeit mit allen Mitteln Reisende auf den Hof trieben. Aber niemand kam aus seinem Hofe wieder heraus. Dies geschah auf die Weise, daß sich die Waldteufel mit den Hexen verabredeten und plötzlich bei einbrechender Nacht Stürme und Schneegestöber erhoben, in denen sich der Reisende verirrte und sich beeilte, sich vor den losgelassenen Elementen ganz gleich wo zu verbergen. Sseliwan warf dann sogleich seine Schlingen aus: er stellte ein Licht in sein Fensterchen, und auf dieses Licht kamen zu ihm Kaufleute mit dicken Geldkatzen, Adelige mit geheimen Schatullen im Wagen und Popen mit dreiklappigen Pelzmützen, die innen in ihrer ganzen Weite mit Geldscheinen ausgelegt sind. Das war seine Falle. Aus Sseliwans Tor kam keiner von denen, die hineingegangen waren, wieder heraus.

Was Sseliwan mit ihnen tat, wußte niemand.

Wenn Großvater Ilja in seiner Erzählung an diese Stelle kam, fuhr er bloß mit der Hand durch die Luft und erklärte eindringlich:

»Die Eule fliegt – der Uhu zieht – nichts ist zu sehen: Sturm und Schneetreiben und ... Mütterchen Nacht macht alles glatt.«

Um nicht in der Meinung Großvater Iljas zu sinken, stellte ich mich so, als verstünde ich, was das bedeutete: »die Eule fliegt, der Uhu zieht«, aber ich verstand nur das eine, daß Sseliwan ein Waldteufel sei, dem zu begegnen außerordentlich gefährlich war ... Möge Gott jeden davor behüten.

Im übrigen bemühte ich mich, die schrecklichen Erzählungen über Sseliwan durch Umfragen bei anderen Leuten nachzuprüfen, aber alle sagten mir genau das gleiche. Alle betrachteten Sseliwan als einen schrecklichen Waldteufel, und alle trugen mir, wie Großvater Ilja, aufs strengste auf, »zu Hause niemand etwas über Sseliwan zu sagen«. Auf den Rat des Müllers befolgte ich dieses Gebot der Bauern bis zu einem besonderen, schrecklichen Vorfall, als ich nämlich selbst in Sseliwans Klauen geriet.

Sechstes Kapitel

Im Winter, als man im Hause die Doppelfenster einhängte, konnte ich nicht mehr so oft wie bisher mit Großvater Ilja und den anderen Bauern zusammenkommen. Man ließ mich nicht in den Frost, sie aber hörten auch bei der Kälte nicht zu arbeiten auf, wobei sich mit einem von ihnen eine unangenehme Geschichte ereignete, die Sseliwan wieder auf die Szene brachte.

Ganz zu Anfang des Winters ging der Bauer Nikolai, ein Neffe Iljas, an seinem Namenstag nach Kromy auf Besuch und kehrte nicht mehr zurück. Zwei Wochen später fand man ihn am Saume von Sseliwans Wald. Nikolai saß auf einem Baumstumpf, stützte sich mit dem Kinn auf einen Stock und hatte offensichtlich, als er sich ausruhte, nicht gemerkt, daß ihn das Schneegestöber bis über die Knie einschneite. Die Füchse hatten ihm schon Nase und Wangen abgenagt.

Offenbar war Nikolai vom Wege abgeirrt, war müde geworden und erfroren. Aber alle wußten, daß dies nicht so einfach und nicht ohne Sseliwans Schuld geschehen sei. Ich erfuhr es durch die Mädchen, die in unserem Hause sehr zahlreich waren und fast alle Annuschka heißen. Es gab da eine große Annuschka, eine kleine Annuschka, eine blatternarbige Annuschka und eine runde Annuschka und dann noch eine Annuschka mit dem Beinamen »die Flinke«. Diese letztere war bei uns eine Art Reporter und sorgte auch für das Feuilleton. Ihrem lebhaften und mutwilligen Charakter hatte sie auch ihren Rufnamen zu verdanken.

Nur zwei Mädchen hießen nicht Annuschka – nämlich Neonila und Nastja, die eine gewisse Sonderstellung einnahmen, weil sie in dem damaligen Orjoler Modenmagazin der Madame Morosowa eine besondere Erziehung erhalten hatten. Außerdem befanden sich noch drei Laufmädchen im Hause – Osjka, Mosjka und Rosjka. Der Taufname der einen war Matrjona, der anderen Rajissa, wie aber Osjka in Wirklichkeit hieß, weiß ich nicht mehr. Mosjka, Osjka und Rosjka waren noch minderjährig und wurden deshalb ziemlich wegwerfend behandelt. Sie liefen noch barfuß herum und hatten nicht das Recht, auf Stühlen zu sitzen, sondern mußten unten auf den Fußbänkchen kauern. Ihre Pflichten bestanden in allerlei erniedrigenden Obliegenheiten, wie Tassen spülen, Waschbecken hinaustragen, die Zimmerhündchen spazieren führen und schnelle Gänge für das Küchenpersonal ins Dorf machen. In den heutigen Gutsbesitzerhäusern kennt man einen solchen unnötigen Menschenüberfluß nicht mehr, aber damals erschien er unentbehrlich.

Selbstverständlich wußten alle unsere Mägde und Mädchen viel über den schrecklichen Sseliwan, bei dessen Hof der Bauer Nikolai erfroren war. Anläßlich dieses Vorfalls erinnerte man sich auch wieder an alle seine alten Schelmenstücke, die ich bisher noch nicht gekannt hatte. Jetzt kam es auch auf, daß der Kutscher Konstantin, als er einmal um Fleisch zu holen in die Stadt gefahren war, aus dem Fenster von Sseliwans Hütte klägliches Stöhnen und die Worte gehört hatte: »Ach, mein Händchen schmerzt, ach, er schneidet mir die Finger ab!«

Ein Mädchen, die große Annuschka, erklärte das so, daß Sseliwan während eines großen Schneegestöbers einen ganzen herrschaftlichen Kutschschlitten mit einer ganzen adeligen Familie zu sich gebracht hatte und den adeligen Kindern langsam Finger für Finger abschnitt. Diese furchtbare Barbarei erschreckte mich entsetzlich. Darauf hatte der Schuhmacher ein noch schrecklicheres und dazu unerklärliches Abenteuer. Als man ihn einmal in die Stadt schickte, um Leder zu kaufen, verspätete er sich ein wenig und machte sich erst am späten Abend auf den Heimweg. Bald erhob sich ein kleines Schneegestöber, was für Sseliwan ein Hauptvergnügen bedeutete. Er pflegte dann gleich aufzustehen und aufs Feld hinauszugehen, um im Nebel mit den Waldteufeln und Hexen nach Herzenslust zu kreisen. Der Schuhmacher wußte das und nahm sich in acht, aber das nützte ihm nichts. Sseliwan sprang direkt vor seiner Nase heraus und versperrte ihm den Weg ... Das Pferd blieb stehen. Zu seinem Glück aber war der Schuhmacher von Natur aus kühn und sehr findig. Er trat anscheinend ganz freundlich an Sseliwan heran und sagte: »Guten Tag!« Aber gleichzeitig stach er ihn aus dem Ärmel heraus mit einer großen, spitzen Ahle mitten in den Bauch. Das ist nämlich der einzige Ort, wo man einen Zauberer tödlich verwunden kann. Sseliwan aber rettete sich dadurch, daß er sich unverzüglich in einen dicken Werstpfahl verwandelte, in dem das scharfe Instrument des Schusters so fest stecken blieb, daß er es durchaus nicht mehr herausziehen konnte und sich von ihm trennen mußte, während es ihm doch ganz unentbehrlich war.

Dieser letzte Vorfall war sogar eine kränkende Verhöhnung ehrenwerter Menschen und überzeugte alle davon, daß Sseliwan in der Tat nicht nur ein großer Übeltäter und hinterlistiger Zauberer, sondern auch ein frecher Kerl war, dem man kein Pardon geben durfte. Man beschloß, ihm eine strenge Lektion zu erteilen. Aber Sseliwan wußte Bescheid und lernte neue Listen. Er fing an, sich zu verwandeln, d. h. er wechselte bei der geringsten Gefahr, ja sogar bei jeder Begegnung seine menschliche Gestalt und verwandelte sich mit einemmal vor aller Augen in belebte oder unbelebte Gegenstände. Freilich hatte Sseliwan, dank der allgemeinen Erregung gegen ihn, trotz seiner großen Gewandtheit, doch auch ein wenig zu leiden. Ihn ganz auszurotten, wollte aber doch nicht gelingen. Der Kampf mit ihm nahm hin und wieder einen sogar etwas lächerlichen Charakter an, was alle noch mehr kränkte und aufbrachte. Nachdem z. B. der Schuhmacher aus aller Kraft nach ihm mit der Ahle gestochen, und Sseliwan sich nur dadurch gerettet hatte, daß es ihm gelungen war, sich in einen Werstpfahl zu verwandeln, sahen einige Menschen diese Ahle im richtigen Werstpfähle stecken. Sie versuchten sogar, sie herauszuziehen, aber die Ahle brach ab, und sie brachten dem Schuhmacher nur den zu nichts brauchbaren Holzgriff.

Sseliwan spazierte auch nach dieser Begebenheit im Walde umher, als hätte niemand nach ihm gestochen, und verwandelte sich in ein so echtes Wildschwein, daß er sogar mit Vergnügen Eicheln fraß, als ob ihm diese Frucht wirklich schmeckte. Am häufigsten jedoch flog er in Gestalt eines roten Hahns auf sein schwarzes, zerzaustes Dach hinauf und schrie von dort: »Kikeriki!« Alle wußten, daß es ihm nicht um das »Kikeriki« zu tun war, sondern daß er Ausschau hielt, ob nicht jemand komme, gegen den es sich lohnte den Waldteufel und die Hexe aufzuhetzen, damit sie einen schönen Sturm erheben und den Wanderer zu Tode zerren. Mit einem Wort, die Christenmenschen errieten alle seine Listen so gut, daß sie dem Übeltäter nie in die Falle gingen und sich sogar an Sseliwan für seine Hinterlist ordentlich rächten. Als er sich einmal in ein Wildschwein verwandelt hatte, begegnete er dem Schmied Ssawelij, der zu Fuß aus Kromy von einer Hochzeit heimkehrte; zwischen ihnen gab es einen offnen Kampf, in dem der Schmied aber Sieger blieb, weil er zu seinem Glück einen schweren Eichenprügel in der Hand hatte. Der Werwolf tat so, als schenke er dem Schmied nicht die geringste Aufmerksamkeit: er grunzte laut und kaute an seinen Eicheln. Der Schmied aber hatte sein Vorhaben scharfsinnig durchschaut: das Tier wollte ihn nämlich vorbeilassen, um ihn dann von hinten zu überfallen, umzuwerfen und samt den Eicheln zu fressen. Der Schmied entschloß sich, der Gefahr zuvorzukommen; er schwang seinen Knüppel hoch über dem Kopfe und ließ ihn mit solcher Wucht auf die Schnauze des Wildschweins niedersausen, daß es kläglich winselte, umfiel und nicht mehr aufstand. Als aber der Schmied eilig davonging, nahm Sseliwan gleich wieder sein menschliches Aussehen an und schaute dem Schmied von seinem Treppchen aus lange nach, offenbar in der unfreundlichsten Absicht.

Nach dieser schrecklichen Begegnung befiel den Schmied ein Schüttelfrost, vor dem er sich einzig dadurch rettete, daß er das Chininpulver, das man ihm aus dem Herrenhause zum Einnehmen schickte, zum Fenster hinaus in den Wind streute.

Der Schmied galt als sehr einsichtig und wußte, daß Chinin und alle andere Apotheken-Arznei gegen Zauber nichts ausrichten können. Er überstand also die Krankheit, band dann in einen rauhen Faden einen kleinen Knoten und ließ ihn im Misthaufen verfaulen. Damit war alles erledigt, denn sobald Knoten und Faden verfaulten, war auch Sseliwans Macht zu Ende. Und so geschah es auch. Sseliwan verwandelte sich nach diesem Vorfall nie mehr in ein Schwein; jedenfalls sah ihn niemand mehr in dieser unsauberen Gestalt.

Gegen den Schabernack Sseliwans in Gestalt eines roten Hahns war man noch erfolgreicher: wider ihn erhob sich der scheläugige Müllersknecht Ssawka, ein kühner Bursche, der am weitschauendsten und flinksten von allen handelte.

Als man ihn einmal in die Stadt auf den Markt schickte, ritt er ein sehr faules und eigensinniges Pferd. Ssawka kannte die Gemütsart seines Gauls und nahm heimlich auf alle Fälle ein tüchtiges Birkenscheit mit, mit dem er seinem melancholischen Buzephalus ein Souvenir in die Rippen zu schreiben gedachte. Etwas in der Art hatte er bereits getan und damit den Charakter seines Gauls soweit bezwungen, daß jener schließlich die Geduld verlor und ein wenig zu springen begann.

Sseliwan, der nicht erwartet hatte, daß Ssawka so gut bewaffnet war, flog bei seinem Herannahen sofort als Hahn aufs Dach, begann sich zu drehen, nach allen Seiten zu schauen und sein »Kikeriki« zu krähen. Ssawka bekam vor dem Zauberer keine Angst, sondern er sagte ihm vielmehr: »He, Bruder, du bist an den Unrechten geraten, du entkommst mir nicht!« Ohne lang nachzudenken, schleuderte er sein Scheit so geschickt nach ihm, daß der Hahn nicht einmal sein »Kikeriki« zu Ende krähen konnte und tot herunterfiel. Zum Unglück fiel er aber nicht auf die Straße, sondern auf den Hof, wo er nur die Erde zu berühren brauchte, um seine natürliche Menschengestalt wieder zu erhalten. Er wurde wieder Sseliwan, lief heraus und verfolgte Ssawka mit demselben Scheit in der Hand, mit dem ihn Ssawka traktiert hatte, als er als Hahn auf dem Dache krähte.

Wie Ssawka erzählt, war Sseliwan diesmal so wütend, daß er ihm nur knapp entrinnen konnte; aber Ssawka war ein erfindungsreicher Bursch und wußte einen vortrefflichen Streich. Er wußte, daß sein fauler Gaul mit einemmal seine Faulheit vergaß, wenn man ihn dem Hause, der Krippe zuwandte. Das tat er nun. Als Sseliwan, mit dem Scheit bewaffnet, gegen Ssawka losging, lenkte Ssawka das Pferd sofort auf den Heimweg und verschwand. Er galoppierte außer sich vor Angst nach Hause und erzählte erst am anderen Tag von der schrecklichen Geschichte, die sich mit ihm begeben hatte. Und Gott sei Dank, daß er zu sprechen anfing; man hatte schon gefürchtet, daß er auf immer stumm bleiben werde.

Siebentes Kapitel

An Stelle des erschreckten Ssawka wurde ein kühnerer Bote ausgesandt, der Kromy auch erreichte und wohlbehalten wieder zurückkehrte. Aber auch dieser erklärte, als er die Reise hinter sich hatte, daß er lieber in die Erde versinken wolle, als an Sseliwans Hof vorüberkommen. Auch die anderen fühlten das gleiche: die Furcht wurde allgemein; dafür wurde freilich Sseliwan von allen in verstärktem Maße beobachtet. Wo und in was er sich auch verwandelte, man entdeckte ihn immer und überall und suchte seine verderbliche Existenz in jeglicher Gestalt zu vernichten. Ob Sseliwan vor seinem Hof als Schaf oder Kalb erschien, man erkannte ihn sogleich und schlug ihn, und in keiner Gestalt gelang es ihm, sich zu verbergen. Als er einmal sogar in der Gestalt eines neuen, frisch geteerten Wagenrades auf die Straße hinausrollte und sich zum Trocknen in die Sonne legte, wurde auch diese List entdeckt, und kluge Leute zerschlugen es in kleine Stücke, so daß Achse und Speichen nach verschiedenen Richtungen auseinanderflogen.

Von all diesen Vorkommnissen, die die heroische Epopöe meiner Kindheit ausmachen, erhielt ich immer rechtzeitig schnelle und glaubwürdige Kunde. Zur Geschwindigkeit der Nachrichten trug viel bei, daß sich auf unserer Mühle stets ein wechselndes hergefahrenes Publikum befand, das zum Mahlen herkam. Während die Mühlsteine das mitgebrachte Korn mahlten, mahlte der Mund der Mahlgäste mit noch größerem Eifer allen möglichen Unsinn. Von dort brachten die Mädchen Mosjka und Rosjka alle interessanten Geschichten mit, die darauf in verbesserter Redaktion mir mitgeteilt wurden. Ich dachte dann nächtelang über sie nach und schuf für mich und Sseliwan die fesselndsten Situationen, da ich zu ihm, trotz der Dinge, die ich über ihn hörte, in der Tiefe meiner Seele eine starke, herzliche Zuneigung hegte. Ich glaubte fest daran, daß die Stunde kommen werde, in der ich mit Sseliwan auf eine ungewöhnliche Weise zusammentreffen müßte, und daß wir einander sogar noch viel mehr lieben würden, als ich den Großvater Ilja liebte, an dem mir mißfiel, daß eins seiner Augen, namentlich das linke, immer ein wenig lachte.

Ich konnte durchaus nicht länger glauben, daß Sseliwan seine übernatürlichen Wundertaten in böser Absicht tue; ich dachte sehr gerne an ihn, und sobald ich einschlief, erschien er mir gewöhnlich still und gütig und sogar etwas gekränkt im Traume. Ich hatte ihn noch nie gesehen und konnte mir sein Gesicht nach den entstellenden Beschreibungen der Erzähler nicht vorstellen, aber seine Augen sah ich, sobald ich meine eigenen zumachte: es waren große, sehr tiefe und gütige Augen. Während ich schlief, befand ich mich mit Sseliwan im besten Einvernehmen: vor uns öffneten sich im Walde viele verborgene Höhlen, wo wir viel Brot und Fleisch und warme Schafspelze für Kinder versteckt hatten, die wir hervorholten, schnell zu den uns wohlbekannten Hütten im Dorfe trugen und vors Dachfenster legten; wir klopften an, damit jemand herausschaue, und liefen selbst eilig davon.

Das waren die schönsten Traumbilder meines Lebens, und ich bedauerte immer, daß nach meinem Erwachen Sseliwan für mich wieder zu dem Räuber wurde, gegen den jeder brave Mensch alle Vorsichtsmaßregeln treffen mußte. Ich muß gestehen, daß auch ich nicht hinter den anderen zurückstehen wollte, und obwohl mich im Traume die wärmste Freundschaft mit Sseliwan verband, hielt ich es im Wachen doch nicht für überflüssig, mich sogar in der Ferne gegen ihn zu versichern.

Zu diesem Zweck erbat ich mir unter vielen Schmeicheleien und anderen Erniedrigungen von der Beschließerin den alten, sehr langen kaukasischen Dolch meines Vaters, den sie in der Vorratskammer aufbewahrte. Ich band ihn an die Schnüre, die ich vom Husarentschako meines Onkels herunternahm, und verbarg die Waffe meisterlich unter der Matratze am Kopfende meines Bettes. Wenn Sseliwan nachts in unserem Hause aufgetaucht wäre, hätte ich mich unverzüglich ihm entgegengestellt.

Weder Vater noch Mutter wußten etwas von diesem verborgenen Arsenal, und das war auch nötig, denn sonst hätte man mir den Dolch natürlich weggenommen, und Sseliwan hätte meinen ruhigen Schlaf stören können, denn ich fürchtete ihn trotzdem schrecklich. Inzwischen drang er auch schon bei uns ein, aber unsere flinken Mädchen hatten ihn gleich erkannt. Sseliwan erfrechte sich, in unserem Hause, in eine große rotbraune Ratte verwandelt, aufzutauchen. Anfangs lärmte er nur in den Nächten in der Vorratskammer, aber dann sprang er einmal in den hohen Lindenbottich hinunter, auf dessen Boden, von einem Sieb bedeckt, Würste und anderer Imbiß zum Empfang von Gästen aufbewahrt wurden. Sseliwan wollte uns damit eine ernste Unannehmlichkeit bereiten, wahrscheinlich zur Vergeltung für die Unannehmlichkeiten, die er von unseren Bauern zu ertragen hatte. In eine rotbraune Ratte verwandelt, sprang er in den Bottich, schob den Stein, der das Sieb beschwerte, zur Seite und fraß alle Würste; dafür konnte er aber aus dem hohen Bottich nicht mehr heraus. Allem Anschein nach konnte Sseliwan hier der verdienten Todesstrafe nicht mehr entrinnen, die sich die flinke Annuschka erboten hatte, gleich zu vollziehen. Sie erschien zu diesem Zweck mit einem Kessel kochenden Wassers und einer alten Gabel. Annuschka hatte den Plan, den Werwolf erst mit dem heißen Wasser zu verbrühen und dann auf die Gabel aufzuspießen, um ihn schließlich tot ins Unkraut den Raben zum Fraß hinauszuwerfen. Aber bei der Vollstreckung der Todesstrafe beging die runde Annuschka eine Ungeschicklichkeit. Sie goß das siedende Wasser auf die Hand der flinken Annuschka, die vor Schmerz die Gabel fallen ließ. Indessen biß die Ratte sie in den Finger, kletterte mit bewundernswerter Gewandtheit am Ärmel des Mädchens heraus und verschwand spurlos während des allgemeinen Schreckens, den sie unter den gesamten Anwesenden angerichtet hatte.

Meine Eltern, die auf dieses Ereignis mit Alltagsaugen blickten, schrieben den dummen Ausgang der Jagd der Ungeschicklichkeit unserer Annuschkas zu; aber wir, die wir die geheimen Triebfedern dieser Sache kannten, wußten, daß etwas Besseres nicht hatte herauskommen können, weil es keine einfache Ratte, sondern der Werwolf Sseliwan gewesen war. Indes wagten wir nicht, den Eltern davon zu erzählen. Als einfältiges Volk fürchteten wir Kritik und Spott über alles, was uns unzweifelhaft und offensichtlich erschien.

In keiner Gestalt aber konnte sich Sseliwan entschließen, die Schwelle des Vorzimmers zu überschreiten, weil er, wie mir schien, etwas von meinem Dolche erfahren hatte. Das war mir einesteils schmeichelhaft, aber doch auch wieder ärgerlich, weil die Reden und Gerüchte über ihn mich schon ermüdeten und in mir das leidenschaftliche Verlangen brannte, Sseliwan persönlich zu begegnen.

Dieser Wunsch verwandelte sich schließlich in eine Qual, in der der ganze lange Winter mit seinen endlosen Abenden verging. Aber mit den ersten Schmelzbächen des Frühlings trat ein Ereignis ein, das unsere ganze Lebensordnung in Verwirrung brachte und den gefährlichen Trieben unbeherrschter Leidenschaften Freiheit gab.

Achtes Kapitel

Der Vorfall war unerwartet und traurig. Mitten während der Frühlingsschneeschmelze, wenn nach dem Volksausdruck »ein Stier in der Pfütze ersäuft«, kam vom weit entfernten Gute der Tante ein berittener Bote dahergesprengt mit der verhängnisvollen Nachricht von der schweren Erkrankung der Großmutter.

In dieser weglosen Jahreszeit war die weite Reise mit großer Gefahr verbunden; das hielt jedoch weder Vater noch Mutter davon ab, und sie machten sich unverzüglich auf den Weg. Man mußte hundert Werst fahren, die man nur in einem einfachen Wagen zurücklegen konnte, da es ganz unmöglich war, mit einer Kutsche zu fahren. Den Wagen begleiteten zwei Reiter mit langen Stangen in den Händen. Sie ritten voraus und untersuchten die Wegelöcher. Das Haus wurde der Fürsorge eines besonderen provisorischen Komitees anvertraut, zu dem verschiedene Personen mit verschiedenen Ämtern gehörten. Der großen Annuschka waren alle Personen weiblichen Geschlechts bis zu Mosjka und Rosjka abwärts unterstellt; die oberste Aufsicht über die Sitten oblag der Beschließerin Dementjewna. Unsere intellektuelle Leitung, die Entscheidung über die Einhaltung der Feiertage und der gewöhnlichen Tage war dem Diakonssohne Apollinarij Iwanowitsch anvertraut, der in seiner Eigenschaft als ein aus der Rhetorikklasse hinausgeworfener Seminarist bei meiner Person die Stelle eines Hauslehrers vertrat. Er lehrte mich lateinische Deklinationen und bereitete mich auch sonst vor, damit ich im nächsten Jahre in die erste Klasse des Orjoler Gymnasiums nicht als völlig Wilder eintrete, den die lateinische Grammatik Bjeljustins und die französische Lomonds in Verwunderung setzen müßten.

Apollinarij war ein weltlich gesinnter Jüngling und bereitete sich darauf vor, unter die »Beamteten« zu gehen, oder wie man jetzt sagt, Schreiber bei der Orjoler Gouvernementsverwaltung zu werden, wo schon sein Onkel im Dienst stand, der ein außerordentlich interessantes Amt inne hatte. Wenn nämlich ein Polizeivorsteher oder Kommissär auf dem Lande draußen irgendeine Anordnung unausgeführt ließ, so schickte man Apollinarijs Onkel auf Rechnung des Schuldigen mit einem »Eilpferd« zu ihm; er reiste, ohne Pferdegeld zu zahlen, erhielt außerdem von den Schuldigen Geschenke und Präsente und sah mancherlei Städte und vielerlei Leute von verschiedenem Rang und verschiedenen Sitten. Mein Apollinarij hatte ebenfalls die Absicht, mit der Zeit eines solchen Glückes teilhaftig zu werden, und durfte viel mehr als sein Onkel darauf hoffen, da er über zwei große Talente verfügte, die in der weltlichen Laufbahn äußerst angenehm sein können: Apollinarij spielte zwei Lieder zur Gitarre: »Das Mädchen mähte Brennesseln« und ein zweites, viel schwierigeres: »An einem Abend trüb und herbstlich« und, was damals in der Provinz noch seltener war, er verstand es, den Damen herrliche Verse zu schreiben, weswegen er eigentlich auch aus dem Seminar davongejagt worden war.

Ungeachtet des Unterschieds unserer Jahre verkehrten wir miteinander wie Freunde und bewahrten, wie es wahren Freunden geziemt, treulich unsere gegenseitigen Geheimnisse. Dabei kamen freilich auf seinen Teil etwas weniger als auf meinen: meine ganzen Geheimnisse bestanden in dem unter meiner Matratze liegenden Dolch, während ich verpflichtet war, zwei mir anvertraute Geheimnisse in der Tiefe meines Herzens zu tragen: das erste betraf die im Schrank verborgene Pfeife, aus der Apollinarij abends sauersüßen, weißen Njeschiner Knaster in den Ofen hinein zu rauchen pflegte; das zweite aber war noch wichtiger, es handelte sich nämlich um Verse, die Apollinarij zu Ehren einer gewissen »leichtbeschwingten Pulcheria« geschrieben hatte.

Die Verse waren wohl sehr schlecht, aber Apollinarij sagte, daß man zu ihrer richtigen Beurteilung unbedingt sehen müßte, welchen Eindruck sie, gut und mit Gefühl vorgelesen, auf eine zarte und gefühlvolle Frau machen würden.

Das setzte eine große und für uns sogar unüberwindliche Schwierigkeit voraus, da es in unserem Hause keine kleinen Mädchen gab, den erwachsenen jungen Damen aber, die hin und wieder zu uns gefahren kamen, wagte Apollinarij nicht den Vorschlag zu machen, seine Zuhörerinnen zu sein, da er sehr schüchtern war und sich unter den uns bekannten jungen Damen große Spötterinnen befanden.

Die Not lehrte Apollinarij, einen Kompromiß zu erfinden, nämlich die auf die »leichtbeschwingte Pulcheria« geschriebene Ode unserem Mädchen Neonila vorzudeklamieren, die sich in dem Morosowschen Modemagazin allerhand geschliffene, städtische Manieren angeeignet hatte und, nach Ansicht Apollinarijs, die feinen Gefühle haben mußte, die unentbehrlich sind, um den Wert der Poesie zu schätzen.

Bei meiner Minderjährigkeit scheute ich mich, meinem Lehrer Ratschläge für seine poetischen Versuche zu erteilen, aber seine Absicht, die Verse der Näherin vorzudeklamieren, hielt ich für riskant. Ich urteilte natürlich nach meinem eigenen Maßstabe und meinte, daß wenn der jungen Neonila auch einige Gegenstände städtischer Bildung bekannt seien, die Sprache der hohen Poesie, in der sich Apollinarij an die von ihm besungene Pulcheria wandte, ihr doch kaum verständlich sein würde. Außerdem waren in der Ode an die »Leichtbeschwingte« Ausrufe wie: »Oh du Grausame«, oder »Entschwinde meinen Augen!« und dergleichen enthalten. Neonila hatte aber von Natur aus einen schüchternen und blöden Charakter, und ich fürchtete, daß sie das auf sich beziehen würde und bestimmt weinen und davonlaufen werde.

Am schlimmsten aber war, daß bei unserer strengen Hausordnung die vom Rhetoriker geplante poetische Probe ganz unmöglich war. Weder Zeit, noch Ort, noch die anderen Umstände waren dazu angetan, daß Neonila Apollinarijs Verse anhöre und sie als erste bewundere. Die Gesetzlosigkeit jedoch, die sich bei uns seit der Abreise der Eltern breit machte, veränderte alles, und der Rhetoriker wollte sich das zunutze machen. Jetzt vergaßen wir alle Unterschiede unserer Stellung und spielten jeden Abend Schwarzen Peter; Apollinarij rauchte seinen Njeschiner Knaster sogar in den Zimmern und setzte sich im Speisezimmer in den väterlichen Sessel, was mich ein wenig kränkte. Außerdem wurde einigemal auf seine Veranlassung »Blinde Kuh« gespielt, wobei ich und mein Bruder blaue Flecken davontrugen. Dann spielten wir Versteck, und einmal wurde sogar eine richtige Festivität mit einer großen Bewirtung abgehalten. Dies alles wurde anscheinend auf »Rechnung des Grafen Scheremetjew« gemacht, auf dessen Kosten um jene Zeit in Moskau viele unvorsichtige Schlemmer zechten, deren verderbliche Bahn nun auch wir, vom Rhetoriker verleitet, einschlugen. Ich weiß auch heute nicht, wer unserer Versammlung ganze Säckchen reifster Waldnüsse geliefert hatte, die aus den Mauslöchern gewonnen worden waren, wo sich bekanntlich nur die allerbesten Nüsse zu finden pflegen. Außer den Nüssen gab es noch drei Tüten aus grauem Papier mit gelben Pfefferschwämmen in Syrup, Sonnenblumenkernen und kandierten Birnen. Die letzteren waren sehr klebrig und ließen sich von den Händen nicht so schnell abwaschen.

Diese Frucht erfreute sich deshalb besonderer Aufmerksamkeit, und die Birnen kamen nur als Pfänder zur Verlosung. Mosjka, Osjka und Rosjka erhielten in Anbetracht ihrer anerkannten Nichtigkeit überhaupt keine Birnen. Am Pfänderspiel nahmen nur Annuschka, ich und vor allem mein Lehrer Apollinarij teil, der sich als äußerst gewandt im Erfinden erwies. All das ging im Gastzimmer vor sich, wo sonst nur besonders geehrte Gäste saßen. Und hier, im Dunste des Vergnügungstaumels, fuhr in Apollinarij irgendein rasender Geist, und er dachte sich ein noch vermeßneres Unternehmen aus. Er wollte seine Ode in einer grandiosen, sogar schrecklichen Umgebung deklamieren, in der selbst die stärksten Nerven sich in äußerster Spannung befänden. Er begann uns allen zuzureden, nächsten Sonntag in Sseliwans Wald zu gehen, um dort Maiglöckchen zu pflücken. Als wir aber Abends schlafen gingen, eröffnete er mir, daß die Maiglöckchen nur ein Vorwand seien; der Hauptzweck aber sei, die Verse in einer recht schrecklichen Umgebung vorzulesen.

Auf der einen Seite wird die Furcht vor Sseliwan wirken, und auf der anderen – die Furcht vor den schrecklichen Versen ... Wie wird sich das machen, und wird man es überhaupt aushalten können?

Stellen Sie sich nun vor, daß wir uns dazu wirklich erkühnten.

In der gehobenen Stimmung, in der wir uns an jenem denkwürdigen Frühlingsabend befanden, kamen wir uns alle kühn vor und meinten, das verzweifelte Stück gefahrlos vollbringen zu können. In der Tat, es würden unserer viele sein, und außerdem würde ich natürlich meinen langen kaukasischen Dolch mitnehmen.

Ich muß gestehen, daß ich es sehr gerne gesehen hätte, wenn sich auch die anderen ihrer Kraft und Fähigkeit entsprechend bewaffnet hätten, aber ich fand bei niemand die nötige Aufmerksamkeit und Bereitwilligkeit. Apollinarij nahm nur die Pfeife und die Gitarre mit, während die Mädchen Dreifüße, Pfannen, Kessel mit Eiern und eiserne Töpfe mitführten. Im Topfe wollte man Weizengrütze mit Speck kochen und in der Pfanne Eierkuchen backen; in dieser Hinsicht waren die beiden Gegenstände vortrefflich, aber in Hinsicht auf die Verteidigung im Falle irgendwelcher Streiche Sseliwans bedeuteten sie entschieden nichts.

Übrigens war ich, offen gestanden, auch aus anderen Gründen mit meinen Kompagnons unzufrieden: ich vermißte in ihnen die Aufmerksamkeit Sseliwan gegenüber, von der ich durchdrungen war. Sie fürchteten ihn zwar, aber doch gewissermaßen leichtsinnig, sie wagten sogar, sich über ihn skeptisch lustig zu machen. Die eine Annuschka sagte, sie werde den Pirogenwalker mitnehmen und ihn damit totschlagen, die »flinke« Annuschka scherzte, daß sie ihn totbeißen werde; sie zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne und biß mit ihnen ein Stückchen Draht ab. Das alles war recht unsolid, aber der Rhetoriker übertraf alle. Er leugnete Sseliwans Dasein gänzlich und sagte, er habe überhaupt nie existiert und sei einfach eine Ausgeburt der Phantasie wie Python, Zerberus und dergleichen.

Damals sah ich zum erstenmal, wie weit ein Mensch in der Verneinung gehen kann! Was war damals seine ganze Rhetorik wert, wenn sie ihm gestattete, die Wahrscheinlichkeit des ins Gebiet der Fabel gehörenden Python auf eine Stufe mit der Sseliwans zu stellen, dessen tatsächliche Existenz durch eine Menge offenbarer Begebenheiten bestätigt wurde.

Ich gab dieser Verführung nicht nach und bewahrte meinen Glauben an Sseliwan. Ja, ich war überdies fest überzeugt, daß der Rhetoriker für seinen Unglauben unbedingt bestraft werden würde.

Wenn man übrigens dieser philosophischen Seite nicht allzuviel Gewicht beilegte, so versprach der geplante Waldausflug sehr viel Vergnügen, und niemand wollte oder konnte sich dazu zwingen, auf andersgeartete Erlebnisse gefaßt zu sein. Indes zwang einen die Vernunft, in diesem verwünschten Walde, wo wir sozusagen im Rachen der Bestie sein würden, sehr auf der Hut zu sein. Alle dachten nur daran, wie lustig es sein würde, sich im Walde zu zerstreuen, den sonst alle zu betreten fürchteten, während wir keine Furcht hatten. Wir überlegten, wie wir den ganzen gefährlichen Wald mit Rufen und Schreien durchziehen und wie wir über Gruben und kleine Schluchten, in denen noch der letzte Schnee lag, springen würden; aber niemand dachte daran, ob dies alles auch gebilligt werden würde, wenn unsere höchste Obrigkeit zurückkehrte. Übrigens hatten wir die Absicht, aus den schönsten Maiglöckchen zwei große Sträuße für Mamas Toilettentisch zu binden und aus den überbleibenden ein duftendes Destillat herzustellen, das für den ganzen kommenden Sommer ein vorzügliches Schönheitswasser gegen Sonnenbrand abgeben würde.

Neuntes Kapitel

An dem ungeduldig erwarteten Sonntag ließen wir das Haus unter der Obhut der Beschließerin Dementjewna zurück und zogen nach Sseliwans Wald. Die ganze Gesellschaft ging zu Fuß und hielt sich auf den trockeneren hochgelegenen Wegrainen, wo schon das erste smaragdene Gras grünte, während auf der Straße der Train folgte, der aus einem mit einem alten falben Pferd bespannten Wägelchen bestand. Auf dem Fuhrwerk lagen Apollinarijs Gitarre und die für den Fall eines Unwetters mitgenommenen Mäntelchen der Mädchen. Ich lenkte das Pferd, und hinter mir saßen als Passagiere Rosjka und andere Mädchen, von denen das eine den Kessel mit den Eiern vorsichtig auf den Knien hielt, während das andere die allgemeine Aufsicht über die verschiedenen Gegenstände hatte, aber vor allem meinen gewaltigen Dolch mit der Hand stützte, den ich an der alten Husarenschnur meines Onkels über die Schulter hängen hatte, wo er von der einen Seite auf die andere baumelte, meine Bewegungen erheblich erschwerend und meine Aufmerksamkeit von der Leitung des Pferdes ablenkend.

Die Mädchen gingen auf dem Wegrain und sangen: »Pflüg' ich den Acker und sä' ich den Lein«; der Rhetoriker sang im Baß dazu die zweite Stimme.

Die Bauern, denen wir begegneten, grüßten uns und fragten:

»Wo wollt ihr hin?«

Die Annuschkas antworteten ihnen:

»Wir wollen Sseliwan gefangen nehmen.«

Die Bauern schüttelten die Köpfe und sagten:

»Ihr seid besessen!«

Wir befanden uns in der Tat wie in einem Dunst. Ein unbezwingliches Verlangen, zu laufen, zu singen, zu lachen und Unsinn zu treiben hatte uns ergriffen.

Indes begann mir die Fahrt auf der schlechten Straße unangenehm zu werden; der alte Falbe langweilte mich, und meine Freude, die Strickzügel in den Händen zu haben, erkaltete. Aber ganz nahe am Horizont blaute Sseliwans Wald, und alles lebte auf. Das Herz schlug und zitterte, wie einst bei Varus beim Betreten des Teutoburger Waldes. Und im gleichen Augenblick sprang aus einem aufgetauten Ackerrain ein Hase hervor, lief über den Weg und raste übers Feld.

»Pfui, daß dich der Kuckuck!« schrien ihm unsere Mädchen nach.

Sie wußten alle, daß die Begegnung mit einem Hasen zu nichts Gutem führt. Ich bekam ebenfalls Angst und langte nach meinem Dolche; während ich nun ganz von der Arbeit, ihn aus der verrosteten Scheide herauszuziehen, in Anspruch genommen war, merkte ich nicht, wie mir die Zügel aus der Hand glitten und wie ich plötzlich unter den umgestürzten Wagen geriet, den der Falbe, der nach dem Grase auf dem Wegrain strebte, regelrecht umgeworfen hatte, so daß alle vier Räder nach oben starrten, und ich mit Rosjka und unserm ganzen Mundvorrat darunter lag.

Das Unglück war in einem Augenblick geschehen, seine Folgen aber waren zahllos: Apollinarijs Gitarre war zertrümmert, und die zerschlagenen Eier liefen aus und verklebten mit ihrem Inhalt unsere Gesichter. Obendrein, begann Rosjka zu heulen.

Ich war maßlos bestürzt und bedrückt und so verwirrt, daß ich selbst wünschte, man möge uns lieber gar nicht befreien; aber ich hörte schon die Stimmen unserer Annuschkas, die sich um unsere Befreiung mühten und die Ursache unseres Sturzes auf eine für mich sehr günstige Weise erklärten. Ich und der Falbe seien ganz unbeteiligt; alles sei das Werk Sseliwans.

Das war seine erste List, um uns nicht in seinen Wald zu lassen. Indes erschreckte sie niemand sehr. Im Gegenteil, sie erfüllte alle mit heftigem Unwillen und verstärkte unsere Entschlossenheit, das Programm, das wir uns ausgedacht hatten, koste es was es wolle, durchzuführen.

Es war nur erst notwendig, den Wagen aufzuheben, uns wieder auf die Beine zu stellen, am Bach das unangenehme Eiklar von uns abzuwaschen und nachzusehen, was nach unserem Unfall noch heil geblieben war von den Sachen, die wir als Tagesproviant für unsere zahlreiche Gruppe mitgenommen hatten.

All das wurde auch irgendwie ausgeführt. Mich und Rosjka wusch man am Bach, der dicht an Sseliwans Wald vorbeilief, und als ich meine Augen aufschlug, erschien mir die Welt recht unansehnlich. Die rosa Kleider der Mädchen und mein neues Röckchen aus himmelblauem Kaschmir waren nun ganz unbrauchbar: der Schmutz und die Eier hatten sie ganz verdorben, und ohne Seife, die wir nicht mitgenommen hatten, konnte man sie nicht auswaschen. Der Kessel und die Pfanne waren zertrümmert, und vom Dreifuß waren alle Füßchen abgebrochen. Von Apollinarijs Gitarre war nur mehr der Griff mit den herumgewundenen Saiten übriggeblieben. Das Brot und der andere trockene Mundvorrat lagen im Schmutz. Zum mindesten drohte uns Hunger für den ganzen Tag, abgesehen von den übrigen Schrecken, die sich in der ganzen Umwelt fühlbar machten. Der Wind pfiff durch das Tal des Baches, und der schwarze Wald, den noch kein Grün schmückte, rauschte und winkte uns unheilverkündend mit seinen Zweigen.

Unsere Stimmung war erheblich gesunken, besonders die der Rosjka, die fror und weinte. Aber trotzdem entschlossen wir uns, in Sseliwans Reich einzudringen, möge kommen, was wolle.

Jedenfalls konnte sich dasselbe Abenteuer nicht ohne Abwechslung wiederholen.

Zehntes Kapitel

Alle bekreuzigten sich und traten in den Wald. Wir gingen zaghaft und unentschlossen, aber jeder verbarg seine Angst vor den anderen. Alle verabredeten, sich möglichst oft zuzurufen. Übrigens erwies sich das Zurufen als nicht sehr notwendig, weil niemand weit hineinging und alle sich wie zufällig am Waldrande zusammendrängten und längs des Waldsaums in einer Linie gingen. Apollinarij allein zeigte sich kühner als die anderen und drang etwas in das Dickicht ein: er bemühte sich, einen möglichst öden und unheimlichen Ort zu finden, wo die Deklamation einen recht schrecklichen Eindruck auf die Zuhörerinnen machen mußte; kaum war aber Apollinarij unseren Blicken entschwunden, als plötzlich der ganze Wald von seinem durchdringenden, rasenden Schrei widerhallte. Niemand vermochte sich vorzustellen, welche Gefahr Apollinarij begegnet war, aber alle ließen ihn im Stich und stürzten aus dem Wald auf die Lichtung und dann, ohne sich umzusehen, auf die Straße nach Hause. So liefen alle unsere Annuschkas und alle Mosjkas, und hinter ihnen jagte der Pädagog selber, der noch immer vor Entsetzen schrie; aber ich und mein kleiner Bruder blieben allein zurück.

Von unserer ganzen Gesellschaft war niemand dageblieben: nicht nur alle Menschen hatten uns im Stich gelassen, auch das Pferd war dem unmenschlichen Beispiel der Menschen gefolgt. Von ihrem Geschrei erschreckt, schüttelte es den Kopf, machte kehrt und lief spornstreichs nach Hause, wobei es alles, was noch auf dem Wägelchen geblieben war, in Gruben und Wasserlachen verstreute. Das war kein Rückzug, sondern eine vollständige und ganz schimpfliche Flucht, die nicht nur vom Verlust des Trains begleitet war, sondern auch von der Einbuße jedes gesunden Menschenverstands; außerdem waren wir Kinder der Willkür des Schicksals preisgegeben.

Gott weiß, was uns alles in unserer schutzlosen Verwaistheit hätte zustoßen können, die um so gefährlicher war, als wir allein den Weg nach Hause nicht finden konnten, und unsere Fußbekleidung, die aus weichen bockledernen Schuhen mit dünnen Randsohlen bestand, ganz ungeeignet war, um die vier Werst auf feuchten Wegen, auf denen vielerorts noch kalte Lachen standen, zurückzulegen. Bevor wir unsere schreckliche Lage noch ganz begriffen hatten, begann es, um unsere Not vollständig zu machen, überm Walde zu donnern, und von der entgegengesetzten Seite, vom Bache wehte es naßkalt her.

Wir blickten nach dem Hohlweg und sahen, daß von der Seite, wo unser Weg lag und wohin unser Gefolge so schmählich geflohen war, eine gewaltige Regenwolke mit dem ersten Frühlingsgewitter heranzog, bei dem sich die jungen Mädchen aus einem silbernen Löffelchen zu waschen pflegen, um weißer als Silber zu werden.

Als ich mich in dieser schrecklichen Lage sah, war ich nahe daran, zu weinen, während mein kleiner Bruder schon weinte. Er war ganz blau gefroren und zitterte vor Furcht und Kälte. Seinen Kopf hatte er unter einen Strauch gebeugt und betete inbrünstig zu Gott.

Anscheinend nahm Gott sein Kindergebet an, und uns ward unsichtbare Rettung gesandt. In dem Augenblick, als der Donner zu rollen begann und wir unseren letzten Mut verloren, wurde im Walde hinter den Büschen ein Knistern hörbar, und aus dem dichten Haselnußgezweig schaute uns das breite Gesicht eines uns unbekannten Bauern an. Das Gesicht erschien uns so schrecklich, daß wir aufschrien und Hals über Kopf auf das Flüßchen zu liefen.

Besinnungslos liefen wir über den Hohlweg, rutschten kopfüber vom nassen, abbröckelnden Ufer und standen plötzlich bis zu den Hüften im trüben Wasser, während unsere Füße bis zu den Knien im Schlammboden versanken.

Weiter konnten wir unmöglich laufen. Der Bach wurde für unseren kleinen Wuchs zu tief, und wir durften gar nicht hoffen, hinüberzukommen; zudem funkelten in seiner Strömung ganz schrecklich die Zickzacklinien der Blitze – sie flackerten und wanden sich wie feurige Schlangen und verkrochen sich dann gleichsam in die vorjährigen Algen.

Wir standen im Wasser, faßten einander an den Händen und blieben wie erstarrt stehen, während von oben schon die ersten schweren Regentropfen auf uns niederfielen. Diese Erstarrung bewahrte uns jedoch vor einer großen Gefahr, der wir nicht entronnen wären, wenn wir auch nur einen Schritt weiter in das Wasser gemacht hätten.

Wir hätten leicht ausgleiten und fallen können, aber zu unserem Glück umschlangen uns zwei schwarze, sehnige Hände, und derselbe Bauer, der so furchterregend aus dem Haseldickicht geschaut hatte, sagte freundlich:

»Ach, ihr dummen Kinderchen, wo seid ihr da hingeraten!«

Und damit hob er uns auf und trug uns durch den Bach.

Am anderen Ufer setzte er uns auf den Boden, nahm seinen kurzen Bauernkittel ab, der am Kragen mit einem runden Messingknopf zugeknöpft war, und rieb mit dem Kittel unsere nassen Füße ab.

Wir sahen ihn ganz verloren an und fühlten uns völlig in seiner Gewalt, aber wunderbarerweise hatten sich seine Gesichtszüge in unseren Augen rasch verändert. Wir sahen in ihnen nicht nur nichts Schreckliches mehr, sondern im Gegenteil, sein Gesicht erschien uns sehr gütig und freundlich.

Es war ein kräftiger, stämmiger Bauer mit angegrautem Haar und Schnurrbart; auch sein Kinnbart begann schon grau zu werden. Sein Blick war lebhaft, rasch und ernst, aber auf seinen Lippen lag etwas, was einem Lächeln glich.

Nachdem er mit seinem Kittel den Schmutz und den Schlamm von unseren Füßen soweit wie möglich entfernt hatte, lächelte er sogar wirklich und sagte wieder:

»Nun, ihr ... habt keine Angst ...«

Er sah sich um und fuhr fort:

»Macht nichts, gleich kommt ein Guß ... (Der Guß hatte schon angefangen.) Zu Fuß könnt ihr jetzt nicht mehr heimkommen, Kinderchen.«

Wir sagten nichts und weinten nur stumm.

»Macht nichts, macht nichts, heult nur nicht. Ich werde euch zu mir bringen!« sagte er und fuhr mit seiner Handfläche über das verweinte Gesicht des Bruders, was auf dessen Gesicht sogleich schmutzige Streifen erzeugte.

»Schau mal, wie schmutzig solche Bauernhände sind, sagte unser Befreier und fuhr dem Bruder noch einmal mit der Hand übers Gesicht in anderer Richtung, wodurch der Schmutz nicht vermindert wurde, sondern nur eine Schattierung nach der anderen Seite hin bekam.

»Gehen könnt ihr nicht ... Ich würde euch schon führen, aber ihr könnt gar nicht gehen, und eure Schuhchen bleiben im Schmutz stecken.«

»Könnt ihr reiten?« begann der Bauer wieder.

Ich nahm meine ganze Kühnheit zusammen, um ein Wort hervorzubringen, und antwortete:

»Ich kann's.«

»Wenn du's kannst, ist's gut!« sagte er, und im Augenblick hatte er mich auf die eine Schulter gehoben und meinen Bruder auf die andere. Dann befahl er uns, einander hinter seinem Nacken mit den Händen zu umfassen, deckte uns selbst mit seinem Kittel zu und trug uns schnell und weit ausschreitend über den Schmutz, der unter seinen fest dahinstapfenden, mit großen Bastschuhen bekleideten Füßen klatschend nachgab.

Wir saßen, mit dem Kittel zugedeckt, auf seinen Schultern. Wir alle zusammen bildeten wohl eine riesengroße Figur, aber wir hatten es sehr bequem: der Kittel war vom Regen naß und hart wie Rinde geworden, und wir saßen darunter trocken und warm. Wir schaukelten auf den Schultern unseres Trägers wie auf einem Kamel und verfielen bald in einen eigentümlichen kataleptischen Zustand, aus dem wir bei der Quelle unseres Gutes erwachten. Für mich war dieser Zustand ein wirklicher, tiefer Schlaf, aus dem das Erwachen nicht mit einem Male erfolgte. Ich erinnere mich, wie uns derselbe Bauer aus seinem Kittel wickelte; alle unsere Annuschkas umringten ihn, alle rissen uns aus seinen Händen und schimpften ihn dabei aus irgendeinem Grunde unbarmherzig aus. Seinen Kittel, unter dem wir so gut behütet gewesen waren, warfen sie ihm mit der größten Verachtung vor die Füße. Außerdem drohten sie ihm noch mit der Ankunft meines Vaters und damit, daß sie gleich ins Dorf laufen und die Weiber und Männer mit den Dreschflegeln rufen und die Hunde auf ihn loslassen würden.

Ich konnte die Ursache dieser grausamen Ungerechtigkeit unmöglich verstehen, was auch nicht verwunderlich war, da sich die gesamte provisorische Hausregierung verschworen hatte, uns nicht zu entdecken, wer der Mensch gewesen war, dem wir unsere Rettung zu verdanken hatten.

»Ihr habt ihm nichts zu danken,« sagten uns unsere Beschützerinnen, »im Gegenteil, er selbst hat alles angestiftet.«

Bei diesen Worten erriet ich sogleich, daß unser Retter niemand anders war als Sseliwan selbst.

Elftes Kapitel

So war es auch. In Anbetracht der Rückkehr der Eltern enthüllte man es uns am anderen Tage und nahm uns den Schwur ab, weder Vater noch Mutter etwas von der Geschichte, die sich mit uns ereignet hatte, zu erzählen.

In der damaligen Zeit, wo es Leibeigene gab, kam es hin und wieder vor, daß die Gutsbesitzerskinder zu der leibeigenen Dienerschaft die zärtlichsten Gefühle hegten und deren Geheimnisse treulich bewahrten. So war es auch bei uns. Wir verheimlichten sogar, soweit wir es konnten, vor den Eltern die Sünden und Vergehen »unserer Leute«. Solche Beziehungen werden in vielen Werken, die das Gutsbesitzermilieu jener Zeit schildern, erwähnt. Was mich anbelangt, so ist für mich diese Kinderfreundschaft mit unseren ehemaligen Leibeigenen eine ungemein freundliche und warme Erinnerung. Durch sie kannten wir alle Nöte und alle Sorgen des armseligen Lebens ihrer Verwandten und Freunde im Dorfe und lernten Mitleid mit dem Volke haben. Leider war dieses gute Volk selbst nicht immer gerecht und neigte manchmal aus ganz nichtigen Ursachen dazu, seinen Nächsten anzuschwärzen, unbekümmert um den Schaden für diesen Nächsten. So verfuhr das »Volk« auch mit Sseliwan, von dessen wahrem Charakter und dessen Sitten es gar nichts wissen wollte; die Leute verbreiteten vielmehr kühn und ohne Scheu, sich gegen die Gerechtigkeit zu versündigen, solche Gerüchte über ihn, die ihn für alle zu einem schrecklichen Waldteufel machten. Erstaunlicherweise erschien alles, was man über ihn erzählte, nicht nur wahrscheinlich, sondern hatte sogar gewisse sichtbare Anzeichen, nach denen man glauben mußte, daß Sseliwan in der Tat ein schlechter Mensch sei und daß in der Nähe seiner einsamen Behausung wirklich schreckliche Übeltaten geschähen.

Dasselbe geschah auch jetzt, als uns diejenigen ausschimpften, die die Pflicht gehabt hätten, uns zu schützen: sie schoben nicht nur die ganze Schuld auf Sseliwan, der uns vor dem Unwetter gerettet hatte, sondern unternahmen sogar einen neuen Angriff gegen ihn. Apollinarij und alle Annuschkas erzählten uns, daß er im Walde einen anmutigen Hügel entdeckt hatte, der ihm zur Deklamation geeignet schien, durch den Hohlweg, der mit welkem vorjährigem Laub verschüttet war, zu diesem Hügel lief und plötzlich über etwas Weiches stolperte. Dieses »Weiche« wandte sich unter Apollinarijs Fuß um und brachte ihn zu Fall; als er aufstehen wollte, sah er, daß es der Körper einer jungen Bauernfrau war. Er sah genau, daß der Körper mit einem sauberen, weißen rotgestickten Sarafan bekleidet war und ... aus der durchschnittenen Kehle ... Blut floß.

Bei diesem unverhofften Schreck konnte man sich natürlich wohl entsetzen und aufschreien – was er auch tat. Unverständlich und erstaunlich aber blieb folgendes: obwohl Apollinarij, wie ich schon erzählt habe, sich von den anderen entfernt hatte und allein über den Körper der Ermordeten gestolpert war, beteuerten und schworen alle unsere Annuschkas und Rosjkas, daß auch sie die Tote gesehen hätten ...

»Wären wir denn sonst so erschrocken?« sagten sie.

Ich bin bis heute davon überzeugt, daß sie nicht logen, sondern fest daran glaubten, in Sseliwans Wald eine ermordete Frau in reinlicher rotgestickter Bauerntracht, mit durchschnittener Kehle, aus der Blut strömte, gesehen zu haben ... Wie war das nur möglich?

Da ich hier nichts erfinde, sondern tatsächlich Geschehenes beschreibe, muß ich hier verweilen und beifügen, daß dies in unserem Hause für immer unaufgeklärt blieb. Niemand außer Apollinarij konnte die getötete und, nach seinen Worten, in einer Grube unter dem Laube liegende Frau gesehen haben, weil niemand außer Apollinarij dort gewesen war. Und doch schworen alle, daß auch sie sie wirklich gesehen hätten, als sei die tote Frau im gleichen Augenblick überall und vor jedermanns Augen erschienen. Hatte übrigens auch Apollinarij eine solche Frau wirklich gesehen? Es war kaum möglich, weil sich der Vorfall zur Zeit der ersten Schneeschmelze ereignete, als noch überall Schnee lag. Das Laub der Bäume lag seit dem Herbste unter dem Schnee, aber Apollinarij hatte den Körper in sauberer, weißer Tracht mit Stickerei gesehen, und das Blut strömte noch aus der Wunde ... So konnte es bestimmt nicht gewesen sein; aber alle schworen und bekreuzigten sich, daß sie die Frau genau so gesehen hätten, wie die Beschreibung lautete. Nachher fürchteten sich alle, nachts zu schlafen, und allen war es so unheimlich zumute, als wenn wir selbst das Verbrechen begangen hätten. Bald war auch ich davon überzeugt, daß ich und mein Bruder die hingeschlachtete Frau gesehen hätten. Damit begann bei uns eine allgemeine Angst, die damit endigte, daß man die ganze Angelegenheit den Eltern eröffnete und daß der Vater einen Brief an den Polizeikommissär schrieb. Dieser kam dann auch mit einem furchtbar langen Säbel zu uns gefahren und unterzog jeden einzelnen von uns einem heimlichen Verhör in Vaters Arbeitszimmer. Apollinarij wurde vom Kommissär sogar zweimal vernommen, und das zweite Mal drang er so heftig in ihn, daß, als er herauskam, seine beiden Ohren feuerrot waren und eines sogar blutete.

Das haben wir ebenfalls alle gesehen.

Aber wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls brachten unsere Aussagen viel Leid über Sseliwan: man machte bei ihm eine Haussuchung, durchforschte den ganzen Wald und hielt ihn selber lange Zeit in Haft, fand jedoch bei ihm nichts Verdächtiges; ebensowenig fanden sich auch Spuren von der getöteten Frau, die wir gesehen hatten. Sseliwan kehrte wieder nach Hause zurück, aber in der allgemeinen Meinung nützte ihm das nicht: seit der Zeit wußten alle, daß er ein Übeltäter war, den man nur nicht erwischen konnte, und niemand wollte mit ihm auch nur das geringste zu tun haben. Mich brachte man, damit ich nicht dem verstärkten Einfluß des poetischen Elements unterläge, in eine »Adelspension«, wo ich mir in voller Ruhe die Fächer der allgemeinen Bildung anzueignen begann, bis die Weihnachtsfeiertage nahten, wo es mir beschieden war, auf der Heimfahrt an Sseliwans Hof vorbeizukommen und dort mit eigenen Augen große Schrecken zu sehen.

Zwölftes Kapitel

Sseliwans schlimme Reputation gab mir ein großes Ansehen unter meinen Pensionskameraden, denen ich meine Kenntnisse über diesen entsetzlichen Menschen mitteilte. Von meinen Altersgenossen in der Pension hatte noch niemand so schreckliche Erlebnisse gehabt wie die, mit denen ich mich rühmen konnte, und nun stand es mir wieder bevor, bei Sseliwan vorbeizufahren, wozu sich keiner meiner Kameraden gefühllos oder gleichgültig verhielt. Im Gegenteil, die meisten von ihnen bedauerten mich und sagten ganz offen, daß sie nicht an meiner Stelle sein wollten; zwei oder drei Wagehälse beneideten mich aber und brüsteten sich damit, daß sie Sseliwan sehr gerne begegnen würden. Aber zwei von diesen waren als Aufschneider bekannt, und der dritte brauchte niemand zu fürchten, da seine Großmutter, wie er sagte, in einem alten venezianischen Ringe einen »Sylvester-Stein« besaß, dessen Besitzer »vor jedem Unglück gefeit war«. Der »Sylvester-Stein« ist ein heller Saphir mit der Tönung einer Pfauenfeder, der in alter Zeit als heilsamer Talisman galt. Anmerkung Ljesskows

In unserer Familie gab es dagegen keine derartige Kostbarkeit; zudem konnte ich meine Weihnachtsreise nicht mit den Pferden meiner Eltern zurücklegen, sondern mußte mit denen der Tante fahren, die gerade vor den Feiertagen ihr Haus in Orjol für dreißigtausend Rubel verkauft hatte und nun zu uns fuhr, um sich in unserer Gegend ein Gut zu kaufen, das mein Vater schon lange für sie erhandelt hatte.

Zu meinem Ärger verzögerte sich die Abreise der Tante infolge irgendwelcher wichtiger geschäftlicher Umstände um volle zwei Tage, und so fuhren wir erst am Morgen vor dem ersten Feiertage aus Orjol ab.

Wir fuhren in einer geräumigen, mattengedeckten, dreispännigen Kibitka mit dem Kutscher Spiridon und dem jungen Lakai Boriska. In der Equipage befanden sich meine Tante, ich, mein Vetter, meine kleinen Cousinen und die Kinderfrau Ljubow Timofejewna.

Mit ordentlichen Pferden und auf einer guten Straße kann man unser Dörfchen von Orjol aus in fünf bis sechs Stunden erreichen. In zwei Stunden erreichten wir Kromy und machten dort bei einem uns bekannten Kaufmanne halt, um Tee zu trinken und die Pferde zu füttern. Dieser Aufenthalt war bei uns Usus, zudem erforderte ihn auch die Toilette meiner kleinen Cousine, die noch in den Windeln lag.

Das Wetter war schön, und es begann fast ein wenig zu tauen. Während wir aber die Pferde fütterten, begann es leicht zu frieren und dann zu »rauchen«, d.h. über die Erde fegte feiner Schnee.

Die Tante überlegte: soll man abwarten oder sich im Gegenteil beeilen und schneller fahren, um noch vor dem Unwetter nach Hause zu kommen.

Wir hatten noch etwas über zwanzig Werst zu fahren. Der Kutscher und der Lakai, die die Feiertage mit ihren Verwandten und Freunden begehen wollten, versicherten, daß wir wohlbehalten heimkommen würden, wenn wir nur nicht länger zögerten und möglichst schnell abführen.

Meine eigenen Wünsche und die der Tante entsprachen durchaus dem, was Spiridon und Boriska wollten. Niemand wollte die Feiertage in Kromy in einem fremden Hause verbringen. Außerdem war die Tante mißtrauisch und argwöhnisch und hatte eine sehr bedeutende Geldsumme in einer Mahagonischatulle bei sich, die in einem Futteral aus dickem grünem Fries steckte.

Mit diesem Kapital in einem fremden Hause zu übernachten erschien der Tante durchaus nicht ungefährlich, und sie entschloß sich, auf den Rat unserer treuen Diener zu hören.

Etwas nach drei Uhr war unsere Kibitka angespannt, und wir fuhren von Kromy in die Richtung zum Altgläubigen-Dorfe Koltschewo; aber kaum waren wir über das Eis des Kromaflusses gefahren, als wir fühlten, wie uns die Luft ausging, um aus voller Brust zu atmen. Die Pferde liefen schnell, wieherten und wiegten die Köpfe, ein sicheres Zeichen, daß auch sie den Luftmangel spürten. Indessen flog die Equipage besonders leicht dahin, als würde sie von hinten geschoben. Der Wind war uns im Rücken und jagte uns mit verstärkter Geschwindigkeit irgendeinem Ziele zu. Bald jedoch begann die ausgefahrene Wegspur zu »stottern«; auf der Straße lagen schon weiche Schneewehen, die immer häufiger wurden; bis schließlich von der früheren Spur nichts mehr zu sehen war.

Die Tante schaute beunruhigt hinaus, um den Kutscher zu fragen, ob wir auch noch bestimmt auf der Straße wären, fuhr aber gleich zurück, da sie von feinem kaltem Schneestaub überschüttet war, noch bevor sie unseren Leuten auf dem Schlittenbock etwas zurufen konnte. Der Schnee fiel in dichten Flocken, der Himmel hatte sich verfinstert, und wir waren in der Gewalt eines wirklichen Schneesturms.

Dreizehntes Kapitel

Nach Kromy zurückzufahren war ebenso gefährlich wie weiterzufahren. Hinter uns lag sogar als eine fast noch größere Gefahr der Fluß, in dessen Eis sich unterhalb der Stadt einige Löcher befanden, und wir konnten sie bei dem Schneegestöber leicht übersehen und unter das Eis geraten. Vor uns lag bis zu unserem Dörfchen ebene Steppe; erst auf der siebenten Werst kam Sseliwans Wald, der aber die Gefahr des Schneegestöbers nicht vergrößerte, da es im Walde sogar geschützter sein mußte. Außerdem ging die Fahrstraße nicht durch die Waldtiefe, sondern hielt sich an seinem Saum. Der Wald konnte also uns nur ein nützliches Zeichen dafür sein, daß wir die Hälfte des Weges nach Hause hinter uns haben, und der Kutscher Spiridon trieb daher die Pferde zu noch größerer Eile an.

Der Weg wurde immer schwieriger und verschneiter. Von dem früheren fröhlichen Knirschen unter den Schlittenkufen war nichts mehr zu hören, im Gegenteil, der Schlitten kroch nun durch die lockeren Schneewehen und begann von der einen Seite auf die andere zu schwanken.

Wir verloren unsere ruhige Zuversicht und erkundigten uns immer häufiger beim Kutscher und beim Lakai über unsere Lage. Sie gaben uns aber nur unbestimmte und ausweichende Antworten. Sie bemühten sich, uns von der Gefahrlosigkeit der Lage zu überzeugen, während sie offensichtlich selbst nicht davon überzeugt waren.

Nach einer halben Stunde rascher Fahrt, während der Spiridons Peitsche immer häufiger auf die Pferde niedersauste, wurden wir durch den Ausruf erfreut:

»Dort wird Sseliwans Wald sichtbar.«

»Ist er noch weit?« fragte die Tante.

»Nein, wir sind schon ganz nahe.«

Es mußte auch so sein, denn wir waren von Kromy schon eine Stunde unterwegs. Aber es verging noch eine gute halbe Stunde, wir hörten die Peitsche immer öfter auf die Rücken der Pferde klatschen, aber der Wald kam nicht.

»Was soll das bedeuten? Wo ist Sseliwans Wald?«

Vom Bock kam keine Antwort.

»Wo ist der Wald?« fragte die Tante wieder. »Sind wir schon durchgefahren?«

»Nein, wir sind noch nicht durchgefahren!« antwortete Spiridon dumpf, wie unter einem Kissen hervor.

»Aber was soll das bedeuten?«

Schweigen.

»Kommt her! Haltet! Haltet!«

Die Tante sah zum Schlittenfenster hinaus und schrie verzweifelt mit ganzer Kraft: »Halt!« Dann fiel sie in den Schlitten zurück, wohin ihr als eine Wolke Schneeflocken nachflogen, die dem Luftzug folgten und sich nicht sofort setzten, sondern in der Luft wie Mücken schwärmten.

Der Kutscher hielt die Pferde an und tat gut daran, da sie sich nur mühsam aufrecht hielten und vor Müdigkeit taumelten. Hätte man sie nicht in diesem Augenblick rasten lassen, so wären die armen Tiere wahrscheinlich umgefallen.

»Wo bist du?« fragte die Tante Boris, der vom Bocke gestiegen war.

Er war nicht zu erkennen. Vor uns stand kein Mensch, sondern eine Schneesäule. Boris hatte den Kragen aus Wolfspelz hochgeschlagen und mit irgendeinem Fetzen umgebunden. Alles war vom Schnee überschüttet und zu einem Klumpen zusammengeklebt.

Boris wußte nichts vom Wege und erwiderte schüchtern, daß wir uns anscheinend verirrt hätten.

»Ruf den Spiridon her!«

Rufen konnte man nicht. Der Sturm verstopfte einem den Mund und heulte und pfiff schrecklich über die Ebene.

Boriska kroch auf den Kutscherbock, um Spiridon mit der Hand zu zupfen, aber er brauchte lange, bis er wieder vor dem Schlage stand und erklärte:

»Spiridon ist nicht auf dem Bock.«

»Was? Nicht auf dem Bock? Wo ist er denn?«

»Ich weiß nicht. Er ist wohl abgestiegen, um den Weg zu suchen. Gestatten Sie, daß auch ich suchen gehe.«

»Oh Gott! Nein, es ist nicht nötig – geh nicht fort; sonst verlieren wir euch beide und erfrieren.«

Als ich und mein Vetter dieses Wort hörten, begannen wir zu weinen, aber in diesem Augenblick tauchte neben Boriska beim Schlitten eine andere, noch größere und schrecklichere Schneesäule auf.

Es war Spiridon, der sich in eine Reserve-Bastmatte eingehüllt hatte, die ganz mit Schnee bedeckt und vereist, seinen Kopf umstarrte.

»Wo hast du den Wald gesehen, Spiridon?«

»Ich habe ihn gesehen, gnädige Frau.«

»Wo ist er jetzt?«

»Auch jetzt ist er noch zu sehen.«

Die Tante wollte Ausschau halten, sah aber nichts, denn alles war finster. Spiridon versicherte, es komme daher, weil ihr Auge sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hätte; er habe den Wald schon längst dunkeln sehen und das wäre eben das Unglück: wir kämen nicht an ihn heran, sondern er entferne sich von uns.

»Sie können sagen, was Sie wollen, das macht alles Sseliwan. Er führt uns irgendwo hin.«

Als ich und mein Vetter hörten, daß wir zu einer so schrecklichen Zeit in die Hände des Bösewichts Sseliwan gefallen waren, fingen wir zu weinen an. Die Tante aber, die als Gutsfräulein aufgewachsen und dann Regimentsdame gewesen war, verlor nicht so leicht die Fassung, wie die Stadtdamen, die mit allerhand Unglück weniger vertraut sind. Die Tante hatte Erfahrung und Übung, und das rettete uns aus der Situation, die in der Tat sehr gefahrvoll war.

Vierzehntes Kapitel

Ich weiß nicht, ob die Tante an den bösen Zauber Sseliwans glaubte oder nicht, aber sie hatte vortrefflich begriffen, daß es für unsere Rettung das Wichtigste sei, unsere Pferde bei Kräften zu erhalten. Blieben die Pferde erschöpft stehen und wurde der Frost noch stärker, so wäre unser Verderben besiegelt. Der Sturm würde uns ersticken und der Frost umbringen. Behielten die Pferde aber nur so viel Kraft, um den Wagen Schritt für Schritt dahinzuschleppen, so durfte man die Hoffnung hegen, daß die Pferde, die dem Winde nach gingen, von selbst auf den Weg herauskommen und uns zu irgendeiner Behausung bringen würden. Und wenn es auch eine ungeheizte Hütte »auf Hühnerfüßchen« in einer Schlucht wäre, der Schneesturm könnte doch nicht so wütend hereinpeitschen, und auch dieses Schütteln wäre zu Ende, das bei jeder Anstrengung der Pferde, ihre müden Füße vorwärts zu setzen, fühlbar wurde ... Dort könnte man einschlafen. Ich und mein Vetter wollten so schrecklich gern schlafen. In dieser Beziehung war bloß die Kleine glücklich, die am Busen ihrer Amme im warmen Hasenpelz schlief, während man uns beide nicht schlafen ließ. Die Tante wußte, wie gefährlich es war, da der Schlafende noch schneller erfriert. Unsere Lage verschlimmerte sich mit jedem Augenblick, weil die Pferde kaum mehr vorwärtskamen und der Kutscher und der Lakai auf dem Bocke zu erstarren und undeutlich zu sprechen anfingen. Die Tante hörte auf, auf mich und den Vetter zu achten, und wir schliefen sofort aneinander geschmiegt ein. Ich sah sogar heitere Traumbilder: Sommer, unser Garten, unsere Leute, Apollinarij, dann geht plötzlich alles auf jene Fahrt nach den Maiglöckchen und auf Sseliwan über, von dem ich halb etwas höre, halb nur träume ... Alles verwirrte sich, so daß ich nicht mehr auseinanderhalten konnte, was Traum war und was im Wachen geschah. Mit einem Male spüre ich die Kälte wieder, höre das Heulen des Windes und wie die Bastmatten schwer auf das Dach des Schlittens klopfen: aber gerade vor meinen Augen steht Sseliwan, den Kittel auf der einen Schulter, und hält in der gegen uns ausgestreckten Hand eine Laterne ... War dies ein Gesicht, ein Traum oder bloß Phantasie?

Es war weder Traum noch Phantasie, sondern dem Schicksal hatte es in der Tat gefallen, uns in dieser entsetzlichen Nacht in den entsetzlichen Hof Sseliwans zu bringen. Wir konnten an keinem anderen Orte Zuflucht finden, da es ringsum keine andere Behausung gab. Aber wir hatten die Schatulle der Tante bei uns, in der sich die dreißigtausend Rubel, ihr ganzes Vermögen, befanden. Wie sollte man mit einem so verführerischen Reichtum bei einem so verdächtigen Menschen wie Sseliwan bleiben?

Wir waren natürlich verloren. Im übrigen hatten wir nur die Wahl, ob wir lieber im Schneesturm erfrieren, oder unter dem Messer Sseliwans und seiner Spießgesellen fallen wollten.

Fünfzehntes Kapitel

Ebenso wie das Auge im Dunkeln bei dem kurzen Aufleuchten des Blitzes mit einem Male eine Menge Gegenstände unterscheidet, so sah auch ich jetzt mit einem Male beim Scheine von Sseliwans Laterne, die uns beleuchtete, den Schrecken aller Insassen unserer Unglücksequipage. Der Kutscher und der Lakai fielen vor ihm schier auf die Knie und erstarrten in einer Verbeugung, und die Tante wich zurück, als wolle sie die Rückwand der Kibitka hinausdrücken. Die Amme preßte ihr Gesicht auf das Kind und schrumpfte auf einmal so zusammen, daß sie selbst nicht größer als das Kind war.

Sseliwan stand schweigend da, aber in seinem unschönen Gesicht sah ich keine Spur von Bosheit. Er schien mir jetzt nur ernster als damals, als er mich auf den Schultern trug. Er schaute uns an und fragte leise:

»Wollt ihr euch wärmen, wie?«

Die Tante erholte sich schneller als die anderen und erwiderte:

»Ja, wir sind ganz erstarrt. Rette uns.«

»Gott ist der Retter! Fahrt herein, die Hütte ist geheizt.«

Er stieg von der Schwelle herunter und leuchtete mit der Laterne in die Kibitka.

Zwischen der Dienerschaft, der Tante und Sseliwan wurden nun einzelne kurze Worte gewechselt, die unsererseits Mißtrauen und Furcht gegen den Wirt ausdrückten und seitens Sseliwans eine heimliche bäuerliche Ironie und vielleicht gleichfalls Mißtrauen.

Der Kutscher fragte: »Ist Futter für die Pferde da?«

Sseliwan erwiderte: »Wir werden suchen.«

Der Lakai Boris wollte erfahren, ob noch andere Reisende da seien.

»Komm herein, dann siehst du's«, antwortete Sseliwan.

Die Amme fragte: »Ist es nicht unheimlich, bei dir zu bleiben?«

Sseliwan antwortete:

»Wenn es unheimlich ist, so geh nicht herein.«

Die Tante gebot ihnen Einhalt und sagte einem jeden so leise wie möglich:

»Hört auf, widersprecht ihm nicht. Es hilft nichts. Weiterfahren können wir nicht, bleiben wir da, wenn Gott es so will.«

Während diese Worte gewechselt wurden, traten wir in einen Bretterverschlag, der von der geräumigen Hütte abgeteilt war. Allen voran ging die Tante hinein, ihr folgte Boris mit der Schatulle. Dann kamen ich, der Vetter und die Amme.

Die Schatulle wurde auf den Tisch gestellt, und auf sie stellte man einen blechernen, talgtriefenden Leuchter mit einem kleinen Stummel, der höchstens für eine Stunde reichen konnte.

Der praktische Sinn der Tante wandte sich sogleich diesem Gegenstande, d. h. der Kerze zu.

»Väterchen«, sagte sie zu Sseliwan, »bringe mir vor allem eine neue Kerze.«

»Hier ist die Kerze.«

»Nein, gib eine neue, ganze Kerze her!«

»Eine neue, ganze?« fragte Sseliwan wieder, sich mit der einen Hand auf den Tisch, mit der anderen auf die Schatulle stützend.

»Gib mir schnell eine neue, ganze Kerze!«

»Weshalb brauchst du eine ganze?«

»Das geht dich nichts an. Ich will mich noch nicht gleich schlafen legen. Vielleicht hört der Sturm auf, und wir fahren weiter.«

»Der Sturm hört nicht auf.«

»Nun einerlei, ich bezahle dir die Kerze.«

»Freilich würdest du die Kerze bezahlen, aber ich habe keine.«

»Such mal nach, Väterchen.«

»Es ist vergeblich etwas zu suchen, was ich nicht habe.«

In dieses Gespräch mischte sich unerwartet eine ganz schwache, dünne Stimme hinter dem Verschlage ein.

»Wir haben keine Kerzen, Mütterchen.«

»Wer spricht da?« fragte die Tante.

»Meine Frau.«

Die Gesichter der Tante und der Amme erhellten sich ein wenig. Die nahe Anwesenheit einer Frau hatte anscheinend etwas Beruhigendes.

»Sie ist krank, wie?«

»Krank.«

»Was fehlt ihr?«

»Sie kränkelt eben. – Legt euch hin, ich brauche das Licht für die Laterne. Muß die Pferde hereinführen.«

Und wie man auch auf Sseliwan einsprach, er beharrte dabei, daß er das Licht brauche und fertig. Er versprach, es wiederzubringen, inzwischen nahm er es aber mit und ging hinaus.

Ob Sseliwan sein Versprechen, das Licht zurückzubringen, ausführte, habe ich nicht mehr gesehen, weil mein Vetter und ich wieder schliefen. Aber etwas beunruhigte mich: durch den Schlaf hindurch hörte ich die Tante hin und wieder mit der Amme flüstern, wobei das Wort »Schatulle« am häufigsten fiel.

Offenbar wußten die Amme und die anderen Leute, daß sich im Kästchen große Kostbarkeiten verbargen, und alle hatten bemerkt, daß die Schatulle vom ersten Augenblick an die gierige Aufmerksamkeit unseres verdächtigen Wirtes auf sich gezogen hatte.

Die Tante, die über große Lebenserfahrung verfügte, sah die klare Notwendigkeit ein, sich den Umständen zu fügen, traf aber dafür sofort ihre der gefahrvollen Situation entsprechenden Maßnahmen.

Damit uns Sseliwan nicht abschlachten könne, wurde beschlossen, daß niemand einschlafen solle. Die Pferde sollten ausgespannt werden, aber im Kummet bleiben, und der Kutscher und der Lakai sollten beide im Schlitten sitzen: sie durften nicht getrennt werden, da Sseliwan sie sonst einzeln erschlagen würde und wir dann ganz schutzlos wären. Dann würde er natürlich auch uns töten und uns alle unter dem Fußboden einscharren, wo schon ohnedies eine Menge Opfer seiner Grausamkeit lagen. Bei uns in der Stube konnten der Kutscher und der Lakai nicht bleiben, weil Sseliwan die Schlingen am Kummet des Mittelpferdes abgeschnitten hätte, um es unmöglich zu machen, die Pferde anzuspannen, wie er überhaupt die ganze Troika seinen Spießgesellen, die vorerst noch irgendwo verborgen waren, ausgeliefert hätte. In diesem Falle hätte es für uns keine Rettung gegeben, während es sich leicht so fügen konnte, daß sich das Schneegestöber bald legen und der Kutscher einspannen würde. Boris sollte dann dreimal an die Wand klopfen, wir würden alle zur Türe stürzen, uns in den Schlitten setzen und davonfahren. Um beständig in Bereitschaft zu sein, sollte sich niemand von uns ausziehen.

Ich weiß nicht, ob für die Andern viel oder wenig Zeit verfloß, für uns schlafende Jungens war sie aber in einem Augenblick verflogen, der mit einem schrecklichen Erwachen endete.

Sechzehntes Kapitel

Ich wachte auf, weil mir das Atmen unerträglich schwer wurde. Ich schlug die Augen auf, sah aber nichts, da es um mich herum dunkel war; nur irgendwo in der Entfernung schimmerte ein grauer Fleck, der das Fenster bezeichnete. Als ich aber beim Schein von Sseliwans Laterne mit einem Male alle Gesichter der bei dieser schrecklichen Szene Anwesenden sah, erinnerte ich mich sofort wieder an alles: wer ich war, wo ich war und weshalb ich hier war, an meine Lieben im väterlichen Hause – und alles und alle taten mir so leid, und es wurde mir so schmerzlich und schrecklich zumute, daß ich aufschreien wollte. Das war aber unmöglich. Meine Lippen waren fest von einer menschlichen Hand verschlossen, und dicht an meinem Ohr flüsterte die zitternde Stimme der Tante:

»Keinen Laut, sei still, keinen Laut! Sonst sind wir verloren, man bricht zu uns herein.«

Ich erkannte die Stimme der Tante und drückte ihr die Hand zum Zeichen, daß ich ihr Verlangen begriffen hatte.

Hinter der Türe, die nach dem Flur ging, war ein Geräusch hörbar: jemand setzte dort leise Fuß vor Fuß und tastete mit den Händen an der Wand.... Offenbar suchte der Bösewicht die Türe und konnte sie nicht finden.

Die Tante drückte uns an sich und flüsterte, daß Gott uns noch retten könne, denn sie habe die Türe verbarrikadiert. Im selben Augenblick, vielleicht gerade weil wir uns durch unser Flüstern und Zittern verraten hatten, lief jemand hinter dem Bretterverschlag, wo die Stube war und woher beim Gespräch über die Kerze Sseliwans Frau hereingerufen hatte, hinaus und geriet dort mit dem zusammen, der sich leise an unsere Türe heranschlich. Nun versuchten sie beide, zu uns hereinzubrechen. Die Tür barst, und zu unseren Füßen kollerten der Tisch, die Bänke und die Koffer, mit denen die Tante sie versperrt hatte. In der weit aufgerissenen Türe tauchte Boriskas Gesicht auf, dessen Hals die mächtigen Hände Sseliwans umklammert hielten...

Als die Tante dies sah, schrie sie Sseliwan an und stürzte zu Boris.

»Mütterchen! – Gott hat uns gerettet!« röchelte Boris.

Sseliwan löste seine Hände und blieb stehen.

»Schnell, schnell, fort von hier!« sagte die Tante. »Wo sind unsere Pferde?«

»Die Pferde stehen vor der Türe, Mütterchen. Ich wollte Sie eben herausrufen... Aber dieser Räuber... Gott hat uns gerettet, Mütterchen!« flüsterte Boris hastig. Dann nahm er mich und meinen Vetter bei der Hand und raffte alles zusammen, was ihm in die Hände fiel. Wir alle stürzten zur Tür und sprangen in den Schlitten, der, so schnell die Pferde laufen konnten, im Galopp davonfuhr. Sseliwan war anscheinend furchtbar verstört und blickte uns nach. Offenbar wußte er, daß dies nicht ohne Folgen bleiben werde.

Draußen wurde es hell, und vor uns im Osten brannte das rote, frostige Morgenrot des Weihnachtstages.

Siebzehntes Kapitel

Wir fuhren bis zu unserem Hause nicht länger als eine halbe Stunde und sprachen die ganze Zeit unaufhörlich über die Schrecken, die wir erlebt hatten. Die Tante, die Amme, der Kutscher und Boris, alle überboten einander und bekreuzigten sich unaufhörlich, Gott für unsere wunderbare Rettung dankend. Die Tante erzählte, daß sie die ganze Nacht nicht geschlafen hätte, weil sie gehört habe, wie jemand einige Male an die Türe gekommen sei und versucht habe, sie zu öffnen. Das hatte sie auch veranlaßt, vor dem Eingang alles aufzutürmen, was ihr in die Hände fiel. Ebenso hatte sie hinter der Bretterwand bei Sseliwan ein verdächtiges Flüstern gehört, und es war ihr vorgekommen, als habe drüben jemand mehrmals leise die Türe nach dem Flur geöffnet und sich vorsichtig an der Klinke unserer Türe zu schaffen gemacht. Das alles hatte auch die Amme gehört, obwohl sie, wie sie selbst sagte, einige Male eingeschlafen war. Der Kutscher und Boris aber hatten mehr als alle gesehen. Spiridon fürchtete für die Pferde und ging keinen Augenblick von ihnen weg, aber Boris trat einige Male vor unsere Tür, und so oft er es tat, kam im selben Moment auch Sseliwan aus seiner Türe heraus. Als sich vor Morgengrauen der Sturm legte, spannten der Kutscher und Boris leise die Pferde an, führten sie leise heraus und öffneten selber das Tor. Aber als Boris wieder leise vor unsere Türe gekommen war, um uns zu holen, sah Sseliwan, daß die Beute seinen Händen entglitt; er warf sich auf Boris und begann ihn zu würgen. Gott sei Dank, glückte es ihm nicht, und nun wird er nicht mehr mit dem bloßen Verdacht davonkommen, wie bisher: seine schlimmen Absichten waren allzu klar, und alles hatte sich nicht unter vier Augen mit seinem Opfer abgespielt, sondern vor sechs Zeugen, von denen die Tante allein infolge ihrer Bedeutung so viel wie mehrere andere bedeutete: sie galt nämlich in der ganzen Stadt als kluge Frau, empfing bei sich, obwohl sie gar nicht besonders reich war, den Gouverneur, und unser damaliger Polizeikommissär hatte ihr sein Familienglück zu verdanken. Auf ein Wort von ihr würde er sich natürlich gleich daran machen, die Sache auf frischer Spur zu untersuchen, und Sseliwan würde der Schlinge nicht entgehen, die er um unsern Hals hatte werfen wollen.

Die Umstände selber fügten sich anscheinend so, daß alles zusammentraf, um an Sseliwan für uns Rache zu nehmen und ihn für seinen bestialischen Anschlag auf unser Leben und Eigentum zu bestrafen.

Als wir uns unserem Hause näherten, begegneten wir hinter der Quelle am Berge einem berittenen Burschen, der, als er uns erblickte, die größte Freude zeigte, mit den Beinen an den Flanken seines Pferdes strampelte, schon aus der Ferne seine Mütze abnahm, mit strahlendem Gesicht zu uns heransprengte und der Tante zu berichten begann, in welche Unruhe wir alle zu Hause gestürzt hätten.

Es stellte sich heraus, daß Vater, Mutter und alle Hausgenossen die Nacht ebenfalls nicht geschlafen hatten. Man erwartete uns unaufhörlich, und seitdem am Abend der Schneesturm zu toben begonnen hatte, waren alle in großer Unruhe gewesen, ob wir nicht vom Wege abgekommen wären, oder ob uns nicht ein anderes Unglück zugestoßen sei: auf der schlechten Straße hätte die Deichselstange brechen, oder wir hätten von Wölfen überfallen werden können... Der Vater hatte uns einige berittene Leute mit Laternen entgegengeschickt, aber der Sturm hatte ihnen die Laternen aus der Hand gerissen und ausgelöscht. Weder Leute noch Pferde konnten das Haus verlassen. Ein Mann trabt sehr lange, und immer scheint es ihm, als reite er gegen den Wind; plötzlich bleibt das Pferd stehen und geht nicht mehr von der Stelle. Der Reiter treibt es an, obwohl ihm selbst der Wind beinahe den Atem nimmt, aber das Pferd will nicht weiter. Er steigt herunter, um das verzagte Tier am Zügel zu nehmen und es zu führen, und entdeckt zu seinem Erstaunen, daß sein Pferd mit der Stirn gegen die Wand des Pferdestalls oder der Scheune steht... Nur einer von den Kundschaftern kam etwas weiter und hatte ein wirkliches Abenteuer; und zwar war es der Sattler Prochor. Man hatte ihm ein Vorreiterpferd gegeben, das das Gebiß zwischen die Zähne zu nehmen pflegte, so daß das Eisen seine Lippen nicht berührte, wodurch es gegen jeden Zügelruck unempfindlich wurde. Es trug Prochor mitten in die Hölle des Schneetreibens hinein und sprengte so lange, mit den Hinterbeinen ausschlagend und den Kopf zu den Vorderbeinen gebeugt, bis der Sattler schließlich bei einer derartigen Volte über seinen Kopf flog und mit seinem ganzen Körper mitten in einen seltsamen Haufen lebender Menschen fuhr, die ihm übrigens im ersten Augenblick durchaus nicht freundschaftlich begegneten; im Gegenteil, der eine von ihnen versetzte ihm einen Faustschlag auf den Kopf, der andere gab ihm die Korrektur dazu in den Rücken, und der dritte begann ihn mit den Füßen zu treten und mit einem kalten, metallischen, für das Gefühl äußerst unangenehmen Gegenstand zu stoßen.

Prochor kannte sich aus, er begriff, daß er es mit besonderen Wesen zu tun hatte, und schrie wie rasend auf.

Der Schrecken gab seiner Stimme wahrscheinlich eine ganz besondere Kraft, und er wurde unverzüglich gehört. Zu seiner Rettung erschien drei Schritte von ihm entfernt ein Lichtschein. Es war das Licht, das man in das Fenster unserer Küche gestellt hatte, vor deren Wand der Polizeikommissär, der Schriftführer, der Ordonnanzsoldat und der Kutscher Zuflucht gefunden hatten, samt dem ganz in einem Schneehaufen versunkenen Dreigespann.

Sie waren ebenfalls vom Weg abgekommen, und als sie an unsere Küchenmauer gerieten, hatten sie geglaubt, sich irgendwo bei einem Heuschober auf einer Wiese zu befinden.

Man grub sie aus dem Schnee und brachte die einen in die Küche, die anderen ins Haus, wo der Kommissär Tee trank und sich anschickte, in die Stadt zu fahren, noch bevor die Seinigen aufwachten und sich nach einer derartigen Sturmnacht über seine Abwesenheit beunruhigten.

»Das ist ja vortrefflich,« sagte die Tante. »Wir brauchen jetzt niemand notwendiger als den Polizeikommissär.«

»Ja, er ist ein tüchtiger Herr. Der wird dem Sseliwaschka ordentlich einheizen!« fielen unsere Leute ein. Wir fuhren im Galopp weiter und langten vor unserem Hause an, während die Troika des Kommissärs noch vor unserer Freitreppe stand.

Nun wird man alles dem Polizeikommissär erzählen, und binnen einer halben Stunde wird der Räuber Sseliwan in seinen Händen sein.

Achtzehntes Kapitel

Mein Vater und der Kommissär waren überrascht von dem, was wir unterwegs und vor allem im Räuberhause Sseliwans durchgemacht hatten, der uns hatte töten und unsere Sachen und unser Geld sich aneignen wollen.

Übrigens, das Geld! Bei seiner Erwähnung schrie die Tante sofort auf:

»O Gott! Wo ist meine Schatulle?«

In der Tat, wo war die Schatulle mit den darin liegenden Tausenden?

Denken Sie sich nur: sie war nicht da! Ja ja, sie war weder in den Zimmern unter den hereingetragenen Sachen, noch im Schlitten zu finden .. mit einem Wort, nirgends .. Offenbar war die Schatulle dort zurückgeblieben und befand sich jetzt in den Händen Sseliwans .. Oder .. vielleicht hatte er sie sogar noch in der Nacht gestohlen. Er hat es sehr gut machen können: als Hauswirt mußte er alle Risse in seinem elenden Hause kennen, und deren gab es wahrlich nicht wenig. Er konnte auch ein versenkbares Dielenbrett haben, oder ein herausnehmbares Brettchen in der Wand.

Kaum hatte der in der Verfolgung von Verbrechern erfahrene Kommissär die Vermutung vom herausnehmbaren Brettchen ausgesprochen, das Sseliwan nachts leise entfernen konnte, um durch die entstandene Öffnung die Schatulle herauszuholen, als die Tante mit den Händen ihr Gesicht bedeckte und in den Sessel fiel.

In der Sorge um ihre Schatulle hatte sie sie in einen Winkel unter die Bank an der Bretterwand gestellt, die unsere nächtliche Unterkunft von dem Teil der Stube trennte, in dem Sseliwan selbst und seine Frau geblieben waren...

»Nun, so ist es auch!« rief der Kommissär, der sich über die Richtigkeit seiner klugen Vermutungen freute. »Sie haben ihm selbst die Schatulle hingestellt!.. Aber trotz alledem bin ich erstaunt, daß weder Sie, noch Ihre Leute, daß niemand sie mitgenommen hat, als es Zeit wurde, abzufahren.«

»Ja, Gott, wir befanden uns alle in einer derartigen Angst!« stöhnte die Tante.

»Das ist richtig,« sagte der Kommissär, »ich glaube Ihnen, daß Sie erschrocken waren, aber trotzdem... die große Summe... das schöne Geld. Ich eile sofort, ich eile gleich hin... Er hat sie bestimmt schon irgendwo versteckt, aber er wird mir nicht entgehen! Unser Glück ist es, daß alle ihn als Dieb kennen und nicht leiden mögen. So wird ihn auch niemand bei sich verbergen... Übrigens... er hat jetzt Geld in Händen... Er kann es mit jemand teilen... Man muß sich sputen... Die Leute sind ja Spitzbuben... Leben Sie wohl, ich fahre. Und Sie, beruhigen Sie sich, nehmen Sie Tropfen... Ich kenne die Natur dieses Diebsgesindels und versichere Ihnen, daß man ihn fangen wird.«

Der Kommissär schnallte sich seinen Säbel um, als plötzlich unter den Leuten im Vorzimmer eine ungewöhnliche Bewegung entstand und... über die Schwelle des Gastzimmers, in dem wir uns alle befanden, trat schwer atmend Sseliwan, die Schatulle der Tante in den Händen.

Alle sprangen von ihren Plätzen auf und blieben wie angenagelt stehen ...

»Sie haben das Kästchen vergessen, nehmen Sie es,« brachte Sseliwan dumpf hervor.

Mehr konnte er nicht sagen, weil er vom schnellen Laufen ganz atemlos war, und vielleicht auch infolge einer heftigen inneren Bewegung.

Er stellte die Schatulle auf den Tisch, setzte sich unaufgefordert auf einen Stuhl und ließ den Kopf und die Hände sinken.

Neunzehntes Kapitel

Die Schatulle war unversehrt. Die Tante nahm das Schlüsselchen von ihrem Halse, sperrte sie auf und rief:

»Alles, ganz wie es war!«

»Unversehrt,« sagte Sseliwan leise. »Ich bin immer hinter Ihnen hergelaufen – wollte Sie einholen ... hab' es nicht fertig gebracht. Verzeihen Sie, daß ich vor Ihnen dasitze ... bin außer Atem.«

Der Vater ging als erster auf ihn zu, umarmte ihn und küßte ihn auf den Scheitel.

Sseliwan rührte sich nicht.

Die Tante nahm zwei Hundertrubelscheine aus der Schatulle und wollte sie ihm in die Hand drücken.

»Nimm, was man dir gibt,« sagte der Kommissär.

»Wofür? Braucht's nicht.«

»Weil du das bei dir vergessene Geld ehrlich aufbewahrt und abgeliefert hast.«

»Aber wieso denn? Soll man denn nicht ehrlich sein?«

»Nun, du bist ein guter Mensch ... du hast fremdes Gut nicht unterschlagen wollen.«

»Fremdes Gut unterschlagen!« Sseliwan schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Ich brauche kein fremdes Gut.«

»Aber du bist doch arm, nimm das zur Aufbesserung,« redete ihm die Tante freundlich zu.

»Nimm nur, nimm!« suchte ihn mein Vater zu überreden. »Du hast ein Recht darauf.«

»Was für ein Recht?«

Man unterrichtete ihn vom Gesetz, nach dem jeder, der etwas Verlorenes findet und wieder zurückbringt, Anrecht auf den dritten Teil des Wertes hat.

»Was ist das für ein Gesetz,« erwiderte er und schob von neuem die Hand der Tante mit den Geldscheinen weg.

»Durch fremdes Unglück wird man nicht reich! ... Braucht's nicht – Leben Sie wohl.«

Er stand von seinem Platze auf, um auf seinen vielgescholtenen Hof zurückzukehren, aber der Vater ließ ihn nicht fort: er nahm ihn in sein Arbeitszimmer mit und schloß sich dort mit ihm ein; nach einer Stunde ließ er den Schlitten anspannen und ihn nach Hause bringen.

Einen Tag später wußten alle in der Stadt und in der Umgegend von diesem Ereignis, und zwei Tage später fuhren der Vater und die Tante nach Kromy. Sie machten bei Sseliwan Station, tranken in seiner Hütte Tee und ließen seiner Frau einen warmen Pelz zurück. Auf dem Rückwege fuhren sie wieder zu ihm und brachten ihm noch Geschenke: Tee, Zucker und Mehl.

Er nahm alles höflich, aber ungern an und sagte:

»Wofür? Jetzt kehren schon seit drei Tagen in einem fort bei mir Leute ein. Wir haben Verdienst gehabt... und haben Kohlsuppe gekocht. Sie fürchten uns jetzt nicht mehr, wie sie uns bisher gefürchtet haben.«

Als man mich nach den Feiertagen in die Pension zurückbrachte, hatte ich ein Paket für Sseliwan bei mir; ich trank bei ihm Tee, sah ihm in einem fort ins Gesicht und dachte:

»Was er für ein prächtiges und gütiges Gesicht hat! Weshalb ist er mir und den andern so lange als ein Waldteufel erschienen?«

Dieser Gedanke verfolgte mich und ließ mir keine Ruhe... Es war doch derselbe Mensch, der allen so schrecklich vorgekommen war, den alle für einen Zauberer und Bösewicht gehalten hatten. Und es hatte so lange den Anschein, als beschäftige er sich nur damit, Übeltaten auszusinnen und anzustiften. Weshalb war er auf einmal so gut und freundlich geworden?

Zwanzigstes Kapitel

Ich hatte in meiner Kindheit das große Glück, daß ich meine ersten Religionsstunden von einem ausgezeichneten Christen erhielt. Es war der Orjoler Geistliche Ostromyslenskij, ein guter Freund meines Vaters und ein Freund aller Kinder, die er Wahrheit und Barmherzigkeit zu lehren wußte. Meinen Kameraden erzählte ich nichts davon, was wir in der Christnacht bei Sseliwan erlebt hatten, weil dabei nichts für meine Tapferkeit Rühmliches geschehen war; im Gegenteil, sie hätten über meine Furcht lachen können, aber ich eröffnete alle meine Abenteuer und Zweifel dem P. Jefim.

Er streichelte mich mit der Hand und sagte:

»Du bist sehr glücklich, deine Seele war in der Christnacht wie eine Krippe für das Heilige Kind, das auf die Erde kam, um für die Unglücklichen zu leiden. Christus hat das Dunkel erhellt, das deinen Sinn trübte infolge des hohlen Geredes der unverständigen Menschen. Der Waldteufel war nicht Sseliwan, sondern ihr selber, euer Argwohn gegen ihn, der es niemand erlaubte, sein gutes Gewissen zu erkennen. Sein Gesicht erschien euch finster, weil euer Auge finster war. Wache darüber, daß du ein andermal nicht so blind seist.«

Das war ein verständiger und vortrefflicher Rat. In den weiteren Jahren meines Lebens wurde ich mit Sseliwan näher bekannt und hatte das Glück zu sehen, wie er für alle ein lieber und geachteter Mensch wurde. Auf dem neuen Gute, das die Tante gekauft hatte, befand sich ein guter Gasthof an einer Landstraße mit lebhaftem Verkehr. Diesen Hof bot nun die Tante Sseliwan unter günstigen Bedingungen an, er schlug ein und blieb bis zu seinem Lebensende auf dem Hofe. Hier gingen meine weit zurückliegenden Kinderträume in Erfüllung: ich wurde nicht nur mit Sseliwan nahe bekannt, sondern wir hegten Freundschaft zueinander und volles Vertrauen. Ich sah, wie sich seine Lage zum Besseren wandte, wie bei ihm der Friede einkehrte und er sich allmählich auch ein Vermögen erwarb, wie alle, die Sseliwan begegneten, statt der früheren finsteren Mienen Freude zeigten. Und es kam wirklich so, daß, als sich die Augen der Menschen um ihn aufheiterten, auch sein eigenes Gesicht heiter wurde.

Von den Leuten der Tante konnte Sseliwan den Lakai Borissuschka, den er in jener denkwürdigen Christnacht beinahe erwürgt hätte, am wenigsten leiden.

Manchmal machte man sich noch über diese Geschichte lustig. Die Geschehnisse jener Nacht wurden auf die Weise erklärt, daß ebenso wie alle den Verdacht hegten, daß Sseliwan die Tante berauben wollte, auch Sseliwan selbst den bestimmten Argwohn hatte, der Kutscher und der Lakai wären absichtlich auf seinen Hof gefahren, um hier der Tante in der Nacht das Geld zu stehlen und dann alles auf die bequemste Weise auf den verdächtigen Sseliwan abzuwälzen.

Das Mißtrauen und der Argwohn auf der einen Seite riefen Mißtrauen und Argwohn auf der anderen Seite hervor, und allen schien es, als seien sie Feinde und hätten Grund, einander für Leute zu halten, die zu allem Schlimmen geneigt sind.

So erzeugt immer das Böse wieder Böses und wird nur durch das Gute besiegt, das nach dem Worte des Evangeliums unsere Augen und unser Herz reinigt.

Einundzwanzigstes Kapitel

Es bleibt mir nur noch zu erklären, warum Sseliwan, nachdem er den Brezelbäcker verlassen hatte, so mürrisch und verschlossen geworden war. Was hatte ihn damals derart verdrossen und abgestoßen?

Mein Vater, der diesem guten Menschen geneigt war, dachte trotzdem, daß Sseliwan irgend ein Geheimnis haben müsse, das er hartnäckig verberge.

So war es auch. Sseliwan enthüllte sein Geheimnis einzig und allein meiner Tante, und auch das erst, als er einige Jahre auf ihrem Gute gelebt hatte und nachdem seine immer kränkelnde Frau gestorben war.

Als ich schon als Jüngling wieder einmal meine Tante besuchte und wir Sseliwans gedachten, der vor kurzem gestorben war, erzählte mir die Tante sein Geheimnis.

Es bestand darin, daß Sseliwan in seiner Herzensgüte gerührt war vom bitteren Los der hilflosen Waise des entlassenen und in der Stadt gestorbenen Henkers. Niemand wollte die Kleine, als das Kind eines verachteten Menschen, bei sich aufnehmen. Sseliwan war arm und konnte sich auch nicht entschließen, die Tochter des Henkers im Städtchen, in dem jeder sie und ihn kannte, bei sich zu behalten. Er mußte vor allem ihre Herkunft verbergen, an der sie doch unschuldig war. Andernfalls wäre sie den schweren Vorwürfen der Menschen, die nichts von Milde und Gerechtigkeit wissen, nicht entgangen. Sseliwan verbarg sie, weil er immer fürchtete, man könnte sie erkennen und beleidigen, und diese Verschlossenheit und Unruhe teilten sich seinem ganzen Wesen mit und gaben ihm zum Teil sein Gepräge.

So war jeder, der Sseliwan »Waldteufel« nannte, in einem noch viel größeren Maße ein »Waldteufel« für ihn.


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