Georg Christoph Lichtenberg
Lichtenberg. Ein verkleinertes Bild seines Gedankenlebens
Georg Christoph Lichtenberg

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Von der Gelehrtenrepublik

86. Man wundert sich oft, wie ein Mann, wie Mahomed, seine Leute so habe hintergehen und mit seinen Fähigkeiten, sie mögen nun klein oder groß gewesen sein, ein Aufsehen in der Welt machen können, das gar kein Verhältnis zu ihnen hatte. Man wundert sich, und sieht es doch alle Tage, wiewohl in einem geringern Grade vor sich. Es gibt in der gelehrten Republik Männer, die ohne das geringste wahre Verdienst ein sehr großes Aufsehen machen; wenige untersuchen den Wert derselben, und die, die ihn kennen, würde man für Lästerer halten, wenn sie ihre Meinung öffentlich sagten. Die Ursache ist, der eigentlich große Mann hat Eigenschaften, die nur der große Mann zu schätzen weiß; der andere solche, welche der Menge gefallen, die hernach die Vernünftigen überstimmt.   B

 

87. Die gar subtilen Männer sind selten große Männer, und ihre Untersuchungen sind meistens ebenso unnütz, als sie fein sind. Sie entfernen sich immer mehr vom praktischen Leben, dem sie doch immer näher zu kommen suchen sollten. So wie der Tanzmeister und Fechtmeister nicht von der Anatomie der Beine und Hände anfängt, so läßt sich gesunde, brauchbare Philosophie auch viel höher, als jene Grübeleien, anfangen. Der Fuß muß so gestellt werden, denn sonst würde man fallen, und dieses muß man glauben, denn es wäre absurd, es nicht zu glauben, sind sehr gute Fundamente. Die Leute, die noch weiter gehen wollen, mögen es tun, sie müssen aber ja nicht denken, daß sie etwas Großes tun; denn sie finden doch nur, wenn ihnen alles gelingt, was der vernünftige Mann schon lange vorher wußte. Der Mann, der noch einmal den elften Grundsatz des Euklides demonstriert, verdient allenfalls den Namen eines sinnreichen Mannes; aber zur Erweiterung der Wissenschaften wird er nichts beitragen, was er nicht ohne diese Erfindung auch hätte tun können. »Aber«, sagen sie, »es geschieht, den Zweifler zu widerlegen.« Den widerlegt ihr wahrhaftig nicht; denn welches Argument in der Welt wird den Mann überzeugen können, der einmal Absurditäten glauben kann? Und verdient denn jedermann widerlegt zu werden, der widerlegt sein will? Selbst die größten Schläger schlagen sich nicht mit jedem, der sie herausfordert.   B

 

88. So wie es schon schmerzt, manche Entdeckung nicht gemacht zu haben, sobald man sie gemacht sieht, obgleich noch ein Sprung nötig war, so schmerzt es unendlich mehr, tausend kleine Gefühle und Gedanken, die wahren Stützen menschlicher Philosophie, nicht mit Worten ausgedrückt zu haben, die, wenn man sie von andern ausgedrückt sieht, Erstaunen erwecken. Ein gelernter Kopf schreibt nur zu oft, was alle schreiben können, und läßt das zurück, was er schreiben könnte, und wodurch er verewigt werden würde.   B

 

89. Die hitzigsten Verteidiger einer Wissenschaft, die nicht den geringsten scheelen Seitenblick auf dieselbe vertragen können, sind gemeiniglich solche Personen, die es nicht sehr weit in derselben gebracht haben und sich dieses Mangels heimlich bewußt sind.   B

 

90. Unter den Gelehrten sind gemeiniglich diejenigen die größten Verächter aller übrigen, die aus einer mühsamen Vergleichung unzähliger Schriftsteller endlich eine gewisse Meinung über einen Punkt festgesetzt haben. Auch dieses muß freilich geschehen, und sie verdienen desto aufrichtigern Dank, je mehr es ausgemacht ist, daß wir an ihrer Stelle eben das tun und denken würden. Vieles Wachen und Lesen, denkt man, verdient den Lohn des Ruhms. Allein diese Leute müssen auch bedenken, daß gerade mit eigenen Augen in die Welt hineinsehen, auch ein Studium ist, wozu sie nicht aufgelegt sind.   B

 

91. Man kann von keinem Gelehrten verlangen, sich in Gesellschaft überall als Gelehrten zu zeigen; allein der ganze Ton muß den Denker verraten; man muß immer von ihm lernen; seine Art zu urteilen muß auch in den kleinsten Dingen von der Beschaffenheit sein, daß man sehen kann, was daraus werden würde, wenn der Mann mit Ruhe und in sich gesammelt wissenschaftlichen Gebrauch von dieser Kraft machte.   B

 

92. In den Schriften berühmter Schriftsteller, aber mittelmäßiger Köpfe findet man immer höchstens das, was sie einem zeigen wollen; hingegen sieht man in den Schriften des systematischen Denkers, der alles mit seinem Geiste umfaßt, immer das Ganze und wie jedes zusammenhängt. Erstere suchen und finden ihre Nadel bei dem Lichte eines Schwefelhölzchens, das nur an der Stelle kümmerlich leuchtet, wo es sich befindet, da die andern ein Licht anzünden, das sich über alles verbreitet.   B

 

93. Ein Mensch wählt sich ein Thema, beleuchtet es mit seinem Lichtchen, so gut er's hat, und schreibt alsdann in einem gewissen erträglichen Modestil seine Alltagsbemerkungen, dergleichen jeder Sekundaner auch hätte machen, aber nicht so faßlich ausdrücken können. Für diese Art zu schreiben, welches die Lieblingsart der mittelmäßigen und untermittelmäßigen Köpfe ist, wovon es in allen Ländern wimmelt, habe ich kein besseres Wort, als Kandidaten-Prose finden können. Es wird höchstens das ausgeführt, was die Vernünftigen schon bei dem bloßen Wort gedacht haben.   B

 

94. Zu denken, wie man allem eine bessere Einrichtung geben kann, Zeitungen, Schuhen, Schrittzählern usw., ist gewiß eine herrliche Regel und leitet immer auf etwas. Ein Philosoph muß sich um alles bekümmern; und über alles, auch die gemeinsten Dinge zu schreiben, befestigt das System mehr als irgend etwas. Man erhält dadurch Ideen und kommt auf neue Vorstellungen. Die Gelehrtesten sind nicht immer die Leute, die die neuesten Ideen haben.   B

 

95. Leute werden oft Gelehrte, so wie manche Soldaten werden, bloß weil sie zu keinem andern Stand taugen. Ihre rechte Hand muß ihnen Brot schaffen; sie legen sich, kann man sagen, wie die Bären im Winter hin, und saugen aus der Tatze.   B

 


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