Rudolf Lindau
Der Gast
Rudolf Lindau

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V

Nikolaus Ohlsen und John Maclean hatten sich, in Wort sowohl wie in Schrift, stets gut miteinander verständigt. Keiner von beiden war ein Schwätzer, und ihre Briefe konnten als Muster lakonischen Epistolarstils gelten. Maclean schrieb regelmäßig jede Woche einmal an seinen Freund, um über die fortschreitende Auflösung des Geschäftes in Kalifornien Mitteilungen zu machen. Er empfing dagegen zweimal im Monat eine kurze Berichterstattung von Ohlsen über dessen Erlebnisse in Europa. – Seit sechs Wochen jedoch waren diese Briefe nicht mehr pünktlich eingetroffen, und das letzte Schreiben aus London hatte dem braven John förmliches Kopfzerbrechen verursacht. Dieser Brief war zwar ungewöhnlich lang gewesen, aber hatte eigentlich doch nichts enthalten. Ohlsen hatte darin philosophische Betrachtungen über die Schwäche der menschlichen Natur angestellt. – »Wo will der junge Mann hinaus?« hatte sich John gefragt und den Brief kopfschüttelnd beiseite gelegt, um ihn bald darauf von neuem aufzunehmen, noch einmal durchzulesen und sich schließlich ganz fest zu überzeugen, daß er ihn nicht verstehe. Er hatte dies auch in seiner Antwort klar und deutlich festgestellt: »Deinen letzten Brief vom 13. Juli habe ich erhalten, jedoch nicht verstanden. Wenn Du Preßkopie desselben behalten hast, so bitte ich Dich, diese durchzulesen, um Dich zu überzeugen, daß mir der Brief in der Tat unverständlich sein mußte. – Ich hoffe, Du bist bei guter Gesundheit. Ich habe über die meinige nicht zu klagen. – Das Haus in Montgommery Street . . .«, und dann war der gewöhnliche Bericht gefolgt.

Seit Ankunft des Ohlsenschen Briefes vom 13. Juli waren vier Wochen verflossen. John Maclean war jedoch nicht beunruhigt. »Nick wird sich vergnügen,« meinte er. – Endlich gab Ohlsen wiederum ein Lebenszeichen von sich; aber sein Brief vom 5. August war geradezu rätselhaft. Er schrieb seinem Freunde, er wünsche nach Kalifornien zurückzukehren und, um allen Fragen in London über den Grund seiner Reise aus dem Wege zu gehen, bäte er seinen Freund, ihm zu schreiben oder zu telegraphieren, er, Ohlsen, solle nach Kalifornien kommen, um dort bei der Abwicklung der noch laufenden Geschäfte behilflich zu sein.

Es paßte John Maclean durchaus nicht, den erbetenen Brief zu schreiben. Er war ein Mann, der die Wahrheit in Ehren hielt. Er schlug ärgerlich mit der Hand auf den Tisch und murmelte vor sich hin: »Weshalb verlangt der Mensch von mir, daß ich lüge? Wenn Ohlsen sich nur durch Lügen retten kann, so muß er auf meinen Beistand verzichten.« – Als Maclean aber eine Stunde später in seiner Schreibstube saß, kamen ihm andere Gedanken. – Ohlsen war kein leichtsinniger Mensch. Er hatte nie etwas Unnützes von Maclean verlangt. Wenn er diesen jetzt ersuchte, ihn nach San Francisco zu berufen, so mußte das einen triftigen Grund haben. – »Man soll seinen Freunden am kräftigsten beistehen, wenn sie im Unrecht sind,« sagte er sich. »Ohlsen wandelt augenscheinlich auf falschen Wegen; gerade deshalb ist es meine Pflicht, ihm die Hand zu reichen, wenn er sie gebraucht.« – Damit setzte Maclean sich hin und schrieb, was Ohlsen von ihm verlangt hatte. Dann trug er den Brief selbst auf die Post, und während der nächsten Tage und Wochen ging er seinen Geschäften mit dem ungewöhnlichen Ernste und der üblichen Umsicht nach.

Ein Monat ging dahin. Es kam keine Nachricht von Ohlsen. – Ein zweiter Monat verfloß. Ohlsen ließ nichts von sich hören. Maclean hatte ebenfalls nicht mehr geschrieben, da er vermutet hatte, Nicolaus werde sich sofort nach Empfang seines Briefes auf die Reise machen. – Es wurde Maclean unheimlich zumute, die Verbindung mit seinem alten Genossen so lange unterbrochen zu sehen. Gegen Weihnachten, als er sich noch immer ohne Nachricht befand, telegraphierte er seinem Bruder, um anzufragen, ob und wann Nikolaus Ohlsen London verlassen habe. Die Antwort kam umgehend: – »Ich reise nicht. Brief unterwegs. Ohlsen.«

Maclean hatte sich gern an den Gedanken gewöhnt, seinen Freund bald wiederzusehen, und das Telegramm verstimmte ihn nicht wenig. Er schimpfte an dem Tage, an dem er es empfangen hatte, weidlich auf Ohlsen, ärgerte sich über dessen Rücksichtslosigkeit und endigte damit, daß er ihm im Geiste alles verzieh. – Der telegraphisch angezeigte Brief kam bald darauf an. Maclean erbrach ihn mit großer Ungeduld und warf ihn dann verdrießlich auf den Tisch. Das Schriftstück besagte kaum mehr als das Telegramm. Ohne sich auf irgendwelche Erklärungen einzulassen, schrieb Ohlsen, daß Umstände, denen gegenüber er machtlos sei, es ihm unmöglich machten, England zu verlassen; er befinde sich übrigens wohl und grüße bestens.

Maclean hatte bei seinen Freunden in den Goldgruben fluchen gelernt und erinnerte sich dessen jetzt, um seinem Ärger Luft zu machen. Nachdem er aber fünf Minuten lang getobt hatte, brach er plötzlich in lautes Lachen aus:

»Zehn zu eins!« rief er, »da ist ein Mädchen im Spiele. Wie konnte ich dem armen Nick zürnen, daß er verrückt geworden ist? Ich wünsche dem jungen Menschen Glück!«

Nun wurde ihm auch alles klar, wie er meinte: die Schöne hatte Nick erst vergeblich seufzen lassen, und darauf hatte dieser den selbstmörderischen Entschluß gefaßt, Europa den Rücken zu kehren. – So ist die Jugend! – Dann war die Spröde weicher geworden. Nick, in ihren Banden gefangen, dachte natürlich gar nicht mehr daran, nach Kalifornien zurückzukehren, und fand nichts einfacher, als seinem Freunde mitzuteilen, Umstände, denen gegenüber er machtlos sei, verhinderten ihn, London zu verlassen. – »Natürlich ist der Bursche machtlos! Er tut einfach, was seine Schöne wünscht und erlaubt. So muß es sein!«

Maclean lächelte vergnüglich vor sich hin und beeilte sich, neue Pläne für die nächste Zukunft zu machen. – Er war, trotzdem er schon viel von der Welt gesehen hatte, in manchen Punkten naiv wie ein Kind geblieben, und seiner kindlichen Einfalt entsprang der Gedanke, die Seinen in London zu überraschen. Er malte sich das Wiedersehen mit verlockenden Farben aus. Er wollte noch zwei- oder dreimal nach England schreiben; aber seiner nahe bevorstehenden Abreise in keiner Weise Erwähnung tun. Nick und Harry mochten denken, er werde im Sommer kommen, keinesfalls würden sie ihn erwarten, wenn er sich nicht vorher anmeldete. Er konnte, ohne daß man in London eine Ahnung davon hatte, Amerika verlassen. Und eines Abends wollte er dann in der Dämmerstunde, wenn er, nach der ihm bekannten Lebensweise seiner Lieben, sicher sein durfte, sie alle in der Villa von Lower Norwood vereint zu finden, »ganz kühl« im Familienkreise seines Bruders auftauchen. – »Wie geht es dir, Nick? Wie geht es dir, Harry? Wie geht es Ihnen, Frau Schwägerin? Was machen die Kinder?« – so wollte er sprechen, »ganz kühl«, als kehre er von einem Spaziergange heim. – Wie sie die Augen aufreißen und ihn wie versteinert anstarren würden! – Was Nick antworten würde, das wußte Maclean ganz genau: »Wie geht es dir, Jack?« mußten seine Worte sein. – Aber wie würde sich Harry, sein Zwillingsbruder, sein zweites Ich gebärden, Harry, den er nun seit achtzehn Jahren nicht gesehen hatte? – Und die Frau Schwägerin? – Sie würde wahrscheinlich sehr erstaunt sein, das wettergebräunte, von schweren Schicksalsschlägen hartgehämmerte Ebenbild ihres Gatten zu erblicken. Aber sie würde ihm freundlich zulächeln und ihm sagen: »Willkommen zu Hause!« Ja, »zu Hause!« Das war ein schöner Gedanke. – Er malte und malte unverdrossen an dem Bilde des Wiedersehens, und zuletzt stand es so farbenreich und vollendet vor seinem Geiste da, daß er sich wunderte, nicht bereits längst daran gedacht zu haben, sich die Freude zu bereiten, an der sich nun sein Herz weidete.

»Ich möchte die erste halbe Stunde in Lower Norwood nicht für tausend Dollars hingeben!« sagte er sich. – »Wie geht es dir, Nick? Wie geht es dir, Harry?« – Es war beinahe zu schön, um wahr zu werden; aber es mußte wahr werden! Was konnte das verhindern? – In den ersten Tagen des Monats März reiste er voll der schönsten Hoffnungen von San Francisco ab, und sechs Wochen später langte er wohlbehalten in London an.


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