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Noch an demselben Abend verließ Gustav Berlin und traf am andern Morgen in Marienbad ein. Durch ein überraschendes Trinkgeld zum Willkommen hatte Gustav das freundliche Stubenmädchen Luise sofort zutraulich gestimmt und zur Mitteilsamkeit veranlaßt.

Die Familie von Kößler bestand aus drei Mitgliedern, dem Vater, dem jungen Fräulein und einer reiferen Tante, Fräulein Emilie von Liebendahl, sowie einer Kammerjungfer für die beiden Damen. Luise sprach mit wahrem Entzücken von dem jungen Mädchen, das sie als ein herziges liebes Geschöpf bezeichnete. Kößlers führten das Brunnenleben, das alle Welt führt. Sie waren den ganzen Tag unterwegs und kamen nur nach Hause, um sich auszuruhen und umzukleiden. Man konnte also sicher sein, sie morgens zwischen sechs und sieben auf der Promenade zwischen Kreuzbrunnen und Ferdinandsbrunnen zu treffen, nachmittags an der Waldquelle und abends zwischen sechs und sieben Uhr wieder an der Kreuzbrunnenpromenade, wenn sie nicht gerade einen größeren Ausflug machten. Wo die Herrschaften speisten, vermochte das Mädchen nicht mit voller Bestimmtheit anzugeben.

Nachdem sich Gustav, der durch die Nachtfahrt etwas ermüdet war, noch durch einen wohltätigen Schlummer gründlich gestärkt hatte, machte er sich in den Nachmittagsstunden auf den Weg und gelangte, ohne daß er zu fragen brauchte, der Strömung der Spaziergänger folgend, richtig zur Waldquelle. Die Beobachtung der bunt zusammengewürfelten Badegesellschaft, die an den kleinen, mit roten und blauen Kaffeetüchern bedeckten Tischen saß oder in den Quergängen auf und ab wandelte, während eine leidliche Kapelle die beliebtesten Tänze von Strauß spielte, machte ihm viel Vergnügen. Von allen Bädern bietet Marienbad, wo selbst die Krankheit gewöhnlich die Erscheinung eines Übermaßes von strotzender Gesundheit annimmt, den wenigst unerfreulichen Anblick. Dazu die herrliche Natur, die wundervollen Wälder, die hübschen und geschmackvollen neuen Häuser – selbst, wenn Gustav keinen besonderen Reisezweck gehabt hätte, er würde von seinem Ausfluge ganz befriedigt gewesen sein. Die Fülle von lebhaften, etwas auffällig, aber höchst elegant gekleideten, hübschen oder zum mindesten interessant aussehenden jungen Frauen und Mädchen aus Österreich-Ungarn und aus den Donauländern überraschte und erfreute das Auge des Norddeutschen. Gustav traf auch einige oberflächliche Bekannte, die ihn hier mit einer keineswegs berechtigten Herzlichkeit begrüßten, und deren er mit Mühe und Not sich entledigte. Mit spähendem Blick durchflog er die Reihen der Tische und musterte jeden einzelnen Vorübergehenden. Plötzlich blieb er wie festgewurzelt stehen. Unmittelbar neben ihm, kaum einen Schritt von ihm entfernt, am ersten Tische an dem Spazierwege saßen die, die er suchte: ein schwerer, sehr korpulenter Herr mit kurzgeschnittenem Vollbart, sonnengebräunt, mit dem Ausdruck der gemütlichsten Leutseligkeit, der die kurzfingerigen fleischigen Hände andächtig über dem Bauch zusammengeschlagen hatte und mit jenem Ausdruck behaglicher Lust, der nur dicken Leuten eigentümlich ist, sich der göttlichsten Ruhe hingab; ihm gegenüber eine hagere, aschenbrödelhaft aussehende Dame, die ihr Alter nicht gern mehr eingestehen mochte, jedenfalls die Tante; und zwischen beiden – sie: Leonore, in Wahrheit noch hübscher, als er sie sich gedacht hatte; ein Bild des lachenden Lebens, der holden Unerfahrenheit, der anmutigsten Lustigkeit. Gustav war von all dieser Lieblichkeit ganz betroffen. Er ließ die Rechte, die schon nach der Seitentasche hatte greifen wollen, um Edgars Brief hervorzuholen, wieder fallen und ging langsam an dem Tische vorüber. Leonore sah ihn mit ihren großen unbefangenen Augen an und blickte ihm auch noch nach, als er sich nach einigen Schritten nach dem interessanten Tisch umwandte. Gustav präparierte seine kurze Anrede, und bei dem nächsten Umgang blieb er vor dem Tische stehen.

»Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich die Ehre habe, mit Herrn von Kößler zu sprechen.«

Der starke Herr erhob sich schwer und verneigte sich.

»In diesem Fall möchte ich mir erlauben, Ihnen diesen Brief von Ihrem Neffen, Herrn Edgar von Kößler, zu überreichen, einem guten Freunde von mir, der mir für Sie und – (mit einem Seitenblicke auf Leonoren) – für die Ihrigen die schönsten Grüße aufgetragen hat.«

Herr von Kößler stellte Gustav den Damen vor und fragte ihn, ob er nicht am Tische mit Platz nehmen wolle. Gustav folgte der Aufforderung mit aufrichtigem Vergnügen. Die Nachbarschaft des reizenden jungen Mädchens, der gemütliche dicke Herr von Kößler, die dürre gute Tante, alles das versetzte ihn in die beste Stimmung. Er war sehr aufgeräumt, und die Unterhaltung war bald eine ungemein lebhafte und lustige. Die Leute gefielen sich schnell. Gustav war der Familie, die sich in den letzten Tagen, seitdem einige Freunde abgereist waren, ziemlich gelangweilt hatte, eine sehr willkommene Auffrischung und Zerstreuung. Es machte sich ganz von selbst, daß ein gemeinschaftlicher Spaziergang unternommen wurde, und daß sie auch auf der Brunnenpromenade zur Zeit der Musik zusammenblieben. Leonore gewann noch durch die persönliche Bekanntschaft. Es war ein frisches lustiges Kind, ungemein natürlich, deren Geist das Mittelmaß wohl kaum überschritt, die aber auch gar nicht geistreich zu sein brauchte, denn alles, was sie sagte, klang aus dem reizenden Munde allerliebst.

Als Gustav sich am Abend von seinen neugewonnenen Freunden verabschiedete, war er bis über die Ohren in Leonoren verliebt. Er fand es ganz natürlich, daß er am andern Morgen um halb sechs Uhr aufstehen mußte, um mit dem Glockenschlage Sechs wieder an der Brunnenpromenade zu sein. Schon von ferne erspähte er Herrn von Kößler, der bereits seinen zweiten Becher Ferdinandsbrunnen geleert hatte, während Tante Emmy ihre Blutleere durch Ambrosiusbrunnen zu bekämpfen suchte. Das liebenswürdige Einerlei des Brunnenlebens brachte es mit sich, daß schon am zweiten Tage Gustav als zur Familie gehörig gezählt wurde. Die Wanderung durch den Wald nach Bellevue, das bezaubernde Frühstück in der erheiternden und lustigen Umgebung, das Mittagsmahl, der Nachmittagskaffee an der Waldmühle, der Nachmittagsspaziergang, die Brunnenpromenade zur Musikzeit, – alles das wurde wie selbstverständlich von den vieren gemeinsam unternommen. Gustav begann auch seinen Gefühlen für Leonoren durch kleine Aufmerksamkeiten, durch Blumen und harmlose Geschenke, wie sie in den Bädern ausgetauscht werden, Ausdruck zu geben, und Leonore war sichtlich erfreut darüber. Sie fand Gustav entzückend. So vergingen drei, vier Tage.

Da wurde Gustav durch ein Telegramm seines Dieners daran erinnert, daß ein gewisser Daniel Möllmann mit dieser Reise nach Marienbad eigentlich in einem sehr nahen Zusammenhang stände. Fritz meldete, daß Herr Möllmann wiederhergestellt sei und Herrn Wöhringen für die große Liebenswürdigkeit und Hingabe, mit der er täglich anderthalb Stunden im Tiergarten gewartet habe, seinen besten Dank ausspreche. Am andern Tage sandte Gustav ein Telegramm an Daniel, in dem er ihm mitteilte, daß er Berlin plötzlich habe verlassen müssen, ihn jedoch bei seiner Rückkehr sofort aufsuchen werde. Er gratulierte ihm zu seiner Genesung.

»Haben Sie von einem gewissen Herrn Daniel Möllmann jemals etwas gehört?« fragte Gustav bei Tisch.

Da dieser Name der Familie Kößler sowie der Tante Emmy gänzlich unbekannt war, so wurde nicht weiter davon gesprochen. Aber Gustav hatte doch die Empfindung, daß der Alte am Marienkirchhof mit seinen neuen Freunden in irgendeinem Zusammenhange stehen müsse, und mit einer gewissen Spannung sah er der Bekanntschaft der Frau von Kößler entgegen, deren Vorname Leonore ihm zu denken gab.

Ein Tag verging wie der andere, es verging eine Woche; immer herzlicher und gemütlicher gestaltete sich das Verhältnis. – Während eines der gewohnten Spaziergänge, als der dicke Papa und die dünne Tante wie immer vorangingen, während die jungen Leute in einiger Entfernung folgten, sagte Gustav zu Leonoren:

»Wissen Sie, was mich hierher getrieben hat? Ich habe mich in Ihr Bild verliebt. Ich besitze es sogar.«

Leonore schürzte schelmisch die Oberlippe und blickte unter den langen dunklen Wimpern ungläubig zu ihm auf.

»Wahrhaftig«, fuhr Gustav leise fort. »Ich will es Ihnen zeigen!« Und noch leiser mit scherzhaftem Pathos flüsterte er: »Ich habe es gestohlen – es ist – das einzige Verbrechen meines Lebens.«

Er hielt plötzlich inne. Er machte die Wahrnehmung, wie in dem Tonfall seiner Stimme etwas ihm Bekanntes lag, als habe er das schon einmal gesagt. Auf einmal wurde ihm klar, daß er, ohne sich davon Rechenschaft abzulegen, das Geständnis des alten Daniel parodiert hatte. Es war ihm ganz lieb, daß gerade in diesem Augenblick Herr von Kößler, wie er es sehr häufig tat, stehenblieb und sich nach den jungen Leuten umsah, um einen passenden Vorwand zu haben, etwas zu verschnaufen.

Als die zweite Woche zu Ende ging, schrieb Gustav an seinen Freund Edgar folgenden Brief:

»Lieber Edgar!

Ich wünsche Dir von Herzen Glück. Deine Cousine hat sich mit einem ungemein liebenswürdigen jungen Manne verlobt. Vater und Tante Emmy sind benachrichtigt und einverstanden. Mama in Franzensbad wird wahrscheinlich im Laufe des Nachmittags ihren Segen sprechen. Lorchen ist das himmlischste Wesen der Schöpfung. Geh sofort zu Schmidt, Unter den Linden und bestelle mir das größte Bukett, das gemacht werden kann, in der Mitte ein Riesen-L aus gelben Rosen.

Herzlichen Gruß

Dein glücklicher
Gustav.«

Ein zweiter Brief trug die Adresse des Herrn Daniel Möllmann, Am Marienkirchhof, Berlin C. Er lautete so:

»Geehrter Herr und Freund!

Sie haben mich durch Ihre freundlichen Zeilen, in denen Sie mir für eine einfache Gefälligkeit in überschwenglicher Weise danken, beschämt. Ich bin es, der Ihnen zu innigstem Danke verpflichtet ist, und ich bin viel tiefer in Ihrer Schuld, als Sie glauben. Ohne davon zu wissen, sind Sie der Wohltäter meines Lebens geworden. Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen das brieflich auseinandersetzen. Seit einer Stunde bin ich glücklicher Bräutigam, und Sie werden nun begreifen, daß ich nicht in der Stimmung bin, lange Briefe zu schreiben. Lassen Sie sich also nur sagen, daß ich die Bekanntschaft meiner Braut mittelbar Ihnen verdanke. Es ist die Tochter des frühern Landrats von Kößler, und sie heißt auch Leonore. Aber Sie werden doch nicht eifersüchtig auf mich werden, wenn ich hinzufüge, daß meine Braut am 22. Dezember 1862 geboren ist.

Auf frohes Wiedersehn in Berlin! Bewahren Sie eine freundliche Gesinnung

Ihrem

dankbar ergebenen
Gustav Wöhringen.«

Frau von Kößler, die Gustav noch am selben Nachmittage in Franzensbad persönlich kennen lernte, war eine stille, vornehme Frau. Gustav vermochte beim besten Willen der Welt zwischen ihr und seiner Braut keine Ähnlichkeit zu entdecken, und die Antworten auf einige von ihm gelegentlich hingeworfene Fragen bestärkten ihn in der Überzeugung, die sich in ihm mit dem ersten Augenblicke der Begegnung festgesetzt hatte: daß Daniels krankhaft erregte Phantasie der Erinnerung an das Mädchen, das er seit einem Menschenalter vergeblich suchte, und das selbst vielleicht nichts anderes als ein Wahngebilde war, rein zufällig die Gestalt jener lieblichen Blondine gegeben hatte, deren anmutiges Bild ihm aufgefallen war. Damit begnügte er sich auch.

Er hatte ja in der Tat ganz anderes zu tun, als nutzlosen Betrachtungen über Daniel und dessen unwahrscheinlichen Hirngespinsten nachzuhängen. In der frischen fröhlichen Wirklichkeit lebte er, an der Seite eines bildhübschen, guten und ausgelassenen Mädchens, das er seine Braut nannte, und verhätschelt von seinen künftigen Schwiegereltern. Gustav hatte den schönen Herbst auf Grauditz verbracht, viel gejagt und auf einmal eine merkwürdige Teilnahme für die Landwirtschaft gewonnen. Er liebte Leonoren abgöttisch und war glücklich.

Nun zog der Winter heran. Die Sorge um die Aussteuer hatte Frau von Kößler ganz und gar in Anspruch genommen, und es mußten jetzt alle Veranstaltungen getroffen werden, um die Übersiedelung der Familie nach Berlin zu ermöglichen; denn in Berlin sollte am neunzehnten Geburtstage Leonorens die Hochzeit stattfinden, und Kößlers hatten der seit Jahren sich immer wiederholenden Bitte der guten Tante Emmy endlich willfahrt, einmal die Wintermonate in der Hauptstadt zuzubringen. Da sollten denn auch noch die letzten nötigen Ankäufe besorgt werden.

Gustav war seinerseits seit Wochen ausschließlich damit beschäftigt gewesen, die hübsche Wohnung, die er in der Hohenzollernstraße gemietet hatte, für seine junge Frau behaglich einzurichten, und er hatte die Freude, daß alles fix und fertig war an dem Tage, da Kößlers in Berlin eintrafen. Für diese hatte er unweit seiner Junggesellenwohnung in der Behrenstraße ein geeignetes Absteigequartier gefunden. Um die Mittagsstunde eines hellen kalten Dezembertages trafen sie ein und waren von allem, was Gustav und Tante Emmy getan hatten, ganz entzückt.

Leonore brannte vor Ungeduld, ihr neues Heim, das sie bald ihr eigen nennen sollte, kennen zu lernen, und Gustav, der einen gewissen Stolz darein setzte, zum erstenmal mit seiner Braut am Arme die Linden entlang und durch den Tiergarten zu gehen, hatte sich in scherzhafter Weise jeden elterlichen Schutz verbeten. Er wollte die Freude haben, seiner Braut, die in wenigen Tagen seine Frau sein sollte, die Herrlichkeiten allein zu zeigen. Trotz des kalten Wetters öffneten Kößlers die Fenster, um dem hübschen jungen Paare, das sich so viel zu erzählen hatte, nachzublicken.

Leonore war außer sich. So reizend hatte sie sich's nicht gedacht! Jedes einzelne Zimmer wurde bis in die geringfügigste Einzelheit durchmustert; die Möbel, die Stoffe, die Teppiche, alles erregte ihre unbeschränkteste Bewunderung, und eine jede kleine Aufmerksamkeit, die sie in der vorsorglichen Tätigkeit Gustavs erblickte, rührte sie zu Tränen. Man durfte von den jungen Leuten das übertrieben poetische Bild gebrauchen: sie schwammen in einem Meere von Seligkeit.

Aber die Tage waren kurz. Es war vier Uhr geworden, und das Dunkel zog schon herauf. Sie mußten sich, so leid es ihnen tat, zum Aufbruch entschließen. Leonore drückte sich zärtlich an Gustav. Sie dachten nur an sich, an ihr zukünftiges Glück und hatten keinen Sinn für das, was um sie her vorging. Um nicht zu vielen Leuten zu begegnen, hatten sie den Fahrdamm überschritten und waren auf dem Wege an den Bäumen weitergegangen.

Sie hatten wenige Schritte getan, sie waren gerade an der Lichtung bei der Luiseninsel angekommen, als plötzlich Leonore furchtsam zusammenschreckte und sich noch fester an Gustav anschmiegte. Es dunkelte freilich schon, aber die eben angezündete Laterne verbreitete doch genügende Helle und beleuchtete das merkwürdig erregte Gesicht eines Mannes, der in schnellen Schritten auf die beiden zugekommen war und nun zitternd, mit halb offenem Wunde, die beiden Hände gegen Leonoren ausstreckend, vor ihnen stand:

»Leonore! – Endlich!« brachte er mühsam mit schwerem Schluchzen hervor.

Leonore wich einen Schritt scheu zurück und zog Gustav mit sich.

»Beruhige dich!« sagte dieser. »Es ist ein alter Freund von mir.«

Leonore ließ Gustavs Arm los und trat angstvoll beiseite. Gustav näherte sich Daniel und streckte ihm die Hand entgegen. Daniel bemerkte es nicht. Mit großen Augen starrte er auf Leonoren, die Adern an seinen Schläfen schwollen unter den sorglich gedrehten Locken sichtbar an; eine ungeheure Erregung schien in ihm zu toben. Mit einem ganz wundersamen Ausdruck, der gleichzeitig wie Jubel und wie schmerzliche Verzweiflung klang, wiederholte er nur das eine Wort:

»Leonore!«

Gustav war von dem Anblick so ergriffen, daß er für den Augenblick sogar seine Braut vergaß. Er legte seine Hand auf Daniels Schulter und sagte mit warmem Tone:

»Verehrter Freund, Sie befinden sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Jene Dame ist nicht die von Ihnen gesuchte Leonore. – Sie sehen ja, es ist ein ganz junges Mädchen; es ist meine Braut, Fräulein von Kößler.«

Ein Augenblick verging, ehe Daniel Gustavs Worte verstanden zu haben schien. Er atmete langsam, tief und schwer. Plötzlich richtete er sich auf, stieß Gustav unsanft von sich, und mit dem Ausdruck äußersten Hasses preßte er zwischen den Zähnen das Wort »Verräter!« hervor.

Gustav bemühte sich vergeblich, den Sinnlosen zu besänftigen.

»Lassen Sie mich!« sagte Daniel mit einer Heftigkeit, die man dem ruhigen Manne nie zugetraut hätte. »Lassen Sie mich, sonst werde ich rasend! Ich will hier keinen ärgerlichen Auftritt herbeiführen, nicht an dieser Stelle, die ich geweiht habe – geweiht durch meine Treue ohnegleichen! Aber entfernen Sie sich von hier! Sie gehören nicht hierher, Sie nicht, und nicht jene elende pflichtvergessene Person, die mich um mein Dasein betrogen hat! Jetzt durchschaue ich Sie! Jetzt weiß ich alles! Also deshalb haben Sie sich gewaltsam an mich herangedrängt, deshalb mir in einer schwachen Stunde mein Geheimnis entlockt, damit Sie den verborgenen Schatz auffinden und ihn mir rauben! Sie sollten sich schämen! Ist solche Tücke, ist solche Bosheit erhört! – Und Schmach über dich, du Elende, die mir Treue geschworen und mich verraten hat!... Lassen Sie mich!« rief Daniel, indem er zornbebend Gustav wehrte, sich ihm zu nähern. »Lassen Sie mich, oder es geschieht ein Unglück! Sie wissen nicht, wessen ich fähig bin!«

Der Alte wandte sich schaudernd ab, dann blieb er einige Sekunden stehen. Er wankte; mit sichtbarer Mühe suchte er sich eine stramme Haltung zu geben. Endlich schüttelte er bedächtig den Kopf und tappte langsam und schwer, ohne sich noch einmal umzusehen, die Tiergartenstraße hinauf.

Gustav hatte Leonorens Arm wieder in den seinigen gelegt. Das arme Mädchen zitterte und bebte. Mit teilnahmvollen Blicken sahen die beiden den armen alten Mann, schwerfällig sich auf den Regenschirm stützend, wie gebrochen dahinschleichen.

Mit der Dämmerung hatte sich über den Tiergarten ein grauer Nebel gesenkt. Nur noch wenige Augenblicke sahen sie die dunkeln Umrisse Daniels; bald wurden diese ganz undeutlich und verloren sich, um noch einmal in dem fahlen Schein der nächsten Laterne als verwischte Schatten wieder aufzutauchen. Dann zerrannen auch diese. In dem helleren Schein regte sich nun nichts mehr. Was dahinter war, hatte der Nebel völlig verschleiert.

»Es ist ein unglücklicher Sonderling, ich erzähle dir seine Geschichte ein andermal«, sagte Gustav. »Wir wollen ihm nicht mehr begegnen. Frage mich jetzt nicht... Ich erzähle es dir später.«

Die Bank an der Luiseninsel blieb am andern Nachmittage leer.

Fritz, den Gustav im Lauf des Vormittags zu der alten Marianne geschickt hatte, um sich nach dem Befinden des Herrn Möllmann zu erkundigen, hatte überaus ungünstigen Bericht erstattet. Daniel hatte die ganze Nacht stark phantasiert. Marianne hatte in frühester Morgenstunde einen Arzt herbeigerufen, der sich sehr bedenklich über den Zustand des Kranken geäußert hatte.

Gustav hatte nun selbst den Arzt aufgesucht, bevor er noch zu seiner Braut gekommen war, und von diesem erfahren, daß bei dem großen Schwächezustand des Kranken, der sich seit Jahren lediglich durch die Regelmäßigkeit seines Lebens, die geordnete Bewegung und das stundenlange Verweilen in der freien Luft aufrecht erhalten hatte, jeden Augenblick das Ende eintreten könne. Gustav war schmerzlich davon ergriffen, daß er, wenn auch unschuldig das Hereinbrechen der Katastrophe beschleunigt hatte; und als er Leonoren um die Mittagsstunde zum Spaziergange abholte, war er sehr ernst gestimmt. Leonore erkundigte sich nach der Ursache dieser bei Gustavs heiterem Temperament ungewohnten Stimmung. Während die beiden glücklichen jungen Leute die Linden entlang gingen, erzählte Gustav, was er von Daniel wußte. Leonoren traten die Tränen in die Augen.

»Es wäre doch wohl unsere Pflicht, uns zu erkundigen, wie es dem armen Manne geht«, sagte sie.

»Du hast recht«, entgegnete Gustav.

Sie wandten sich um, und Gustav führte Leonoren nach dem Marienkirchhof. – Die alte Marianne mit dem breiten Gesicht, die ihm öffnete, sah mit den rotgeweinten Augen ungemein rührend aus.

»Der Arzt ist bei ihm. Sie können ruhig eintreten. Er erkennt Sie nicht mehr. Mein armer Herr!«

Vorsichtig traten sie in die Stube mit den Butzenscheiben. Es war alles in gewohnter Ordnung: die Federn und Bleistifte lagen symmetrisch geordnet auf demselben Fleck. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Leonore, von einem Gefühl warmer Teilnahme getrieben, das, wenn auch mit etwas Neugier gemischt, darum doch nicht minder tief und ernst war, trat behutsam auf die Schwelle und blickte mit Tränen in den Augen auf das Lager, auf dem Daniel mit halbgeschlossenen Augen schweratmend ruhte. Seine schmalen Finger zupften gleichmäßig an der Bettdecke, als wollten sie etwas pflücken. Der Arzt saß neben ihm. Daniel schlug die Augen auf. Dann öffnete er sie weit, ganz weit und blickte nun starr nach der Tür. Die Mattigkeit, die über dem Gesicht gelegen, war wie weggewischt. Es leuchtete auf in dem Schimmer unbeschreiblicher Wonne. Mit unheimlich heller, heiterer Stimme rief er: »Leonore!« –

Der Arzt hatte sich umgewandt und sah, wie ein junges Mädchen ängstlich zusammenschauerte. Wie von einer magnetischen Gewalt angezogen, schritt Leonore lautlos und langsam auf das Lager zu. Der Arzt hatte sich erhoben und war beiseite getreten. Daniel richtete sich etwas auf und streckte ihr wie flehend die beiden Hände entgegen. Leonore wußte kaum, was sie tat, als sie die schmalen Hände des Kranken ergriff.

Freude, Glück und Dankbarkeit strahlte aus seinen Augen. Er drückte die kleinen Hände des hübschen Mädchens und sagte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck wonnigen Wohlgefühls: »Leonore! Ich wußte, daß du kommen würdest, daß ich dich wiedersähe... hier oder dort! Ich wußte es!«

Dann ließ er sanft die Hände des bebenden Mädchens und sank lächelnd auf das Kissen zurück. Lächelnd auch schloß er die Augen. Der Arzt bedeutete Leonoren, sich zu entfernen. Er legte sein Ohr auf das Herz des Kranken, dann trat er in das Nebenzimmer zu den jungen Leuten, die den Atem anhielten und mit banger Spannung der Botschaft des Arztes harrten.

»Er lebt noch,« sagte dieser ruhig, »aber ich rate Ihnen, sich die Aufregung des Endes zu ersparen. Zu helfen ist hier nicht mehr viel. Und was geschehen kann, geschieht. Die Lebenskraft des Kranken ist erschöpft,«

Die beiden jungen Leute schlichen schüchtern aus der Tür und gingen über den Marienkirchhof, ohne ein Wort zu sprechen.

Der Arzt hatte die Unwahrheit gesagt. Das Herz hatte nicht mehr geschlagen. Mit heiterm Lächeln auf den Lippen war Daniel entschlafen, als er die Hand des Mädchens zu berühren glaubte, das er so lange Jahre hindurch erwartet hatte – »harrend ohne Schmerz und Klage«. Der arme Toggenburg. Der Egoismus des jugendlichen Glückes vergißt schnell fremdes Ungemach. Wohltätig gedämpft, nicht mehr grausam schmerzlich, erzitterte in den Seelen der jungen Leute der Nachklang des erschütternden Auftritts in dem kleinen Hause am Marienkirchhof, als sie nachmittags wieder ihr Heim durchmusterten und dann am Abend mit der Familie um den Teetisch vereinigt waren. Sie erzählten von dem sonderbaren Erlebnisse einiges Wenige. Tante Emmy und Frau von Kößler wechselten auf einmal verständnisvolle Blicke und nahmen plötzlich einen sehr ernsthaften Gesichtsausdruck an. In dem jovialen Herrn von Kößler, der wiederum die Hände über der Weste gefaltet hatte, kämpfte seit einiger Zeit das Verlangen, die dampfende Teetasse zum Munde zu führen, mit der sich daraus ergebenden Notwendigkeit, die bequeme Lage seiner Hände alsdann verändern zu müssen. Aber das stumme Zwiegespräch zwischen den Damen war ihm darum doch nicht entgangen.

»Lorchen!« sagte er scherzhaft drohend zu seiner Frau. »Sollte das am Ende derselbe sein, auf den du mich früher einmal hast eifersüchtig machen wollen? Du weißt, – vor unserer Verlobung, als du aus Berlin zurückkamst?« Gustav sah seine Schwiegermutter prüfend an. Es war noch eine hübsche Frau, mit der seine Braut eigentlich nur geringe Ähnlichkeit in den Zügen, aber doch im Ausdruck einen starken Familienzug gemein hatte; und jetzt zum ersten Male bemerkte er an ihrem Kinn ein kleines braunes Mal. Bis zur Stunde war es ihm nicht aufgefallen.


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