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In einer der wenig reizvollen Straßen, welche in den nördlichen Theil der Friedrichstraße münden, in jenem Viertel der Stadt das durch die großen Kasernen und die bedeutenden wissenschaftlichen Anstalten, namentlich die medicinischen: die Kliniken und Krankenhäuser, seinen eigentümlichen Charakter erhält, liegt ein Haus, das von den Vorübergehenden kaum jemals eines Blickes gewürdigt wird, das aber bei der ganzen Nachbarschaft wohlbekannt ist und in einem besonderen Rufe steht. Es hat etwas Geheimnißvolles, etwas Unbehagliches. Die Kinder, die auf der Straße spielen, sagen, es spuke darin. Die Alten lachen darüber. Sie wissen, daß es das Eigenthum eines Sonderlings ist, den sie den »verrückten Professor« nennen. Nur noch Wenige wissen, woher dieser Name stammt. Sie haben den Mann eben von Anderen so nennen hören, und nun nennen sie ihn auch so. Aber sie wissen, daß der Eigenthümer dieses Haus allein bewohnt, daß er nur noch einen alten Diener, der keinen Freund in der Nachbarschaft besitzt und mit Niemand spricht, und eine alte Köchin, die nie ausgeht, bei sich hat, daß er niemals Besuche und nur sehr selten Briefe empfängt, und daß außer den Geschäftsleuten, die das für den Haushalt Erforderliche abgeben, außer dem Zeitungsjungen und dem Boten des Buchhändlers kein Mensch da anklingelt. Sie wundern sich also nicht darüber, daß es nicht sehr einladend aussieht.

Das Haus ist auf eine in Berlin nicht gewöhnliche Weise gebaut. Es springt hinter der Straßenflucht weit zurück und läßt einem großen Vorhofe Raum, der an den Seiten und in der Mitte gepflastert ist. Rechts und links von dem gepflasterten Mittelwege sind früher Gartenanlagen gewesen, die mit der Zeit verwildert sind. Jetzt wächst da, was eben wachsen mag. Das Haus hat außer dem Kellergeschoß, dessen Fenster zu halber Höhe den Boden überragen, nur ein allerdings sehr hohes Stockwerk. Die für Berliner Bauten ganz ungewöhnliche Höhe des Ziegeldachs läßt auf mächtige Bodenräume schließen. Hinter dem Hause liegt ein ziemlich umfangreicher Garten, für den ebenfalls so gut wie nichts geschieht, und der also auch in einem Zustande der völligen Verwilderung ist. Der von einer hohen Mauer umfriedigte Garten wird von den Brandmauern der benachbarten Grundstücke völlig umfaßt.

Auch der Vorhof wird nach dem öffentlichen Verkehrswege zu von einer alten verwitterten Backsteinmauer abgeschlossen, die in der Fluchtlinie der Straße liegt. Dieses alte Gemäuer ist auf der Höhe mit genügsamen Schlingpflanzen, die keine besondere Pflege erfordern, ganz bedeckt, und aus den Fugen wuchert das Unkraut. In der Mitte befindet sich ein zweiflügeliger Thorweg, der niemals geöffnet wird. Auf der rechten Seite ist eine kleine Holzthür, die kaum bis zur halben Höhe der Mauer reicht. Diese wird von den Wenigen, die ein- und ausgehen, ausschließlich benutzt. Daneben befindet sich eine alte Klingel mit eisernem Zuge. Die Thür wird Tag und Nacht verschlossen gehalten.

Das Haus stammt aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Es ist für einen der vornehmsten und reichsten märkischen Edelleute, der eine oberste Hofcharge bekleidete und während der Wintermonate in Berlin lebte, gebaut worden. Auf eine glänzende Außenseite hat der Baumeister keinen Werth gelegt. Dagegen läßt die reiche und kostbare Anlage des Innern noch heute die ursprüngliche Bestimmung, daß es einem großen Herrn als Wohnsitz dienen sollte, deutlich erkennen. Von der hellen und geräumigen Vorhalle führt eine Marmortreppe mit prachtvollem Geländer aus Schmiedeeisen zu dem hohen Erdgeschoß. Die nach der Straße, wie die nach dem Garten zu gelegenen Räumlichkeiten sind gleichermaßen reich angelegt, sehr hoch, mit breiten, geschwungenen Flügelfenstern, mit breiten Thüren aus geschnitztem Eichen, und ungewöhnlich schönen Plafonds, deren Stuckarbeiten im lustigen Stil des Rococo in ihrem Reichthum der Motive und in ihrer flotten Ausarbeitung als wahre Kunstwerke gelten dürfen. Die jetzige Einrichtung steht zur Pracht dieser Räume, um deren Erhaltung sich der zeitweilige Inhaber gar nicht zu kümmern scheint, allerdings in einem schroffen Widerspruch.

Von den zwölf Prachträumen sind überhaupt nur drei bewohnt, die beiden großen Vorderstuben vom Professor selbst. Da stehen an den Wänden hohe Regale, die mit Büchern, mit schlechtgebundenen und ungebundenen, ganz angefüllt sind. In der Mitte des einen Zimmers steht ein großer gestrichener Holztisch, an dem der Professor arbeitet. Da sind allerhand Präparate, da liegen aufgeschlagene Bücher, da stehen wissenschaftliche Instrumente; um den Tisch stehen noch einige Stühle, die gleichfalls mit Schreibereien und Drucksachen bedeckt sind. Auch die Wände des Nebenzimmers haben keinen andern Schmuck als Bücher. In einer Ecke ist hinter einem mit grünem Kattun bespannten Wandschirm das schmale eiserne Bett aufgestellt. In der Mitte steht ein stets mit weißem Linnen bedeckter kleiner Tisch, auf dem sich immer eine Flasche mit Wein, eine gefüllte Karaffe mit Wasser und ein Teller mit Obst befinden. Da nimmt auch der Professor seine Mahlzeiten ein. Die beiden Fenster dieses Zimmers sind fast immer halb geöffnet; nur an den Tagen der rauhen Witterung werden die Fenster auf kurze Zeit geschlossen.

Im Vorhofe auf der linken Seite befindet sich ein niedriges Gebäude, das früher offenbar als Stallung gedient hat. Seit vielen Jahrzehnten werden hier keine Pferde mehr gehalten, und seit eben so langer Zeit ist dieses Gebäude das einzige, mit dem die Bauhandwerker etwas zu thun gehabt haben: es ist zum Laboratorium umgewandelt worden. Da stehen auf Ständern, welche an der Wand entlang gezogen sind, in allen möglichen Bocalen und Schaalen wunderlich aussehende Präparate, zum Theil von schöner violetter oder blauer Färbung, in gelblicher Flüssigkeit; daneben liegen menschliche und thierische Schädel, theils Gipsabgüsse, theils natürliche, alle mit Nummern versehen. Gefäße mit geheimnißvollem Inhalt, Retorten und Tiegel, stehen auch auf dem eichenen Tisch in der Mitte, neben Mikroskopen, feinen Waagen, wissenschaftlichen Schneideinstrumenten und dergleichen. Sonst hat der Besitzer, der dieses Haus vor dreißig Jahren in einem Zustande gekauft hat, der schon damals die Nothwendigkeit des Ausbaus und der Auffrischung erkennen ließ, nicht die geringsten baulichen Veränderungen vorgenommen. Früher, als seine Frau noch lebte, hat ihn diese oft darum gebeten, endlich einen Baumeister kommen zu lassen. Er hat aber immer andere Dinge im Kopf gehabt und es immer wieder verschoben, und seitdem er allein in der Welt steht, hat ihn Niemand mehr daran erinnert.

So ist denn also Alles geblieben, wie es war, oder vielmehr, es ist nichts geschehen, um es wieder herzustellen, wie es gewesen ist, und Alles ist mehr und mehr verwittert und zerfallen. Und so hat das Haus allerdings ein unheimliches Ansehen gewonnen, und man begreift, daß es zu wunderbaren Gerüchten in der Nachbarschaft die Veranlassung hat geben können. – Viele wohnen seit einem Jahrzehnt und länger in der nächsten Nähe dieses Hauses, ohne den Professor je von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Neugierige, die dem Manne, der sich um Niemand bekümmert, ihre besondere Theilnahme zuwenden, haben die Beobachtung gemacht, daß der Professor doch seine täglichen Spaziergänge macht. Die Stunden wechseln mit der Jahreszeit.

Jeden Tag ohne Ausnahme sieht man ihn kurz nach Sonnenuntergang aus dem Hause treten. Er ist unauffällig schwarz gekleidet; im Winter trägt er einen Pelz. Er stützt sich auf ein starkes Bambusrohr. Er bewegt sich leicht und geht ziemlich schnell. Er ist eher groß als klein und ziemlich hager. Diejenigen, die ihn seit längeren Jahren kennen, wissen, daß er sich früher sehr gerade hielt. Aber in den letzten Jahren zeigt seine Haltung doch die Spuren des Alters. Sein Rücken hat sich etwas gekrümmt, sein Kopf ist gebeugt. Er sieht Niemand an und blickt beständig vor sich auf die Pflastersteine.

Er nimmt fast immer denselben Weg: er geht durch die Friedrichstraße bis zum Oranienburger Thor und tritt dann an die Gitterthür, die zu den Kirchhöfen der verschiedenen Gemeinden führt. Da erwartet ihn regelmäßig der Pförtner, mit dem er wohl ein besonderes Abkommen getroffen haben muß. Dieser schließt die Thür auf und sagt: »Guten Abend, Herr Professor!« Der Professor drückt ihm ein Fünfzigpfennigstück in die Hand, antwortet: »Guten Abend!« und schlägt dann einen Seitenweg ein. Nach Verlauf einer Stunde – er hält die Zeit ganz genau inne – erscheint er dann an der Gitterthür des westlichsten dieser Kirchhöfe, des Begräbnißplatzes der Charité. Da steht wieder ein anderer Pförtner, der ihn ebenfalls mit »Guten Abend, Herr Professor!« begrüßt, der ihm die Thür aufschließt, und dem er auch fünfzig Pfennige in die Hand drückt. Durch die fast vollkommen menschenöde Communication am Neuen Thor nimmt er seinen Rückweg wieder über die Friedrichstraße und kehrt direct, ungefähr anderthalb Stunden nachdem er das Haus verlassen hat, in seine Wohnung zurück. Wind und Wetter üben auf dies Programm nicht den geringsten Einfluß. Ob draußen ein Schneesturm tobt oder ein wolkenbruchartiger Gewitterregen herunterklatscht, bei eisigem Frost und in drückender Schwüle sieht man den Professor etwa eine Viertelstunde nachdem die Sonne untergegangen ist, aus seinem Hause heraustreten und anderthalb Stunden später heimkehren. Er vertauscht auch sein Bambusrohr niemals mit einem Regenschirm. Dagegen trägt er beständig, im Winter wie im Sommer, ein dunkles Cachenez. Am besten kennen ihn die beiden Pförtner, deren schmales Einkommen er durch seine regelmäßigen Trinkgelder nicht unwesentlich erhöht.

Die Beiden stimmen darin überein, daß der Professor eigentlich ein schöner Mann ist, oder wenn auch nicht schön, so doch ein eigenthümliches Aussehen hat. Er ist anders als die Anderen, sagen sie.

In jungen Jahren wird sein Haupthaar wohl tiefbraun, vielleicht schwarz gewesen sein. Darauf deutet die dunkle Gesichtsfarbe und das Braun der großen klaren, ausdrucksvollen Augen hin, in denen das jugendliche Feuer nicht erloschen, kaum gedämpft ist. Jetzt ist das Haupthaar schneeig weiß. Es hat sich nur wenig gelichtet und fällt in ziemlich langen Strähnen auf das Cachenez herab. Der Professor trägt keinen Bart. Seine Gesichtsfarbe ist frisch und deutet auf eine starke Gesundheit. Die Jahre haben in die Stirn, an den Schläfen und um den Mund tiefe Furchen eingegraben. Die Nase ist ziemlich stark, geradlinig, die Lippen sind schmal und immer fest geschlossen, das Kinn tritt etwas hervor.

Sobald der Professor das Haus verlassen hat, wird in einem zweifenstrigen Zimmer Licht gemacht. Wenige Minuten vor seiner Rückkehr wird das Zimmer sehr hell beleuchtet und das gleichfalls zweifenstrige Nebenzimmer ebenso. Diese vier Fenster bleiben sehr lange hell, und wenn Alles ringsum in tiefer Dunkelheit liegt, leuchtet es noch immer wie festlich aus dem stillen Hause. Vor zwei Uhr Morgens werden die Flammen nie gelöscht, bisweilen aber erst nach vier. Es kommt oft vor, daß Kutscher von Nachtdroschken, die des Viertels unkundig sind, eine Weile vor dem Hause Halt machen, bis der Wächter ihnen sagt, daß da keine Gesellschaft ist. Mit einem mürrischen »Hüh!« treiben sie dann ihren steifbeinigen Gaul an und holpern im Schritt über das schlechte Pflaster dem Asphalt der Friedrichstraße zu.

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Seit dem Tage, da der Erbauer, der ein vergnügter Herr war, ein Freund der guten Tafel und der übermüthigen Geselligkeit, ein Beschützer der Damen vom Ballet, die Augen geschlossen hat, ist in dem Hause nicht mehr viel gelacht worden.

Kurz nach Beendigung der Freiheitskriege kam es in den Besitz eines alten Geizkragens, der in den festgewölbten, mit starken Eisenstäben an Fenstern und Thüren geschützten Kellerräumen seine Schätze aufspeicherte, und der als fast achtzigjähriger Greis am Tage der Märzrevolution vor Angst starb. Er hatte sich in den massiven Keller geflüchtet und dort eingeschlossen. Der alte Diener, der seinen Herrn vergeblich überall gesucht hatte, ließ am 19. März die Kellerthür erbrechen, und dort fand man den Alten ausgestreckt auf dem flachen Deckel einer großen Truhe, mit den schon leichenstarren Fingern ein Bund mit großen Schlüsseln fest umklammernd.

Das Haus mit seinem kostbaren Inhalt fiel, da der Verstorbene ein Testament nicht hinterlassen hatte, dem einzig lebenden Anverwandten, dem Großneffen, zu, einem leichtlebigen jungen Mann, der von der großen Erbschaft lustigen und nicht gerade allzu unvernünftigen Gebrauch machte. Das mit der Zeit ungemüthlich und unheimlich gewordene Haus sagte ihm nicht zu. Er beauftragte einen Agenten mit dem Verkaufe. Aber es wollte sich zu den Bedingungen, die der nunmehrige Besitzer stellen zu müssen glaubte, weder ein Käufer, noch ein Miether finden. Diese Bedingungen wurden von Jahr zu Jahr herabgesetzt, bis endlich der Eigenthümer seinem Agenten die Vollmacht gab, das Grundstück um jeden Preis loszuschlagen; er wollte nichts mehr damit zu thun haben. Das war im Jahre 1858.

Zu jener Zeit war ein junger Gelehrter, der bisher als außerordentlicher Professor an der Königsberger Universität gewirkt und durch ein Werk über die mechanischen Störungen des Gehirns großes Aufsehen gemacht hatte, als Professor der Psychiatrie nach Berlin berufen worden. Es war ihm zugleich eine leitende Stellung in einer Krankenpflegeanstalt für Nervenleidende und Gemüthskranke zugewiesen worden. Er hatte sich in der Stadtgegend, in der sich seine Hauptwirksamkeit entwickeln sollte, nach einem geeigneten Quartier umgesehen. Er war mit dem Agenten in Unterhandlungen getreten und hatte unter sehr vortheilhaften Kaufbedingungen die Gebäude mit den dazu gehörigen Grundstücken käuflich erworben. Für Unbehagliches und Unheimliches hatte er nicht den geringsten Sinn. Ein frei und still gelegenes Haus mit geräumigen Zimmern, das war, was er gesucht und nun gefunden hatte; und Käufer wie Verkäufer waren gleich befriedigt von dem Abschlusse des Vertrages.

Professor Dr. Alexander Osterode war damals vierzig Jahre alt. Wenige Wochen vor seiner Umsiedlung von Königsberg nach Berlin hatte er sich mit der zwanzig Jahre jüngeren Ada Buchner, der Tochter eines Gymnasialdirectors, verheirathet. Er hatte das sehr schöne Mädchen in einer schweren Nervenkrankheit behandelt und die fast schon hoffnungslos Darniederliegende dem Tode entrissen. Mit freudigem Stolze sah er, wie sich die bleichen und mageren Wangen allmählich wieder rundeten und mit der Frische der Gesundheit färbten. Er empfand für das junge Mädchen große Zuneigung, ja Zärtlichkeit; er glaubte sie zu lieben. Und sie blickte mit zärtlicher Dankbarkeit zu ihrem Retter auf.

Ada war mittellos, Professor Osterode dagegen, der einzige Sohn eines vor wenigen Jahren verstorbenen Großkaufmanns, mehr als vermögend zu nennen: er war reich. Adas Eltern waren glücklich, als der junge Gelehrte, von dem neuerdings in den wissenschaftlichen Kreisen soviel Rühmliches gesagt und dem durch die Berufung nach Berlin eine hohe Ehre widerfahren war, der aus einer angesehenen Familie stammte und sich im Besitze eines bedeutenden Vermögens befand, der überdies allseitig als ein durchaus ehrenhafter, hülfsbereiter und guter Mensch bekannt und geschätzt war, um Adas Hand anhielt. Und alle Freunde des Hauses theilten die Freude der Eltern. Alle Mütter versorgungsfähiger Töchter stimmten darin überein, daß Ada ein ganz unverdientes Glück gehabt habe und eine ausgezeichnete Partie mache.

Ada war die Aelteste von fünf Geschwistern. Ihr Leben im elterlichen Hause war im ruhigen Einerlei bürgerlicher Sittsamkeit ohne irgendwelche Störung gemächlich verlaufen. Aus dem engsten Bezirke der eigenen Häuslichkeit und der Häuslichkeit der befreundeten Familien war sie niemals herausgetreten. Sie wußte von der Welt so gut wie nichts, als sie sich mit Professor Osterode verlobte. Unter den wenigen Männern, denen sie bisher begegnet war, hatte Osterode unzweifelhaft den tiefsten Eindruck auf sie gemacht. Zu ihren Gefühlen der Dankbarkeit für die rührende Sorgfalt, mit der er sie während ihrer schweren Krankheit gepflegt hatte, gesellte sich noch die Empfindung geschmeichelter Eitelkeit darüber, daß der jetzt so viel genannte interessante junge Wissenschaftler gerade sie vor allen Anderen auszeichnete, an dem Verkehr mit ihr offenbares Gefallen fand und ihr bei jedem Anlaß durch zarte Aufmerksamkeiten aller Art deutlich zu verstehen gab, wie sehr sie ihm gefiel. So freundlich und zuvorkommend hatte noch kein Mann mit ihr verkehrt. Und war es da nicht natürlich, daß sie seine Freundlichkeiten erwiderte, daß auch sie sich bemühte, durch die heitere Liebenswürdigkeit ihres Wesens die Stunden, die Osterode in ihrer Gesellschaft verbrachte, zu erfrischenden und erfreulichen zu machen, daß sie dem Manne, der ihr eine so warme Theilnahme schenkte und soviel Güte zeigte, aufrichtig zugethan war?

Die Eltern, die mit wachsamen Augen und stillem Wohlbehagen die innigere Annäherung zwischen ihrer Tochter und dem Professor beobachtet hatten, sprachen zuerst, freilich im Flüsterton, aber doch laut genug, um von Ada gehört zu werden, das entscheidende Wort aus: sie liebe ihn. Die Anverwandten und guten Freunde wiederholten es. Dann kam es zu muthwilligen Anspielungen, zu freundlichen Neckereien, und dann wurde es laut gesagt, und Ada glaubte es.

Und als sie es glaubte, bewarb sich der Professor um ihre Hand.

Sie erröthete, schlug schweigsam ein, und die Beiden schlossen sich in die Arme. Die Eltern waren selig und segneten das junge Paar.

Es wurden zwar bittere Thränen vergossen, als Ada aus ihrer Vaterstadt, die sie bisher nie verlassen hatte, mit ihrem Manne nach der großen fremden Stadt übersiedelte. Aber die Zurückbleibenden trösteten sich bei dem Gedanken, daß Ada glücklich sei.

Das ungastliche Haus, in dem Ada ihren künftigen Wohnsitz aufschlagen sollte, flößte ihr allerdings von vornherein einen gewissen abergläubischen Schauer ein. Sie wagte es nicht, ihrem Manne zu gestehen, daß sie sich in den großen Räumen, die über die Bedürfnisse des jungen Haushalts weit hinausgingen, und von denen mehrere unbenutzt blieben und nicht einmal nothdürftig mit Möbeln versehen wurden, erschrecklich ungemüthlich fühlte.

Für solche Regungen schien Osterode nicht die geringste Empfänglichkeit zu besitzen. Das Haus war für seine Zwecke gut gelegen, in den hohen und weiten Zimmern ließen sich seine Bücher und wissenschaftlichen Apparate bequem unterbringen, mehr verlangte er nicht.

Sie aber hörte ihre Schritte hallen, wenn sie über den Korridor ging und, wenn sie am Abend allein in ihrem Zimmer saß, während ihr Mann noch im Laboratorium an seinen chemischen Untersuchungen und mikroskopischen Beobachtungen oder in seinem Studirzimmer arbeitete oder durch seinen Beruf außerhalb des Hauses zu verweilen hatte – wenn sie dann an ihre Eltern oder Freundinnen in der Heimat schrieb oder ein Buch las, fuhr sie bei irgend einem zufälligen Geräusch, beim Knacken oder Krachen eines Möbels oder eines brennenden Spans bebend zusammen. Sie erschrak heftig, wenn ihr Blick über die Lampe hinweg flüchtig zur Decke hinaufstreifte. Das muthwillige Spiel der Schatten schien da aus den lustigen Arabesken allerlei spukhafte Ungestalten hervorzuzaubern. Sie fürchtete sich.

Adas Natur war von Hause aus spröde. Sie schloß sich nicht leicht an. Und Osterode war von jung auf der Geselligkeit wenig zugethan gewesen.

Der junge Professor fand mit seiner blühenden Frau bei seinen Berufsgenossen zwar die freundlichste Aufnahme. Aber da von diesen Beiden sehr wenig geschah, um engere Beziehungen herzustellen, so blieb es bei den üblichen Besuchen und Gegenbesuchen mit den unvermeidlichen Einladungen zu den größeren Diners und der unausbleiblichen Erwiderung dieser Einladungen. In den Kreisen der ärztlichen Autoritäten und medicinischen Professoren, in denen Osterode mit seiner jungen Frau in langen Zwischenräumen gesehen wurde, war allgemein das Gerücht verbreitet, daß Osterode rasend eifersüchtig sei. Nur so glaubte man es sich erklären zu können, daß er seine Frau und sich dem gesellschaftlichen Leben in so auffälliger Weise entzog. Davon wurde indessen nicht viel Aufhebens gemacht. Wer in der Großstadt nichts dazu thut, um bemerkt zu werden, wird sehr bald nicht mehr bemerkt.

In den wissenschaftlichen Kreisen befestigte sich Osterodes Ansehen immermehr. Von seinen Arbeiten wurde nur mit vollster Hochachtung gesprochen. Seine glänzende Erfolge als praktischer Arzt verschafften seinem Namen einen guten Klang, der weit über die Kreise der Berufsgelehrten hinausdrang. Auf dem Gebiete der Psychiatrie galt er als eine der ersten Autoritäten. Die Welt bekümmerte sich nicht darum, ob er verheirathet war oder nicht. Adas Name wurde kaum noch genannt.

Wenn aber zufällig einmal von der »schönen Frau Osterode« die Rede war, so geschah es immer in freundlichster Weise. Die Osterode'sche Ehe gab in der That der Außenwelt nicht die geringste Veranlassung zu irgend welcher unliebsamen Bemerkung. Wenn sich die Beiden in der Gesellschaft zeigten, oder wenn sie zu der alljährlich einmal wiederkehrenden größeren Vereinigung ihre Gäste bei sich empfingen, so war ihr Verhalten zu einander tadellos, ihr Verkehr mit den Geladenen ein musterhafter. Sie galten eben als stille Leute, die deshalb wenig ausgehen, weil sie in der Häuslichkeit im innigen Zusammenleben die vollste Befriedigung finden.

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Die Wahrheit entsprach diesem Bilde, das sich die Fernstehenden hatten machen müssen, freilich in keiner Weise.

Osterode hatte nach verhältnißmäßig sehr kurzer Frist zu seinem wahren Entsetzen die Wahrnehmung gemacht, daß er einen verhängnißschweren Irrthum begangen, als er das Schicksal eines arglosen jungen Mädchens an das seinige geknüpft hatte. Seine Ehrlichkeit hatte ihm die Erkenntniß aufgedrungen, daß er zum Ehemann nicht tauge.

Als einziges Kind reicher, ihn zärtlich liebender Eltern war der aufgeweckte, begabte Knabe schon in frühster Jugend verzogen worden. Er hatte keine Neigungen zum Schlechten, und man glaubte ihm daher auch gefahrlos seinen Willen lassen zu können. In seinen späteren Lebensjahren hatte sich die Gewohnheit, nur das zu thun, was er eben thun wollte, bei ihm immer mehr verstärkt. Er besaß für seine Wissenschaft eine wahre Leidenschaft, und er hatte keinen andern Ehrgeiz, als in seiner Wissenschaft sich hervorzuthun. Bis zu seiner Verheirathung hatte er auch keinen andern Zwang gekannt und anerkannt, als den seines Berufs, und ohne daß er es wußte, war er ein großartiger Egoist geworden. Er lebte nur seiner Arbeit, die völlig mit ihm verwachsen war. Er lebte nur sich.

Nachdem er seine Eltern verloren hatte, stand er fast allein auf der Welt da. Er hatte nur noch eine Cousine, die Wittwe eines Superintendenten in der Provinz, die mit ihm in seinem elterlichen Hause aufgewachsen war. Und er glaubte seinen Pflichten gegen die übrige Menschheit dadurch zu genügen, daß er dieser, die er immer sehr lieb gehabt hatte, und die nun auf ihr ziemlich spärliches Wittwengehalt angewiesen war, einen sehr bedeutenden Zuschuß für die Erziehung ihres Sohnes gewährte.

Dieser erhielt in der That eine glänzende Ausbildung, und Osterode hatte für alle Fälle schon jetzt in seinem Testamente die Bestimmung getroffen, daß Richard Willern, den er seinen Neffen nannte, ein sorgenfreies Wohlleben zugesichert bleibe.

Dem Gelehrten, der nun bis zum vierzigsten Lebensjahre vorgerückt war, ohne für seine Handlungen eine andere Richtschnur zu kennen, als die seines eigenen Beliebens, der seine Tagesordnung willkürlich umgestaltete, je nach den Anforderungen seiner Arbeit, und der schon von seiner Studentenzeit her die Gewohnheit angenommen hatte, bis tief in die Nacht, oft bis zum grauen Morgen, zu arbeiten und sehr spät aufzustehen, der fast immer allein war und die Gesellschaft nur dann aufsuchte, wenn er gerade Lust dazu verspürte, war es ganz sonderbar und befremdlich, nun beständig ein menschliches Wesen um sich zu haben oder in seiner nächsten Nähe zu wissen, dem er, wie er sich eingestand, Rechenschaft schuldete über Dinge, die er bisher allein entschieden hatte, – eine junge, lebensfrische, schöne Frau, die berechtigten Anspruch an seine Freuden, an seine Sorgen, an sein ganzes Leben, an ihn selbst erheben durfte. Wenn er auch während der Flitterwochen darüber hinweggekommen war, so hatte er doch auch damals schon, freilich ohne es sich selbst gegenüber zugeben zu wollen, ein leises Unbehagen empfunden. Nur zu bald aber fühlte er das beständige innige Zusammenleben mit Ada als einen Zwang, und eine dunkle Verstimmung bemächtigte sich seiner.

Er war nicht ungerecht genug, um sich zu entlasten. Er sagte sich, daß er seiner jungen Frau freiwillig jene Rechte eingeräumt habe, deren natürliche Ausübung ihm jetzt so lästig war. Aber diese Erkenntniß verhinderte die verstimmenden Thatsachen nicht. Jetzt mußte er sich mitten in der Arbeit unterbrechen, mußte nach der Uhr sehen, mußte sich entschuldigen, mußte, während er sich in seinem Geiste mit ganz anderen Dingen befaßte, die ihn völlig in Anspruch nahmen, auf gleichgültige Fragen gleichgültigen Bescheid geben – kurzum, er fühlte, daß es mit seiner Freiheit dahin war. Und erst jetzt machte er sich klar, daß ihm dieses kostbare Gut, von dem er während der letzten zwanzig Jahre wie ein sinnloser Verschwender in Saus und Braus gezehrt hatte, geradezu ein Lebensbedürfniß war.

Der Wissenschafter muß ein freier Mann sein, sagte er sich, als er unfrei geworden war. Aber er war bei alledem gut geartet, und er meisterte sich, soviel er irgend konnte. Er ließ es nicht an redlichen Anstrengungen fehlen, Herr seiner egoistischen Auffassung und unwilligen Anwandlungen zu werden. Er gab sich die größte Mühe, herzlich zu erscheinen und freundlich zu sein.

Aber Ada hatte die Wahrheit längst durchschaut. Sie wußte, daß ihr Mann sie nicht liebte; und auch sie mußte sich eingestehen, daß sie über ihre Gefühle für ihn sich getäuscht hatte. Auch sie empfand Reue. Sie war höflich wie er und nachsichtig.

Im elterlichen Hause war sie in größter Einfachheit erzogen. Von dem, was man Vergnügungen nennt, wußte sie so gut wie nichts, und sie sehnte sich auch nicht danach. Die Kirchhofsruhe ihres Hauses sagte ihren Neigungen sogar zu. Sie hatte das Talent, sich beschäftigen zu können, und langweilte sich nie. In den Briefen an die Ihrigen ließ sie nie ein Wort der Klage fallen; und die Eltern, die immer der Meinung gewesen waren, daß ihre Tochter unverdient großes Glück gehabt habe, ließen sich in ihrem freundlichen Wahn nicht erschüttern. Die herrlichen Geschenke, die für alle Mitglieder der Familie zu Weihnachten und zu den Geburtstagen von Berlin aus ankamen, die Großartigkeit der Gastfreundschaft während der Sommermonate, in denen die Eltern und Geschwister in irgend einem behaglichen Sommeraufenthalt bei ihrer Tochter zu Gast waren, waren nur dazu angethan, sie in dieser Ueberzeugung noch zu bestärken. Und Adas Lippen blieben verschlossen.

Freilich fanden die Angehörigen, daß die junge Frau Professorin nicht so wohl und nicht so heiter aussähe, wie es sein sollte. Aber dafür fanden sie, die so gern nur an das Gute glauben wollten, bequeme Erklärungen.

Allmählich hatte Osterode die Fesseln, die ihn in der ersten Zeit nach seiner Verheirathung so fest zusammenschnürten, immer mehr und mehr gelockert. Er brauchte sich schon nicht mehr zu entschuldigen, wenn er bei den Mahlzeiten zu spät oder auch gar nicht erschien. Ada speiste dann allein, und er hörte keinen Vorwurf. Ada ging, wenn nicht ganz besondere Veranlassungen vorlagen, regelmäßig zwischen zehn und elf zu Bett. Osterode, der oft sehr lange arbeitete und bisweilen auch in der Nacht zu irgend einem Patienten gerufen wurde, hatte sich sein eigenes Schlafzimmer eingerichtet, um seine Frau nicht zu stören. Sie wußte jetzt kaum noch, wann ihr Mann sich zur Ruhe begab, und es kam mehrfach vor, daß sie ihn in das Nebenzimmer eintreten hörte, als sie bereits aufgestanden war.

Die starke Enttäuschung, die sich Adas zunächst bemächtigt hatte, war allmählich von ihr gewichen, und mit ihr auch die Traurigkeit und Schwermuth. Alle ihre Empfindungen hatten sich abgestumpft, sie war ganz ruhig geworden. Sie wußte es eben nicht anders. Sie meinte, daß das Leben wirklich so sei, wie sie es lebte, so völlig freudenleer, und sie hatte sich an ihr Leben gewöhnt, wie an eine unheilbare Krankheit, mit der man sich nun einmal abfinden muß.

Sie wäre sogar in ihrer trübseligen Art noch ganz zufrieden mit ihrem Dasein gewesen, wenn nicht Eines sie oft in unbarmherzigster Weise gepeinigt hätte. In den langen Stunden ihres Alleinseins wurde sie mitunter ohne irgendwelchen Grund oder aus ganz geringfügiger Veranlassung plötzlich von einer jähen Furcht überfallen. Es packte sie beim Schopf und schnürte ihr die Kehle zu, daß sie wie eine Erdrosselte röchelte. Der Beruf ihres Mannes flößte ihr Grauen ein.

Wenige Wochen nach ihrer Einrichtung in Berlin war sie einmal in das zum Laboratorium umgestaltete kleine Gebäude getreten. Ihr Mann, für den die Gegenstände seines Studiums nur reizvoll und interessant waren, hatte ihr mit ungewohnter Freundlichkeit, ohne daß sie darum gebeten hatte, alle möglichen Aufklärungen gegeben. Er hatte ihr in den Vokalen einige besonders bemerkenswerte Verbildungen menschlicher Gehirne gezeigt. Er hatte sie durch das Mikroskop eine seine Scheibe durchgesägten Rückgrats bewundern lassen, und mit einem gewissen Stolze hatte er auf seine herrliche Sammlung von Idiotenschädeln hingewiesen. Ada litt, während der arglose Gelehrte sich herabließ, vor seiner ungelehrten Frau einige Schätze seiner wissenschaftlichen Sammlungen auszubreiten, wahre Höllenqualen. Aber sie, die so Vieles verschweigen gelernt hatte, sprach auch jetzt kein Wort und hörte mit erheuchelter Theilnahme den Erläuterungen zu. Aber sie athmete wie befreit auf, als sie die Thür des unheimlichen Raumes hinter sich schloß, und der eigenthümliche Geruch blieb ihr wochenlang in der Nase. Sie mied es fernerhin, den Blick nach jenem kleinen Hause hin zu richten, und sah scheu nach der andern Seite hinüber, wenn sie über den Vorhof gehen mußte.

Auch ihren Mann betrachtete sie seit jener Zeit mit einer gewissen Angst. Sie sah ihm oft unwillkürlich nach den Händen.

Manchmal kam ihr der schreckliche Gedanke, daß ihr Mann, der sich beständig mit Geisteskrankheiten beschäftigte, selbst den Verstand verlieren könne; und dann wäre sie mit ihm allein.

Eines Tages machte Ada ihrem Manne das Geständniß, daß ihr mitunter in der Einsamkeit recht unbehaglich sei. Sie selbst stellte ihre Angst als eine lächerliche Schwäche hin; aber sie sagte, sie könne sich nun einmal davon nicht frei machen. Sie rede sich bisweilen ein, daß sich irgend ein Verbrecher in das geräumige und so wenig bewohnte Haus einschleichen könnte und sie überfiele. Osterode belächelte ihre Angst und suchte sie zu beruhigen. Ein Druck auf die Klingel, und der Diener, ein handfester Bursch, der sich vor Gott und der Welt nicht fürchte, und der seit zwanzig Jahren in seinen Diensten stehe, sei zur Stelle. Und er fügte hinzu, während er auf eine Schublade seines Schreibtisches deutete, die nicht verschließbar war:

»Und für alle Fälle liegt da mein Revolver, aus dem ich im Laden des Waffenschmieds am Tage des Ankaufs den ersten und letzten Schuß gethan habe. Seitdem liegt er geladen da und harrt der Verwendung. Du siehst, man hat selten Gelegenheit, sich vor Verbrechern zu schützen. Sei ganz unbesorgt.«

Die Anfälle kehrten aber doch immer wieder, und mehr als einmal wurde der Diener Franz, ein großer Ostpreuße, der bei den schweren Reitern gestanden hatte, herbeigerufen und mußte alle Ecken absuchen, um alsdann gehorsamst zu vermelden, daß er nichts gefunden habe.

Seit längerer Zeit ließ Ada das Hausmädchen in ihrer nächsten Nähe schlafen, und auch diese wurde bisweilen nächtlich alarmirt. Es wurde den Leuten jedesmal besonders von ihr eingeschärft, dem Herrn ja nichts von der Störung zu sagen.

*

In dieser freudlosen Gleichmäßigkeit war nahezu ein Jahrzehnt verlaufen. Ada hatte längst aufgehört, unglücklich zu sein. Sie war wunschlos.

Osterode hatte seinen wissenschaftlichen Ruf immer mehr erweitert. Die Ehe störte ihn nicht mehr. Er war in seiner Weise sogar glücklich.

Der Verkehr der Ehegatten miteinander blieb ein höflicher und gemessener. Es gab in ganz Berlin wohl kein stilleres Haus als das Osterode'sche.

Eines Abends – es war im Herbst des Jahres 1868 – sagte Osterode zu Ada, während sie zu Nacht speisten:

»Richard kommt nach Berlin.«

Ada blickte fragend zu ihrem Manne auf.

»Mein Neffe Richard,« beantwortete Osterode die stumme Frage. »Du kennst ihn doch? Ich habe Dir ja oft genug von ihm gesprochen, und Du mußt ihn auch öfter gesehen haben.«

»Ach so,« versetzte Ada, »Richard Willern! Jawohl, ich erinnere mich seiner ganz gut. Aber ich habe ihn sehr lange nicht gesehen. Seit unserer Hochzeit, glaube ich, nur einmal. Und das war bald darauf.«

»So?« bemerkte Osterode einigermaßen erstaunt. »Woher kommt denn das?« Und die gestellte Frage selbst beantwortend, fügte er hinzu: »Ach ja, der Junge hat mich gewöhnlich in den großen Ferien besucht, während Du mit den Deinigen zusammen warst. Ja, dann wirst Du ihn wohl schwerlich wiedererkennen. Damals war er ja wohl noch Gymnasiast. Inzwischen hat er seine Universitätsstudien absolvirt, hat sein erstes juristisches Examen gemacht. Und heute habe ich einen Brief von ihm bekommen, in dem er mir voller Freude mittheilt, daß er als Referendar an das Kammergericht versetzt worden ist. Ich habe den Jungen sehr lieb. Er ist übrigens mein einziger männlicher lebender Verwandter. Ich hatte sogar daran gedacht, ihm eine Wohnung in unserm Hause anzubieten – natürlich unter der Voraussetzung Deiner Zustimmung. Platz hätten wir ja genug. Aber nach einiger Ueberlegung habe ich mir doch sagen müssen, daß der junge Mensch es wahrscheinlich vorziehen wird, nicht unter irgendwelcher Controle zu stehen, und nicht an irgendwelche Pflichten gegen das Haus seiner Verwandten gefesselt zu sein. Ich denke. Du wirst damit einverstanden sein, wenn ich ihm sage, daß unser Haus sein Haus ist, daß er kommen und gehen mag, wann er will, daß der Tisch für ihn immer gedeckt ist, daß er am Abend mit uns Thee trinken und schwatzen kann, wenn er Lust dazu hat, daß wir's ihm aber auch nicht übelnehmen, wenn er wegbleibt. Er ist eben ein blutjunger Mensch … und ich bin es nicht mehr.«

Der Professor hatte vor den letzten Worten eine kleine Pause gemacht, und Ada hatte ganz richtig errathen, daß er eigentlich hatte sagen wollen: »Und wir sind es nicht mehr.«

Sie machte sich bei diesen Worten zum ersten Male klar, daß auch sie nicht mehr zu den ganz jungen Frauen gerechnet werden könne. Sie stand an der Schwelle der Dreißig. Der Neffe ihres Mannes war fünfundzwanzig Jahre alt, also im Verhältniß zu ihr ein Kind, wie sie meinte. Sie erinnerte sich seiner auch nur noch als eines frischen, aufgeweckten vierzehn- bis fünfzehnjährigen Jungen, der bei der Hochzeitsfeier sehr übermüthig gewesen war und zum großen Jubel der Angehörigen mit ihr, der jungen Frau, getanzt hatte. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen, und war natürlich mit dem Vorschlage ihres Mannes vollkommen einverstanden.

Aber sie blieb doch während des ganzen Abends nachdenklich. Es ging ihr nicht aus dem Sinn, daß sie nicht mehr jung sein sollte. So wenig Freude ihr auch von ihrer Jugend geboten worden war, jetzt, da sie sich mit dem Gedanken befreunden sollte, von ihr zu scheiden, erschien sie ihr kostbarer, als sie je gewähnt hatte.

*

Etwa vierzehn Tage später kam Richard zum ersten Mal in das Haus seiner Anverwandten. Seit der Mittheilung, daß er nach Berlin versetzt worden sei, hatte er nichts wieder von sich hören lassen. Er wollte seinen Verwandten keine Scherereien machen. Mit der Selbstständigkeit, an die er sich von Jugend auf gewöhnt, hatte er in wenigen Stunden seine persönlichen Angelegenheiten schnell erledigt.

Zu später Abendstunde war er in Berlin angekommen, hatte in einem Gasthause übernachtet und war am andern Vormittag ausgegangen, um sich eine Wohnung zu suchen. In der Markgrafenstraße, unweit des Kammergerichts, hatte er gefunden, was er brauchte. Dorthin hatte er seine Siebensachen bringen lassen, und am Nachmittag war schon Alles in schönster Ordnung: seine Kleider hingen im Schrank, seine Wäsche lag im Kasten, seine Bücher waren aufgestellt. Die Oelfarbendrucke an den Wänden waren beseitigt und durch einen guten Stich der Sixtinischen Madonna, den er von seinem Vater geerbt hatte, und verschiedene Photographien seiner Angehörigen und guten Freunde ersetzt. Unter diesen befand sich auch das Bild von Onkel und Tante Osterode, das noch in Königsberg, zur Zeit, als sie Brautleute waren, aufgenommen worden war. Seitdem hatten sich die Beiden übrigens nicht mehr photographiren lassen.

Richard traf es günstig. Als er sich um vier Uhr melden ließ, wollten sich Osterodes gerade zu Tisch setzen. Onkel und Neffe begrüßten sich mit stürmischer Herzlichkeit. Es versteht sich, daß Osterode Richard liebevolle Vorwürfe darüber machte, sich nicht vorher angemeldet haben. Richard war darauf auch vollständig vorbereitet gewesen; das kümmerte ihn nicht.

Aber er gerieth in einige Verlegenheit, als er sich nun zu Ada wandte, die gleichfalls einige Befangenheit zu verspüren schien. Er wußte nicht recht, ob er ihr die Hand oder die Wange küssen solle, ob er sie »Sie« oder »Du«, »gnädige Frau« oder sonstwie zu nennen habe. Zur Tante erschien sie ihm jedenfalls zu jung.

»Wir freuen uns sehr,« sagte Ada nach einer kurzen Pause, indem sie die Fragen, die Richard in einige Verwirrung gebracht hatten, kurzer Hand entschied, »Sie nun in unserer nächsten Nähe zu haben. Hoffentlich werden Sie sich so wohl bei uns fühlen, daß Sie recht oft zu uns kommen.« Und sie reichte ihm die Hand.

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau. Ich danke Ihnen herzlich,« versetzte Richard, während er die ihm dargebotene Rechte an seine Lippen führte.

»Was sind denn das für Geschichten?« rief Osterode gemüthlich aus, der diesen Vorgang mit einigem Erstaunen beobachtet hatte, »›Sie‹ und ›gnädige Frau‹? Nein, so stehen wir doch nicht mit einander! Umarme Deine Tante, Du Schlingel! Und Du, Ada, behandle ihn, so gut er es verdient, oder vielmehr über Verdienst gut! Denn für einen Musterknaben halte ich Dich nicht. Nun also, marsch!«

Zögernd bot Ada ihre Stirn Richard zum Kusse dar.

»Also wenn Du erlaubst,« sagte dieser und küßte seine junge Tante. Den verwandtschaftlichen Respectstitel brachte er übrigens nicht über die Lippen, und Ada umging während der ersten Zeit ihres Zusammenseins mit großer Geschicklichkeit jede directe Ansprache an den ihr fremden jungen Mann, den sie aus Wunsch ihres Mannes mit der Vertraulichkeit eines alten Freundes behandeln sollte. Es war ihr störend, obgleich Richard einen guten Eindruck auf sie machte. Und er war ja auch nicht Schuld daran, daß sie sich ihm gegenüber jetzt in einer gewissen Befangenheit befand.

Richard hatte in seinem ganzen Wesen, in seiner Erscheinung, in seinen Bewegungen, in seiner Stimme etwas Frisches, Freies, Jugendliches, das Osterode wie Ada gleichermaßen gefiel. Er war ein hübscher junger Mann, an dem allerdings die Jugend das Hübscheste war. Seine Züge waren nicht eben regelmäßig, aber er sah klug und gut aus; seine Stirn war wohl ausgebildet und hoch, sein graublaues Auge leuchtend und klar; und wenn er lachte, zeigte er seine prachtvollen gesunden Zähne. Er trug sein kastanienbraunes Haar ziemlich kurz geschoren; sein kleiner Schnurrbart war von hellerer Färbung, beinahe blond. Den wohlgepflegten Nägeln und seiner Kleidung, die zwar keineswegs stutzerhaft, aber doch modisch elegant zu nennen war, merkte man es an, daß Richard auf sein Aeußeres Acht gab. Der helle Klang seiner Stimme wirkte in diesen Räumen ganz eigenthümlich.

Ada machte jetzt erst die Bemerkung, daß sie sich mit den Jahren daran gewöhnt hatte, ungewöhnlich leise zu sprechen. Und sie hörte endlich einmal wieder lachen, herzlich lachen, aus voller Kehle, so wie sie einst gelacht hatte, vor langen, langen Jahren.

Auch Osterode war heiterer und aufgeräumter als je. Bei Tisch herrschte eine ganz gemüthliche und behagliche Stimmung, und die sonst für die Hauptmahlzeit angesetzte Frist wurde erheblich überschritten.

Beim Kaffee fragte Osterode seinen Neffen:

»Hast Du heute Abend etwas Besonderes vor?«

»Nichts Besonderes,« antwortete Richard. »Auf dem Wege hierher habe ich mir an den Anschlagssäulen die Theaterzettel angesehen. Du kannst Dir ja denken, daß ich ausgehungert bin. Ich habe seit Jahren kein gutes Theater gesehen. In irgend einem kleinen Theater – ich weiß nicht genau wo – wird ein französisches Stück gegeben, von dem in den öffentlichen Blättern viel gesprochen worden ist. Ich hätte eigentlich nicht übel Lust, es mir anzusehen. Von der modernen dramatischen Literatur Frankreichs weiß ich so gut wie nichts. Es wäre sehr nett, wenn Ihr mitkämt.«

Ada lächelte. Sie war in den ersten zwei Jahren ihrer Ehe vielleicht ein halbes Dutzend mal mit ihrem Manne im Schauspielhause und in der Oper gewesen. Seitdem aber hatte sie kein Theater mehr besucht. Ihrem Manne war es ein Opfer, und das Vergnügen, das sie empfand, wurde durch das Bewußtsein, daß ihr Mann verstimmt war, verdorben. Um so erstaunter war sie, als Osterode antwortete:

»Den Anfang werde ich leider versäumen müssen, denn ich habe bis gegen acht nothwendig zu thun. Aber Du kannst ja Ada begleiten und mein Billet beim Portier niederlegen. Würde es Dir Spaß machen, mitzugehen?« fragte er seine Frau.

»O ja,« entgegnete Ada. »Ich habe auch irgendwo gelesen, daß das Stück recht interessant sein soll.«

»Also gut,« sagte der Professor. Und während er nach der Uhr sah, fügte er hinzu: »Jetzt ist es sechs. Ich habe keine Zeit mehr zu versäumen, wenn ich noch etwas vom Stücke sehen will. Also nimm's mir nicht übel, mein Junge, wenn ich Dich jetzt verlasse. Wir treffen uns in der Loge. Auf Wiedersehen!«

Er drückte seinem Neffen die Hand, berührte flüchtig Adas Scheitel mit seinen Lippen und entfernte sich. Ada mußte sich auch sehr bald zurückziehen, um ihr Hauskleid abzulegen und etwas Toilette zu machen.

Richard blieb in dem großen Salon allein zurück. Er machte sich's auf der Chaiselongue bequem und rauchte.

*

Er war sehr vergnügt. Er war darauf vorbereitet gewesen, daß er von seinem Onkel mit großer Herzlichkeit empfangen und aufgenommen werden würde. An die junge schöne Tante hatte er nur nebenher gedacht. Das Bild, das seiner Erinnerung vorschwebte und das durch die alte Photographie lebendig in ihm erhalten worden war, entsprach der Wirklichkeit freilich recht wenig. Es war eine Fremde, die ihm gegenübergetreten war. Sie erschien ihm größer, schlanker, vornehmer und zurückhaltender, und sie war viel schöner und von einer ganz andern Schönheit, als sie ihm vorgeschwebt hatte. Sie hatte so etwas Schwermüthiges, Poetisches, so etwas von einer Romanheldin. Und während er sich den traurigen Ausdruck ihrer großen dunklen Augen vergegenwärtigte, lächelte er sehr vergnügt.

Ja, sie war wirklich sehr schön, die junge Tante, namentlich im Profil. Die edle Rundung des Kopfes, die durch die einfache Tracht des dunklen, fast schwarzen glänzenden Haars, das sich nur am Stirnansatz ein wenig wellte und im Nacken zu einem schlichten Knoten geschlungen war, nicht entstellt wurde, gefiel ihm ganz besonders, und die Blässe ihrer Gesichtsfarbe, die in der dunklen Umrahmung um so stärker wirkte, erschien ihm sehr interessant.

Sie war freilich bei Tisch ziemlich still gewesen, aber das war ja ganz natürlich. Soviel hatte er schon herausbekommen, daß Ada ein zurückgezogenes Leben führte und kaum Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den oberflächlich verbindlichen Formen der Gesellschaft vertrauter zu machen. Es war ihr gewiß kein Leichtes, sich in ihre Situation hineinzufinden. Aber es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, um die richtige Gemüthlichkeit zwischen denen, die nun so oft miteinander verkehren sollten, herzustellen. Dafür wollte er schon sorgen. Jedenfalls bereitete ihm die Aussicht, mit einer schönen, jungen, offenbar klugen und gebildeten Frau im Hause seines nächsten Anverwandten, dem er schon soviel Dank schuldig war, in ungezwungenster Geselligkeit verkehren zu dürfen, eine große Freude. Und deshalb lächelte er, während er an Adas traurige Augen dachte und den Rauch vor sich hinblies.

Es war schon dämmerig geworden, als Ada in ihr Schlafzimmer trat. Sie hatte die Lichter auf ihrem Toilettentisch anstecken lassen. Sie beanspruchte zum Ankleiden keine Hülfe und war allein.

Ohne sich besonders Rechenschaft abzulegen, brachte sie ihr Gesicht in die nächste Nähe des Spiegelglases und beleuchtete sich. Zum ersten Mal bemerkte sie an den Augenwinkeln kleine zarte Falten. Sie betrachtete dieselben lange und nachdenklich und lächelte trübe.

Sie verwandte heute auf ihre Toilette eine mehr als gewöhnliche Sorgfalt. Sie dachte auch an die neue Bekanntschaft. Es erschien ihr scherzhaft, daß sie einen so großen Neffen hatte, und sie machte unwillkürlich sogleich den Versuch, sich in die Rolle einer Respectsperson hineinzuspielen.

»Es scheint ein guter Junge zu sein,« sagte sie.

Auf dem Wege nach dem entlegenen Theater unterhielt Richard Ada, die ihm jetzt noch viel schöner erschien, in anregender Weise. Ada thaute allmählich auf, und während der langen Fahrt, die den Beiden aber gar nicht lang wurde, gebrauchte Ada zum ersten Mal die vertrauliche Ansprache, die ihr Mann ihr aufgenöthigt hatte, und duzte Richard. Richard bemerkte es sehr wohl, und es machte ihm Vergnügen.

Das französische Ehebruchsdrama wurde recht gut gespielt und fesselte die Beiden, die am Theater die naive Freude der Provinzialen hatten, in hohem Grade.

Nach dem dritten Acte, der mit einem starken Effecte abschloß, war eine größere Pause. Jetzt erst bemerkte Ada:

»Alexander sollte doch eigentlich schon da sein! Wollte er nicht um acht Uhr kommen? Wie spät haben wir es denn?«

»Es ist schon neun vorüber,« antwortete Richard nach einem Blick auf seine Uhr. »Es wird doch nichts vorgekommen sein?«

»Bewahre!« antwortete Ada gelassen. »Mein Mann sitzt jedenfalls bei der Arbeit, und dann vergißt er die Zeit und vieles Andere. Er wird wohl noch kommen.«

Aber auch der sehr aufregende letzte Act, der die Zuschauer in fieberhafte Spannung versetzte, ging zu Ende, ohne daß sich der Professor hätte blicken lassen. Die Beiden fuhren allein nach dem stillen Hause zurück. Unter dem starken Eindrucke, den das Schauspiel auf sie gemacht hatte, sprachen sie unterwegs nur wenig. Am Thorweg wollte sich Richard verabschieden.

»Du solltest noch eine Tasse Thee bei uns trinken,« sagte Ada, »und mir Gesellschaft leisten. Das Stück hat mich sehr aufgeregt, und ich fürchte mich ein wenig, wenn ich jetzt allein bleiben muß. Siehst Du,« fügte sie hinzu, auf das kleine Seitengebäude weisend, »noch Licht! Mein Mann arbeitet, wie ich vorausgesetzt hatte. Klopf nur getrost an. Ich will inzwischen ablegen und den Thee bestellen. Ich erwarte Euch oben.«

Richard war von der Aussicht, noch ein Stündchen mit Ada verplaudern zu können, sehr erbaut. An den Onkel dachte er eigentlich erst in zweiter Reihe. Nachdem er Ada über den Vorhof bis zum Hause begleitet hatte, trat er an die ihm bezeichnete Thür des langgestreckten niedrigen Gebäudes und klopfte.

Der Ruf: »Herein!« klang ziemlich unwirsch.

In dem saalartigen Raume, der durch mehr als ein halbes Dutzend Gasflammen sehr hell beleuchtet war – Osterode war ein Freund sehr hell beleuchteter Zimmer –, war es drückend heiß. Der Professor saß an dem großen Tisch in der Mitte, auf dem neben den verschiedenen wissenschaftlichen Instrumenten Druckschriften aller Art lagen. Auf dem Tische stand noch eine Schiebelampe mit grünem Schirm. Das grüne Licht fiel auf das Antlitz des Professors und gab diesem eine gespensterartige unheimliche Färbung. Seine vollen schwarzen Haare, die an den Schläfen zu ergrauen anfingen, waren zerzaust.

Offenbar unangenehm überrascht, warf er einen nicht sehr einladenden Blick auf die sich öffnende Thür. Aber sobald er seinen Neffen erblickte, nahm sein Gesicht einen ganz veränderten, freundlich verlegenen Ausdruck an. Er erhob sich schnell, fuhr mit der Rechten über die Stirn und durch das Haar, als ob er das, was ihn bisher beschäftigt hatte, wegwischen wollte, und ging dem Eintretenden einige Schritte entgegen.

»Ah, ah!« sagte er in entschuldigendem Tone. »Ich habe Euch ja ganz vergessen! Wie spät haben wir's denn?« Und nach der großen Wanduhr blickend, setzte er hinzu: »Was! schon halb elf? Das ist doch gar nicht möglich! Da habe ich mich einmal wieder fest gelesen! Und noch dazu recht überflüssiger Weise, denn in dem dicken Buche steht recht wenig Neues. Das thut mir aber leid! Entschuldige mich nur. Ada war wohl ungehalten?«

»Durchaus nicht. Sie scheint Deine Gewohnheiten zu kennen. Sie hat mich sogar beruhigt, als ich wegen Deines Ausbleibens eine Bemerkung machte. Und sie hat die Wahrheit richtig getroffen.«

»So so! Ja ja! Das leidige Lesen! Ich hätte mich gewiß besser unterhalten, wenn ich mit Euch gekommen wäre. Wie war's denn?«

»Das wollen wir Dir oben erzählen. Ada hat den Thee für uns hergerichtet. Und hier ist eine Hitze und weht eine Luft! Ich begreife nicht, daß Du es hier aushalten kannst.«

»Ja ja, die dummen Gewohnheiten, mein Junge! Du hast Recht! Wir wollen hinaufgehen. Oeffne ein Fenster, wenn es Dir hier zu heiß ist. Ich komme gleich.«

Während Richard ein Fenster weit aufriß, trat der Professor an den in der Ecke stehenden Waschtisch, auf dem sich ein mit Wasser gefülltes Becken von ungewöhnlicher Größe befand. Er stellte sich breitbeinig davor, beugte sich und tauchte seinen Kopf drei-, viermal ins Wasser. Nachdem er sich mit einem rauhen englischen Handtuch gehörig abgerieben und die Hände sorgfältig gereinigt hatte, sagte er: »Nun komm, ich bin bereit.«

Inzwischen war das Wohnzimmer hell beleuchtet; und als die Beiden eintraten, war das Brodeln des Theekessels gerade verstummt, und der aus der Tülle aufsteigende und sich ringelnde graue Dampf ließ erkennen, daß das Wasser kochte.

»Ich habe mich schon bei Richard entschuldigt,« sagte der Professor, »und Du wirst mir auch verzeihen. Es war gerade ein neues Buch angekommen, das mich interessirte, und ich weiß nicht, wo die Zeit geblieben ist. Du nimmst es mir doch nicht übel?«

»Durchaus nicht. Ich habe mir gleich so etwas gedacht,« antwortete Ada, während sie die Spirituslampe löschte. Aber sie verspürte die Rücksichtslosigkeit ihres Mannes in Wahrheit heute doch um einen Stärkegrad empfindlicher als sonst wohl. Es war ihr nicht angenehm, daß Richard gleich am ersten Tage erfahren sollte, wie es im Hause zuging.

*

Beim Thee herrschte eine recht gemüthliche Stimmung. Es wurde von dem Stücke gesprochen, dessen Handlung sich Osterode erzählen ließ, und die auch ihn interessirte.

»Wann ist denn das Stück geschrieben?« fragte er.

»Genau weiß ich's nicht,« versetzte Richard, »aber es muß wenigstens zwei, drei Jahre alt sein. Ein Freund von mir hat es schon vor über einem Jahre in Paris gesehen und mit mir davon gesprochen.«

»Nun, dann hat wieder einmal, wie das öfter vorkommt, die Wirklichkeit der Dichtung nachgeäfft, während doch eigentlich die Dichtung die Wahrheit abschreiben sollte.«

»Nicht eigentlich. Ich glaube vielmehr, daß der Dichter seines Amtes am vollkommensten waltet, wenn er vorahnend die Wahrheit erfindet. Du weißt ja, die Lateiner haben für die Begriffe ›Dichter‹ und ›Prophet‹ dasselbe Wort: ›vates‹

»Nun also, der frivole Franzose ist in diesem Falle wirklich ein Prophet, ein ›vates‹ gewesen. Hast Du denn nichts von dem merkwürdigen Processe gehört, der erst vor wenigen Wochen vor den Geschworenen von Lyon verhandelt worden ist?«

»Ich lese überhaupt wenig Zeitungen, und in der letzten Zeit habe ich mich um nichts anderes als um meine Prüfungsarbeiten kümmern können.«

»Richtig!« fiel jetzt Ada ein. »Ich entsinne mich des Processes von Lyon. Du hast ganz Recht! Das Drama der Wirklichkeit, über das da verhandelt worden ist, hat allerdings viele gemeinsame Züge mit dem Schauspiel, das wir heute gesehen haben.«

»Was war es denn?« fragte Richard.

»Eine ziemlich gewöhnliche Geschichte, bei der hauptsächlich das Urtheil der Geschworenen Aufsehen gemacht hat,« antwortete Osterode. »Im Uebrigen eine Ehebruchsgeschichte, wie sie tausendmal dagewesen ist. Ein älterer Mann heirathet ein sehr viel jüngeres Mädchen, in das er sich sterblich verliebt hat. Er hat sie aus der Hefe des Volks zu sich erhoben. Sie ist die Tochter einer Wäscherin, glaube ich. Er stammt aus einer der vornehmsten gräflichen Familien des Landes und hat bis vor wenigen Jahren eine der hohen Stellungen im Staate eingenommen. Der alte Graf constatirt, daß seine junge Frau, mit der er nun etwa drei oder vier Jahre verheirathet ist, plötzlich eine auffällige Vorliebe für Musik empfindet und keine der Opernvorstellungen versäumt. Gute Freunde geben ihm den Schlüssel des Geheimnisses. In der neuen Operngesellschaft befindet sich ein hübscher Tenorist mit schmachtendem Augenaufschlag und hohem c, in den natürlich alle Damen der großen Stadt vergafft sind. Und die junge Frau Gräfin macht keine Ausnahme, vielmehr scheint der Tenorist zu Gunsten der jungen Gräfin eine besondere Ausnahme zu machen. Der alte Graf wird argwöhnisch, paßt auf und stellt die Wahrheit, die seine Ehre vernichtet, fest. Er zieht einen alten Diener in's Geheimniß, das er im Uebrigen vor der ganzen Welt streng bewahrt. Er läßt die Gräfin überwachen. Und eines Tages erhält er die Mittheilung, daß die Gräfin, die sich unter dem Vorwande, irgend ein Spital zu besuchen, von Hause entfernt hatte, mit dem Tenoristen in einem kleinen entlegenen Gasthause der Vorstadt traulich zusammen ist. Er steckt seinen Revolver zu sich, der Vorsicht halber nimmt er sogar noch außerdem eine Pistole mit, begiebt sich schleunig in das ihm bezeichnete Gasthaus, fordert unter wilden Androhungen den Hauptschlüssel, läßt sich das Zimmer bezeichnen, öffnet es und findet das Pärchen. Er schießt den Tenoristen mit zwei wohlgezielten Schüssen wie einen Hasen über den Haufen. Die entsetzte Frau stürzt davon. Er folgt ihr wie ein Rasender bis auf die Straße und giebt noch drei Schüsse ab, von denen der letzte ihr das Schulterblatt zertrümmert. Die Frau ist mit dem Leben davongekommen. Sie ist aus Frankreich verschwunden. Bei dem Processe hat sie als Zeugin nicht vernommen werden können, da ihr gegenwärtiger Aufenthalt unbekannt ist. Der Graf ist wegen Mordes und Mordversuchs vor die Geschworenen gestellt worden, und die braven Geschworenen von Lyon haben ihn unter dem Jubel der Bevölkerung freigesprochen.«

»Sie haben ein schweres Unrecht begangen, die braven Geschworenen von Lyon!« versetzte Richard mit äußerster Energie. Sein juristisches Gewissen empörte sich über dies Urtheil. »Wohin soll es führen,« rief er aus, »wenn das Individuum berechtigt sein soll, sich selbst sein Recht zu verschaffen, in eigener Sache das Urtheil zu fällen und zugleich zu vollstrecken? Mag dem Einzelnen in einem besonderen Falle auch durch die gesetzliche Bestrafung wegen empfangener Unbill nicht die ausreichende Genugthuung zu Theil werden! Das ist eben ein Unglück. Aber deshalb steht ihm noch keineswegs die Berechtigung zu, nun auf eigene Faust mehr zu erreichen, als der gesetzliche Schutz ihm gewährt. Das würde uns ja in gerader Linie zum Faustrecht zurückführen. Fast in jedem einzelnen Streitfalle glauben beide Parteien in ihrem guten Recht zu sein, und läßt man sie selbst ihren Streit ausfechten, nun, dann hat eben immer der Stärkere Recht. Es wäre ein großes Unglück, wenn ein solcher Vorgang, wie Du ihn eben geschildert hast, gewissermaßen vorbildlich, ein Präcedenzfall werden sollte, und wenn das Urtheil der Geschworenen es billigte, daß der in seiner Ehre Geschädigte sich berechtigt glaubt, sich selbst Genugthuung zu verschaffen. Das Vertrauen zum Richter ist eine der mächtigsten Grundlagen des sittlichen Staates, und die Geschworenen schlagen sich selber in's Gesicht, wenn sie den nicht strafen, der den Richter umgangen hat. Es ist ja möglich, daß die Verhältnisse hier so liegen, wie Du sie geschildert hast. Aber Du kennst sie doch auch nur aus der einseitigen Darstellung des Angeklagten. Es wäre immerhin der Fall denkbar, daß die Verhältnisse ganz anders liegen, als sie uns hier geschildert werden. Wir wissen nur, daß hier ein kaltblütig überlegter und planmäßig durchgeführter Mord vorliegt. Der Graf hat nicht im Zustande besinnungsloser Wuth zur ersten besten Waffe gegriffen, er hat Alles, was er gethan hat, mit kühlster Ueberlegung gethan. Ohne seine Frau zu warnen, ohne sie zu strafen, ohne dem schuldigen Geliebten gegenüberzutreten, hat er sich bewaffnet und die Beiden überfallen. Wer weiß, ob es ihm nicht ganz angenehm gewesen ist, seine Frau auf diese Weise loszuwerden? Auf Grund der thatsächlichen Erhebungen mußten die Geschworenen das Schuldig sprechen, und wenn sie es nicht gethan haben, so haben sie eben gegen ihre Pflicht gehandelt.«

»Und ich behaupte, sie haben das einzig Richtige gethan,« erwiderte der Professor. »Und ich würde in demselben Falle geradeso geurtheilt haben. Du sprichst als junger Jurist, und ich freue mich sogar darüber, daß Du so sprichst; aber ich spreche als erfahrener Mann. Ich habe vor dem Gesetze den tiefsten Respect. Es ist gewiß der vollkommenste Ausdruck des menschlichen Wissens, aber alles menschliche Wissen ist eben Stückwerk. Und ich kann mir sehr gut denken, daß es Fälle giebt, in denen das Gesetz weder zur Bestrafung des Schuldigen, noch zur Genugthuung des Geschädigten ausreicht. Ich kann mir denken, daß dann der Einzelne durch seine Entrüstung oder irgend eine andere Wallung dazu getrieben wird, ein Mehr zu erreichen, als das Gesetz ihm gewährt. Ich gebe zu, daß er sich dann schuldig macht und sich nicht darüber wundern darf, wenn ihn nun das Gesetz ereilt. Hätten die Geschworenen den Grafen verurtheilt, so hätte er sich nicht beklagen dürfen. Aber auch für den Fall der Verurtheilung würde ihn der Gedanke getröstet und erhoben haben, daß er nicht ein Verbrecher im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist, und daß er sich mit eigener Faust – ich will das Wort, das Du gebraucht hast, wieder gebrauchen – eine höhere und bessere Gerechtigkeit verschafft hat, als die Menschen kraft ihrer allgemeinen Satzungen ihm zu gewähren vermögen. Gerade in einem Falle wie dem vorliegenden ist das Gesetz unzureichend. Die Schande, die eine ehrvergessene Frau über ihren Mann bringt, läßt sich nicht nach Paragraph soundsoviel des Strafgesetzbuches bestrafen. Die Schande! Die Schande! Es ist etwas Fürchterliches, das der Verstand der Glücklichen kaum zu fassen vermag! Der Mann giebt der Frau, die er heirathet, seinen Namen. Das ist von sinnbildlicher Bedeutung. Mit anderen Worten: er giebt ihr Alles. Der Mann erheirathet Pflichten, die Frau Rechte. Und für Alles, was der Mann der Frau giebt, verlangt er nur Eines – wenn es nicht Liebe sein kann, die ohnehin freudig Alles giebt, nur das Einzige: Treue. Zahlt sie diesen Preis nicht, so ist sie eine Verbrecherin, eine Betrügerin. Weg mit ihr! Und wenn das Gesetz sie nicht beseitigen kann, so ist es schon begreiflich genug, daß der Betrogene, Beschimpfte sie zunächst beseitigt und sich dann erst darum bekümmert, was das Gesetz nun mit ihm anfangen wird. Und wohl uns, daß die Einrichtung der Geschworenen es ermöglicht, in besonderen Fällen die Starrheit der gesetzlichen Bestimmungen zu schmeidigen! Der Graf, sage ich noch einmal, hat Recht gethan, und die Geschworenen haben ihre Pflicht gethan. Und Du, mein junger Herr Rechtsgelehrter, wirst mich in dieser Ueberzeugung nicht erschüttern.«

Der Widerstreit der Meinungen wurde noch lange fortgesetzt. Ada betheiligte sich nicht an der Debatte. Und als Richard eine zustimmende Unterstützung zu einem der von ihm aufgestellten Sätze erbat, gab sie eine ausweichende Antwort. Die Auseinandersetzung hatte schließlich, wie es gewöhnlich der Fall zu sein pflegt, dahin geführt, daß am Ende jeder Einzelne von der Nichtigkeit seiner Meinung überzeugter war als zu Anfang. Mitternacht war längst vorüber, als Richard sich verabschiedete mit dem Versprechen, am andern Tage wieder zu Tisch zu kommen.

*

Ada entkleidete sich heute viel langsamer als gewöhnlich. Sie sah sich in ihrer Schlafstube um, als ob es etwas Neues wäre, und schüttelte den Kopf. Einen so anregenden Abend hatte sie, seitdem sie verheirathet war, nicht verbracht. Während des Schauspiels hatte sie ab und zu mit Richard ein Wort gewechselt, und niemals war ihre Theilnahme für eine dramatische Dichtung eine so lebhafte gewesen wie heute. Niemals hatte sie ihren Mann so gesprächig gefunden wie jetzt bei Tisch.

Sie machte sich Vorwürfe.

Offenbar verstand sie es nicht, ihn richtig zu behandeln. Zum ersten Male erschien ihr ihr Gatte als liebenswürdig.

Ihr Gesicht hatte wieder den längst entwöhnten lächelnden freundlichen Ausdruck aus früherer Zeit angenommen. Aber plötzlich wurde sie wiederum sehr ernst. Mit dem Lichte in der Hand trat sie an den Spiegel, beleuchtete grell die Augenwinkel, kniff die Augen ein wenig zusammen und betrachtete lange und aufmerksam die kleinen Falten.

»Ich bin nicht mehr jung,« sagte sie sich, und leicht aufseufzend setzte sie zu ihrem Troste hinzu: »Aber ich bin auch noch nicht alt.«

Sie blieb noch lange wach im Bett liegen, nachdem die Kerze längst gelöscht war, und dachte über Alles das nach, was sie an diesem Tage, der für sie denkwürdig geworden, gesehen und gehört hatte – über das und über noch mancherlei Anderes.

Richard war die Friedrichstraße hinaufgegangen, die um diese Stunde namentlich in der Gegend der Linden, noch ungemein belebt war. Es war eine wundervolle frische Herbstnacht. Richard hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Er trat in eine Bierstube ein. Aber er hielt es da nicht lange aus. Das Local war überfüllt, es war unerträglich heiß und die Luft durch das Gas und den Tabaksqualm gründlich verdorben. Er trank sein Glas Bier schnell aus und trat wieder auf die Straße.

Zufällig oder vielleicht auch absichtlich schlug er denselben Weg ein, den er eben genommen hatte. Er kreuzte die Linden, ging über die Weidendammer Brücke und stand auf einmal wieder vor dem Hause seines Onkels.

Die Lichter im Wohnzimmer waren gelöscht, im Bibliothekzimmer nebenan aber brannten noch alle Flammen. Richard blieb lange vor dem Hause stehen. Er fragte sich nicht, wie er dahin gekommen war und was er um diese Stunde da zu suchen habe. Er spähte aufmerksam hinauf, um irgend eine Bewegung wahrzunehmen, vielleicht um einen Schatten vorüberhuschen zu sehen – nicht den seines Onkels. Aber es rührte und regte sich nichts.

Er merkte, daß er seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit des Nachtwächters erregt hatte, der ihn in einer größeren Entfernung langsam umkreiste. Da entschloß er sich denn endlich dazu, seine Wohnung aufzusuchen. Er legte den ziemlich weiten Weg mit einer für den Großstädter ungewohnten Bedächtigkeit zurück.

Der Kopf war ihm sehr voll; aber er würde ohne Zweifel in einige Verlegenheit gerathen sein, wenn er hätte sagen sollen, woran er eigentlich dachte. Es lag ihm schwer in den Gliedern. Die Erregungen der letzten Tage, der Abschied von alten Freunden, die Aufgabe seines bisherigen Wohnsitzes, die Scherereien, die mit der Uebersiedelung verknüpft gewesen waren, die lange Reise selbst und endlich das Ungewohnte und Neue, das der heutige Tag gebracht hatte, – Alles das hatte ihn wohl ein wenig angestrengt. Aber er hatte seltsamer Weise diese Mattigkeit bisher gar nicht empfunden. Sie überfiel ihn, beinahe gewaltsam, erst, als er sich von seinen Anverwandten verabschiedet hatte und allein durch die nächtlichen Straßen wanderte.

Er fühlte sich recht abgespannt, aber er hatte nicht die geringste Lust, zu schlafen. Sehr langsam hatte er sich entkleidet, und seit länger als einer Viertelstunde saß er neben dem unruhig flackernden Lichte auf der Matratze seines Bettes, die beiden Hände auf die Kniee gestemmt, und blickte vor sich hin, brütend, aber gedankenlos.

Plötzlich stand er auf, ging mit der Kerze in's Nebenzimmer und nahm von seinem Schreibtisch eine kleine eingerahmte Photographie, die er dort hingestellt hatte. Es war das Doppelbild seines Onkels und seiner jungen Tante. Er ging in seine kleine Schlafstube zurück und setzte sich nun in die nächste Nähe des Nachttisches, auf dem die Kerze brannte, um das Bild genau zu betrachten. Mit der linken Hand deckte er die Figur des Onkels zu. Er schüttelte den Kopf Ada hatte sich sehr verändert. Sie war kaum wiederzuerkennen. Der harmlos fröhliche Ausdruck des jugendlichen Gesichts war dahin. Sie war viel schöner geworden, sie sah viel bedeutender aus, ihre Augen hatten jetzt so etwas Wundersames. Was war es nur? Sie blickte jetzt so traurig! …

Ja, traurig! das war es! Und auch um die Mundwinkel zuckte es wie ein geheimer Schmerz.

Richard brachte das Bild seinem Auge noch näher.

»Damals war sie glücklich,« sagte er sich, und die Ergänzung des Satzes stellte sich von selbst dar: »Und jetzt ist sie es nicht mehr.«

Er legte das Bild mit einer schnellen Bewegung bei Seite.

»Weshalb nicht glücklich?«

Die Frage drängte sich ihm unwillkürlich auf. Aber er scheute sich, nach einer Antwort darauf zu suchen.

»Ach was! dummes Zeug!« rief er nach einer langen Pause halblaut aus, und er verwunderte sich über den Klang seiner Stimme. Er legte sich nun schnell nieder, blies das Licht aus und schloß die Augen.

*

Als Richard am andern Morgen erwachte, blickte er erstaunt um sich. Sein Schlaf war fest und schwer gewesen, aber nicht erquickend. Er fühlte sich müder, als vor der Ruhe. Er wußte auch, daß er geträumt hatte, und zwar häßliche Sachen; aber er konnte sich nicht mehr besinnen, was es gewesen war; er wußte nur, daß Ada und sein Onkel dabei eine Rolle gespielt hatten.

Langsamer und verdrießlicher als gewöhnlich erhob er sich. Während er sich ankleidete, überlegte er, was er im Laufe des Tages zu erledigen hatte. Er hatte einige Antrittsbesuche zu machen und Karten abzugeben. Das konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Um eins, so berechnete er sich, werde er wohl mit Ada und seinem Onkel frühstücken können …

Aber nein! er hatte sich ja für dieselbe Stunde mit Dr. Johannes Schlemm verabredet!

Gestern war es ihm, als er den Brief an seinen alten Jugendbekannten schrieb, angenehm gewesen, in dem großen Berlin einen etwa gleichaltrigen und auf der gleichen Bildungsstufe stehenden Kameraden zu wissen, mit dem er sich über alles Mögliche ausschwatzen konnte. Heute war es ihm lästig, daß er sich gebunden hatte und nun erst zu einer späteren Stunde seine Anverwandten aufsuchen konnte. Es war ihm mehr als, lästig, es war ihm geradezu widerwärtig, in seiner heutigen Stimmung mit dem jungen Arzte zusammenzukommen. Er hatte die bestimmte Empfindung, daß er wieder Unerwünschtes hören und Unbehagliches fühlen werde.

Zwischen Richard Willem und Dr. Johannes Schlemm bestand ein eigenthümliches Verhältniß. Im Grunde seines Herzens konnte Richard den jungen Arzt eigentlich nicht ausstehen, aber er fühlte sich unwillkürlich immer wieder zu ihm hingezogen. Er ärgerte sich über die Ueberlegenheit, die sich Johannes ihm gegenüber angemaßt hatte, und die dieser auch thatsächlich besaß. Aber er ertrug dennoch diesen Zwang mit einer gewissen Freudigkeit.

Johannes war eine unerfreuliche, gallige Natur. Er hatte für das Unschöne an den Menschen und Dingen ein scharfes Auge. Das Liebe und Gute daran schien ihm gleichgültig zu sein. Richard ärgerte sich beständig über die Lieblosigkeit und Härte der Auffassung und des Urtheils seines Bekannten. Aber wenn er ihn einige Tage nicht gesehen hatte, so fehlte ihn: etwas, und er suchte ihn wieder auf. Es verdroß ihn, daß Johannes »an nichts keinen Antheil nahm«. Aber die Klugheit, der Fleiß und die Tüchtigkeit des Menschen imponirten ihm. Die Beiden hatten die höheren Klassen des Gymnasiums zusammen durchgemacht, obwohl Johannes vier Jahre älter war als Richard, und sie waren auch während ihrer Universitätszeit miteinander zusammengetroffen. Richard war während der Jugendjahre der einzige Mensch gewesen, dem Johannes später nähergetreten war.

Zwischen den Beiden hatte sich, als sie auseinandergekommen waren, ein ziemlich reger Briefwechsel entsponnen. Johannes schrieb gern und gut, und durch den schriftlichen Gedankenaustausch waren die Beiden eigentlich intimer miteinander geworden, als sie es während ihres Beisammenseins je gewesen waren.

Richard hatte sich also gestern noch aufrichtig gefreut, dem alten Genossen, von dem er glaubte, daß dessen Zunge viel boshafter sei als das Herz, in Berlin wiederzubegegnen. Und er freute sich wohl auch jetzt noch. Aber mußte es denn gerade heute sein! Die Verabredung war indessen getroffen, und da half nun einmal nichts.

Pünktlich um ein Uhr betrat Richard die kleine Weinstube in der Französischen Straße, und er erkannte auf den ersten Blick an einem Tischchen in der Nähe des Buffets den großen runden Schädel des Doctors, dessen Gesicht durch eine Zeitung verdeckt war. Johannes, der aus einer Kossäthenfamilie im Magdeburgischen stammte, hatte in seiner ganzen Erscheinung etwas schwerfällig Bäuerisches; er war mittelgroß, stämmig gebaut, breitschultrig und kurzhalsig, sein Kopf war fast kugelrund, und diese Form trat um so deutlicher hervor, als er das Haupthaar, das sich schon vorzeitig an der Stirn und in der Scheitelgegend lichtete, ganz kurz geschoren trug. Es sah beinahe so aus, als ob er mauserte. Seine Züge waren derb, seine Backenknochen stark, die kleinen Augen wirkten hinter den scharf geschliffenen Brillengläsern noch kleiner als sie waren, aber sie blickten grundgescheidt in die Welt hinein. Ein röthlich brauner nicht eben starker Vollbart umrahmte das Gesicht. Seine Kleider saßen schlecht, aber sie waren von tadelloser Sauberkeit.

Die Beiden begrüßten sich freundlich. Die Unterhaltung kam sogleich in lebhaften Fluß. Sie hatten sich mancherlei von gemeinsamen Bekannten und von sich selbst zu erzählen. Johannes beklagte sich in bitteren Worten über die Schwierigkeiten, die ein junger Mediciner in einer großen Stadt zu überwinden habe, um überhaupt festen Fuß zu fassen.

»Ich merke schon, ich habe meinen Beruf gründlich verfehlt. Wenn man es hier zu etwas bringen will, muß man Eigenschaften besitzen, die ich entweder nicht erwerben kann oder nicht erwerben mag. Mir fehlt der wichtigste Empfehlungsbrief: das sogenannte vortheilhafte Aeußere. Ich werde, wenn Alles gut geht, meine Patienten ganz unten oder ganz oben zu suchen haben, im Keller oder im vierten Stock. Und dann bin ich auch nicht der Mann, der Visiten macht, Einladungen empfängt und annimmt und den Abend mit hübschen Töchtern herumtanzt, von deren Eltern er wünscht, daß sie bald zu seinen Patienten gehören möchten. Zum liebenswürdigen Schwerenöther fehlt mir nicht weniger als Alles. Und doch weiß ich, daß ich mehr kann, als ein Dutzend der jungen Lasten und Affen, die mir über die Schultern gestiegen sind. Aber so ist's nun einmal, und so wird's auch bleiben. Ich habe daher ernsthaft daran gedacht, aus der Praxis in die Theorie überzugehen. Und dabei könntest Du mir vielleicht helfen. Ohne Protection geht's ja nicht.«

»Ich Dir helfen?« fragte Richard erstaunt.

»Ja, Du. Dein Onkel Osterode sieht sich schon seit längerer Zeit nach einem neuen Assistenten um – nicht für die Klinik, auch nicht für seine Privatpraxis, sondern für seine wissenschaftliche Arbeit, an der er schon seit Jahren herumdoctert. Zum Ausmessen des kubischen Gehalts der Schädel, zum Durchsägen der Rückgrate, zum Mikroskopiren und dergleichen Hantirungen braucht man doch hoffentlich kein Adonis zu sein. Ich habe zwar erfahren, daß sich alle möglichen Candidaten um diese Stelle bewerben. Aber wenn Du ein kräftig Wörtlein für mich einlegtest, so könnte es am Ende doch von Nutzen sein. Auf den Versuch könnten wir es jedenfalls ankommen lassen.«

»Aber mit Vergnügen! Kennt Dich mein Onkel persönlich?«

»Ich glaube kaum. Und ich möchte Dich bitten, ihm gleich von vornherein zu sagen, wie ich ungefähr aussehe. Es wird ihm vielleicht ganz angenehm sein, daß sein Amanuensis für Weiber wenig Verführerisches hat. Denn er soll ja rasend eifersüchtig sein, Dein Herr Oheim.«

»Lächerlich!«

»Man sagt es allgemein. Und Du, mein Sohn, nimm auch Du Dich in Acht! Sieh nicht zu tief in die dunklen Augen Deiner jungen Tante! Ich habe sie zwar noch nie gesehen, aber sie gilt allgemein als eine schöne, interessante Frau.«

»Wie kannst Du nur so tolles Zeug zusammenschwatzen!« antwortete Richard ärgerlich. Die Aeußerung Schlemms hatte ihn auf das Peinlichste berührt.

»Tolles Zeug? Wieso? Es ist das ganz Normale, ich möchte sagen das Unausbleibliche. Eine junge schöne Frau wird von einem viel älteren Manne ängstlich von aller Welt abgesperrt und lebt in dem großen Berlin wie in einem verzauberten Schlosse, verschlummert die Jahre wie Dornröschen, aber mit wachen Sinnen. Da wird unvorsichtiger Weise eines Tages die Thür aufgesperrt, der bewußte Ritter tritt herein – Junge, wenn ich Dich so ansehe: Du hast ganz die Eigenschaften des erlösenden Ritters! – er küßt die Schlummernde auf den Mund, der Zauber ist gelöst, und der Skandal geht los. Kommt Dir das so ungewöhnlich vor?«

»Du bist nicht recht bei Sinnen und, nebenbei bemerkt, nicht sehr geschmackvoll! Ich muß mich wahrhaftig an Deine Art und Weise zu sprechen, erst wieder gewöhnen. Thu' mir den Gefallen und brich ab.«

»Aber was ereiferst Du Dich denn so? Das sieht ja wahrhaftig beinahe so aus, als ob Du schon Feuer gefangen hättest!«

»Ich bitte Dich, laß mich. Du erzürnst mich ernstlich. Du scheinst zu vergessen, daß Du von der Frau meines nächsten Verwandten, meines treuesten Freundes und edelsten Wohlthäters sprichst.«

»Daran habe ich im Gegentheil außerordentlich viel gedacht. Und darin liegt meiner Meinung nach die größte Gefahr für Dich. Wir mangelhaften Menschen sind nun einmal so organisirt! Leute, denen wir wirklich zu Dank verpflichtet sind, sind uns unangenehm. Wir sagen's freilich nicht, aber es ist so. Und der Umstand, daß Du Deinem Onkel dankbar sein mußt, Deiner jungen Tante aber nicht, entfernt Dich ihm und bringt Dich ihr näher. Wir werden's ja sehen!«

Richard furchte die Brauen und klopfte nervös mit den vier Fingern seiner rechten Hand auf die Tischplatte.

»Die Sache macht Dir keinen Spaß? Schön, sprechen wir nicht weiter davon! Ich bin wieder einmal sehr unklug gewesen, die Wahrheit gesagt zu haben. Meine Aufrichtigkeit wird den Wärmegrad Deiner Empfehlung nicht verstärken.«

»Ich werde Dir das Gegentheil beweisen,« entgegnete Richard mürrisch. »Ich werde noch heute meinen Onkel aufsuchen und Dir noch heute Bescheid geben.«

»Schön, mein Junge. Siehst Du', so schaffe ich Dir einen ganz vernünftigen Vorwand, um die Deinigen sogleich wieder aufzusuchen. Eine Hand wäscht die andere. Ah! ich habe ja längst bemerkt, daß Du unruhig bist und darauf brennst. Deinem Freunde Schlemm Deine Freundschaft dadurch zu beweisen, daß Du Dich schleunig von ihm wendest. Also, wenn Du aufbrechen willst, genire Dich nicht! Ich trinke meinen Schoppen schon allein aus.«

»Ich brauche keinen Vorwand, um meinen Onkel aufzusuchen. Aber ich habe ihm allerdings versprochen, ihn vor seiner Sprechstunde zu besuchen. Und dann darf ich keine Zeit mehr verlieren.«

»Also geh mit Gott!«

Richard war innerlich sehr ungehalten darüber, daß Johannes das Richtige getroffen hatte. Er sehnte sich wirklich längst danach, die Sitzung aufzuheben. Er glaubte sich meisterlich beherrscht zu haben, aber der unleidliche Mensch hatte ihn wieder einmal durchschaut – auch jetzt noch, gerade wie früher.

Was fesselte ihn nur an diesen Menschen, der ihm nie Freude bereitete? Weshalb empfand er eine gewisse Genugthuung darüber, gerade diesem, auf dessen Dankbarkeit er niemals rechnen durfte, nützlich zu sein?

»Also ich schreibe Dir heute noch,« sagte er, indem er Johannes die Hand reichte.

»Gut. Aber vergiß im Geplauder nicht, daß Du Deinen Onkel aufsuchst – den Onkel! und eigentlich blos meinetwegen!«

Richard hatte sich schon gewandt und antwortete nicht mehr.

Auf dem Wege gingen ihm die Worte Schlemms beständig durch den Kopf. Er hatte an das Dornröschen seit seinen Kinderjahren nicht mehr gedacht.

Johannes hatte mit seinen Gehässigkeiten oft Recht gehabt, aber diesmal sollte er Unrecht behalten, der boshafte Mensch! Richard war wüthend auf ihn.

In dieser Stimmung wollte er mit dem Onkel noch nicht sprechen. Er ging am Laboratorium vorüber und trat in das Wohnhaus ein.

*

Ada hatte gelesen. Sie legte das Buch bei Seite, erhob sich und streckte dem Eintretenden freundlich lächelnd die Hand entgegen. Es machte aus Richard den Eindruck, als ob sie auf ihn gewartet hätte, und es berührte ihn ganz wunderlich, als er auf ihrer Brust eine Rosenknospe erblickte.

Er dachte dabei an Dornröschen.

Ada schmückte sich gewöhnlich nicht mit Blumen, und sie schlug nun, als sie bemerkte, wie sich Richards Blick auf die Knospe richtete, in einiger Befangenheit die Augen nieder.

»Darf man fragen,« nahm sie das Wort, während sie sich wieder setzte und Richard zum Sitzen einlud, »was Du mit dem heutigen Tage angefangen hast?«

»Langweilige Pflichtbesuche!« antwortete Richard. »Und dann hatte ich eine Verabredung mit einem alten Freunde, oder vielmehr mit einem alten Bekannten – mein Freund ist er nicht. Und er hat es, wie gewöhnlich, fertig gebracht, mich gründlich zu verstimmen.«

»Wieso?«

»Es ist schon wieder verflogen,« entgegnete Richard, ohne die Frage zu beantworten. Und er fügte hinzu: »Wo steckt denn der Onkel?«

»Das kann ich Dir nicht sagen. Um diese Zeit ist er nie zu Hause.«

»Wann trifft man ihn denn am sichersten?«

»Auch darauf kann ich Dir keinen Bescheid geben,« erwiderte Ada, etwas verlegen lächelnd. »Alexander ist durch seinen Beruf sehr in Anspruch genommen.«

»Das kann ich mir schon denken. Aber was machst Du denn in der Zeit?«

»Was ich mache?« wiederholte Ada verwundert. »Nun, ich bleibe eben hier. Ich thue dies und das in der Wirthschaft. Ich lese, ich schreibe. Ich thue, was man eben thut.«

»Und dazu kommt noch der gesellschaftliche Verkehr, der Euch gewiß viel Zeit wegnimmt?«

»Ach nein,« versetzte Ada. »Wir gehen fast nie aus. Und in der großen Stadt hat man so wenig Gelegenheit, nähere Bekanntschaften anzuknüpfen.«

»Aber das muß mit den Jahren doch ein bischen … ein bischen einförmig werden. Verzeih, wenn ich so offen spreche. Aber da ich nun doch eine Weile hier bleibe und Dich hoffentlich recht oft sehen werde, ist es wohl keine Indiscretion, wenn ich Dich um Dinge frage, die ich ja ohnedies erfahren muß. Da frage ich einfach, es orientirt mich schneller. Du nimmst es mir doch nicht übel?«

»Aber durchaus nicht,« erwiderte Ada.

Sie bemühte sich, höflich zu lächeln, aber es gelang ihr schlecht. Im Ausdruck ihres Gesichts und im Tone ihrer Stimme lag etwas Ernstes. Sie hatte sich während der arglosen Frage Richards keineswegs behaglich gefühlt. Sie vergegenwärtigte sich auf einmal das, was die Gewohnheit ihren Gedanken seit Langem entfremdet hatte. Sie machte sich wiederum klar, daß ihr Mann rücksichtslos gegen sie verfuhr, daß er sich eigentlich nur vom Egoismus seines Berufs und seiner Arbeiten bestimmen ließ. Während sie sich gestern Vorwürfe darüber gemacht hatte, daß sie ihren Mann vielleicht nicht richtig zu nehmen verstehe, klagte sie jetzt nur ihn an. Er behandelte sie schlecht. Daß sie auf die einfachsten Fragen keine Antwort geben konnte, es war ausschließlich seine Schuld. Richard hatte Recht, wenn er sich darüber wunderte, daß sie wie eine lebendige Begrabene ihr Leben in diesen öden Räumen verseufze. Und sie hatte das Alles ertragen, ohne Klage, ja ohne Schmerz. War sie denn so gefühllos, war sie so thöricht? Was mußte Richard von ihr denken! Sie wußte ganz genau, daß Richard schon mehr errathen hatte, als er andeutete, und sie schämte sich darüber, durchschaut zu sein.

Nach einer kleinen Pause fügte sie, sich noch immer zum Lächeln zwingend, hinzu:

»Du mußt es Dir übrigens nicht schlimmer vorstellen, als es in Wahrheit ist. Ich bin bis zu meiner Verheirathung aus dem engen Kreise der Meinigen nie herausgetreten, und ich habe auch nach meiner Verheirathung wenig Lust dazu verspürt, sonst würde mir Alexander sicher das Opfer mit Freuden gebracht haben. Aber was soll ich in der Welt, wie sich die Gesellschaft überhebend nennt? Im eigenen Hause giebt's ja genug zu schaffen! Ich langweile mich nie. Und gerade weil ich gewöhnlich ein so ruhiges Leben führe, fühle ich Alles, was diese Ruhe angenehm unterbricht, doppelt stark. Von einem Abend wie dem gestrigen, der an einer Gesellschaftsdame vom üblichen Schlage ziemlich eindruckslos vorüberrauschen würde, zehre ich noch lange, lange Zeit.«

Während dieser letzten Worte war ihr Lächeln natürlich geworden, und es schien sie frisch zu beleben und zu verjüngen. Sie blickte in freudigem Sinnen vor sich hin.

»Es wird nur von Dir abhängen, daß diese Abende sich wiederholen, von Dir und Deinem Manne,« erwiderte Richard.

»Hauptsächlich von Dir und ein wenig von mir. Auf Alexanders Beistand werden wir, wie ich fürchte, wenig zu rechnen haben. Er wird nur selten der Dritte im Bunde sein können. Ich sagte Dir ja schon, daß seine Zeit durch seine Arbeiten sehr stark in Anspruch genommen ist.«

»Nun, dann werden wir uns also auf eigene Faust die Zeit vertreiben müssen – wenn es ihm recht ist.«

Er sprach die letzten Worte in einem andern Tone. Ada blickte auf.

»Weshalb sollte es ihm nicht recht sein?« fragte sie langsam.

Wäre Richard ganz ehrlich gewesen, so hätte er geantwortet: Man hat mir gesagt, er sei eifersüchtig. Aber er war tactvoll genug, eine unverfängliche Erklärung abzugeben.

»Nun,« sagte er, »es könnte ihm am Ende unangenehm sein, wenn sein Neffe der in Euere friedliche Mitte hineinplatzt, die Hausordnung umwirft, seiner Frau die Ohren vollschwatzt, sie zum Ausgehen, zum Theaterbesuch verleitet und ähnliche Gräuel anrichtet.«

»Im Gegentheil! Es wird Alexander nur angenehm sein. Er gönnt mir ja alle möglichen Vergnügungen, und es thut ihm oft recht leid, daß ihn seine Pflicht daran verhindert, mir mehr Zeit widmen zu können … Uebrigens, wir können ihn ja auch fragen! Aber nein,« setzte sie nach kurzer Ueberlegung hinzu, »fragen wir ihn lieber nicht! Wozu das Selbstverständliche fraglich machen?« Und den Ton wechselnd sagte sie: »Hast Du heut etwas Besonderes vor?«

»Nicht das Geringste.«

»Wie wär's, wenn wir einen kleinen Spaziergang machten? Wir haben noch anderthalb Stunden Zeit bis zu Tisch.«

»Du machst mir die größte Freude. Das Wetter ist prachtvoll.«

»Das ist reizend!« rief Ada vergnügt, indem sie sich erhob. »Also entschuldige mich für einen Augenblick. Ich lasse Dich nicht lange warten.«

Adas Vorschlag zu einem gemeinsamen Spaziergang war keine plötzliche Eingebung gewesen. Sie hatte vielmehr darauf gerechnet, daß Richard im Laufe des Nachmittags sie besuchen werde, und sich vorgenommen, mit ihm auszugehen. Sie hatte ihren Hut und ihre Tuchjacke schon bereit gelegt. Nach zwei Minuten kehrte sie in das Wohnzimmer zurück.

»Ich bin bereit. Also komm.«

Als die Beiden über den Vorhof schritten, fragte Richard, auf das niedrige Gebäude weisend:

»Ist der Onkel vielleicht drüben?«

»Wohl möglich. Ich weiß es nicht,« antwortete Ada, während sie den Kopf nach der andern Seite hin wandte. »Wenn Du nachsehen willst, warte ich.«

»Ich sehe ihn ja bei Tisch.«

»Wahrscheinlich.«

Ada empfand, als sie an Richards Seite in der Richtung auf den Thiergarten zu durch die belebten Straßen ging, eine gewisse frohe Unsicherheit, ein ähnliches Gefühl, wie es die Reconvalescenten beherrscht, wenn sie nach monatelanger Zimmerhaft ihren ersten Ausgang machen. Das Tageslicht erschien ihr ungewöhnlich hell, es blendete sie fast, und die Menschen, denen sie begegneten, nahmen sich in dieser Beleuchtung ganz wunderlich aus. Mit ihrer Befangenheit verschwisterte sich ein seltsames Wohlgefühl. Sie machte sich klar, daß sie sich das Vergnügen, die Straßen, die Bäume, die Menschen am Tage zu sehen, eigentlich nie gegönnt hatte. Sie war gewöhnlich nur ausgegangen, um Besorgungen zu machen, mit einem bestimmten Ziel im Auge, auf das sie gerade losgesteuert war, ohne sich besonders umzuschauen. Sonst hatte sie zu ihren täglichen Spaziergängen nur den kleinen Garten hinter dem Hause benutzt, für dessen Instandhaltung kaum das Nothdürftige geschah, und der, von den hohen Brandmauern der anliegenden Gebäude eingeschlossen, eher an den Isolirhof eines Gefängnisses, als an eine Stätte zum Lustwandeln im Freien gemahnte.

Daß sie sich jetzt hier auf der Straße bewegte, ohne einen andern Zweck, als sich ein wenig Bewegung zu machen und sich umzusehen, daß sie einen Begleiter hatte, mit dem sie sich gemüthlich unterhalten konnte, das war ihr etwas ganz Ungewohntes, und das Ungewohnte hatte einen besonderen Reiz für sie. Sie selbst war, da sie nun aus ihrer gewöhnlichen Umgebung herausgetreten, merklich verändert. Sie sprach frischer und lauter. Es war, als ob die verstopften Poren ihres Seelenlebens sich geöffnet hätten, als athme ihre Seele freier und voller.

*

Im Thiergarten war es um diese Stunde sehr belebt. Der sonnige Herbsttag hatte Alle, die nicht durch ihren Beruf in das dunkle Haus gesperrt waren, in's Freie gelockt. Der volle Blätterschmuck der Bäume hatte schon die herbstliche Färbung angenommen. Hier erschien er dunkler, dort in röthlichen und gelben Schattirungen heller; aber er war noch nahezu unversehrt. Das Sonnenlicht hatte die merkwürdige tiefgoldige Farbe, die fast die des Kupfers streift, und das Licht täuschte über die städtische Blässe der Gesichter hinweg. Ammen in modisch zurechtgestutzten und phantastischen Bauerntrachten schoben in Wägelchen vor sich oder trugen auf den Armen kleine Kinder, die albern und rührend in die Welt starrten. Größere Kinder tollten umher, während die Mädchen auf den Bänken saßen und schwatzten und die Bonnen einen abgegriffenen Leihbibliothekroman lasen. Die Wirthschaften vor den Zelten waren dicht besetzt, und auf der Siegesallee und den anliegenden Promenaden bewegten sich langsam, ritten und fuhren die begünstigten Bewohner des westlichen Viertels, die sich zum Mittagessen, das bei ihnen Diner heißt, Appetit holen wollten.

Ada war sehr aufgeräumt. Sie tauschte mit Richard Bemerkungen über die Leute, die an ihnen vorüberkamen, und es bereitete ihr ein harmloses Vergnügen, wahrzunehmen, daß auch sie von den Vorübergehenden bemerkt wurde. Namentlich die jüngeren Damen, die nicht mehr die ganz jungen sind, musterten die hohe schlanke Gestalt mit dem edelgeschnittenen interessanten Kopfe sehr aufmerksam. Sie schienen sich darüber zu wundern, daß sie diese Dame nicht kannten, denn sie gehörte doch offenbar zu ihnen. Auch Richard war dieser stumme Verkehr der Gleichgearteten nicht entgangen, und er empfand einen frohen Stolz auf seine Begleiterin.

Während die Beiden in eine der weniger belebten Seitenalleen einbogen, nahm ihre Unterhaltung einen vertraulicheren Charakter an. Ada stellte jetzt unbefangen an ihren jugendlichen Freund Fragen, zu denen sie gestern, ja, noch vor einer Stunde, niemals den Muth gefunden haben würde. Sie berief sich lächelnd auf ihr Recht als Respectsperson, als Tante, und es kam ihr scherzhaft und reizvoll vor, daß sie mit dem jungen Manne wie eine mütterliche Freundin sprechen durfte.

Richard war eine offene, mittheilsame Natur und vollkommen unverdorben. Die frische Naivetät, die er sich bewahrt hatte, machte es Ada bequem und behaglich. Sie wußte, ohne sich besonders Rechenschaft davon abzulegen, daß keines ihrer Worte und keine ihrer Handlungen mißdeutet werden könne, und zwischen den Vertrauensvollen vollzog sich merkwürdig schnell eine vertrauliche Annäherung. Sie schwatzten zusammen wie alte Freunde, die seit langen Jahren miteinander in beständigem Verkehr waren.

Mitten im gemüthlichen Geplauder stockte Richard plötzlich, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich.

Wenige Schritte vor sich sah er einen breitschulterigen Herrn, der ihnen entgegenkam, und der auch sie gesehen hatte. Dieser verzog das Gesicht zu einem nicht angenehmen Lächeln. Als er an ihnen vorüberging, zog er linkisch den Hut. Die Beiden dankten.

»Wer ist der Herr?« fragte Ada unbefangen.

»Ein alter Bekannter, derselbe, von dem ich schon gesprochen habe, Dr. Johannes Schlemm. Daß ich auch gerade dem einzigen Menschen, den ich in Berlin näher kenne, hier begegnen muß!«

»Du sagst das, als ob Dir die Begegnung nicht angenehm wäre.«

»Schlemm hat eine böse Zunge und ein böses Urtheil,« gab Richard zur Antwort.

Ada warf einen verwunderten Blick auf ihren Freund und sagte plötzlich, sehr ernst geworden: »Nun, das kann uns doch gleichgültig sein.«

»Allerdings,« bemerkte Richard in einiger Verlegenheit.

Ada schloß die Lippen und blickte, während sie langsam weitergingen, unverwandt vor sich. Sie dachte über die Worte Richards nach.

Sie lenkten wieder in eine der sehr belebten Hauptalleen ein, und der Anblick des fröhlichen Lebens zerstreute bald den flüchtigen Schatten, der über ihre harmlose Stimmung gehuscht war. Sie plauderten wieder und lachten wie vorher.

Sie hatten sich so gut unterhalten, daß sie darüber die zur Mahlzeit gewöhnlich angesetzte Zeit versäumt hatten.

Es war beinahe halb fünf, als sie zu Hause ankamen. Schon seit einer halben Stunde wartete das Essen auf sie und ebenso lange der Professor, der mit Rücksicht auf seinen Neffen ausnahmsweise einmal pünktlich gewesen war. Es kam ihm komisch vor, daß er nun einmal auf seine Frau warten mußte. Das war ihm seit seiner Verheirathung nicht begegnet.

Als Ada, deren Wangen durch die frische Luft, die Bewegung und die angenehme Stimmung rosig angehaucht waren, von Richard begleitet in's Zimmer trat, freute sich Osterode aufrichtig. Er klatschte kräftig in Richards Hand ein und rief vergnügt aus:

»Das ist gescheidt, mein Junge, daß Ihr den schönen Tag benutzt habt! Ihr solltet regelmäßig zusammen spazieren gehen, das würde Euch Beiden gut thun! Ada macht sich so wie so zu wenig Bewegung. Wahrhaftig, Du siehst ganz erfrischt aus!« setzte er lächelnd hinzu. Ihm war zu Muthe, als ob ihm Richard eine lästige Verpflichtung abnehmen könne.

Und auch heute ging es bei Tisch lustig und gemüthlich zu. Ada glaubte manchmal, sie träume. Wie hatte sich in diesem öden Heim Alles gewandelt! Wie hatte Alles Licht, Leben und Farbe bekommen! Sie wagte die Wahrheit kaum zu glauben. Sie ängstigte sich vor dem Erwachen, vor dem Rückfall in das graue, öde Einerlei ihres früheren Lebens.

»Habt Ihr für heute Abend etwas verabredet?« fragte der Professor bei Tisch. Und als er keine Antwort erhielt, fuhr er launig fort: »Nun, ich habe für Euch gesorgt! Ihr werdet doch hier nicht den ganzen Abend Trübsal blasen wollen! Und ich hoffe, daß Du Dir die ersten Abende noch frei gehalten hast. Heute Abend giebt eine italienische Operngesellschaft, die recht gut sein soll, bei Kroll ihre erste Vorstellung. Ich habe Plätze holen lassen, und heute begleite ich Euch.«

Ada war starr über die Aufmerksamkeit ihres Mannes. Aber sie war ihm in diesem Augenblicke nicht eigentlich dankbar dafür. Gerade die Freundlichkeit, die er ihr jetzt erwies, ließ sie erkennen, wieviel Freundlichkeiten er bisher verabsäumt hatte. Vielleicht wäre sie auch lieber mit Richard allein zu den Italienern gegangen.

Nach Tisch trennte sich die Gesellschaft. Der Professor hatte noch eine Stunde zu arbeiten. Richard fuhr nach Hause, um Einiges zu erledigen und sich für das Theater umzukleiden, und Ada zog sich in ihr Zimmer zurück.

Sie war sehr glücklich; und mit zärtlicher Dankbarkeit gedachte sie Richards, der ihr die großen Freuden der letzten Stunden gebracht hatte, und der ihr gewiß noch viel Freude bringen werde. Sie wählte ihr schönstes Kleid für das Theater, aber es erschien ihr nicht schön genug, und sie gab ihrem Mädchen den Auftrag, morgen die Schneiderin kommen zu lassen.

Osterode war auch diesmal pünktlich. Die Ouvertüre hatte noch nicht begonnen, als er und Ada neben Richard, der schon einige Minuten früher gekommen war, in einer der vorderen Parquetreihen sich niederließen.

Die Gesellschaft der italienischen Sänger, als deren hellster Stern eine berühmte Primadonna strahlte hatte großen Erfolg. Nach dem ersten Fallen des Vorhanges erdröhnte der große Saal von jubelndem Beifall. Ada und Richard theilten das allgemeine Entzücken. Aber diesmal wurde ihre harmonische Stimmung, die ihren gestrigen Theaterabend verschönt hatte, durch Osterode grausam gestört.

»Haltet mich für einen Barbaren,« sagte er während des Zwischenactes, »aber mich langweilt dieser Singsang gräßlich! Ich bin absolut nicht musikalisch. Manches klingt mir ja ganz hübsch, aber die ganze Sache kommt mir unerträglich albern vor. Und wenn ich denke, daß man hier seine schöne Zeit verliert … Würdet Ihr es mir Übelnehmen, wenn ich Euch allein ließe? Ich will Euch das Vergnügen natürlich nicht verderben, aber gönnt mir auch das meinige! Ich gehe nach Hause und erwarte Euch dort. Ich habe noch sehr viel Gescheidteres und Interessanteres zu thun, als mir hier die Ohren vollschreien zu lassen … Ada, Du bist ja vernünftig. Auf Deine Nachsicht darf ich zählen. Und Du hast auch nichts dagegen, Richard? Nicht wahr, Ihr nehmt mir's nicht übel?«

»Aber ich bitte!« gab Ada zur Antwort, »Du weißt ja, daß mir nichts verhaßter ist, als Dir irgend einen Zwang aufzuerlegen.«

Osterode hörte ganz wohl aus dem etwas pikirten Tone Adas heraus, daß seine Frau einigermaßen verstimmt war. Aber es war ihm bequemer, sich taub zu stellen, und er verzichtete auf jede weitere Frage!

»Nun dann,« sagte er schnell, während er sich erhob, »amüsirt Euch gut! Wir sehen uns wohl noch beim Thee.«

Er reichte seiner Frau und seinem Neffen die Hand und entfernte sich.

Es war Ada allerdings nicht angenehm gewesen, daß Richard schon wieder einen neuen Beweis der Rücksichtslosigkeit ihres Mannes erhalten hatte. Aber sie freute sich andererseits doch darüber, daß sie sich nun ohne Besorgniß vor einer stimmungzerstörenden Aeußerung ihres Mannes mit Richard dem künstlerischen Genusse behaglich hingeben durfte, und auch Richard empfand etwas Aehnliches. Sie schwiegen eine Weile, nachdem Osterode verschwunden war. Dann nahm Richard das Wort und sagte kopfschüttelnd:

»Ein merkwürdiger Mann!«

»Er hat soviel zu thun,« erklärte Ada.

Es war Beiden ganz erwünscht, daß der Beginn des neuen Aufzugs die Unterhaltung abbrach. Sie fühlten sich jetzt im Austausch ihrer Eindrücke unbefangener und freier, sahen sich bei gewissen Stellen, die ihnen besonders gefielen, lächelnd und mit zustimmendem Kopfnicken an und klatschten zusammen in die Hände. In freudigster Stimmung verließen sie das Theater und legten den kurzen Weg vom Königsplatz bis zum Osterode'schen Hause zu Fuß zurück.

»Ich darf Dir wohl meinen Arm anbieten,« sagte Richard am Ausgange.

Ada legte schweigend ihren Arm in den seinigen. Es schien den Beiden etwas Bedeutungsvolleres zu sein, als die selbstverständliche Artigkeit.

Die Fenster des Laboratoriums waren hell beleuchtet.

»Er arbeitet,« sagte Richard.

»Das ist ihm das Liebste,« setzte Ada hinzu.

Richard wartete diesmal nicht mehr auf eine Einladung, hinaufzukommen.

*

Und nun saßen sie wieder beim Thee nebeneinander, gerade wie gestern Abend, aber in merkwürdig veränderter Stimmung.

Es war ihnen Beiden heute zu Muthe, als ob sie von der Unfreudigkeit der Umgebung bedrückt würden. Sie fühlten sich nicht wohl in diesem hohen Zimmer mit der wenig behaglichen Einrichtung. Sie vergegenwärtigten sich unwillkürlich, daß ein Dritter jeden Augenblick hinzukommen könne, und diese Erwägung lähmte ihre Unterhaltung.

Es traten auffällig lange Pausen ein, nicht Verlegenheitspausen. Die Beiden hingen ihren Gedanken nach, die sich in ganz demselben Kreise bewegten. Schwül und dumpf wie in dem alten Zimmer war es auch in ihrem Innern.

Gelegentlich fiel auch eine Aeußerung über Osterode. Ada vermied es jetzt, ohne es wohl selbst zu wissen, Osterode bei seinem Vornamen oder »ihren Mann« zu nennen. Sie sprach immer nur von »ihm«. Richard möge sich nicht darüber wundern, wenn »er« nicht zum Thee käme. Seine Arbeit ginge »ihm« über Alles.

»Ich muß Dir das wiederholen,« sagte sie, »denn sonst würdest Du mancherlei, das Du schon gesehen hast und noch sehen wirst, kaum begreifen. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Ich habe mich darein ergeben.«

Sie sprach diese Worte in einem Tone, der möglichst unbefangen klingen sollte. Aber es konnte Richard nicht entgehen, das doch eine geheime Klage darin zitterte. Er sah sie mit seinen offenen Augen groß an und schüttelte langsam den Kopf.

»Du siehst nicht so aus,« sagte er leise, »wie eine glückliche junge Frau aussehen sollte.«

Ada schloß die Lippen fest zusammen, und der Ausdruck ihres Gesichts blieb unbeweglich. Die Beiden schwiegen wieder eine lange Zeit, dann sagte Ada:

»Heute bei unserm Spaziergange sagtest Du mir, es sei Dir nicht angenehm, dem Herrn Dr. Soundso – ich weiß nicht, wie er heißt – begegnet zu sein, weil er eine böse Zunge habe. Was meintest Du eigentlich damit?«

»Das ist doch nicht schwer zu verstehen. Die Bosheit respectirt nichts. Du bist eine schöne junge Frau. Du bist sehr viel allein. Wenn man Dich in Gesellschaft eines jungen Mannes sieht, mit dem Du freundlich, ja herzlich verkehrst, wenn man das Nähere nicht weiß, nun, so kann eben die Bosheit, die nicht lange prüft, ein böses Gerede machen.«

»So habe ich es auch verstanden. Aber es hat mich doch gewundert, daß Dir so etwas in den Sinn kommen kann.«

»Dafür hat Dr. Schlemm selbst gesorgt. Er hat gar nicht darauf gewartet, daß er uns einmal zusammen sähe. Schon vorher, als ich heute Mittag mit ihm zusammentraf, hat er eine gehässige Bemerkung darüber gemacht, wie sich unser Verhältniß zueinander voraussichtlich gestalten würde, und diese häßliche Bemerkung hat mich verletzt.«

»So?« erwiderte Ada gedehnt. Und trübe lächelnd fuhr sie fort: »Ich kann mir schon vorstellen, daß die Leute mir leicht Unfreundliches nachsagen, wenn sie sich überhaupt um mich bekümmern. Aber mein Fehler ist's wahrhaftig nicht. Man hat mich eben fast nie mit ihm gesehen. Und wenn man mich nun öfter mit Dir sieht …«

Sie vollendete den Satz nicht.

»Es wäre sehr schade,« fügte sie langsam hinzu, »wenn wir durch das Gerede der Leute auseinandergesprengt werden sollten. Und wenn das überhaupt einmal sein müßte, dann wäre es wohl vernünftiger und besser, wir lösten uns freiwillig voneinander los – nicht der Leute wegen, unsertwegen, oder wenigstens meinetwegen … Denn ich glaube, später würde es mir noch schwerer werden.«

Richard hatte die Worte Adas kaum gefaßt. War es wirklich ihre Meinung, daß das, was ihm jetzt schon so theuer war, und was auch ihr nicht gleichgültig zu sein schien: das Zusammenleben und Zusammenfühlen, das die Beiden wie durch ein Wunder mit einander verbunden hatte, dem elenden Moloch des Klatsches geopfert werden sollte? Das konnte ihr Ernst nicht sein! Sein tieftrauriger Blick traf den ihrigen. Richard strich mit der Handfläche über die Stirn und fragte wie aus einem Traume erwacht:

»Seit wie lange kennen wir uns?«

»Seit einer Ewigkeit, meine ich.«

»Seit einer Ewigkeit!« wiederholte Richard bedächtig. »Und da könntest Du es ruhig über's Herz bringen, einen so alten Freund zu verabschieden, weil Du Dich vor dem Geschwätz fürchtest?«

»Auf mein Herz kommt es nicht an,« entgegnete Ada. »Und um das Geschwätz kümmere ich mich nicht. Es wird kaum jemals zu mir dringen. Wenn ich eine Egoistin wäre, hätte ich gar nicht so mit Dir gesprochen. Mich hat der Gedanke, daß Deine Gesellschaft mir eine liebe Gewohnheit werden solle, innig erfreut, und ich sage Dir ganz offen, Du würdest mir sehr fehlen. Aber man muß auch an Andere denken.«

Richard hatte Ada unverwandt angesehen. Und als sich nun ihre Blicke begegneten, sah' sie wieder in das dunkle Auge mit dem schwermüthigen Ausdruck, der sie rührte, ja ergriff.

Sie fühlte den Drang, ihm jetzt etwas Tröstliches, Versöhnliches zu sagen. Aber sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte. Sie wollte versuchen, sich in die Rolle der mütterlichen Freundin hineinzulügen, aber es gelang ihr nicht. Sie wollte von gleichgültigen Dingen reden, sie fand keinen Uebergang. Sie wollte scherzen, wie sie am Nachmittage im Thiergarten gescherzt hatte, aber der leichte Ton versagte ihr. Sie stand ganz unter dem Banne des traurigen Blicks, und die Beiden schwiegen lange.

Richard erhob sich mit einer plötzlichen Bewegung, als ob er sich zu einem Entschlusse aufgerafft habe.

»Es wird wohl am besten sein,« sagte er, »wenn ich jetzt gehe. Es ist auch schon spät genug.«

»Ich sehe Dich doch morgen?«

»Wenn Du erlaubst, und wenn ich Allen hier im Hause gelegen komme …«

Ada stellte sich, als ob sie die letzten Worte überhört hätte, und antwortete:

»Wie kannst Du nur fragen, ob ich's erlaube! Ich freue mich aufrichtig. Dich zu sehen. Komm nicht zu spät.«

Sie hatte sich erhoben. Richard hatte seinen Hut ergriffen, und die Beiden standen sich gegenüber. Sie hatten Beide die Empfindung, als wehe zwischen ihnen eine gewitterschwere Luft. Etwas seltsam Unheimliches! Er zögerte, ihr die Hand zu reichen. Und als sie ebenfalls zaudernd ihm die ihrige bot, empfanden sie bei der Berührung etwas wie ein fieberndes Fluidum.

Er führte die kalte kleine Hand hastig an seine heißen Lippen und küßte sie zärtlicher, als es Freundschaft oder verwandtschaftliche Zuneigung bewirkt. Ada senkte den Blick und erröthete.

»Lebe wohl!« sagte sie leise. »Ich erwarte Dich also morgen.«

Richard antwortete nichts mehr. Er bejahte mit einer stummen Neigung des Kopfes und verließ schnell das Zimmer.

Ada blieb wie angewurzelt stehen und starrte beständig zur Thür hinüber, die eben in's Schloß gefallen war. Sie hörte seine Schritte auf dem Corridor und auf der Treppe, sie hörte die Hausthür schließen, sie hörte ihn in der Stille der Nacht noch über den Vorhof gehen, dann verhallten seine Schritte … Sie hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt. Ihr Kopf hatte sich allmählich etwas gesenkt.

Tief aufseufzend hob sie ihn und trat mit langsam schleppenden Schritten wieder an den Tisch, an dem sie sich soeben noch gegenüber gesessen hatten. Müde und schwer ließ sie sich auf den Sessel fallen. Ihre beiden Arme ruhten auf den Lehnen, und ihre Hände hingen schlaff herab. Ihr Auge richtete sich auf ihre rechte Hand. Sie fühlte die Berührung seiner heißen Lippen, schloß halb die Lider und lächelte. Allmählich aber nahm ihr Gesicht einen strengen Ausdruck an, und es verfinsterte sich immer mehr.

Wenn Richard wirklich von ihr gehen müßte, wenn er nicht wiederkäme! Wenn sie wiederum vereinsamt sein sollte in dem trostlosen Grau von ehedem! Es wäre unerträglich! Er hatte ihr den Sonnenschein gebracht, den Sonnenschein in diesen trüben Raum durch seine Frische und Wärme. Er hatte ihr die Sonne gezeigt, wie sie am Himmel steht. Er hatte ihre Seele sonnig aufgehellt. Weshalb war er nur auf einmal so traurig geworden, der gute Junge? Weshalb nur?

In dieser selbstgestellten Frage war ein wenig Heuchelei. Sie wußte den wahren Grund nur allzu gut; aber es war ihr ein Bedürfniß, zu zweifeln.

Wie sollte es enden? Es wäre entsetzlich, wenn er sie liebte!

Entsetzlich! Und doch wie wundervoll!

Ja, es war in Wahrheit ein Wunder geschehen. Hatte sie ungeliebt bis an die Grenzen der Jugend vorrücken müssen, um nun auf einmal die Seligkeit zu empfinden, geliebt zu werden? Und was ihr eigenes Herz empfand – es war ihr etwas so Neues, so himmlisch Beglückendes. Ja, es war ein Wunder!

Du mein Gott! wo war der Ausweg aus all diesen Wirrnissen!

Es schwebte ihr etwas vor wie ein leuchtendes Ziel, dem sie zufliegen wollte. Aber es legte sich schwer auf die Fittige ihrer Seele. Es belastete sie etwas.

War es das mahnende Pflichtgefühl? Pflichten – gegen wen? Gegen den, der sie in strafbarer Weise vernachlässigt hatte? der lediglich sich selbst gelebt und es im Egoismus seines Berufs nicht einmal bemerkt hatte, wie sie langsam verkümmerte? Wenn sie einem Andern Pflichten schuldete, so hatten diese Pflichten doch ihre Begrenzung in der Pflicht gegen sich selbst, in der Pflicht der Selbsterhaltung.

Es war ihr ganz klar, daß sie nicht mehr so leben konnte wie ehedem. So nicht. Nicht mehr mit ihm allein, und nicht mehr ohne ihn, den Freund.

Ja, er war ihr Freund, er mußte es bleiben. Das Wort tröstete und beruhigte sie. Er durfte ja ihr Freund sein vor aller Welt!

Weshalb bangte sie nur? Sie ahnte wohl, daß sie sich mit dem Freunde selbst betrügen wollte.

In Wahrheit gedachte sie seiner mit unheimlich zärtlicher Regung ihrer Sinne, wenn es ihr auch nicht zu klarem Bewußtsein gekommen war. Sie sah ihn deutlich da auf jenem Sessel sitzen, auf dem er ihr gegenüber gesessen hatte, und sie sah seinen traurigen Blick. Sie schloß die Augen. Es überlief sie ein seltsamer Schauer. Sie fühlte den Druck einer weichen Hand, und es war nicht die Hand des Gatten, nicht jene Hand, die so fürchterliche Dinge anfaßte, nicht jene magere Hand mit den starken Adern, die sie nicht ohne geheimes Grauen betrachten konnte, und bei deren Berührung es sie eiskalt überrieselte. Es war eine weiche, edelgeformte männliche Hand. Und auf der ihrigen fühlte sie einen heißen Kuß. Sie scheute sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie wollte den geheimnißvollen Zauber weiter wirken lassen. Sie hatte Angst, aus dem schönen Traume erweckt zu werden, und ihre Lippen öffneten sich ein wenig …

Sie versank in einen wonnigen Halbschlummer. Sie war losgelöst von der Wirklichkeit. Und sie sah Richard vor sich in jener dem Traum eigenthümlichen hellgrauen Beleuchtung und in jener plastischen Deutlichkeit und Schärfe, wie sie auch nur der Traum den Gestalten verleiht. Sie sah ihn jetzt mit anderen Augen an und entdeckte an ihm Züge, die sie früher nicht bemerkt hatte, weder an ihm noch an einem Andern. Er hatte etwas so ungemein Herzliches und Zärtliches, und in seinem Auge lag etwas Hülfloses, das sie rührte. Dabei war er durchaus kein Schwächling. Seine ganze Erscheinung hatte die vollste Frische der Jugendlichkeit, und die schöne männliche Hand, auf die sie immer blicken mußte, gefiel ihr ganz besonders.

Und jetzt sprach er zu ihr, und seine Worte hatten einen merkwürdig rührenden Klang. Ja, die Stimme, das war's, was sie vor Allem an ihm liebte! Sie hörte ihm mit innerstem Behagen zu. Er wiederholte einige Sätze, die sie schon einmal von ihm gehört hatte, und er sprach sie genau in demselben Tonfall wie früher. So hatte noch Niemand ihren Namen ausgesprochen! Und wie anders klang das Wort aus seinem Munde, als aus dem – des Andern!

»Nun, willst Du Dich nicht zur Ruhe begeben?«

Ada wurde durch diese Worte, die »der Andere« beim Eintreten in das Wohnzimmer sprach, jählings aus ihrer Träumerei aufgeschreckt. Es war ein schrillender Mißlaut, der in die Harmonie ihrer Schwärmerei hineindröhnte. Ihr Herz pochte mächtig, und sie sprang auf.

»Wie kannst Du mich nur so erschrecken!« rief sie in sehr gereiztem Tone.

»Nun, nun!« entgegnete Osterode mit gutmüthigem Ausdruck. »Ich konnte doch nicht ahnen, daß Du hier eingenickt warst. Verzeih mir, mein Kind.«

Er war an sie herangetreten und wollte ihr die Wangen klopfen. Ada wandte sich ungehalten ab.

»Ach bitte, laß mich!« sagte sie.

»Aber wie sprichst Du denn zu mir?« versetzte der Professor in einigem Erstaunen.

»Mein Gott! ich spreche … ich spreche eben, wie man manchmal spricht. Du hast Deine Sachen, die Dir durch den Kopf gehen. Vielleicht habe ich die meinigen. Es ist doch zuviel verlangt, daß man immer nur so sein soll, wie es Euch paßt. Wir haben doch auch unsere Stimmungen!«

»Das merke ich. Und ich will nicht weiter stören. Schlaf aus, liebes Kind. Morgen wirst Du hoffentlich wieder vernünftig sein. Gute Nacht!«

Ada erwiderte den Wunsch nicht. Osterode begab sich in sein Schlafzimmer.

»Es ist wirklich nicht zum Aushalten!« sagte Ada, als sie allein war.

Sie gab die Weisung, die Lichter zu löschen, und zog sich ebenfalls auf ihr Schlafzimmer zurück.

Sie dachte nicht mehr an Richard, sie dachte nur an ihren Mann. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie sich zum ersten Mal seit zehn Jahren ihr eheliches Dasein in seiner Gesammtheit vergegenwärtigt. Sie hatte Bilanz gemacht, und das Facit ihrer Aufstellung fiel nicht sehr beruhigend für den Gatten aus. Sie machte ihm die schwersten Vorwürfe, und er erschien ihr als der allein Schuldige. Sie fühlte, daß sie in Gedanken schon gesündigt hatte, und auf ihn allein wälzte sie die Last der Verantwortlichkeit. Ihr weiblicher Stolz bäumte sich in ihr auf, und sie war entschlossen, die unwürdige Stellung, zu der sie durch den Egoismus ihres Mannes sich herabgedrückt fühlte, fürder nicht mehr zu dulden.

Der Morgen begann schon zu dämmern, als sich der Schlaf auf ihre Lider senkte.

*

Richard war, ohne sich umzuschauen und ohne einen bestimmten Gedanken zu fassen, in großer Erregung nach Hause gestürzt. In seinem Innern tobte es gewaltig. Und auch als er in seinem behaglichen stillen kleinen Zimmer allein war, konnte er die Ruhe nicht finden, und der Wirrwarr seiner Empfindungen lichtete sich nicht.

Er fühlte ein mächtiges Drängen und Verlangen nach irgend etwas, das er sich selbst nicht klar machte, das aber mit Ada zusammenhing.

Könnte er sie jetzt nur noch einmal sehen, nur noch einige Worte mit ihr tauschen! Sie würde es ihm gewiß sagen können.

Er sann einige Secunden ganz ernstlich über einen Vorwand nach, unter dem er nach dem Osterode'schen Hause zurückkehren und ihr jetzt gleich noch einmal begegnen könnte. Mit wehmüthigem Lächeln erkannte er aber sogleich das Thörichte, das Wahnsinnige, ja, das Unmögliche seines Vorhabens.

Mitternacht war längst vorüber.

Weshalb hatte er sich auch von einer augenblicklichen Stimmung beherrschen lassen, weshalb war er gegangen! Er hätte ja noch eine Stunde bleiben können – noch länger! Und nun war er hier allein und lief hastig in seinem Zimmer umher und quälte sich mit Unerfüllbarem!

Sie war so gütig, so herzlich zu ihm gewesen, und sie hatte ihm doch so weh gethan! Sie konnte ja nicht ahnen, was in ihm vorging! Und hätte sie es geahnt, so hätte sie nicht anders zu ihm sprechen dürfen, als sie gesprochen hatte! Sie durfte ihn ja nicht lieben, und sie liebte ihn auch nicht.

Und er? …

Ja denn, er wollte sie nicht belügen! Er liebte sie mit der vollsten Gluth seines Herzens! Er liebte sie wie ein Wahnsinniger! …

Erschöpft sank er auf einen Stuhl, stemmte den Ellbogen auf den Tisch und drückte mit der Hand die brennend heiße Stirn. Er starrte vor sich hin und athmete schwer.

Nach einer Weile dumpfen Brütens erhob er sich und holte von dem Nachttisch das kleine Bild, das er gestern so aufmerksam betrachtet hatte. Er sah es wieder lange an. Es genügte ihm diesmal nicht, daß er es mit der Hand halb bedeckte. Er nahm das Bild aus dem Rahmen heraus und schnitt es in der Mitte durch. Die eine Hälfte kniffte er einige Mal zusammen, und nicht ohne eine gewisse Anstrengung gelang es ihm, den steifen Carton zu zerstückeln. Die Stückchen warf er dann in den Papierkorb. Aus der andern schnitt er vorsichtig ein Oval heraus, wie für ein Medaillon: Adas Kopf. Er nahm das kleine Bildchen zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt es dicht unter die Lampe und musterte es sehr lange. Er fand es heute viel ähnlicher als gestern. Er küßte es mehrere Mal, dann barg er es in seine Brieftasche.

In dem Augenblick, da er sich zur Ruhe begeben wollte, schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Es war eigentlich nichts sehr Angenehmes, aber er mußte doch lächeln, und es war ihm, ohne daß er sich Rechenschaft davon ablegte, ganz erwünscht, daß er von dem Kreise, in dem sich seine Gedanken und Gefühle bewegt hatten, auf einen Augenblick abgedrängt wurde.

Dr. Schlemm hatte Recht behalten! Richard hatte ihn richtig vergessen! Er fühlte sich einigermaßen beschämt. Und doch machte es ihm einen gewissen Spaß, daß er es hatte vergessen können. Aber Johannes wartete morgen früh auf eine Mittheilung. Die Wahrheit durfte er natürlich nicht erfahren. Richard schrieb ihm einige ausweichende Zeilen: er habe seinen Onkel überaus beschäftigt und in einer Stimmung gefunden, die es ihm rathsamer habe erscheinen lassen, die Sache nur anzuregen, aber noch nicht ernstlich zu besprechen; er werde erst morgen die Angelegenheit wirklich in Angriff nehmen können, und er hoffe seinem alten Bekannten ein günstiges Resultat melden zu können.

Richard überlas die Zeilen noch einmal. Er war mit der Fassung des Briefes zufrieden. Er schloß ihn, entkleidete sich, legte sich nieder und verfiel sogleich in festen traumlosen Schlaf. –

All' die wirren Gedanken und widersprechenden Gefühle, die Richards Herz und Kopf durchtobten, hatten sich zu dem guten Vorsatze gefestigt, sich mit Ada offen und ehrlich auszusprechen. Er hoffte, daß er dadurch den Sturm in seinem Innern am sichersten beschwichtigen werde. Er wollte ihr sagen, daß er eine verhängnißvolle Leidenschaft in sich keimen fühle, und daß es seine Pflicht sei, dieselbe um jeden Preis zu ersticken. Sie werde ihn also nicht mißverstehen, wenn er es vermeide, mit ihr allein zu sein.

Er war überzeugt, daß er allein ein ernstes Opfer zu bringen habe. Denn wenn sie ihm auch freundlich zugethan erschien, so dachte er doch keinen Augenblick auch nur an die Möglichkeit, daß sie ihn liebe. Von den Beschäftigungen, die ihm sein Beruf auferlegte, und die er sehr ernst nahm, erhoffte er eine nothwendige Ablenkung von dem Wege, auf den er wie durch eine höhere Macht gedrängt und auf dem er sinnlos vorgestürmt war. Die Zerstreuungen der Großstadt würden dann noch ein Uebriges thun. Und wenn Alles das nicht verfange, so werde er durch einen hohen Gönner, den er im Justizministerium besaß, seine Versetzung nach einem andern Gerichte schon erwirken können.

So machte er sich denn, mit guten Vorsätzen gewappnet, am andern Morgen leichteren Sinnes auf den Weg nach dem Osterode'schen Hause. Und heute klopfte er zuerst an die Thür des kleinen Seitengebäudes. Er traf den Onkel, der gerade im Begriff stand, sich nach der Anstalt für Nervenleidende zu begeben, wo er jetzt seine Sprechstunde abzuhalten hatte. Richard trug ihm die Bitte seines Bekannten vor. Er schilderte Dr. Schlemm, so wahrheitsgetreu es ihm möglich war, als einen tüchtigen, ernsten Arbeiter und begabten Kopf, aber allerdings auch als einen eben nicht allzu liebenswürdigen Menschen von nicht gewinnendem Aeußern. Dem Professor schien der Vorschlag ganz gelegen zu sein. Unter den jungen Leuten, die sich um die Stelle beworben, hatte ihm keiner recht gefallen. Er bat Richard, Dr. Schlemm zu benachrichtigen, daß dieser sich am folgenden Tage um dieselbe Zeit im Sprechzimmer der Anstalt einfinden möge.

Während dieser Unterhaltung waren die Beiden auf den Vorhof getreten, und plaudernd gingen sie langsamen Schritts nebeneinander her.

Ada saß am Fenster und ließ keinen Blick von ihnen. Sie war beunruhigt, als sie bemerkte, wie die Beiden zusammen dem Ausgang sich näherten.

»Wäre es Dir recht, wenn ich Dich begleitete?« fragte Richard. »Du könntest mir Deine Anstalt einmal zeigen.«

»Das kann sich gelegentlich machen. Aber willst Du nicht Ada Guten Morgen sagen?«

»Ich sehe Euch ja bei Tisch.«

»Mir wäre es aber lieber, wenn Du sie vorher sprächest und ihr den Kopf ein wenig zurechtsetztest. Versteh mich recht, Du sollst ihr nicht etwa Vorlesungen halten. Aber ich denke mir, daß es sie aufheitern wird, wenn Du eine Stunde mit ihr plauderst und vielleicht mit ihr einen kleinen Spaziergang machst. Sie gefällt mir heute gar nicht. Schon gestern Abend war sie gereizt und heute früh merkwürdig nervös. Weiberlaunen natürlich! Nichts weiter! Spring hinauf, es wird ihr Freude machen, und mir ist es auch angenehm.«

»Also gut. Ich werde mein Mögliches thun, um ihr die Grillen zu vertreiben.«

»Weißt Du,« fuhr der Professor fort, »am vernünftigsten wäre es, wenn Du sie veranlassen könntest, mit Dir eine Partie zu machen. Fahrt nach dem Grunewald, den Pichelsbergen, nach Erkner, wohin Ihr wollt! Du kennst die Umgebung von Berlin noch nicht. Sie ist schöner, als Du meinst. Fahrt nach Tegel! Da ist es sehr hübsch. Da findet Ihr auch ein gutes Gasthaus. Ihr werdet Euch vortrefflich unterhalten, Ihr werdet vergnügt und frisch heimkehren. Kümmert Euch nicht um die Stunde. Ich werde heute ohnehin nicht pünktlich sein können. Ich habe um vier Uhr eine Consultation. Bestellt das Essen ab und tafelt, wo Ihr Lust habt. Nun, was sagst Du zu meinem Vorschlage?«

»Er erscheint mir sehr verlockend. Wenn ich Ada dazu bewegen kann …«

»Rede ihr nur gut zu. Und wenn wir uns heut nicht wiedersehen, dann also morgen. Benachrichtige Dr. Schlemm, daß ich ihn morgen zwischen elf und zwölf erwarte. Für alle Fälle werde ich Euch einen Wagen schicken, ich komme bei einem Fuhrgeschäft vorüber. Hoffentlich werdet Ihr ihn benutzen. Fang es schlau an und rede ihr nur gut zu. Adieu, mein Junge!«

Der Professor entfernte sich.

Ada, die alle Vorgänge aufmerksam beobachtet, hatte aufgeathmet, als die Beiden an der kleinen Thür der Vorhofsmauer plaudernd stehen geblieben waren. Ihr Herz klopfte, als diese hinter dem Professor ins Schloß fiel und Richard sich dem Wohnhause zuwandte. Sie trat schnell vom Fenster zurück.

Sie begrüßten sich unbefangen. Nach dem Austausch der üblichen Fragen und Antworten über das Befinden sagte Richard:

»Ich habe Dir einen Auftrag zu überbringen. Ich sollte es recht diplomatisch anfangen. Aber ich denke, es macht sich am einfachsten, wenn ich es Dir rundweg sage. Der Onkel kann heut nicht zu Tisch kommen. Er sagte mir, Du seiest ein wenig verstimmt, und er meint, es würde uns Beiden gut thun, wenn wir den schönen Tag zu einem Ausfluge in die Umgebung benutzen. Dich würde es auffrischen, und ich würde etwas Neues und Schönes zu sehen bekommen. Was meinst Du dazu?«

»Wenn Du nichts zu versäumen hast, mir macht es die größte Freude.«

»Nun, dann mach Dich zurecht. Ich habe Dir sehr Vieles zu sagen, sehr Ernstes, und es ist mir lieber, wenn ich's Dir unter Gottes freiem Himmel sagen kann als hier.«

»Doch nichts Unangenehmes?« fragte Ada besorgt.

»Nichts Unangenehmes für Dich,« antwortete Richard. »Der Onkel läßt Dich noch bitten, das Essen abzubestellen. Wir brauchten uns nicht an die Stunde zu binden und könnten unterwegs zusammen speisen.«

»Das ist ja reizend!« rief Ada in kindischer Freude.

Wieder eine Abwechslung in ihrem sonst so einförmigen, fest geregelten Dasein! Sie vermochte es kaum zu fassen. Was konnte der folgende Tag noch bringen!

»Und wohin soll es gehen?« fragte sie.

»Der Onkel sprach von Tegel. Er schickt uns einen Wagen.«

Ada kam vor Ueberraschung gar nicht zu sich. Alexander wurde auf einmal galant! Er schickte den Wagen.

*

Eine halbe Stunde später rollten die Beiden in einer bequemen aufgeschlagenen Kalesche durch die endlose Müllerstraße und deren Fortsetzung, die Chaussee, dem Tegeler See zu.

An dem leuchtenden, hellgraublauen Himmel zogen schneeige weiße Wolken langsam daher. Die Luft war frisch, und der Staub belästigte heute wenig. Es war ein Tag, wie geschaffen, um die Eigenthümlichkeit der märkischen Landschaft in ihrem ganzen wundersamen Reize auszubreiten. Der Weg durch die Ausläufer der Stadt ließ von diesen Reizen freilich recht wenig erkennen. Aber je mehr sie sich von der Stadt entfernten, desto schöner wurde es.

Mit verwunderten Augen blickten sie um sich, auf die gelben Sandberge zur Rechten, die in ihrer hellen und doch gedämpften Beleuchtung sich von dem mattblauen Himmel scharf abhoben, auf die tiefgrünen, fast schwarzen Kiefern zu ihrer Rechten, mit den röthlichen, schlanken, stangenartigen Stämmen, die aus dem gelben sandigen Boden majestätisch aufschossen, dicht aneinander geschaart, doch nicht so dicht, daß sie nicht dem durchbrechenden Sonnenlichte Raum zu seinen muthwilligen Schattenspielen gegönnt hätten.

Der Forst wurde kräftiger und imposanter, der dichtbestandene Boden immer hügliger. Und als auf einmal bei einer Wendung des Weges, ohne daß die Beiden, die der Gegend vollkommen unkundig waren, im mindesten darauf vorbereitet gewesen wären, die weite, bläulichgrüne, spiegelglatte Wasserfläche des großen Tegeler Sees vor ihnen lag, in seiner herrlichen Umrahmung von sanft aufsteigenden gelblichen Ufern und dunklem Nadelholz, unter dem hellschimmernden Himmel – ein landschaftliches Bild von ergreifender Schönheit, von einer wundersamen schwermüthigen Poesie –, da verstummten sie, blickten mit weitgeöffneten Augen um sich und sahen sich dann einander an.

Der Kutscher hielt vor einem bescheidenen Gasthofe in der Nähe des Sees. Der freundliche Wirth, dem sie die Mahlzeit bestellten, versprach sein Mögliches zu thun, um die Herrschaften zufrieden zu stellen; in einer Stunde sollte das Essen bereit sein. Bis dahin wollten sie planlos am See und in der Haide sich ergehen.

Schweigsam schritten sie nebeneinander her. Richard hatte sich Alles, was er Ada sagen wollte, reiflich überlegt. Er wußte, daß ihm schmerzliche Stunden bevorstanden. Aber das Unabänderliche hatte seinen moralischen Muth befestigt. Er war fest entschlossen, seine Pflicht zu thun. Und er durfte sich dabei auf Adas Beistand unbedingt verlassen. Sie liebte ihn ja nicht. Ihr war es ja ein Leichtes, sich die Ruhe und Klarheit zu bewahren.

Und während er jetzt neben ihr am bewaldeten Ufer des Sees daherschlenderte, mit vorgebeugtem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet, auf dem die Schatten und Lichter ihr neckisches Spiel trieben, ab und zu den Sand aufstöbernd oder einen Stein mit der Fußspitze fortschleudernd, vergegenwärtigte er sich noch einmal Alles das, was in den wenigen Stunden seines Berliner Aufenthaltes zwischen Ada und ihm vorgefallen war. An Thatsachen und an äußeren Vorgängen war es nicht viel. Und doch hatte es eine vollständige Umwälzung in seinem Innern herbeigeführt. Er konnte sich mit sich selbst nicht zurechtfinden, er war sich selbst entfremdet. Ada hatte ihm nur Freundlichkeiten und Wohlwollen gezeigt, ja, eine gewisse Zärtlichkeit; sie brauchte sich ja keinen Zwang aufzuerlegen, er war ja ein Anverwandter. Es beleidigte ihn fast, daß sie im Vollgefühle ihrer Sicherheit sich so vertraulich ihm gegenüber gezeigt hatte. Die Ruhe und Gemächlichkeit ihres Wesens kränkten ihn. Er hatte unzweifelhaft Unrecht. Was war er ihr? was konnte er ihr sein? Sie hatte bis zur Stunde ihr Leben ohne ihn verbracht. Jetzt war er hineingeschneit. Die Abwechslung mochte sie belustigen. Wenn er wieder daraus verschwand, nun, so werde sie sich eben zu trösten wissen! Und verschwände er auf Nimmerwiedersehen …

»Und wenn ich wirklich stürbe!«

Unwillkürlich hatte Richard diesen letzten Satz seiner bis dahin wortlosen Grübeleien mit halblauter Stimme gesprochen.

Ada blickte erschrocken auf und hemmte den Schritt. Sie sah ihn von der Seite fragend an und sagte leise:

»Um Gottes willen! was sagst Du da?«

»Nun ja!« rief Richard aus, und in seinem Tone erzitterte die Erregung, die er bis dahin gemeistert hatte. »Wenn ich wirklich stürbe, was würdest Du thun? O gewiß. Du würdest mir ein paar aufrichtige Thränen nachweinen! Es würde Dir leid thun, daß ein junger Mensch, ein Verwandter von Dir, den Du so gern gehabt hast, aus dem Leben geschieden ist! Du würdest einen schönen Kranz auf seinen Sarg legen und in der ersten Zeit mit schmerzlicher Wehmuth seiner gedenken!«

»Um Gottes willen!« wiederholte Ada ganz leise. Und sie stellte nun auch an sich die Frage: Was würde ich thun?

Sie waren stehen geblieben.

»Sieh, Ada,« sprach Richard, dessen Geist sich mit der Sprunghaftigkeit der Jugend längst von dem unheimlichen Gedanken an den Tod abgewandt hatte, während Ada noch immer darüber nachsann und seine Worte kaum verstand, »ich habe mir Alles reiflich überlegt und habe Dir schon gesagt, daß ich mit Dir sprechen muß. Es muß etwas geschehen! Und bald! Sonst ist es zu spät! Ich wittere etwas von einem Unglück. Höre mich ruhig an. Lege meine Worte nicht auf die Wagschaale. Und wenn ich etwas sage, das Dich kränkt, das Dir weh thut, verzeih mir! Ich will Dir nicht weh thun. Wahrhaftig nicht! Unser Zusammenleben so, wie es sich vom ersten Augenblick herausgebildet, kann nicht dauern. Ich fühle, daß ich dabei zu Grunde gehe. Du fühlst Dich ganz sicher und ahnst nicht, was Du mir anthust. Was für Dich eine freundliche Zerstreuung einer langweiligen Stunde ist, ist für mich eine marternde Qual. Du darfst mich anlächeln und Deine freundliche Gesinnung für mich ehrlich zur Schau tragen. Ich muß Dir gegenüber Komödie spielen. Ich darf Dir nicht einmal andeuten, was Du mir bist. Und so nagt es an mir und schmerzt mich und macht mich elend.«

Richard hatte darauf gerechnet, daß Ada in ihrer überlegenen Ruhe ihm einige banale tröstende Worte sagen, ihn wegen seiner kindlichen Ueberspanntheit mit der Milde und zärtlichen Nachsicht einer mütterlichen Freundin zurechtweisen würde. Er war ganz bestürzt, als Ada, deren Stirn sich in Falten gelegt hatte, und auf deren Wangen ein merkwürdiges Roth aufflammte, in heftigem, ihm völlig fremdem Tone erwiderte:

»Sag's doch lieber frei heraus: Du langweilst Dich mit mir! Ich begreife das übrigens, denn ich habe in der Kunst, unterhaltend zu sein, mich auszubilden keine Gelegenheit gehabt. Bei Anderen würdest Du Dich jedenfalls besser amüsiren.«

»Aber Ada!«

»Nun ja!« fuhr Ada in demselben gereizten Ton fort. »Ich habe es mir ja auch schon gesagt, es kann nicht dauern. Freilich habe ich nicht geglaubt, daß das Ende so schnell kommen würde, und ich wäre egoistisch genug gewesen, für jede gewonnene Stunde dankbar zu sein. Aber Du hast ganz Recht, daß Du Dich nicht um mich bekümmerst. Du bist ein junger Mensch, das Leben liegt vor Dir, Du willst es genießen, und Du hast Anspruch darauf. Und so groß ist mein Egoismus doch nicht, daß ich Dir Deine frische und fröhliche Jugend verkümmern möchte. Du brauchst mir nicht zu sagen, was Du so vorsichtig und schonend vorbereitet hast; ich weiß es. Ich freue mich, daß Du so verständig bist. Abgemacht! .. Es wird wohl bald Zeit sein, in unser Gasthaus zurückzukehren … Wenn wir gegessen und getrunken haben, fahren wir nach Hause? Du begleitest mich wohl bis zur Thür? Und gelegentlich sehen wir uns wieder.«

Sie hatte diese Worte nicht im Zusammenhang gesprochen, vielmehr die einzelnen abgerissenen Sätze in nervöser Hast hervorgestoßen.

Richard, der auf Adas Unterstützung gerechnet hatte und sich nun von ihr selbst angegriffen fühlte, mußte sich erst sammeln.

»Ada!« flüsterte er zärtlich. »Glaubst Du denn wirklich, was Du sagst? Kannst Du es glauben? Langweilen und amüsiren! Du hast keine Ahnung, Ada, wie jämmerlich hohl die Worte klingen. Denke nicht so schlecht von mir. Reich mir die Hand.«

Ada hatte sich abgewandt und regte sich nicht. Richard ließ die Hand, die er ihr entgegengestreckt hatte, wieder sinken.

»Du weigerst mir Deine Hand? Du verstehst mich also nicht! Nun, dann will ich Dir's sagen, so klar und deutlich, daß Du mich nicht mißverstehen kannst! Und dann mußt Du mich selbst wegschicken. Ich liebe Dich, Ada! Wie ein Rasender! Besinnungslos! Ich habe keinen andern Gedanken als Dich! Kein anderes Verlangen als Dich! Seit wie lange ich Dich liebe – ich weiß es nicht. Mir scheint, ich hätte nie einen andern Menschen gesehen als Dich! Und wie ich ohne Dich leben soll – ich weiß es auch nicht. Ich weiß eben nur, daß ich nicht mit Dir leben darf. Und deshalb muß ich mich von Dir losreißen, und sollte ich darüber zu Grunde gehen. Um des Himmels willen, laß jetzt nicht die Vernunft sprechen! Es wäre ein gräßlicher Hohn auf meine Empfindungen. Schweige lieber! Laß mich schweigend davongehen! Dann darf ich, wenn ich allein sein werde, doch noch glauben können an das, was nicht ist, und es wird mich trösten. Ich bitte Dich, Ada, schweige! Das ist das Einzige, was ich von Dir erbitte, und das wirst Du doch für mich thun können, sei es auch nur aus Mitleid und Barmherzigkeit … Ich liebe Dich!«

Richard hatte sich Ada genähert und die letzten Worte geflüstert.

Sie stand noch immer mit ab gewandtem Gesicht da, regungslos, und hatte den Blick nicht vom Boden erhoben. Ihr Busen hob und senkte sich stürmisch, und ihre halbgeöffneten Lippen brannten.

Als der Hauch seines Athems ihre Wange streifte, erbebte sie …

Langsam erhob sie den Kopf und wandte sich zu Richard. Mit hell strahlenden Augen blickte sie ihn an, mit dem Ausdrucke unsagbarer Seligkeit.

Ihre Lippen rundeten sich zu einem entzückenden Lächeln. Alles, was sie bedrängt und geängstigt hatte, war abgestreift. Sie fühlte sich wie befreit, losgelöst von allem Jammer, wie in eine traumhafte Höhe emporgehoben, und in schwindelndem Wohlgefühl schloß sie ganz langsam die Lider …

»Was ist das?« hauchte Richard mit zitternder Stimme.

Sie bewegte zu sanfter Abwehr bedächtig den Kopf. Sie wollte nichts hören, nicht einmal die Stimme des Geliebten.

Da schlang er leidenschaftlich seinen Arm um sie, preßte sie wild an seine hämmernde Brust und drückte seine glühenden Lippen auf die ihrigen, die den heißen Kuß willig erwiderten und nicht danach trachteten, sich der wahnsinnigen Liebkosung zu entziehen. Mit fliegendem Puls, mit keuchendem Athem, selbstvergessen und ohne Sinn für das, was sie umgab, drückten sie in inbrünstiger Umschlingung Lippe auf Lippe …

Erschöpft, mit schwerem Athem, mit müdem, holdseligem Lächeln blickte Ada zu dem Geliebten auf, voll überfließender Zärtlichkeit, und ihren Kopf an den seinen schmiegend, flüsterte sie: »Dann stürbe ich auch!«

Jetzt erst hatte sie die Antwort auf Richards Frage gefunden: »Was würdest Du thun, wenn ich stürbe?« Und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

Welchen Verlauf der sonnige Nachmittag weiter genommen hatte, wie sie in das Gasthaus zurückgekehrt waren, ob das Essen, das man ihnen aufgetragen, von guter oder schlechter Beschaffenheit war, um welche Stunde sie den Heimweg angetreten hatten – sie wußten es nicht. Sie wußten nur, daß sie beisammen waren, daß sie sich liebten.

Als der Wagen, den der Kutscher geschlossen hatte, von der Friedrichstraße in die enge Straße einbog, in der das Osterode'sche Haus lag, sagte Ada ganz unvermittelt:

»Ich habe Alles verloren, was ich besaß! Aber ich habe mehr gewonnen, als ich je geträumt hatte. Ich bin mit dem Tausch zufrieden. Und wenn Alles zu Grunde geht, ich habe Dich geliebt!«

Richard drückte ihre Hand, daß es sie schmerzte.

»Lebe wohl!«

»Soll ich Dich nicht hinaufbegleiten?«

»Nein, heute nicht. Ich sehe Dich ja morgen. Lebe wohl und denke an mich, wie ich an Dich denke.«

Ein letzter langer Kuß besiegelte das Versprechen.

Da hielt der Wagen vor der kleinen Thür.

Richard begleitete Ada über den Vorhof bis an die Hausthür, drückte ihr da noch einmal die Hand, und Ada verschwand mit anmuthigem Lächeln.

Richard ließ sich geraden Wegs nach Hause fahren. Dort fand er einige geschäftliche Kleinigkeiten zur Erledigung vor. Er mußte auch an Schlemm schreiben.

Dann öffnete er ein Fenster, das auf die Straße führte, setzte sich auf das Fensterbrett und blickte stundenlang in glücklicher Gedankenlosigkeit vor sich hin. Erst als er von der nächtlichen Kühle fröstelnd zusammenschauerte, besann er sich auf sich selbst, vergegenwärtigte sich nun das Unglaubliche, das wirklich geschehen war, das Beseligende und Fürchterliche.

*

Der Fasching war vorüber. Der März war unfreundlich, rauh und ungewöhnlich schneeig gewesen. Trotz aller Anstrengungen hatte man die ungeheuren Schneemassen, die während der letzten vierzehn Tage herabgefallen waren, nur zum geringen Theil und nur in den Hauptverkehrsadern beseitigen können. Die Nebenstraßen wurden noch immer an beiden Seiten von hohen Schneehaufen eingesäumt, die durch die gewöhnlich ziemlich beträchtliche Nachtkälte fest geworden waren und durch die fast täglich sich erneuernden starken Niederschläge immer größere Verhältnisse annahmen. Die Sonne war seit Wochen an dem sackgrauen Himmel unsichtbar geblieben und hatte jede Mitwirkung an der Säuberung der Straßen versagt.

Das Leben im Osterode'schen Hause hatte sich in dem verflossenen Halbjahre sehr wesentlich geändert. Vor Allem war Ada, die während der zehnjährigen Vernachlässigung und Vereinsamung körperlich und seelisch verkümmert und eingetrocknet gewesen war, eine ganz Andere geworden: viel selbstständiger in ihren Entschlüssen, bewußter in ihren Handlungen, lebhafter in ihren Bewegungen.

Während ihr Gesicht früher immer denselben gleichmäßigen Ausdruck gezeigt hatte und die durch die Naturgesetze gebotenen Einwirkungen des Alterns sich ganz allmählich, ihrer Umgebung und ihr selbst fast unmerklich, geltend gemacht hatten, während sie früher sich immer genau in derselben Weise gekleidet und noch dieselbe Haartracht beibehalten hatte, in der Osterode sie als junges Mädchen kennen gelernt, zeigte sie jetzt, plötzlich wechselnde Stimmungen, wechselnde Launen und eine sonderbare Neigung zum Wechsel in ihrer Kleidung. Es machte ihr Vergnügen, sich zu putzen. Sie versuchte es, die Haare nach der Mode im Geschmacke des Tages zu ordnen. Die Flaschen und Krystallbüchsen auf ihrem Waschtisch, die bisher lediglich als Schmuck gedient hatten, wurden allmählich mit kosmetischen Essenzen aller Art gefüllt. Sie wurde beinahe eitel.

Ihr Gesicht zeigte jenen jähen Wechsel des Ausdrucks, wie er nervösen Personen zu eigen ist. Heute sah sie blühend, frisch, mädchenhaft jung aus, morgen schlaff, leidend, vorzeitig verblüht. Jetzt rückte sie regelmäßig, bevor sie ihr Ankleidezimmer verließ, den Spiegel näher, betrachtete mit sorgendem Ausdruck die kleinen Fältchen an den Augenwinkeln und zog die Haut straff.

Sie machte die Wahrnehmung, daß ihre Schneiderin nicht mehr so gut wie früher arbeitete. Sie wurde auch ungeduldig gegen ihre Kammerjungfer, die bisher nie eine duldsamere Herrin gekannt hatte.

In ihrem Verkehr mit Osterode war sie in hohem Grade wankelmüthig. Mitunter, wenn das Schuldbewußtsein sie drückte, zeigte sie eine Demüthigkeit, die bis zur Unterwürfigkeit ging. Dann aber war sie wieder auffahrend, ungesellig und von höhnischem Stolze. In ihrem Innern empfand sie gegen ihn ein Gefühl von Widerwillen, das mit Entsetzen und Grauen gemischt war. Darüber wollte sie sich selbst nicht klar werden, und sie suchte dem Ausdruck dieser Empfindung dadurch zu wehren, daß sie sich ihrem Manne gegenüber zu erkünstelter Duldsamkeit und Höflichkeit zwang. Ließ sie sich zu einer verletzenden Schroffheit hinreißen, so zeigte sie eine Stunde später in auffälliger Weise das verdoppelte Bemühen, ihrem Manne die seltenen Stunden, die er in ihrer Gesellschaft verbrachte, nicht mehr zu verbittern.

Wenn sie allein war, so weinte sie mitunter sehr bitterlich. Aber dann dachte sie an Richard, und ihre Thränen versiegten. Sie konnte namenlos glücklich in ihrer Liebe sein, aber auch unsagbar elend.

Sie fragte sich nicht: was ist es, und was wird es werden? Sie fühlte sich machtlos unter dem Banne einer verhängnißvollen Gewalt, die all ihr Sinnen und Fühlen beherrschte, und von der sie sich nur unter dem Opfer ihres Seins losreißen konnte.

Wohl dämmerte ihr das Ende als etwas Schreckhaftes vor, und sie fuhr mitunter, wenn sie in ihrem Zimmer am Abend allein war, bebend zusammen. Aber sie fühlte sich hülf- und machtlos. Mochte kommen, was da wollte! So, wie es war, so mußte es sein, wenn es auch nicht so sein sollte!

Osterode hatte die jähe Wandlung im Wesen seiner Frau zuerst mit Erstaunen, dann mit einer gewissen Neugier und endlich auch mit einer leisen Beunruhigung beobachtet. Blitzartig war ihm auch einmal ein Verdacht durch's Gehirn geschossen, und es war ihm ganz schwindlig geworden. Aber er hatte gleich darauf gelächelt. Er hatte sich geschämt. Er hatte Alles auf ganz einfache und natürliche Weise sich zurechtgelegt.

Kein Zweifel, daß er bei seinem Leben, das er sich nach den einseitigen Bedürfnissen seiner Neigungen ohne irgend welche Rücksicht auf Nebenmenschen zurechtgezimmert, schwere Unterlassungssünden gegen Ada begangen hatte! Durch sein Verschulden war sie der frischen Berührung mit der Mitwelt entzogen geblieben. Nun war der liebe Richard in's Haus gekommen, und an seiner Jugend hatte sich die ihrige wieder entzündet. Die jungen Leute gingen nun ihren Vergnügungen nach, wie das ganz in der Ordnung war. Sie machten Spaziergänge, Partien, verbrachten die Abende im Theater, besuchten auch Gesellschaften. Er selbst hatte Richard bei einigen seiner Collegen eingeführt und sich von der Nothwendigkeit, mit den Berufsgenossen gesellschaftlich inniger zu verkehren als vordem, durch Richard und Ada überzeugen lassen. Da war es ja unausbleiblich, daß Ada sich jetzt in einer gewissen Krisis befand, daß sie ihm innerlich Vorwürfe machte, und es war sehr tactvoll und freundlich von ihr, daß sie ihm nicht mit lästigen Beschuldigungen in den Ohren lag. Und er durfte sich nicht darüber wundern, wenn sie manchmal in einer gereizten Stimmung ein herberes Worte sagte, als es vielleicht richtig gewesen wäre.

Er vergegenwärtigte sich jetzt, wie Ada in ihrer Jugend immer stark nervös gewesen war. Die Ruhe des Haushalts hatte ihr wohlgethan. Jetzt, da frischeres, aber auch unruhigeres Leben hinein gekommen war, rührten sich die Nerven wieder. »Aber das hat nichts zu bedeuten, sie ist immer extravagant gewesen,« schloß er seine Deduction.

Im Uebrigen war er für die Vorgänge in seiner Häuslichkeit überhaupt nicht sonderlich empfänglich. Das große wissenschaftliche Werk, an dem er seit einer langen Reihe von Jahren unausgesetzt gearbeitet hatte, nahte seinem Ende. Und während ihn früher immer der Zweifel an dem Gelingen beunruhigt hatte, war nun über ihn ein Gefühl ernstester Befriedigung und Genugthuung gekommen.

Richard hatte ihm einen erheblichen Dienst erwiesen: Dr. Schlemm bewährte sich in großartigster Weise. Vielleicht fehlte es dem jungen Manne an Initiative, an eigenen scharfsinnigen Gedanken. Er war ja noch ein ganz junger Mensch. Dafür besaß er indessen auch Eigenschaften, die für den Professor unschätzbare waren: die größte Gewissenhaftigkeit und Unermüdlichkeit in der Arbeit, schnelles Erfassen und eine Gabe des Sichtens, Gruppirens und Ordnens, die Osterode um so höher schätzte, als gerade diese ihm vollständig versagt war.

Während ihrer sechsmonatlichen gemeinsamen Arbeit war in das Chaos wissenschaftlicher Forschungen und Ergebnisse, das sich seit den langen Jahren auf dem Arbeitstische Osterodes zusammengeballt hatte, unter Schlemms klärender und ordnender Hand Licht und Helle gekommen. Zum Nachschlagen brauchte Osterode jetzt weniger Minuten, als er früher Stunden mit dem Suchen nach irgend einer Einzelheit verloren hatte. Schlemm, der seit längerer Zeit mit dem analytischen Register beschäftigt war, wußte Alles.

Osterode hatte eine starke Zuneigung für den tüchtigen Mann gewonnen. Ob Dr. Schlemm hübsch oder häßlich aussah, hatte er bisher nicht bemerkt, und daß sein Amanuensis, wenn zufällig einmal von etwas Anderm als von der Wissenschaft die Rede war, über Alles und Jedes nur die boshaftesten Bemerkungen machte, war ihm nie aufgefallen.

Schlemm war ein grundgescheidter, fleißiger Mann, und das machte ihn in seinen Augen liebenswürdig! Er hatte Schlemm auch mit seiner Frau bekannt gemacht, und mit der Zeit hatte sich die Gewohnheit herausgebildet, daß Schlemm an jedem Donnerstage mit Richard bei Osterodes speiste.

Schlemm hatte die Wahrheit im Hause sofort durchschaut, und Beide, Richard wie Ada, fühlten das sehr wohl.

Ada war der unfreundliche Mensch, der jedesmal bei dem Donnerstagsessen eine Karre voll Stadtklatsch in der denkbar gehässigsten Darstellung ablud, unausstehlich. Aber sie fürchtete ihn; und da sie sehr wohl wußte, daß jeder Versuch, diesen abscheulichen Menschen, der ihrem Manne so nützlich war, aus ihrem Hause zu entfernen, scheitern müsse, so ergab sie sich in das Unvermeidliche. Sie mußte ihn eben in ihrer Nähe dulden, und Schlemm, der seine Macht fühlte, nahm sich heraus, allmählich mit Ada in einem Tone von Gemüthlichkeit und kameradschaftlicher Gleichheit zu verkehren, der diese empörte.

Und die Zudringlichkeiten dieses unangenehmen Patrons wurden immer stärker und lästiger. Schlemm fand an der schönen Ada ein faunisches Wohlgefallen. Er beneidete Richard, und er machte beständig hämische Bemerkungen über Richards Schneider und Haarkünstler und bespöttelte mit sauersüßer Miene seine eigene Unansehnlichkeit, seine tölpelhafte Schwerfälligkeit.

In Osterode fand Schlemm allzeit ein naives und dankbares Publikum. Der Professor merkte nichts von der Gehässigkeit. Er amüsirte sich über den närrischen Kauz.

Richard hatte allmählich vertrauliche Zusammenkünfte mit Schlemm möglichst vermieden; und das war um so weniger auffällig gewesen, als Schlemm selbst sehr beschäftigt war und fast ohne Ausnahme bis zu späten Stunden mit dem Professor zusammen arbeitete. Aber mitunter mußte Richard doch dem alten Bekannten einen Abend opfern. Und jedesmal verabschiedete er sich von Schlemm mit dem Entschlusse, auf das Vergnügen der Wiederholung zu verzichten.

Seit längerer Zeit waren die Beiden auch ganz auseinandergekommen und trafen sich nur noch Donnerstags bei Osterodes. Die Veranlassung zu dieser Entfremdung war ein Vorfall gewesen, der sich in den ersten Tagen des Jahres abgespielt hatte.

Schlemm und Richard hatten zusammen zu Nacht gespeist. Auf dem gemeinsamen Heimwege hatte Schlemm, der ziemlich schnell eine Flasche Wein geleert hatte und gehässiger war denn je, immer peinlichere Anspielungen auf das Verhältniß zwischen Richard und Ada gemacht. Richard hatte zunächst höflich ablehnend dem Gespräche eine andere Richtung zu geben versucht, dann aber, als Schlemm immer wieder darauf zurückkam, diese Anspielungen sich sehr entschieden verbeten. Schlemm hatte in seiner Weise weitergeschäkert.

»Du bist undankbar!« hatte er Richard gesagt. »Du solltest ein bischen höflicher mit mir sprechen und nicht vergessen, daß ich den guten Menelaus beschäftige, um Dir schönem Paris die Gelegenheit zu bieten, mit Helena zu liebkosen.«

Bei diesen Worten war Richard alles Blut zu Kopf gestiegen. Mit gewaltigem Griff hatte er die beiden Hände Schlemms gepackt und ihn zum Stehenbleiben gezwungen. Bebend und mit fürchterlichem Blicke hatte er ihm zugerufen:

»Wenn Du noch ein Wort sagst, wenn Du noch einmal irgend eine Bemerkung über Frau Osterode und mich fallen läßt – bei Gott im Himmel! ich schlage Dich todt wie einen Hund!«

Und Schlemm, dem sonst nie das Wort versagte, hatte keinen Laut über die Lippen zu bringen vermocht. Er war aschgrau geworden, und Richard fühlte, wie er in seinen Händen zitterte.

Während der nächsten gemeinsamen Mahlzeiten bei Osterodes war Schlemm einsilbiger und zurückhaltender gewesen. Er hatte die bestimmte Empfindung gehabt, daß Richard keine leere Drohung ausgestoßen hatte. Aber allmählich hatte er seine Sicherheit von ehedem und seinen unverschämten Ton wiedergefunden. Und daß die Beiden völlig auseinandergerathen waren, merkten weder Ada noch Osterode.

*

Die tiefste Wirkung hatten die Ereignisse der letzten Monate auf Richard ausgeübt. Er war ein ganz anderer Mensch geworden. Die frische Unbefangenheit seiner lachenden Jugend war unwiederbringlich dahin.

Es drückte centnerschwer auf ihn.

Er vermied es, mit seinem Oheim zusammenzutreffen, und er suchte jedesmal einen Vorwand, um die Stunden des nothgedrungenen Zusammenseins möglichst abzukürzen. Es schnitt ihm in's Herz, wenn der vertrauensvolle Mann liebevoll und arglos wie früher mit ihm verkehrte. Die stete Liebeheuchelei und Verheimlichung, zu denen er gezwungen war, wurden ihm schier unerträglich.

Oftmals meinte er auch, daß er die Last von sich abschütteln müsse, um jeden Preis. Er wollte dem väterlichen Freunde zurufen: »Ich bin ein Ehrvergessener und ein Judas obenein! Für alles Gute, das Du mir in überreichem Maße erwiesen hast, habe ich Dir mit Betrug, mit Raub und Schändung gedankt! Keine Strafe wäre so hart, daß ich sie nicht verdiente! Tödte mich, aber behandle mich fürder nicht mehr mit derselben Liebe, mit der Du mich behandelt hast! Ich kann es nicht ertragen!«

Dann aber vergegenwärtigte er sich, daß durch das Geständniß nicht er allein getroffen wurde. Und er schwieg, weil er schweigen mußte.

Und diese Augenblicke der peinigendsten Selbstanklage, der Zerknirschung, wurden abgelöst durch unvergeßliche Stunden nie gekannten Glücks. Er liebte Ada inbrünstiger und leidenschaftlicher als je. Seine Leidenschaft beherrschte ihn völlig und machte die mahnende Stimme des Gewissens immer wieder verstummen.

Im Drange des Weitersündigens suchte er sich mit allerlei Sophismen zu trösten. Er hatte sich eine Theorie zurechtgestellt von dem vermeintlichen Anrechte des Menschen an das Glück, auf das er so gut Anspruch habe, wie jedes andere lebende Wesen. Und er leitete für sich sogar aus den selbstgemachten Satzungen dieser eigens von ihm für seine Zwecke ersonnenen Sittlichkeit die Berechtigung her, gegen widrige Verhältnisse, die sich seinem Glück entgegenstellten, anzukämpfen …

Dann aber kam wiederum ein jäher Umschlag in seine Stimmung. Er riß sich los von aller beschönigenden Falschheit und erkannte seine Niedrigkeit und seinen Jammer mit klarem Sinn. Und dann schwor er hoch und theuer, daß er ein Ende machen wolle und werde.

Sein Schwur wog aber, was eben der Schwur eines wahnsinnig Verliebten, eines Spielers, eines von der Leidenschaft Ergriffenen, zu wiegen pflegt.

Er dachte ernsthaft daran, in die weite Welt zu ziehen und sich irgendwo zu verstecken …

Und auch die unerreichbarste Weite schwebte seinem Geiste als Reiseziel vor.

Er wollte aus dem Leben scheiden, das ihm keinen Augenblick ungetrübten Glückes mehr gewähren konnte. Dann aber sah er Ada in's Auge, und Alles, was ihn bedrückt hatte, war vergessen.

Aber immer wieder gewann die alte Schwermuth die Oberhand. So sehr er sich auch zu beherrschen suchte, um nicht in Ada den kränkenden Verdacht zu erwecken, als ob er ihr einen Vorwurf machen wolle – es kam doch gewaltsam über ihn. Er starrte vor sich hin, und wenn Osterode ihn anredete, fuhr er zusammen und erröthete.

So verging eine wunderliche Zeit himmlischen Genießens, wahnsinnigen Glückes, marternder Reue, lichtscheuer Bangigkeit und unausgesetzter Heuchelei.

»Richard gefällt mir gar nicht,« sagte Osterode eines Abends. »Den plagt irgend etwas Geheimes.«

»Was soll ihn plagen?« gab Ada mit möglichster Unbefangenheit zur Antwort. »Er ist eben ein junger Mensch, und es ist doch nichts Ungewöhnliches, daß Männer in dem Alter Richards von weltschmerzlichen Stimmungen beherrscht werden.«

»Es handelt sich nicht blos um Stimmungen, es handelt sich um etwas viel Ernsteres. Da darfst Du dem Auge des Arztes trauen.«

»Du beunruhigst mich! Was fehlt ihm denn Deiner Ansicht nach?«

»Er ist hochgradig nervös erregt.«

»Das gebe ich zu. Aber kann man denn von Erregungen auch krank werden? Ich meine, was Ihr Aerzte krank nennt, krank zum Sterben?«

»Gewiß!« sagte Osterode mit sehr ernstem Ausdruck.

»Um Gottes willen!« fuhr Ada erschrocken auf. Und sich beherrschend fragte sie: »Wie heilt man denn solche Krankheiten?«

»Wie die meisten anderen: durch eine vernünftige Diät, durch Bewegung in frischer Luft, durch körperliche Anstrengungen, durch Zerstreuungen, Ortswechsel, Luftveränderung.«

»Nun, über Mangel an Zerstreuungen hat er sich ja nie beklagt und eigentlich auch keine Veranlassung zu Klagen gehabt. Wir gehen doch viel zusammen aus, wir machen uns auch genügend Bewegung …«

»Es wird doch wohl nicht das Richtige sein. Ich hätte nicht übel Lust, ihn auf Reisen zu schicken.«

Ada biß sich auf die Lippen. Der Gedanke, daß sie sich auf längere Zeit von Richard trennen sollte, war ihr schrecklich.

»Was soll ihm das Reisen?« bemerkte sie mit gespielter Gleichgültigkeit.

»Nun, er lernt Menschen und Dinge kennen, die ihn vielleicht interessiren. Und die Hauptsache: er kommt aus seiner gewöhnlichen Umgebung heraus. Und diese gewöhnliche Umgebung ist ihm offenbar nicht zuträglich.«

»Du bist in Deiner ärztlichen Fürsorge nicht sehr galant gegen mich. Denn unser Haus bildet seine gewöhnliche Umgebung, die ihm nach Deiner Meinung schlecht bekommen soll. Und er verkehrt auch sehr viel gerade mit mir.«

»Sehr viel,« bestätigte Osterode. Und mit einem feinen Lächeln hinzufügend, bemerkte er langsamer: »Aber nicht ausschließlich. Wir controliren ihn doch nicht, wozu wir übrigens auch gar kein Recht haben! Und ich habe meine besonderen Gedanken über ihn. Sie sind mir erst neuerdings durch einige Bemerkungen des Dr. Schlemm zu klarem Bewußtsein gekommen.«

»Du wirst doch auf die Worte dieses unangenehmen Menschen keinen Werth legen!«

»Dr. Schlemm mag Dir unangenehm sein, aber er ist jedenfalls ein sehr kluger Mann. Er ist ein alter Bekannter Richards und weiß sicherlich mehr von ihm als wir Beide. Nun habe ich mir immer schon gedacht – und das, was ich von Schlemm gehört habe, hat meine Vermuthung beinahe zur Gewißheit erhoben –, daß Richard, wie das übrigens in seinem Alter auch ganz natürlich ist, irgendwo eine Liebelei angefangen hat. Leider scheint die Geschichte ernsthafter zu sein, als mir lieb ist und als es richtig wäre. Es muß irgend eine verwickelte Angelegenheit sein, vielleicht ein Verhältniß mit einer verheiratheten Frau, das ihn zur Geheimthuerei und zu beständiger Beherrschung zwingt – das bringt den Menschen herunter –, ein Verhältniß das ihn nöthigt, zu lügen, sich zu verstecken. Und das kann eine so offene, wahrheitsliebende Natur wie die Richards nicht vertragen. Das quält ihn. Und noch heute will ich mir Gewißheit verschaffen.«

»Du mußt am besten wissen, was Du zu thun hast. Aber es wäre doch möglich, daß Du Richard ernstlich weh thun könntest, wenn Du mit ihm von Dingen sprächst, die er vielleicht mit keinem Menschen besprechen will. Und Du hast doch gar keinen Anhaltepunkt für die Richtigkeit Deiner Vermuthungen.«

»Ich werde ihm mein Vertrauen nicht aufdrängen, ich werde nicht von der Sache sprechen, das versteht sich! Ich will nur selbst wissen, woran ich bin. Ich werde ihm also vorschlagen, eine kleine Erholungs- und Vergnügungsreise anzutreten, und ich werde meinen Antrag sehr verlockend machen. Lehnt er ihn ab, dann weiß ich, was ich ahne: daß eine Frau im Spiele ist, und keine unverheirathete; denn eine gesunde Liebe würde er mir gestehen. Dann aber werde ich allerdings aufpassen und, wenn es sein muß, mit aller Energie losgehen. Ich habe den Jungen zu lieb, als daß ich ihn mir durch eine dumme Jugendverirrung verderben lassen wollte.«

Diese Worte waren kaum gesprochen, als die Thür sich öffnete und Richard eintrat. Er sah heute blasser und verstörter als je aus.

»Da bist Du ja!« rief Osterode gemüthlich. »Das trifft sich gut. Wir sprachen gerade von Dir.« Und ihn bei den Schultern an das Fenster führend, fügte er hinzu: »Laß Dich mal genau ansehen.«

Richard war diese Untersuchung überaus qualvoll, und er suchte sich ihr zu entziehen.

»Mir fehlt nichts,« sagte er mit erzwungenem Lächeln. »Wir haben gestern eine ziemlich schwere Sitzung gehabt, die bis tief in die Nacht hinein gedauert hat. Ich kann das Kneipen jetzt schlecht vertragen. Ich wollte Euch nur Guten Tag sagen und will dann nach Hause gehen und ausschlafen.«

Osterode schüttelte den Kopf.

»Es handelt sich nicht um Dein heutiges Aussehen. Du gefällst mir überhaupt schon feit längerer Zeit nicht mehr. Der Berliner Winter ist Dir schlecht bekommen, und wenn Du es nicht weißt, so muß ich es Dir als Arzt sagen: Du bist kränker als Du glaubst. Und Du mußt unbedingt etwas für Dich thun, und schnell. Die Kur, die ich Dir verschreibe, ist nicht schwer zu befolgen. Sie läßt sich in das eine Wort zusammenfassen: Du mußt weg von hier und Dich zerstreuen! Da, sieh zum Fenster hinaus! Wieder der sackgraue Himmel! Die langweiligen Häuser in schwermütiger Farblosigkeit! Und wieder Schneeflocken! Dabei steht das Thermometer unter Null! Ein Gesunder kann dabei krank werden, aber ein Kranker nicht gesund. Pack Deine Siebensachen zusammen und fahre in einem Zuge durch bis an das Ufer des Mittelländischen Meeres! Geh nach der Riviera oder wohin Du sonst magst! Da leuchtet der blaue Himmel, da duften die Orangenblüthen, da erglänzt Alles in der herrlichen Pracht des goldigen Frühlings! Da sind fröhliche Menschen! Da wirst Du wieder aufleben und wieder fröhlich werden! Und keine Zeit versäumen, mein Junge! Ein schneller Entschluß! Umarme Deine junge Tante, gieb mir einen Kuß, pack Deine Sachen, und Gott behüte Dich! Den letzten Abend wirst Du wohl für Dich behalten wollen. Der beste Zug geht, glaube ich, in der Mittagsstunde. Uebermorgen telegraphirst Du uns aus Paris, daß Du Abends nach Nizza weiterfährst. Abgemacht! … Nun, Du sagst kein Wort? Was meinst Du zu meinem Vorschlage?«

Osterode war auf Richards Bescheid sehr gespannt, und er sah ihn mit seinen durchdringenden klugen Augen fest an.

In fieberhafter Erregung befand sich Ada.

Sollte er es wirklich übers Herz bringen können, sie zu verlassen? Wenn er einstimmte, dann liebte er sie auch nicht, liebte sie wenigstens nicht so, wie sie geliebt sein wollte.

Richard war im ersten Augenblick ganz betroffen. Sein Blick schweifte suchend von Ada auf Osterode und von Osterode auf Ada. Die widerspruchsvollsten Empfindungen durchstürmten ihn. Plötzlich machte er eine Bewegung, die, so unmerklich sie war, doch von Ada sehr wohl beobachtet wurde. Und nachdem er tief aufgeathmet hatte, sagte er:

»Du wirst wohl Recht haben, Onkel. Ich reise.«

»Bravo!« jubelte Osterode und schloß Richard stürmisch in seine Arme. »Du weißt gar nicht. Junge, welche Freude mir Deine Antwort bereitet!«

Richard regte sich nicht. Er mußte die Liebkosungen des Onkels dulden, aber er war nicht im Stande, sie zu erwidern.

»Du glaubst nicht,« wiederholte Osterode, »wie Du mich beruhigst.«

Alles Blut in Ada war dem Herzen zugeströmt. Sie war fahl geworden, und ihre Lippen sahen beinahe violet aus. Sie sah unverwandt auf Richard, und mit aller Kraft der Selbstbeherrschung brachte sie in anscheinend ruhigem Tone die Worte hervor:

»Es ist sehr vernünftig, was Du da thust. Du siehst ja, welche Freude Du Deinem Onkel machst.«

»Jawohl!« rief Osterode jovial. »Er macht mir große Freude, der gute Junge! Und nun das Eisen schmieden, so lange es warm ist! Und keine langen Abschiedsscenen! Sie sind mir überhaupt verhaßt. Und am Ende würde Dich Dein vernünftiger Entschluß wieder gereuen. Ich jage Dich heute zum ersten Mal aus dem Hause. Mach, daß Du fortkommst! Pack Deine Sachen! Wegen Deiner amtlichen Verpflichtungen laß Dir keine grauen Haare wachsen. Das bringe ich Alles in Ordnung. Ich reiche morgen beim Präsidenten, den ich kenne, das von mir verfaßte ärztliche Attest persönlich ein und werde ihm schon Alles auseinandersetzen. Heute Abend und morgen früh hast Du noch vollauf Zeit, Alles zu erledigen, was zu erledigen ist. Und Du weißt. Du kannst unbedingt auf mich zählen. Darüber sprechen wir nicht, das ist selbstverständlich. Und nun keine Rührung! Lebe wohl, mein Junge, sei vergnügt, schreibe uns ab und zu, wenn Du gerade Lust dazu hast, und komm frisch und fröhlich aus Italien zurück – nicht zu früh. Knapper als vier bis sechs Wochen kann ich die Zeit Deiner Verbannung nicht bemessen.«

»Ja, ja,« sagte Richard, der sich wie in einem Halbrausche schwer und stumpf fühlte, »so wird es wohl am besten sein.«

»So ist es am besten!«

»Und dann werde ich jetzt wohl gehen müssen.«

»Gewiß mußt Du das!« rief Osterode mit gemüthlichem Lächeln. »Ich halte Dich nicht zurück, und Ada auch nicht.«

Richard reichte seinem Onkel stumm die Hand. Osterode schloß ihn zärtlich an sich und sagte nun nichts mehr.

Ada, die wie zur Bildsäule erstarrt war, neigte ihren Kopf nach vorn. Als Richard ihre kalte Stirn mit den Lippen berührte, schauerte sie zusammen. Auch ihr streckte er die Hand entgegen. Sie ergriff sie und preßte sie mit einer übernatürlichen Kraft so fest zusammen, daß ihre Nägel sich tief in das Fleisch seiner Hand einbohrten und blutrünstige Spuren hinterließen. Auch sie fand kein Wort des Abschieds mehr.

Und langsam und schweigsam verließ Richard das Zimmer.

Es war inzwischen dunkel geworden. Die Laternen auf der Straße wurden gerade angesteckt.

Osterode und Ada waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, an die Fenster getreten und sahen Richard mit schweren und langsamen Schritten über den Vorhof nach der kleinen Mauerthür gehen.

Als er die Hand auf die Klinke legte, wandte er sich noch einmal um. Er erkannte an den beiden Fenstern seinen Oheim und seine Geliebte. Ohne eine Miene zu verziehen, lüftete er gleichgültig, geschäftsmäßig den Hut, als ob er wildfremde Leute begrüße.

An der Ecke nahm er eine Droschke und fuhr nach Hause.

*

Langsam, bedächtig, schwerfällig traf er in seinem Zimmer die ersten Vorbereitungen zu seiner Abreise. Einen Stoß noch nicht erledigter Acten packte er zusammen, versiegelte sie und setzte die Adresse darauf. Er ordnete seine Bücher ein, die er während der letzten Wochen benutzt hatte, legte halbvollendete juristische Arbeiten in einer Mappe zusammen und sichtete seine privaten Papiere: quittirte Rechnungen, gleichgültige Briefe und dergleichen. Die meisten zerriß er und warf die Schnitzel in den Papierkorb. Er fühlte bei alledem eine große Mattigkeit und dachte an nichts Besonderes.

Nachdem er diese Angelegenheit fast mechanisch abgethan hatte, nahm er einen Bund mit kleinen Schlüsseln aus der Tasche und öffnete einen Kasten seines Schreibtisches.

Da lagen ihre Briefe! Es waren nur wenige, kaum ein halbes Dutzend, aber sie waren von überströmender Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Liebe ganz erfüllt.

Er hatte zunächst die Absicht, diese stummen und doch so beredten Ankläger zu vernichten. Aber er konnte sich nicht von ihnen trennen. Langsam durchlas er die Briefe von der ersten Zeile bis zur setzten, und er vergegenwärtigte sich genau die Verhältnisse, unter denen sie geschrieben waren, die Stimmungen, in denen er sie empfangen, und die Antworten, die er gegeben hatte.

Er war in tiefer Niedergeschlagenheit. Und als er aus demselben Kasten ein kleines Schächtelchen hervorholte, es öffnete und den auf Watte gebetteten unscheinbaren, geringwerthigen und für ihn doch unschätzbaren Ring mit einem blauen Steinchen erblickte, füllten sich seine Augen mit Thränen.

Es war ihr erstes und einziges Geschenk. Ihr Confirmationsring, den ihr ihre Mutter geschenkt, den sie bis zum Tage, da sie ihn vom Finger zog, um ihn Richard zu geben, beständig getragen hatte. Für Richards Finger war er viel zu winzig. Er hatte ihn bei Seite gelegt; aber es war kein Tag vergangen, ohne daß er einen Blick auf dieses einfache und rührende Zeichen ihrer Liebe geworfen hätte.

In derselben Schachtel lag auch das Bildchen von Adas Kopf, das er aus der Photographie ausgeschnitten hatte.

Lange, lange, lange Zeit betrachtete er unter dem hellen Lichte der Lampe den kleinen Ring und das Bildchen.

Er überlegte sich, wo er diesen und die Briefe Adas während seiner Reise so gut verbergen könne, daß sie auch vor der Möglichkeit einer zufälligen Entdeckung sichergestellt seien. Er schien noch zu keinem festen Entschlusse gekommen zu sein, denn er legte Alles sorgsam wieder in den Kasten, verschloß ihn und zog den Schlüssel ab.

Er erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Eine starke Erregung bemächtigte sich seiner. Jetzt erst schien er ungefähr zu verstehen, was sein Scheiden zu bedeuten habe. Die wirrsten Gedanken durchzogen sein Hirn, die abenteuerlichsten Vorsätze.

Er wollte das Unmögliche ermöglichen, das Wasser mit dem Feuer mischen. Er wollte unbedingt abreisen und unbedingt bleiben.

Er dachte daran, in einem entlegenen Winkel der großen Stadt irgendwo sich zu verbergen. Dort könne er sie sehen, wenigstens manchmal.

Aber es bleibt ja nichts verborgen! Es würde doch geschwatzt werden!

Und wenn es auch nicht durch der Leute Mund herumgetragen würde, so machte er ja doch nur schlimmer, was er besser zu machen sich geschworen hatte! Er hatte ja erkannt, daß er das Schlimmste that; und sein Gewissen hatte ihm gesagt, daß ein Ende gemacht werden müsse, daß jeder Augenblick das sittliche Verbrechen, dessen er sich zu zeihen hatte, erschwere.

War er denn aller Scham baar geworden? Wollte er denn wirklich das Böse zielbewußt und jetzt noch perfider als früher? Sollte er so dem Manne danken, der ihn liebte, der ihn eben noch mit einer Herzlichkeit und Vertraulichkeit, die Richard furchtbar gewesen waren, an seine Brust gedrückt hatte?

Er vergegenwärtigte sich den Ausdruck im Gesichte seines Oheims, die ruhige, echte, liebevolle Theilnahme, die aus dessen Augen gesprochen hatte. Er hörte dessen Stimme.

Nein, er durfte den Mann nicht länger täuschen! Er mußte offen mit ihm reden! Das Verbrechen war geschehen, das war nun einmal unabänderlich. Nun wohl, so wollte er wenigstens den Muth haben, es einzugestehen!

Aber unmöglich! Nicht ihn allein würde ja die Strafe treffen, nicht einmal hauptsächlich ihn!

Und nun sah er wieder Ada neben sich, und verzweifelnd preßte er seine Stirn in seine beiden Hände.

Plötzlich warf er Alles bei Seite, zog seinen Ueberrock an, setzte den Hut auf, löschte die Lampe und stürmte hinaus.

Das Gas auf der Treppe war schon gelöscht. Richard stolperte, fiel einige Stufen herab und that sich empfindlich weh. Aber er achtete nicht darauf. Er tappte sich durch den dunklen Hausflur nach der Thür, schloß sie auf und vergaß sie wieder zu schließen.

Es war zwischen elf und zwölf Uhr. Die Straßen waren wegen des abscheulichen Wetters fast menschenleer. In dichten Massen fiel der Schnee unablässig herab. Das Gas schimmerte in trübem Roth durch die dichtbeschneiten Scheiben der Laternen. Alles war in die dichte weiße Decke eingehüllt, die die Conturen abstumpfte und die Gegenstände in klumpenartigen Zusammenballungen erscheinen ließ.

Wie ein Trunkener taumelte Richard durch die dunklen Straßen, ohne ein besonderes Ziel, selbst nicht wissend, wo er war.

In willkürlichem Zickzack, bald auf dem Bürgersteige, bald auf dem Fahrdamm, die niedrigen Schneehaufen durchwatend, über die hohen hinwegkletternd, nahm er seinen Weg. Die wenigen Vorübergehenden wandten den Blick nach ihm, den sie für einen Schwerbetrunkenen hielten, und die Nachtwächter und Schutzleute sahen ihm nach. Er selbst beachtete es nicht. Er fühlte nicht einmal, daß seine Füße und Beine bis zum Knie hinauf ganz durchnäßt waren. Von alledem hatte er nur ganz unbestimmte Vorstellungen. Zum Bewußtsein kam ihm nur Eines: ein schreckliches Unbehagen, eine fürchterliche Unruhe.

In einer der älteren und dunkleren Straßen wurde er angeredet. Es war ein armes, dummes, elendes Mädchen mit zerfranztem Kleid und modischem Hut, das ihm irgend etwas sagte. Er verstand es nicht. Nur die Worte: »Ich bin so arm« waren ihm vernehmlich.

Er gab dem Mädchen Geld. Sie blieb an seiner Seite. Sie sprach mit ihm. Es war ihm angenehm, eine menschliche Stimme zu hören. Was das Mädchen, das da im Schneesturm neben ihm herging, ihm Alles mittheilte, interessirte ihn nicht; aber er fühlte etwas von Mitleid.

Sie schloß die Thür eines Hauses auf und schob ihn hinein. Sie zündete einen Stumpf Licht, den sie aus der Tasche holte, an und schritt über die ausgetretenen krachenden Stufen einer alten schmalen Treppe voran. Er tappte hinterdrein. Das Haus kam ihm bekannt vor. Er wußte nicht, wo er es schon gesehen hatte.

Im vierten Stock öffnete das Mädchen eine Thür. Richard trat in ein enges einfenstriges Zimmer, in dem eine fürchterliche Temperatur herrschte. Es roch stark nach dem Blak der Petroleumlampe. Die Einrichtung war von schauderhafter Dürftigkeit. Das Mädchen merkte, daß es mit ihrem Begleiter nicht richtig war. Es war ein gutmüthiges Geschöpf, und sie fühlte Mitleid mit ihm. Sie rieth ihm einige probate Hausmittel.

»Trinken Sie ein paar Glas starken Grogk, dann werden Sie warm, legen sich zu Bett, und morgen ist Alles vorüber. Ich kenne das! Sie sind ja ganz durchnäßt!«

Richard antwortete nichts. Er sah auf ihre vom Frost bläulich gerötheten, aufgesprungenen Finger. Er schüttelte sich, erhob sich schnell von dem Stuhl, auf den er sich beim Eintreten hatte fallen lassen, und blickte mit verwunderten Augen um sich. Er schritt auf die Thür zu und wollte sie öffnen. Das gutmüthige Mädchen sagte:

»Warten Sie nur! Sie finden ja gar nicht! Ich bringe Sie schon wieder hinunter.«

Mit schweren Schritten, unter denen die Stufen der altersschwachen Treppe wiederum keuchten, schleppte sich Richard mühsam hinab. Er fühlte sich ganz zerschlagen und so matt, daß er auf den einzelnen Treppenabsätzen stehen bleiben mußte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Er schämte sich seiner Schwäche und suchte nach irgend einem Vorwand, um das Stehenbleiben zu begründen. Er las die Schilder an den Thüren. Das Mädchen leuchtete.

Im ersten Stock las er eine Visitenkarte, die mit vier Reißnägeln am Pfosten befestigt war: Dr. med. Johannes Schlemm.

Jetzt wurde ihm klar, weshalb ihm das Haus so bekannt vorgekommen war.

Als sie unten im Hausflur angekommen waren, wurde an der Thür von außen geschlossen. Das Mädchen zerrte Richard nach hinten und drückte ihn in die Ecke an der Hofthür, die durch die Treppe verdeckt wurde. Richard ließ es ruhig geschehen. Sie selbst stellte sich davor und blies das Licht aus. Die Hausthür wurde geöffnet und geschlossen, und unter den schweren Schritten des Hausbewohners keuchten die Stufen noch stärker. Dieser blieb im ersten Stock stehen und öffnete die Flurthür. Dabei räusperte er sich. Richard erkannte Dr. Schlemm.

Wenige Minuten darauf war er wieder im Freien. Das Mädchen verabschiedete sich freundlich von ihm.

»Besuchen Sie mich bald einmal wieder!« sagte sie und setzte ihre traurige Wanderung durch den Graus der schneeigen Nacht fort.

Richard wußte nun, daß er in der Zimmerstraße war. Und jetzt hatte er ein festes Ziel im Auge, auf das er in unregelmäßigem Schritt, bald mit vorgestrecktem Oberkörper trabend, bald sich langsam dahinschleppend, zusteuerte. Er gesticulirte lebhaft und sprach auch manchmal. In noch erhöhtem Maße als vorher erregte er die Aufmerksamkeit der zum Glück nur sehr wenigen Vorübergehenden.

Das Wetter war immer ungeberdiger geworden, und jetzt hatte sich ein wahrer Schneesturm entfesselt.

Als er über die Weidendammer Brücke trollte, sich beständig mit einer Hand am Geländer stützend und weiterschiebend, wurde ihm der Hut vom Kopfe geweht. Die Kälte war ihm angenehm; denn seine Stirn brannte, während seine Füße ganz erstarrt waren.

Und nun stand er wieder vor der niedrigen Mauer, und nun überlegte er sich, was er jetzt wohl zu thun habe. Er trat auf die andere Seite der Straße, von der aus die Fenster des Osterode'schen Hauses zu sehen waren. Alles war dunkel. Er glaubte an ein Wunder. Vielleicht kommt sie doch!

Er starrte unablässig hinüber, von Zeit zu Zeit die Schneeflocken aus den Haaren streichend und dann die feuchte kalte Hand an die brennende Stirn drückend.

Und jetzt sah er, wie die Thür sich öffnete. Das Herz klopfte ihm mächtig. Er riß die Augen weit auf, und er sah nichts mehr. Die Thür blieb verschlossen.

Und immer dichter und gewaltsamer fiel der Schnee herab.

Richard schlug die Zähne zusammen. Der eisige Frost durchschüttelte ihn. Er empfand eine tödtliche Mattigkeit. Er fühlte, wie er hier zusammenbrechen würde, wenn er sich nicht zu einem letzten Entschlusse aufraffe. Und mit der äußersten Anspannung seiner Kräfte schleppte er sich bis zum nächsten Droschkenhalteplatz weiter.

Der Kutscher, der in seinem Mantel eingeschneit und eingefroren vor sich hindämmerte, sah den Fahrgast, der ihn aus dem Halbschlafe aufgeschreckt hatte, mit mißtrauischen Blicken an. Er hielt ihn für unzuverlässig und verlangte vorherige Zahlung. Richard gab ihm Geld, viel zu viel. Der Kutscher wollte ihm herausgeben; Richard schüttelte den Kopf. Er gab seine Adresse an und ließ sich auf das harte schmutzige Polster fallen. Das Pferd zog an.

Richard machte übermenschliche Anstrengungen, um sich wach zu erhalten. Aber der Schlaf, der ihm nicht freundlich nahte, überrumpelte ihn wie ein brutaler Gegner. In einem Halbdusel verschwamm Alles.

Das Stoßen während der langsamen Fahrt, das Knirschen des Schnees unter den Rädern, das melancholische Gebimmel der Schellen, die am Geschirr angebracht waren – all diese Eindrücke der Aeußerlichkeit wirkten auf die Vorstellungen seines überreizten und kranken Gehirns bestimmend ein. Er fühlte sich gemartert, und es war ihm, als ob die Kirchenglocken dazu läuteten.

Der Wagen hielt schon einige Minuten vor der Thür. Der Insasse rührte und regte sich nicht. Nach vergeblichem Zuruf des Kutschers entschloß sich dieser endlich, von seinem Bock herunterzuklettern. Er riß die Thür auf. Richard hörte ihn nicht. Der Kutscher hielt seinen Fahrgast für schwer betrunken. Er rüttelte ihn auf und hob ihn nicht eben sanft aus dem Wagen heraus. Richard wollte wiederum zahlen.

»Sie haben mich schon bezahlt,« sagte der Kutscher, »und sehr gut. Geben Sie mir Ihren Schlüssel, ich will Sie hinaufbringen.«

Richard lehnte die Unterstützung ab.

*

Alles, was er nun vornahm, was überhaupt mit ihm vorging, war ihm vollkommen unklar.

Er war in seinem Zimmer. Er versuchte Licht zu machen. Er fand die Streichhölzer. Sie versagten. Er riß verschiedene Schachteln von Wachsbrennern auf. Er erinnerte sich genau, wo seine Zündhölzer immer standen. Aber sie wollten heut nicht brennen. Endlich gelang es ihm doch, Licht zu machen.

Seine Kehle war ganz trocken. Er fühlte einen verzehrenden Durst. Er füllte ein großes Glas mit Wasser. Als er die Karaffe auf den Tisch stellen wollte, konnte er die Entfernung nicht mehr bemessen. Die Karaffe fiel zu Boden, zerbrach, und das Wasser ergoß sich über den kleinen Teppich, auf dem die Streichhölzer und Wachsbrenner zerstreut lagen.

Er bemerkte das Alles nicht, stürzte das Wasser in einem Zuge hinunter und schleppte sich in sein Schlafzimmer. Da entkleidete er sich. Am meisten Mühe verursachte es ihm, sich der völlig durchnäßten Fußbekleidung zu entledigen. Aber es gelang ihm schließlich doch. Damit waren auch seine Kräfte erschöpft. Er wurde von starkem Schüttelfrost befallen. Er schlug die klappernden Zähne aufeinander und bebte am ganzen Körper.

Er lag vor seinem Bett, den Kopf auf die Matratze gestützt.

Endlich raffte er sich wieder auf und nahm sehr vorsichtig das Licht. Er tappte in das Nebenzimmer. Er hatte irgend einen ganz bestimmten Gedanken gehabt. Aber nun, da er mit dem Leuchter in der Hand in der Mitte des Zimmers stand, war ihm dieser Gedanke wieder entfallen.

Er durchsuchte alle Ecken; er hoffte, es würde ihm wieder einfallen. Die Nässe des Bodens, die er an den nackten Sohlen plötzlich spürte, rüttelte ihn wieder auf. Er sah da Scherben und Streichhölzer. Er legte sich nun auch ungefähr Rechenschaft ab, woher das Alles kam.

Er suchte weiter. Auf einmal durchwärmte ihn ein sonniges Gefühl der Freude. Jetzt wußte er, was er suchte! Er wollte die Schlüssel aus der Tasche seines Beinkleides holen! Das war es!

Aber diese wundervolle Genugthuung gewährte ihm nur einen kurzen Augenblick wohliger Empfindung. Er spürte jetzt einen furchtbaren Druck auf den Kopf. Es war ihm, als ob sein Schädel mit eisernen Schrauben zusammengepreßt würde.

Da hatte er den Schlüssel. Und jetzt saß er vor dem Schreibtisch, und er hatte den Schlüssel in den Kasten gesteckt. Und nun starrte er auf den Hals des Schlüssels, auf dem der Reflex des flackernden Lichtes zitterte, und er wußte nicht, was er mit dem Schlüssel anfangen sollte. Eine siedende Hitze glühte auf seinen Wangen.

Ganz entmuthigt, seine Ohnmacht belächelnd, seufzte er: »Es geht nicht! Jetzt nicht. Morgen. Zu Bett!«

Mühselig, Alles, was sich ihm irgend darbot, als Stütze benutzend, schleifte er sich in das dunkle Nebenzimmer und streckte sich auf seinem Bette aus. Durch die offene Thür sah er mit halbgeöffnetem Auge den Schreibtisch stehen, auf dem das Licht brannte, und er sah das Glitzern des Wiederscheins an dem Schlüssel im Kasten. Dann fielen seine Lider zu, und ein bleierner Schlaf überfiel ihn.

Wilde Träume ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. In ganz kurzen Zwischenräumen schreckte er beständig auf, und er glaubte inzwischen Stunden verbracht zu haben. Und immer verfolgte ihn Eines, immer dasselbe: der Schlüssel machte ihm Pein!

Er warf sich unruhig hin und her. Es mußten wohl Tage vergangen sein! Aber merkwürdig! wenn er aufblickte, sah er noch immer das Licht. Es war noch nicht niedergebrannt.

Wer erneuerte denn diese Lichte?

Aus halbgeschlossenen Lidern starrte er in die Flamme. Wie verlangend streckte er die Hand nach der Richtung aus, in der der Schlüssel glitzerte. Er mußte ihn haben! Er wollte sich aufrichten, aber er taumelte zurück.

Und nun sah er merkwürdige Feuerräder in blauer, hellgrüner und schwefelgelber Färbung, die sich fortwährend drehten, die ihm widerwärtig waren, die er durchaus löschen wollte.

Was hatte er hier zu suchen, am Eingang eines langen langen Ganges? Der war halb hell, von unendlicher Länge, und ganz hinten glänzte eine kleine Lichtkugel.

»Das sind doch wieder die Feuerräder!« sagte er sich. »Die verstellen sich nur!«

Er wollte zurückweichen, aber die Lichtkugel kam immer näher, und nun konnte er ihr nicht mehr ausweichen. Er klebte fest am Boden, und die Kugel kam näher und näher. Und jetzt drehte sie sich und zerplatzte. Und da waren es wieder die tückischen Feuerräder, und diese schossen dann wieder zusammen und bildeten eine fürchterliche Spirale.

O dieser unerträgliche Schmerz! Die Spirale dringt ihm mitten in's Auge … und noch tiefer.

Er keucht. Der Angstschweiß steht ihm auf der Stirn. Wie nach Luft japsend richtet er sich auf, und jetzt ist er wach.

Aber was will denn der grinsende Kutscher, der die Hand hinhält? Ich habe ihn doch bezahlt! … Entschuldigen Sie! Man kann hier so schlecht sehen. Es ist ja das Mädchen mit den aufgesprungenen Händen und dem hohen Hut! … Auch sie nicht? … Ah, Dr. Schlemm! … Sie wohnen in einem netten Hause, das muß ich sagen! … Und weshalb bimmeln Sie denn immer? …

Und er sah all diese Gestalten und sah, wie sie sich verunstalteten, wie sie sich verzerrten, wie sie viel größer und länger wurden, in's Schräge, als wären sie aus Gummi, als wären es Schattenspiele in einer schlechtgestellten Laterna magica.

Und nun wirbeln sie in einem schauerlichen Ringeltanze um ihn herum, und es ist immer dieselbe Bewegung des sich Näherns aus der Ferne bis zu einer erstickenden Nähe und des Zerflatterns in eine unbekannte Weite. Und immer halten sie den Schlüssel, der in all die teuflischen Gaukeleien des Fiebers hineinspukt.

So verging eine unbestimmbare Zeit, bis die völlige Bewußtlosigkeit die entsetzlichen Qualen des Halbbewußtseins ablöste.

*

Frau Böhmer saß in ihrer säubern kleinen Küche und blickte wiederholt auf die Schwarzwälder Uhr, die schon ein Viertel auf zwölf wies. Sie konnte gar nicht begreifen, daß der Herr Assessor – wie sie ihren Miether Herrn Willern mit vorgreifender Höflichkeit nannte – noch immer nichts von sich hatte hören lassen. Sie hatte wie gewöhnlich den Morgenkaffee für halb neun hergerichtet. Sie hatte die Kanne auf den heißen Heerd gestellt, der Kaffee war verbrodelt, und seufzend hatte sie ihn schließlich selbst ausgetrunken und um halb elf neuen gekocht. Nun wartete sie wiederum schon seit nahezu einer Stunde und wartete vergeblich.

Jetzt wurde die Thür aufgerissen, und ihr einziger Sohn Gottfried, ein aufgeweckter dreizehnjähriger Junge, trat mit der Schulmappe unter dem Arm geräuschvoll in die Küche ein.

»Nicht so laut!« rief ihm die Mutter entgegen. »Der Herr Assessor schläft noch.«

Gottfried war sehr verwundert. »So lange kann man doch gar nicht schlafen! Der Herr Assessor wird wohl krank sein.«

»Meinst Du?«

Frau Böhmer, die zur Klugheit ihres Kindes das größte Vertrauen hatte, wurde nun ganz besorgt.

»Ich will einmal leise anklopfen.«

Sie trat an die Thür, die zu dem Vorderzimmer führte, und klopfte leise. Keine Antwort. Sie klopfte stärker. Alles blieb still. Der neugierige Gottfried war auch auf den Corridor der Wohnung getreten und stand in einiger Entfernung hinter seiner Mutter. Sie wandte sich zu ihm um und nickte ihm mit bekümmertem Blick zu, als wolle sie sagen: Du hast Recht gehabt, mein Junge. Sie klopfte noch einmal, und als auch darauf keine Antwort kam, drückte sie vorsichtig die Klinke herab und öffnete die Thür zur Hälfte.

Nun erkannte sie sogleich, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein mußte. Neben dem Tisch lagen am Boden die Scherben der zerbrochenen Karaffe. Die feuchten Flecke auf dem Teppich, die zerstreuten Zündhölzer, Alles das bestätigte ihre unheimlichen Vermuthungen.

Langsam und vorsichtig trat sie ein. Sie sah den Leuchter auf dem Schreibtisch. Das Licht war völlig ausgebrannt. Die Thür zum Schlafzimmer stand offen. Sie klopfte wiederum und horchte auf. Sie hörte schnell athmen, aber es kam keine Antwort. Nun trat sie entschlossen ein. Da erschrak sie heftig. Auf dem zerwühlten Bett lag Richard mit hochgeröthetem Gesicht, die Augen geschlossen, mit hastigem, stöhnendem Athem.

»Herr Assessor!« sagte sie mit halblauter Stimme. »Herr Assessor!« wiederholte sie nach einer Weile ebenso sanft. »Fehlt Ihnen etwas, Herr Assessor?«

Der Kranke gab kein Zeichen der Theilnahme. Frau Böhmer faltete die Hände über ihrer weißen Schürze und schüttelte den Kopf. Sie holte vom Zimmer nebenan die Tischglocke und stellte sie auf den Nachttisch an sichtbarster Stelle, so daß der Kranke, wenn er die Augen aufschlug, die Glocke sogleich erblicken mußte. Sie ließ die Thür zum Nebenzimmer offen und lehnte die Thür nach dem Corridor nur an.

»Gottfried,« sagte sie, als sie in die Küche zurückgekehrt war, »nimm Deine Mütze und lauf, was Du kannst – Du weißt, zum Onkel des Herrn Assessors, dem Professor, der ist Arzt. Und sage ihm, der Herr Assessor sei krank. Ich werde inzwischen Kamillenthee kochen. Mach schnell, mein Junge!«

Gottfried war Osterodes Haus sehr wohlbekannt. Er hatte schon verschiedenemal Bestellungen an Ada und auch an Osterode ausgerichtet. In einer knappen halben Stunde war er an Ort und Stelle.

Er wollte gerade den eisernen Klingelzug ziehen, als die kleine Thür geöffnet wurde, und der Professor, der sich zur Sprechstunde nach seiner Anstalt begeben wollte, heraustrat.

»Guten Tag, Herr Professor! Meine Mutter schickt mich – die Wirthin des Herrn Assessor Willern – und er wäre krank, und Sie möchten doch gleich kommen.«

Osterode fuhr auf.

»So so! Gut also! Warte einen Augenblick, ich nehme Dich mit.«

Er kehrte schnell über den Vorhof zum Laboratorium zurück und rief Dr. Schlemm, der dort arbeitete, zu:

»Ich werde eben in einer dringlichen Sache abgerufen. Wollen Sie die Güte haben, lieber Doctor, nach der Anstalt zu gehen und zu melden, daß man auf mich nicht zählen möge, und daß ich die Herren Assistenzärzte bitten lasse, mich zu vertreten? Besten Dank! Auf Wiedersehen!«

Er hatte die Thür geschlossen, den Vorhof wiederum schnell überschritten und ging nun hastig dem Droschkenhalteplatz an der Ecke zu, während Gottfried neben ihm her trippelte.

»Was fehlt denn meinem Neffen?« fragte Osterode.

»Ich weiß es nicht, Herr Professor. Er hat keinen Kaffee getrunken und liegt im Bett.«

»So so! Na, wir werden ja sehen.«

Während der Fahrt unterhielt sich Osterode gemüthlich mit dem Jungen. Er ließ sich von der Schule erzählen und hatte seine Freude an den Antworten des klugen und natürlichen Burschen.

Frau Böhmer, die während der ganzen Zeit auf jedes Geräusch aufmerksam gespäht hatte, hörte die Droschke halten und öffnete die Thür. Sie erstattete kurzen Bericht. Osterode nickte und trat ein. Er bedeutete Frau Böhmer, ihn mit dem Kranken allein zu lassen.

Als er Richard vor sich sah, nahm sein Gesicht einen tiefernsten und traurigen Ausdruck an. Er streifte die Decke ab, horchte an der Brust, fühlte mit dem Handrücken die glühende Hitze und untersuchte den Puls. Dann führte er das Thermometer in die Armhöhle ein und blieb nun eine Weile in Betrübniß und Nachdenklichkeit auf dem Bette neben dem Kranken sitzen. Er ließ keinen Blick von ihm. Als er endlich von der Scala abgelesen hatte, daß das Fieber um diese noch günstige Tageszeit schon die beängstigende Höhe von über vierzig Grad erreicht hatte, erschrak er sehr heftig. Nun rief er Frau Böhmer und sagte ihr:

»Ich werde Ihnen gleich einen guten Wärter schicken, einen zuverlässigen Mann, der Bescheid weiß. Thun Sie Alles, was der Mann verlangt. Herr Willern ist sehr schwer erkrankt. Er hat ein starkes Fieber. Es ist kaum anzunehmen, daß die Krankheit von einem Tage zum andern so bedenklich geworden sein kann. Haben Sie in den letzten Tagen nichts Besonderes an Herrn Willern bemerkt?«

»Doch, Herr Professor, er hat mir gar nicht gefallen. Er war immer so verstimmt, und er fühlte sich so matt. Er klagte auch über Kopfschmerz. Und dann hat er fast gar nichts hier gegessen, sein Frühstück habe ich immer wieder so herausgetragen, wie ich es gebracht hatte. Er trank nur den Kaffee. Und gestern hat er sehr starkes Nasenbluten gehabt. Ich sagte ihm schon: ›Sie sollten doch mit dem Herrn Professor sprechen,‹ sagte ich ihm. Wenn der Mensch gar nichts ißt, dann kommt er doch herunter.«

»Seit wie lange haben Sie denn die Appetitlosigkeit bemerkt?«

»Ach, schon seit fünf, sechs Tagen … und auch schon früher!«

»So, so! Nun, sorgen Sie dafür, daß die Fenster in dieser Stube offen bleiben. Sie können dafür ein bischen mehr einheizen. Aber das Zimmer darf nicht über dreizehn bis vierzehn Grad haben, und es muß immer frische Luft sein, das ist die Hauptsache. Ich schicke Ihnen gleich den Wärter und komme im Laufe des Nachmittags wieder. Das Bett muß frisch überzogen werden.«

»Aber Herr Professor, es ist erst vorgestern …«

»Das ist ganz gleichgültig, es muß frisch überzogen werden! Und auch der Kranke muß umgekleidet werden!«

»Ich habe Kamillenthee gekocht. Dürfte ich dem Herrn Assessor nicht ein Täßchen geben?«

»Nein. Thun Sie lediglich das, was ich Ihnen sage. Herr Willern soll nichts bekommen, gar nichts, bis ich wiederkomme. Er wird übrigens auch nichts verlangen.«

Frau Böhmer, die auf dem Standpunkte stand daß der Mensch vor allen Dingen zu Kräften kommen müsse, wollte das gar nicht einleuchten. Aber sie beschied sich. Nachdem der Professor sie verlassen hatte, brachte sie das kleine Zimmer in Ordnung, zündete das Ofenfeuer an und öffnete die Fenster.

Eine Stunde später erschien Herr Reck, der zuverlässigste und tüchtigste Wärter der Osterode'schen Anstalt, der, unterstützt von Frau Böhmer, mit sachgemäßer Ruhe und Sicherheit den Kranken umkleidete und frisch bettete. Richard schien kein oder doch nur ein sehr geringes Bewußtsein der Vorgänge zu haben. Manchmal hob er auf einen Augenblick die Lider, um sie sogleich wieder zu schließen. Mitunter machte er auch eine Bewegung mit den Händen, zog die Kniee an; aber gleich darauf versank er wieder in einen Zustand schwerer Trägheit und Unbeweglichkeit.

In den Nachmittagsstunden war Osterode wiedergekommen. Er constatirte, daß die Fieberhitze noch gestiegen war, und die letzte Messung am Abend zeigte die grausige Höhe von fast einundvierzig Grad. Osterode blieb bis lange nach Mitternacht bei dem Kranken. Er hatte seine Frau im Laufe des Tages nicht gesehen …

Ada saß in verzweifelter Stimmung daheim. Daß Richard so von ihr hatte scheiden können, ohne auch nur ein Wort des Abschiedsgrußes an sie zu senden – es war ihr unbegreiflich! Sie war irre an ihm geworden, irre an sich selbst. Also so egoistisch, so schnöde undankbar konnte der Mensch sein – es war ihr bis zu dieser Stunde undenkbar erschienen! Der Onkel hatte befohlen, und der Neffe hatte gehorcht, und damit war es abgethan. Was aus ihr werden würde, darum hatte sich Richard nicht weiter gekümmert. Er hatte vielleicht eine Scene der Rührung, der Verzweiflung befürchtet, die ihn an seinem vernünftigen Entschlusse irre machen könnte; er war dieser Scene aus dem Wege gegangen und hatte es über's Herz bringen können, das Band, das sich, wie sie geglaubt, unlösbar zwischen ihnen geknüpft hatte, leichter Hand zu zerreißen, ohne auch nur einen Laut des Schmerzes von sich zu geben, ja ohne ein heimliches Seufzen des Bedauerns. Denn daß diese Trennung auf unbestimmte Zeit für sie eine Trennung auf die Dauer war, das fühlte sie. Und auch er hatte das sehr wohl gefühlt. Wenn sie daran noch hätte zweifeln können, so würde ihr sein grausames, ja brutales Schweigen jede Selbsttäuschung unmöglich gemacht haben.

In ihre völlige Niedergeschlagenheit mischte sich ein Gefühl äußerster Bitterkeit. Zu dieser Stunde rollte er wohl dem lachenden Süden entgegen, und seine lebensfrohe jugendliche Selbstsucht rieth ihm gleißnerisch, nicht zurückzublicken auf all das Winterliche, Stürmische, Traurige, das er verlassen hatte, nur vorwärts zu schauen auf das sonnige Erwachen des neuen Frühlings.

Ach, für sie gab es keinen Frühling mehr!

Sie war wieder allein, wie sie vordem allein gewesen war! Und jetzt erst wußte sie, wie vereinsamt, wie öde, wie unsagbar traurig ihr Dasein gewesen war, wie trostlos es nun wieder werden mußte. Wiederum war sie zurückgestoßen in das ereignißlose, einförmige Grau, in das Nichts. Und jetzt erst, da sie das Glück gekannt hatte, fühlte sie, wie wahrhaft unglücklich sie war. Auf's Neue sollte sie sich einkerkern in diese fürchterliche Langweile und Oede, allein mit dem Manne, von dem sie sich völlig abgewandt hatte, der ihr geradezu verächtlich geworden war – verächtlich in seinen Unterlassungen und in seinen Handlungen, dessen Vertrauen sie sogar mißachtete! Schlimmer als allein und verzehrt von dem glühenden Verlangen nach dem Unerreichbaren! Sie war völlig gebrochen, und in ihrer Hoffnungsleere schimmerte ihr nur eine Erlösung: das Ende! So konnte sie nicht weiter leben, so nicht!

Mit grausamer Langsamkeit schlich eine Stunde nach der andern dahin. Kein Wort von ihm! Kein Wort.

Ein Glück, daß der Andere sie nicht störte, daß ihr heiliger Schmerz nicht durch unbewußte Rohheit und nicht durch den Zwang eines jämmerlichen Komödienspiels entweiht wurde!

Den ganzen Tag über saß sie in ihrem Zimmer am Fenster, starrte auf den verschneiten Garten, dachte nicht an Speise und Trank und weinte unablässig.

*

Osterode, der am andern Morgen nur einen beunruhigend geringfügigen Rückgang der Abendtemperatur constatirt und der vom Wärter gehört hatte, daß der Kranke in der vergangenen Nacht sehr unruhig gewesen sei und sehr viel in abgebrochenen unzusammenhängenden Sätzen gesprochen habe, fürchtete für den Verlauf des heutigen Tages das Schlimmste. Er war so verstört, daß er den erstarrend traurigen Ausdruck in Adas verhärmten Zügen gar nicht bemerkte.

Schweigsam saßen die Ehegatten bei der Mahlzeit einander gegenüber.

Endlich sagte Ada, und wiederum in jenem leisen Tone, in dem sie früher in diesen Räumen beständig gesprochen hatte:

»Hast Du keine Nachrichten von Richard? Er hatte uns doch versprochen zu telegraphiren.«

Osterode antwortete nicht sogleich. Nach kurzem Besinnen sagte er:

»Ich habe eben eine Depesche bekommen. Er ist wohlbehalten in Paris eingetroffen und läßt Dich grüßen.«

»Danke!« erwiderte Ada.

Weiter wurde kein Wort bei Tisch gewechselt.

Ada war empört. An ihn hatte er telegraphirt! Ein flüchtiger Gruß für sie, das war Alles, wozu er sich hatte aufraffen können! Correcter und deutlicher zugleich hatte ihr der Bruch nicht notificirt werden können. Nur schade, daß gar so wenig Herzlichkeit dabei war. Auch in ihm hatte sie sich getäuscht! In ihm, dem Einzigen, dem sie Alles gegeben, dem bis vor kaum achtundvierzig Stunden Alles gehört hatte – ihr Vertrauen und alles Andere!

Nun wohl, auch das sollte ertragen werden. Hoffentlich auf nicht zu lange Zeit!

Osterode begab sich unmittelbar nach Tisch in Richards Wohnung. Der Wärter Reck, der, als er den Professor in der Thür der Schlafstube erblickte, sich von seinem Sitze erhob, gab diesem ein Zeichen, nicht näher zu treten. Auf den Fußspitzen kam er leise in's Nebenzimmer und lehnte die Thür an.

Die Beiden traten an das entferntere Fenster.

Im Flüsterton sagte Reck:

»Er ist eben ein bischen eingeschlafen, Herr Professor. Wir wollen ihn nicht stören. Es steht sehr schlimm um ihn.«

»Wieviel Grad?« fragte Osterode.

»Ich habe meinen Augen nicht getraut, Herr Professor. Ueber einundvierzig.«

Der Professor schlug die Hände zusammen.

»Und er ist sehr unruhig,« fuhr der Wärter fort. »Er spricht immer von einem Schlüssel, von Briefen. Er will aus dem Bett heraus. Und er ist so schwach, daß er sich kaum aufrichten kann. Herr Professor, wir werden ihn heute kaum noch durchbringen.«

Osterode schwieg. Er ließ sich auf den Stuhl neben dem offenen Fenster nieder, beugte sich nach vorn, und die beiden Unterarme auf die Schenkel stützend, faltete er die Hände. Mit festgeschlossenen Lippen blickte er starr auf den Boden.

Der Wärter hatte sich wieder ganz leise der angelehnten Thür zum Krankenzimmer genähert und horchte.

Da hörte man von innen lallen und sprechen.

Der Wärter trat behutsam ein. Osterode erhob sich und folgte ihm.

Richard öffnete die Augen ein wenig. Er war verwundert, eine zweite männliche Gestalt zu sehen. Er lächelte. Er schien sie zu erkennen. Während er die Augen wieder schloß, furchte er jedoch die Stirn und sagte unwirsch:

»Weg mit dem Andern! Du sollst bleiben!«

Osterode trat nun an's Bett und ergriff die glühende trockene Hand des Kranken, der jetzt wiederum lächelte und wiederum die Augen ein wenig öffnete.

»Ja, Du sollst bleiben! Weg der Andere!«

Osterode gab dem Wärter einen Wink, und dieser begab sich darauf in das Zimmer nebenan.

Richard versank abermals in einen kurzen schweren Schlaf. Osterode ließ keinen Blick von ihm. Plötzlich fuhr Richard mit einem Ruck auf und öffnete ganz weit die Augen.

»Johannes, ich muß die Briefe haben!« rief er.

»Lege Dich ruhig hin, Richard! Beruhige Dich, mein Junge! Ich bin es, Onkel Osterode! Nicht Johannes Schlemm! Und ich bleibe nun bei Dir, bis Du wieder ganz gesund bist. Beruhige Dich nur, mein Junge! Lege Dich ruhig hin.«

»Nein!« keuchte Richard. »Der Onkel darf nichts wissen! Ich muß die Briefe haben! Und den Ring! Alles in den Tegeler See, damit es der Onkel nicht erfährt! Gieb mir die Briefe!«

»Sprich nicht mehr, mein Junge! Sei ruhig!«

»Da in dem Kasten steckt der Schlüssel. Hol' mir die Briefe!«

»Ich werde sie Dir gleich holen. Aber beruhige Dich nur erst.«

Richard schloß die Augen und sagte weinerlich:

»Ach Du bist's, Onkel! Du kannst es mir nie vergeben!«

Er fiel wieder auf das Kissen zurück.

»Sei nur ganz still, ich vergebe Dir Alles.«

»Nein!« schrie jetzt Richard lebhaft. »Du kannst mir nicht vergeben! Du darfst es auch nicht erfahren! Sage Ada nichts. Die arme Ada! Ich allein bin der Schuldige! … Du bist nie gut zu mir gewesen, Johannes. Aber thu mir's zu Liebe! Gieb mir die Briefe! Da aus dem Kasten mit dem Schlüssel! Der Onkel darf's nicht erfahren.«

Osterode, der bisher dem Zustande des Kranken seine vollkommene Theilnahme zugewandt hatte, war während der letzten Worte, die Richard sprach, etwas nachdenklich geworden.

»Rege Dich nur nicht auf! Bleib ruhig liegen!«

Jetzt schnellte Richard wieder auf und schrie hoch und hohl:

»Ihr seid Alle Verräther! Ihr wollt die Briefe dem Onkel geben, damit er Ada tödtet! Ich bin der Schuldige! Ich hole mir die Briefe!« Und er machte den Versuch, aus dem Bett zu springen.

Mit liebevoller Vorsicht vereitelte Osterode das wahnsinnige Beginnen.

»Ihr seid Alle Schurken!« schrie Richard, wüthend über seine Ohnmacht. »Und Du bist immer ein Schurke gewesen, Johannes! Ja, Du, Schurke! Du bist der Einzige, der es gewußt hat! Der Onkel hat nichts geahnt, und nun sagst Du es ihm und giebst ihm die Briefe!«

Osterode hatte sich bisher lediglich um die Thatsache der Fieberphantasie gekümmert und den Inhalt der Worte kaum beachtet. Die Beharrlichkeit aber, mit der der Fiebernde auf die Briefe, auf Ada und den Onkel zurückkam, verursachte ihm ein immer wachsendes Unbehagen, das sich endlich sogar zu einer starken Beunruhigung steigerte. Es legte sich ihm eiskalt um's Herz, und er blies die Nasenflügel auf.

Richard war seit einigen Minuten wieder in den Zustand apathischer Regungslosigkeit verfallen.

Osterode betrachtete ihn, und während dieser Beobachtung nahm sein Gesicht einen schwer sorgenvollen, ja unheimlich finstern Ausdruck an. Nach einiger Zeit verrieth das Zittern der Augenlider und das Zucken um den Mund des Kranken, daß diesem das quälende Halbbewußtsein wiederkehrte. Er warf sich auf seinem Lager herum und murmelte:

»Ada muß fliehen! Ich bleibe! Ich sage dem Onkel, daß wir uns lieben! Ich selbst! Nicht Ihr Schurken! Du nicht, Johannes! Und ich hole die Briefe!«

Er schnellte wieder auf. Osterode drückte ihn behutsam und schonend auf das Lager zurück und deckte ihn zu.

»Onkel? Du bist's? Woher kommst Du denn?« fragte Richard höchlich erstaunt. »Du willst es selbst wissen? Ich sage es Dir auch. Gieb mir nur erst die Briefe und den Ring! Das ist ein rührender Ring! Den laß mir! Der Schurke Johannes unterschlägt ihn sonst! Gieb mir die Briefe, da aus dem Kasten im Schreibtisch! Der Schlüssel steckt. Hätte ich ihn nur abgezogen!«

Er schluchzte, und während die Thränen über seine Wangen rollten, schlief er wieder ein.

Osterode sah die Thränen rinnen, und eine furchtbare Angst überfiel ihn. Jener entsetzliche Gedanke, der sich seit einigen Augenblicken in ihm regte, bemächtigte sich seiner und machte ihn erbeben. Er selbst war seiner Sinne in diesem Augenblicke kaum mächtig. Mit zitternder Hand füllte er ein Glas mit Wasser und stürzte es herunter. Der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn.

Da schlug der Kranke die Augen wiederum auf. Jetzt erkannte er den Oheim und schien nun zu verstehen, was das zu bedeuten habe. Mit durchdringender Stimme stieß er einen kreischenden Schrei aus, der Osterode durch Mark und Bein ging. Auch Reck erschien schnell an der Thür. Osterode winkte ihm ungeduldig, bei Seite zu treten.

Richard, der in qualvollster Aufregung keuchte, raffte mit äußerster Anspannung Alles, was ihm noch an Kräften verblieben war, zusammen und flehte:

»Vergieb Ada! Alles über mich! Da die Briefe! Hol sie mir! Die Briefe und den Ring! Ich beschwöre Dich, Onkel! Das Einzige, das Letzte, was ich bitte! Die Briefe aus dem Kasten! … Der Schlüssel …«

Und er zeigte mit schlotterndem Arm nach seinem Schreibtisch. Dann sank er wieder auf's Kissen zurück. Aber immer zeigte seine zappelnde Hand nach dem Kasten, und sein Auge, das sich in kurzen Zeiträumen öffnete und schloß, bewahrte immer denselben angstvollen flehenden Ausdruck.

Halb von dem vorsorglichen Wunsche getrieben, den Kranken, den der Inhalt jenes Kastens offenbar stark erregte, zu beruhigen, halb aber auch von der Gier erfüllt, einen schauerlichen Verdacht, den er auszudenken sich scheute, von sich abzuschütteln, erhob sich Osterode und trat langsam an den Schreibtisch heran. Reck stand am offenen Fenster mit abgewandtem Gesicht und blickte auf die Straße hinaus, auf der ein mit Eisenschienen beladener Wagen langsam und sehr geräuschvoll daher gerollt kam.

Osterode drehte den Schlüssel und zog den Kasten auf. Beim ersten Blick erstarrte er. Seine Finger krümmten sich, und wie mit den Krallen eines Raubthiers griff er nach den Briefen und führte sie ruckweise vor seine Augen.

Er las nur drei, vier Worte. Es war genug, übergenug.

Er zerknitterte sie hastig und steckte sie ein.

Da war noch ein Kästchen. Ihr Ring! Ihr Bild! Ihr Ring – sie hatte ihm vorgelogen, daß sie ihn verloren habe. Da lag er!

Der Boden schwankte ihm unter den Füßen, es schwindelte ihn, er hielt sich fest. Das Zimmer drehte sich. Er sah Alles verschwommen, kornblumenblau, dazwischen ein feuriges Meer. Ihm war, als hätte er einen Schlag mit einer Axt auf den Kopf bekommen. Er war völlig stumpf geworden.

Die Entdeckung der ungeheuren Schande, des unglaubhaften Betrugs, verübt von ihm, dem Einzigen, den er geliebt! Er hatte keine Besinnung mehr, nur ein dumpfes Empfinden rasender Wuth, unermeßlichen Zornes.

Und da drinnen lag der Verräther, der Bube, den er tödten mußte!

Und jetzt stand Osterode wieder vor dem Lager des Fiebernden, und er beugte sich über ihn so nahe, daß sie sich fast berührten, und das dumpfe Keuchen und das heiße Athmen aus der Brust der beiden Kranken verschwisterte sich. Sie waren Kopf an Kopf. Er hatte den Kranken an beiden Schultern gepackt, und er röchelte mit schnaubenden Nüstern:

»Das hast Du mir gethan! Du! Du! Du!«

Und er schüttelte den Unglücklichen drei-, viermal.

Widerstandlos folgte der schwache Körper der gewaltthätigen Bewegung. Richards Auge öffnete sich noch einmal, und mit verglastem Blick sah es in das geröthetete fürchterliche Auge des Oheims. Dann fiel es zu. Und der Kopf sank haltlos nach hinten, etwas auf die Seite, und bei dem letzten Ruck fiel der Kopf schwer nach vorn.

Osterode sah das. Unwillkürlich löste er die Klammern, die die Schultern des Kranken festhielten, und da fiel der Körper leblos auf's Lager zurück.

Osterode war entsetzt. Er hielt den Athem an, blieb einen Augenblick unbeweglich und horchte auf. Er hörte keuchende Laute. Der Ton kam aus seiner eigenen Brust. Der Mund des Andern blieb stumm.

Er warf die Decke ab, riß das Hemd auf und legte das Ohr auf's Herz. Alles stumm. Die eingesunkene Brust hob sich nicht mehr. Das Leben war entflohen.

Osterode stieß einen furchtbaren Schrei aus. Reck, der noch immer am offenen Fenster stand und bei dem gewöhnlichen Straßenlärm und dem Rasseln des mit Schienen beladenen Wagens, der jetzt gerade beim Hause vorüberfuhr, von den Vorgängen bis dahin nichts gehört hatte, sprang dem Professor, der wie ein Wahnsinniger aus der Schlafstube stürzte, zur Seite.

»Was ist geschehen, Herr Professor?«

»Ich habe ihn gemordet!« schrie der Professor wie ein Rasender. »Lassen Sie mich! Fassen Sie mich nicht an! Sonst schlage ich Sie todt! Ich schlage Alles todt, was mir in den Weg tritt!«

Er suchte nach seinem Hute.

»Ihn zuerst und jetzt sie!« sagte er, während er den Hut aufstülpte, und er stürmte davon.

Reck zog die Schultern in die Höhe und trat langsam in die kleine Stube, in der der Todte ruhte.

*

Wie Osterode in einer Droschke den Weg von Richards Wohnung nach seinem Hause zurücklegte, das kam ihm selbst nicht zum Bewußtsein. Er hatte besinnungslos das Zweckmäßige gethan, hatte die nächste Droschke genommen, bezahlt, die richtige Adresse angegeben; aber er wußte von alledem nichts. Er achtete nicht auf den Weg, er wußte nicht, ob es lange dauerte oder nicht, er wußte nicht einmal, wo er sich befand.

Schande! Schande! Schande!

Das war das Ungeheuerliche, das sich auf ihn gewälzt hatte, das mit ihm rang, das ihn bewältigte. Er hatte nicht gewußt, was es war. Es war für ihn bis zu diesem Augenblicke ein leerer Begriff gewesen. Nun hatte dieses Wort seinen grausigen Inhalt bekommen. Es erdrosselte ihn. Ja, es schnürte ihm die Kehle zusammen, und er würgte. Ihm wurde übel, und es flimmerte ihm vor den Augen. Der Schnee färbte sich blutig roth, dann wieder hellgrün. Und dann wieder ein Feuermeer.

Er legte sich keine Rechenschaft davon ab, was er zu thun hatte. Er wußte nur, das er hastig zum Ziele kommen müsse. Und als die Droschke hielt, sprang er mit einem Satze hinaus und riß gewaltig an dem eisernen Klingelzuge. So schnell die Thür auch geöffnet wurde, es war doch viel zu langsam.

Er stürmte an seinem Diener vorbei, der ihm ganz erstaunt nachblickte. Und auch Dr. Schlemm, der durch das ungewöhnlich starke Schellen aufmerksam geworden war, stand von seinem Arbeitstisch auf und sah in höchstem Erstaunen den Professor über den Vorhof rasen und die Hausthür aufreißen. Athemlos war dieser die Treppe hinaufgestürmt. Und nun stand er keuchend auf der Schwelle des Wohnzimmers.

Ada fuhr aus ihren trübseligen Träumereien entsetzt auf, als sie ihn da erblickte. Er stand noch immer auf der Schwelle. Er hatte die Beine und Arme gespreizt und berührte mit den Füßen und Händen die Pfosten. Er hatte die Stellung eines gekreuzigten Märtyrers. Seine Augen blickten scheel, seine blauen Lippen bebten. Er wußte nichts was er da wollte. Er hatte nur das dunkle Gefühl, sie dürfe ihm nicht entrinnen, und er selbst müsse die Thür bewachen.

Ada war entsetzt. Mit einem Blick hatte sie die volle Wahrheit erkannt. Sie wußte Alles. Ihre Kniee schlotterten. Todesangst marterte sie. Nach einem Augenblick fürchterlichen Schweigens, während dessen Osterode wie festgenagelt auf der Schwelle stehen geblieben war, stieß er rauh und heiser die Worte hervor:

»Du Ehrlose! Du Dirne! Schande hast Du über mich gebracht! Schande!«

In wildem Schrecken sprang Ada jetzt zurück und duckte sich hinter einen hohen Lehnstuhl.

»Verstecken willst Du Dich, Du Memme? Aber bei Gott, Du sollst mir nicht entwischen! Und ich tödte Dich, wie ich ihn getödtet habe! Den undankbaren Buben!«

Und nun fiel sein Blick auf den Kasten, in dem in einem ledernen Futteral wohlverwahrt jener Revolver lag, den er zur Beschwichtigung der angstvollen Anwandlungen Adas auf seinem alten Platze gelassen hatte. Er stürzte auf den Tisch zu und riß den Kasten auf.

Ada sprang auf, und einen hohen Schrei des Entsetzens ausstoßend, lief sie an ihm vorüber und gewann die Treppe. Jetzt hatte Osterode das Futteral abgestreift, und den Revolver in der Hand folgte er in wahnsinniger Wuth. Sie rannte durch die Hausthür, die Osterode nicht wieder verschlossen hatte. Da fiel ein erster Schuß. Die Kugel drang in den Pfosten.

»Hülfe! Hülfe!« schrie Ada, die jetzt auf dem Vorhofe angelangt war.

Ein zweiter Schuß, der sein Ziel verfehlte.

Ada rüttelte an der kleinen Thür. Sie war verschlossen. Ada wagte nicht, sich umzusehen, aber sie hörte hinter sich den rasenden Verfolger, und kein Entrinnen.

Ein eingefriedigter Raum, eine Mauer, eine verschlossene Thür – kein Entrinnen!

»Hülfe,« schrie sie noch einmal.

Der Diener aus Ostpreußen, durch den Ruf alarmirt, stürzte in diesem Augenblicke aus dem Hause. Gleichzeitig öffnete sich die Thür des Laboratoriums, und die stämmige Gestalt des Dr. Schlemm trat dem Besinnungslosen in den Weg. Da hob Osterode, durch den unerwarteten Widerstand noch rasender gemacht, den Revolver zum dritten Mal, und noch ehe es Schlemm möglich gewesen war, den Wüthenden zu halten, krachte der dritte Schuß, und mit leichtem Aufschrei brach Ada an der kleinen Mauerthür, an der sie vergeblich gerüttelt hatte, zusammen.

Der Diener und Schlemm hatten Osterode gepackt, zu Boden geworfen und ihm den Revolver entrissen. Es war kein Leichtes gewesen, denn Osterode, dem der Zorn die Kräfte eines Riesen gegeben hatte, schlug wüthend um sich. Aber nun, da er am Boden lag, wurde er ruhig.

»Halten Sie ihn fest!« sagte Schlemm. »Er ist tobsüchtig! Halten Sie ihn fest! Ich will nach der Andern sehen.«

Schlemm begab sich zu Ada. Er kniete neben ihr nieder. Sie athmete noch. Die Kugel war durch das Schulterblatt eingedrungen. Der Blutverlust war ein geringer. Nur einige wenige rothe Tropfen auf dem frischen Schnee.

»Wir brauchen schleunige Hülfe!« rief Schlemm.

Auf der Straße vor der Mauer hatte sich schnell eine dichte Menschenmasse aufgestaut, und die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren dicht besetzt. Man hörte im Vorhofe das Rumoren einer unruhigen Menge. Auf einmal wurde das Brausen stärker, und dann trat vollkommene Stille ein. Es wurde an der Klingel gezogen.

»Wer ist da?« fragte Schlemm.

»Oeffnen Sie! Die Polizei!«

»Gott sei Dank!«

Er ließ sich vom Diener den Schlüssel reichen und öffnete sogleich. Es traten zwei Schutzleute ein.

»Ein Glück, daß Sie kommen! Aber wir brauchen noch mehr. Professor Osterode hat in einem Anfall von Tobsucht auf seine Frau geschossen. Die Verwundete, deren Wunde ich hier nicht untersuchen kann, muß sogleich in's Haus geschafft werden. Der Professor muß unter starker Bewachung irgendwo sicher untergebracht werden.«

Einer der Schutzleute ging sogleich wieder ab, um die erforderlichen Hülfsmannschaften herbeizuholen. Der andere blieb zu Schlemms Verfügung am Orte der That. Und die Beiden, unterstützt vom Kammermädchen und der Köchin, die auch herzugekommen waren, trugen die besinnungslose Ada in das Haus. Franz blieb bei seinem Herrn, der inzwischen aufgestanden war, und dessen Arm er in den seinigen gelegt hatte.

Osterode sah, ohne ein Zeichen besonderer Theilnahme von sich zu geben, das grausige Schauspiel an sich vorüberziehen, wie die Vier langsam und unbeholfen ein ohnmächtiges, vielleicht schon lebloses Weib über den Vorhof schleppten, im frischen Schnee tiefe schlürfende Spuren zurücklassend.

Als das Knäuel Menschen in der Hausthür verschwunden war, sagte Osterode zu seinem Diener:

»Du darfst ganz unbesorgt sein, Franz! Ich bin wieder ruhig geworden. Ich mache keinen Fluchtversuch. Aber mich friert hier. Bring mich in's Laboratorium. Da wollen wir auf die Anderen warten.«

»Ja, ich weiß nicht, Herr Professor, ob ich darf.«

»Du darfst, Franz! Du darfst es ruhig thun! Ich werde Dir keine Ungelegenheiten bereiten. Du kennst mich ja lange genug.«

»Jawohl, Herr Professor.«

Die Beiden traten in das Laboratorium ein. Osterode ließ einen Stuhl an den Ofen rücken und setzte sich darauf. Franz stand hinter ihm. Osterode zitterte heftig. Mit der Spitze seines Stiefels hob er den Riegel der kleinen eisernen Ofenthür und öffnete diese. Die ausströmende Hitze that ihm wohl. Er blickte unablässig in die Gluth. Er fühlte eine Mattigkeit zum Umsinken. Er betastete seine Taschen. Da waren die zerknitterten Briefe, und da auch die kleine Schachtel. Er wollte die Briefe lesen. Aber nein! Wozu? Er wußte ja genug. Und er warf die fünf, sechs beschriebenen Blätter in's Feuer. Sie verzehrten sich ungewöhnlich langsam. Helle hohe Flammen loderten zuerst an den Seiten auf. Die Blätter krümmten sich, dann schwärzten sich die Ränder, aber noch immer konnte man die Schrift sehr wohl lesen, bis sie endlich zu verkohlten, schwarzen, dünnen, verschrumpelten und aufgerollten Blättchen wurden, wie die Blätter der La France-Rose, und von dem Geschriebenen keine Spur mehr übrig blieb. In der Gluth wurden die schwarzen kohlenden Blättchen allmählich grauer und zerfielen. Osterode betrachtete das Alles sehr aufmerksam, als ob er es zum ersten Mal gesehen hätte.

Ada war in ihr Zimmer gebracht, von den beiden Frauen entkleidet und auf ihr Bett gelegt worden. Sie hatte die Besinnung nicht wiedergefunden. Dr. Schlemm hatte die Wunde aufmerksam durchsucht. Ein abschließendes Urtheil hatte er noch nicht gewinnen können. Er mußte indessen annehmen, daß die Kugel, die er aus dem Körper zu entfernen bisher nicht vermocht hatte, edlere Theile, namentlich die Spitze des linken Lungenflügels verletzt habe. Er fürchtete also den tödtlichen Ausgang, wenn er auch noch nicht alle Hoffnungen aufgegeben hatte. In diesem Sinne sprach er sich auch dem Polizeilieutenant gegenüber aus, der inzwischen mit den erforderlichen Mannschaften eingetroffen war und zunächst für die Säuberung der Straße Sorge getragen hatte.

Schlemm erklärte, daß er schon seit geraumer Zeit bei dem Professor eine hochgradige Nervosität beobachtet und namentlich in den letzten zwei Tagen eine sehr starke Veränderung, gesteigerte Unruhe und Gereiztheit wahrgenommen habe. Für ihn unterliege es keinem Zweifel, daß in Professor Osterode der Wahnsinn ausgebrochen sei, und daß er in einem Anfall von Tobsucht das Verbrechen begangen habe. Schlemm sprach sich ferner dahin aus, daß er das Verhältniß der Ehegatten zueinander sehr genau gekannt und niemals irgend etwas gesehen oder gehört habe, das sich mit der jetzt eingetretenen Katastrophe in Zusammenhang bringen ließe. Der Professor sei ein stiller, ruhiger, unablässig fleißiger Wissenschafter, und die Handlung, deren er sich schuldig gemacht, sei bei ihm nur durch die Umnachtung seiner Verstandeskräfte zu erklären. Er befürworte es daher auf das Dringlichste, daß Professor Osterode sofort einer strengen ärztlichen Beobachtung unterstellt werde, denn er sei nicht für das Gefängnis sondern für das Irrenhaus reif. Die Möglichkeit, daß sich der Tobsuchtsanfall in kurzer Zeit wiederhole, sei durchaus nicht ausgeschlossen. Aber wenn dieser auch isolirt bliebe, so würde das an seiner wissenschaftlichen Ueberzeugung nichts ändern.

Infolge dieser Begutachtung wurde Osterode, dem man seinen Diener Franz belassen hatte, von diesem und zwei Schutzleuten begleitet, bei einbrechender Dunkelheit in einer Droschke nach der Heilanstalt für Gemüthskranke gebracht, deren dirigirender Arzt er bisher gewesen war. Das gesammte Personal der Anstalt, die Aerzte, die Wärter und die Beamten waren von dem tragischen Ereignisse tief erschüttert.

Ada hauchte in den Abendstunden ihr Leben aus, ohne die Besinnung wiedererlangt zu haben.

*

Die Vorgänge fanden in der Oeffentlichkeit folgende Darstellung, die am andern Morgen in allen Blättern zu lesen war:

»Ein tragisches Ereigniß hat alle Kreise unserer Stadt in schmerzliche Aufregung versetzt. Professor Dr. Alexander Osterode, der dirigirende Arzt unserer Hauptheilanstalt für Nervenleidende, der auf dem Gebiete der Psychiatrie eine der ausgezeichnetsten Stellungen einnimmt, hat in einem Anfalle von Tobsucht seine junge und anmuthige Frau Ada, geborene Buchner, mit der er in zehnjähriger glücklicher Ehe in ungestörtester Eintracht gelebt hatte, getödtet. Die dem unglücklichen Gelehrten nahestehenden Freunde und Berufsgenossen, namentlich sein Mitarbeiter an einer größeren wissenschaftlichen Arbeit, mit der Professor Osterode in den letzten Monaten unablässig sich beschäftigte, Dr. med. Johannes Schlemm, hatten während der letzten Wochen eine auffällige Veränderung an ihm wahrgenommen. Der sonst so ruhige und klare Mann war merkwürdig nervös und unstät geworden, dabei sehr zerstreut und vergeßlich. Während dieser Zeit hatte er zwar noch immer sehr viel gearbeitet, aber das Resultat dieser Arbeit war ein völlig ungenügendes. Sein viel jüngerer Mitarbeiter mußte den Professor wiederholt auf die stärksten Versehen, eine vollkommene Unzulässigkeit in der Kühnheit verwegener Folgerungen und auf völlig laienhafte Uebertreibungen aufmerksam machen. Und schon bei diesen wissenschaftlichen Controversen zeigte sich eine krankhafte Reizbarkeit.

»Wenn dieser Zustand auch berechtigte Bedenken hervorrufen mußte, so war er doch keineswegs dazu angethan, auf einen so jähen und verhängnißvollen Ausgang, wie er ihn jetzt genommen hat, schließen zu lassen. Diese völlig unerwartete und plötzliche Verschlimmerung hat ihre unmittelbare Ursache außer den allgemeinen Krankheitserscheinungen augenscheinlich in einer sehr starken psychischen Erregung, die durch den Schmerz um den Tod eines heißgelieben Verwandten hervorgerufen worden ist.

»Der Neffe des Unglücklichen, Herr Richard Willern, der hier am Kammergericht als Referendar beschäftigt war, ein aufgeweckter, hoffnungsreicher junger Mann, dem Professor Osterode sein ganzes Herz geschenkt hatte, und der im Hause seines Oheims wie ein Kind des Hauses verkehrte, erkrankte vor wenigen Tagen an einem heftigen nervösen Fieber. Professor Osterode pflegte seinen lieben Anverwandten mit treuester Hingabe. Er weilte Tag und Nacht am Bett des Kranken und versäumte alle anderen Pflichten, die sein Beruf ihm auferlegte. Zu seinem tiefsten Kummer, den er vor aller Welt verbarg, mußte er wahrnehmen, wie das junge Leben grausam zerstört wurde, und wie alle Kunst des Arztes hier vergeblich sei. Vorgestern Nachmittag gegen fünf Uhr starb Richard Willern in Gegenwart seines treuen ärztlichen Pflegers und Verwandten.

»Dieser Tod machte auf Professor Osterode einen erschütternden Eindruck. Es hat durch das Zeugniß des Krankenwärters Reck festgestellt werden können, daß in diesem Augenblicke der Wahnsinn in ihm ausgebrochen ist. Er, der den kranken jungen Mann mit äußerster Liebe und Schonung gepflegt und ihm noch wenige Augenblicke vor dessen Tode die zärtlichsten Worte des Trostes und der Beruhigung zugesprochen hatte, schrie auf einmal wild auf und erklärte, er habe seinen Neffen ermordet. Er bedrohte auch den hinzuspringenden Wärter mit dem Tode und stürzte davon. Er eilte in seine Wohnung, ergriff einen Revolver, den er seit langer Zeit stets handbereit hatte, und feuerte auf seine Gattin zuerst im Hause selbst den ersten Schuß ab. Die entsetzte Frau flüchtete auf den Vorhof. Der Rasende folgte ihr und gab noch zwei Schüsse ab, bevor es den durch den Hülferuf und die Schüsse aufgeschreckten Mitbewohnern des Hauses, dem Diener und dem Assistenzarzt Dr. Schlemm, der im Laboratorium arbeitete, gelingen konnte, den Rasenden zu überwältigen. Der letzte Schuß traf die unglückliche Frau in den Rücken, zertrümmerte das Schulterblatt, drang in die Lunge ein und verursachte eine innere Verblutung, deren Folgen Frau Ada Osterode in der zehnten Abendstunde erlegen ist.

»Professor Osterode wollte offenbar noch Hand an sich legen. Dieses unselige Vorhaben konnte indessen durch die Genannten, Dr. Schlemm und den Diener, rechtzeitig vereitelt werden. Professor Osterode ist der Irrenanstalt übergeben worden und ist Gegenstand der aufmerksamsten ärztlichen Untersuchung.

»Die Sachverständigen haben schon jetzt nach den klar vorliegenden Thatsachen ihr Gutachten dahin abgeben dürfen, daß der Staatsanwaltschaft wohl die Mühe erspart bleiben wird, sich mit der überaus traurigen Angelegenheit weiter zu befassen. Das unselige Opfer, Frau Ada Osterode, und der an demselben Tage an typhösem Nervenfieber verschiedene Herr Richard Willern werden morgen von der Leichenhalle des Kirchhofs der Dorotheen-Gemeinde bestattet werden. Die telegraphisch herbeigerufenen Anverwandten, die Mutter des Herrn Willern und die Eltern der jungen Frau, glaubten den Wünschen des geistig Umnachteten und nicht mehr Dispositionsfähigen liebevoll dadurch zu entsprechen, daß sie die sterblichen Ueberreste der Beiden, die er am meisten geliebt hat, nebeneinander betten.

»Die Wissenschaft hat in Professor Osterode eine bedeutende Kraft verloren. Aber dieser Verlust ist allerdings älter, als das tragische Ereigniß, über das wir hier berichtet haben. Die grundlegende wissenschaftliche Arbeit Osterodes ist bereits vor zehn Jahren abgeschlossen, und die Herausgabe seines unvollendet gebliebenen Werkes würde dem Gelehrten vielleicht eine starke Enttäuschung bereitet haben. Die Spuren der Verworrenheit sind hier schon deutlich wahrzunehmen, und vom Standpunkte der Wissenschaft ist es nicht zu beklagen, daß dieses Werk nicht zum Drucke gelangt. Durch das hervorragende Werk ›Ueber die mechanischen Störungen des Gehirns‹ hat Professor Osterode dafür gesorgt, daß sein Name auf dem Gebiete der psychiatrischen Forschung als erste Autorität gefeiert und dauernd in Ehren bleiben wird.«

Der Verfasser dieses Aufsatzes war Dr. Johannes Schlemm.

*

Osterode erkrankte in den nächsten Tagen infolge der furchtbaren Erregungen sehr bedenklich. Er wußte ganz gut, wo er war. Er wußte, daß man ihn für verrückt hielt. Er verstand die Fragen, die an ihn gestellt wurden. Er mußte lächeln, daß man ihn für wahnsinnig halten konnte.

Aber dann fragte er sich: Folgt aus dem Umstande, daß ich vollkommen klaren Sinnes zu sein glaube, folgt daraus, daß ich objectiv wirklich vollkommen klar bin? Ich habe den unwillkürlichen Hang, meine Collegen in ihrer Auffassung, daß ich geistesgestört sei, zu unterstützen. Dabei bin ich doch ehrlich. Ist nun diese Fähigkeit des Simulirens oder diese Lust am Simuliren nicht selbst schon etwas Krankhaftes? Und wenn ich mir vergegenwärtige, was da geschehen ist! Habe ich Richard getödtet oder ist er unter dem zufälligen Druck meiner Hände am Fieber gestorben? Ich weiß es nicht. Und was dann geschehen ist, ich weiß es erst recht nicht. Ich sah immer Flammen. Und ich hätte sie nicht getödtet, wenn sie sich nicht versteckt hätte. Das hat mich rasend gemacht – rasend, wie man so zu sagen pflegt, oder wirklich rasend im wissenschaftlichen Sinne? Und daß ich's überlebe, daß sich der Schmerz um Richard so schnell abgestumpft hat, daß ich um sie so wenig trauere – ist das nicht auch krankhaft? Ich glaube, hier sind Kranke, die weniger krank sind als ich. Ich muß mich allmählich beruhigen, wieder festigen. Jetzt fühle ich mich noch viel zu schwach und bin viel zu feige, um in's Leben wieder hineinzutreten. Hier ist mir jetzt am wohlsten. Die Briefe sind verbrannt, das weiß ich genau. Das Geheimniß ist niemals über meine Lippen gekommen, und es wird mit mir begraben werden. Und bei allem Unglück ist mir doch das Schlimmste erspart geblieben: die Schande. Richard ist todt. Ich habe ihm vergeben und der Andern auch. Jetzt will ich mich nur ruhig sammeln, und wenn ich mich stark genug fühle, nun, dann mag die Arbeit aufs Neue beginnen.

Osterode war gegen seine Umgebung ziemlich theilnahmlos geworden. Er sprach fast gar nicht. Er war nicht im Stande, sich viel zu beschäftigen. Er las nur ganz leichte Seetüte. Im Register der Anstalt war er aufgeführt unter den Fällen der tiefen Schwermuth.

*

Etwa zwei Jahre später erschien ein Werk, das in der medicinischen Literatur das größte Aussehen machte: »Sinnestäuschungen, von Dr. Johannes Schlemm«. Im Vorworte erzählte der Verfasser, daß er zu diesem Werke angeregt worden sei durch seinen unglücklichen Lehrer Professor Osterode, der über den Gegenstand, den er nunmehr in strenger wissenschaftlicher Sichtung als das Ergebniß jahrelanger Studien der Oeffentlichkeit vorlege, ebenfalls sehr viel geschrieben und ihm einen Wust von Manuscripten zurückgelassen habe. In diesen sei allerdings fast Alles unbrauchbar gewesen, aber immerhin hätten sich unter der Spreu einige Körnchen echten Goldes vorgefunden, und dafür wolle er seinem erkrankten Freunde und Lehrer dankbar die Hand schütteln. Außer der Anregung und einigen wenigen, wenn auch durchaus nicht werthlosen Einzelheiten, die er ausschließlich dem Verdienste Osterodes zuzuschreiben habe, dürfe er das ganze Werk in seiner Anlage, in seinen einzelnen Untersuchungen, in seinen Voraussetzungen und Schlußfolgerungen als sein alleiniges geistiges Eigenthum in Anspruch nehmen. Möge es nun gut oder schlecht sein – er halte es für seine Pflicht, den Namen Osterodes, den er bei diesem Anlaß habe nennen müssen, von der Verantwortlichkeit für das Buch freizusprechen.

Inzwischen hatte sich der Zustand Osterodes nach der Ansicht seiner Aerzte derart gebessert, daß man seinem Antrag auf Entlassung kaum noch etwas entgegenstellen konnte. Er durfte sich schon seit langer Zeit frei bewegen. Seine Seetüre wurde nicht mehr überwacht. Man ließ ihn auch ungestört arbeiten.

Durch eine Zeitungsnotiz erhielt er Kenntniß von dem Erscheinen des Buches. Er ließ es sich durch seinen Diener anschaffen. Er las das heuchlerische Vorwort. Er durchblätterte das Werk. Es war von Anfang bis zu Ende seine eigene Arbeit, und nur die wenigen durchaus unerheblichen Schlußcapitel, die einfach die Bilanz des Ganzen zogen, waren von Schlemm hinzugefügt.

Wenn er gegen dieses Plagiat öffentlich aufträte, würde die Welt ihm glauben? Würde man in einem solchen Proteste, dem die geistige Erregung über die erlittene Beraubung sicherlich auch einen leidenschaftlichen Ausdruck gegeben haben würde, nicht den offenkundigen Beweis des Fortbestehens seiner geistigen Störung erblicken? Man hatte ihm seine Ehre als Mann gestohlen, nun stahl man ihm seine Ehre als Wissenschaftler! Er ergab sich auch darein, wenn auch nicht ohne heftigen Kampf.

Er wurde so erregt, daß seine Entlassung, die schon angeordnet war, auf seinen eigenen Antrag gestundet wurde. Von der Ursache der Erregung sprach er mit Niemand. Er blieb noch ein volles Jahr in der Anstalt.

Im März 1869 hatte man ihn dorthin gebracht, im Frühjahr 1872 zog er in sein altes, großes, einsames Haus wieder ein. All die gewaltigen Vorgänge, die sich in jenen bedeutungsvollsten Jahren unserer Geschichte ereignet hatten, berührten ihn nur wenig. Er wußte kaum, daß inzwischen ein deutsches Reich mit einem Kaiser an der Spitze entstanden war. Das Laboratorium war geschlossen. Er arbeitete regelmäßig in den beiden Zimmern des ersten Stocks an einem großen, mehr philosophischen als medicinischen Werke über Simulation. Er las sehr viel und sprach fast gar nicht. Mit der Außenwelt verkehrte er überhaupt nicht mehr. Er hatte Angst davor, dem Dr. Johannes Schlemm zu begegnen. Er wußte nicht, wie er sich diesem gegenüber stellen solle.

Die Besorgniß war unbegründet. Herr Dr. Schlemm war auf Grund seines bahnbrechenden Werkes über Sinnestäuschungen als ordentlicher Professor an eine erste Universität Süddeutschlands berufen worden.

Osterode blieb den ganzen Tag über auf seinem Zimmer. Mitunter machte er einen kleinen Rundgang von wenigen Minuten durch den verwilderten Garten. Allabendlich aber kurz nach Sonnenuntergang unternahm er seinen größeren Spaziergang.

So hatte er es jahrelang gehalten. Die Nachbarn nannten ihn den »verrückten Professor«.

Die einzigen Leute, die außer den Hausgenossen das Wort an ihn richteten, waren die beiden Pförtner der Kirchhöfe, die ihn allabendlich am Ein- und Ausgange erwarteten und regelmäßig ihr kleines Trinkgeld erhielten.

*

An einem sehr kalten Januarabend dieses Jahres wartete der Pförtner am Ausgang des Charité-Kirchhofs ungewöhnlich lange. Der Professor hatte sich jedenfalls verspätet. Es war schon ganz dunkel geworden, und die trockene Kälte war um so unangenehmer, als ein eisiger Wind aus Osten blies. Vergeblich trabte der Pförtner vor der Gitterthür in kleinen Schritten auf und ab und suchte sich durch kräftige Bewegungen mit den Armen, indem er weit ausholend diese über der Brust zusammenschlug, zu erwärmen. Der sonst so pünktliche Professor ließ sich heut nicht blicken. Der Alte wartete noch eine halbe Stunde. Dann suchte er grommelnd seine warme Stube auf.

Am andern Morgen traf er mit seinem Collegen vom andern Kirchhof zusammen.

»Der Professor ist ja gestern nicht gekommen.«

»Doch! Wie immer, als es schummerig wurde, kurz nach vier.«

»Und ich habe bis nach sechs Uhr dagestanden. Das ist doch merkwürdig.«

»Und er ist nicht hinausgegangen?«

»Nein.«

»Das ist allerdings merkwürdig. Dann muß er ja noch hier sein.«

»Wir wollen uns jedenfalls nach ihm umsehen. Es könnte ja was passirt sein.«

»Es wird doch nicht!«

Und die Beiden machten sich auf den Weg. Aufmerksam spähend schritten sie erst auf den großen und dann auf den kleinen Wegen daher.

Als sie den kleinen Kirchhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde langsam durchsuchten, sahen sie gleichzeitig auf einem Grabhügel eine schwarze Gestalt zusammengehockt.

»Der Professor!« sagte der Eine leise. »Er ist eingeschlafen.«

Vorsichtig nahten sie dem Grabe. Der Professor, der, wie sein Diener später bekundete, sich schon in den letzten Tagen sehr schwach gefühlt hatte, hatte entweder eine plötzliche Anwandlung von Schwäche verspürt, oder er war zu müde gewesen, um den Weg fortzusetzen. Kurz und gut, er hatte sich auf einen der kleinen Grabhügel gesetzt. Vielleicht war er da eingeschlafen. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein schnelles und schmerzloses Ende gemacht. Er hatte die Füße weit von sich gestreckt. Sein Oberkörper war nach der linken Seite hin gesunken, und der Hut war ihm vom Kopf gefallen.

Der Grabhügel, auf dem die Leiche gefunden wurde, sowie der danebenliegende, thaten sich durch besondere Pflege hervor. Auf dem Stein des einen standen die Worte:

 

Richard Willern
geboren am 12. Januar 1844 zu Tilsit
gestorben am 13. März 1869 zu Berlin.

 

Auf dem Hügel daneben war zu lesen:

 

Ada Osterode, geb. Buchner
geboren am 5. Juli 1839 zu Königsberg i. Pr.
gestorben am 13. März 1869 zu Berlin.

 

Und nebenan ist noch ein Platz frei, und der Stein, den die Anverwandten bestellt haben, wird die Aufschrift tragen:

 

Alexander Osterode
geboren am 5. September 1819 zu Danzig
gestorben am 9. Januar 1889 zu Berlin.

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