Gotthold Ephraim Lessing
Abhandlungen über die Fabel
Gotthold Ephraim Lessing

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De La Motte

Dieser Mann, welcher nicht sowohl ein großes poetisches Genie als ein guter, aufgeklärter Kopf war, der sich an mancherlei wagen und überall erträglich zu bleiben hoffen durfte, erklärt die Fabel durch eine unter die Allegorie einer Handlung versteckte LehreLa Fable est une instruction deguisée sous l'allegorie d'une action. Discours sur la fable..

Als sich der Sohn des stolzen Tarquinius bei den Gabiern nunmehr festgesetzt hatte, schickte er heimlich einen Boten an seinen Vater und ließ ihn fragen, was er weiter tun solle? Der König, als der Bote zu ihm kam, befand sich eben auf dem Felde, hub seinen Stab auf, schlug den höchsten Mahnstängeln die Häupter ab und sprach zu dem Boten: Geh, und erzähle meinem Sohne, was ich itzt getan habe! Der Sohn verstand den stummen Befehl des Vaters und ließ die Vornehmsten der Gabier hinrichten.Florus. lib. I. cap. 7. – Hier ist eine allegorische Handlung – hier ist eine unter die Allegorie dieser Handlung versteckte Lehre: aber ist hier eine Fabel? Kann man sagen, daß Tarquinius seine Meinung dem Sohne durch eine Fabel habe wissen lassen? Gewiß nicht!

Jener Vater, der seinen uneinigen Söhnen die Vorteile der Eintracht an einem Bündel Ruten zeigte, das sich nicht anders als stückweise zerbrechen lasse, machte der eine Fabel?Fabul. Aesop. 171.

Aber wenn ebenderselbe Vater seinen uneinigen Söhnen erzählt hätte, wie glücklich drei Stiere, solange sie einig waren, den Löwen von sich abhielten und wie bald sie des Löwen Raub wurden, als Zwietracht unter sie kam und jeder sich seine eigene Weide suchteFab. Aesop. 297.: alsdenn hätte doch der Vater seinen Söhnen ihr Bestes in einer Fabel gezeigt? Die Sache ist klar.

Folglich ist es ebenso klar, daß die Fabel nicht bloß eine allegorische Handlung, sondern die Erzählung einer solchen Handlung sein kann. Und dieses ist das erste, was ich wider die Erklärung des de La Motte zu erinnern habe.

Aber was will er mit seiner Allegorie? – Ein so fremdes Wort, womit nur wenige einen bestimmten Begriff verbinden, sollte überhaupt aus einer guten Erklärung verbannt sein. – Und wie, wenn es hier gar nicht einmal an seiner Stelle stünde? Wenn es nicht wahr wäre, daß die Handlung der Fabel an sich selbst allegorisch sei? Und wenn sie es höchstens unter gewissen Umständen nur werden könnte?

Quintilian lehret: Αλληγορια, quam Inversionem interpretamur, aliud verbis, aliud sensu ostendit, ac etiam interim contrarium.Quinctilianus lib. VIII. cap. 6. Die Allegorie sagt das nicht, was sie nach den Worten zu sagen scheinet, sondern etwas anders. Die neuern Lehrer der Rhetorik erinnern, daß dieses etwas andere auf etwas anderes Ähnliches einzuschränken sei, weil sonst auch jede Ironie eine Allegorie sein würdeAllegoria dicitur, quia αλλο μεν αγορευει, αλλο δε νοει. Et istud αλλο restringi debet ad aliud simile, alias etiam omnis Ironia Allegoria esset.. Die letztern Worte des Quintilians, ac etiam interim contrarium, sind ihnen hierin zwar offenbar zuwider, aber es mag sein.

Die Allegorie sagt also nicht, was sie den Worten nach zu sagen scheinet, sondern etwas Ähnliches. Und die Handlung der Fabel, wenn sie allegorisch sein soll, muß das auch nicht sagen, was sie zu sagen scheinet, sondern nur etwas Ähnliches?

Wir wollen sehen! – »Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigern.« Das ist ein allgemeiner Satz, bei welchem ich mir eine Reihe von Dingen gedenke, deren eines immer stärker ist als das andere, die sich also, nach der Folge ihrer verschiednen Stärke, untereinander aufreiben können. Eine Reihe von Dingen! Wer wird lange und gern den öden Begriff eines Dinges denken , ohne auf dieses oder jenes besondere Ding zu fallen, dessen Eigenschaften ihm ein deutliches Bild gewähren? Ich will also auch hier anstatt dieser Reihe von unbestimmten Dingen eine Reihe bestimmter, wirklicher Dinge annehmen. Ich könnte mir in der Geschichte eine Reihe von Staaten oder Königen suchen; aber wie viele sind in der Geschichte so bewandert, daß sie, sobald ich meine Staaten oder Könige nur nennte, sich der Verhältnisse, in welchen sie gegeneinander an Größe und Macht gestanden, erinnern könnten? Ich würde meinen Satz nur wenigen faßlicher gemacht haben, und ich möchte ihn gern allen so faßlich als möglich machen. Ich falle auf die Tiere, und warum sollte ich nicht eine Reihe von Tieren wählen dürfen, besonders wenn es allgemein bekannte Tiere wären? Ein Auerhahn – ein Marder – ein Fuchs – ein Wolf – Wir kennen diese Tiere, wir dürfen sie nur nennen hören, um sogleich zu wissen, welches das stärkere oder das schwächere ist. Nunmehr heißt mein Satz: der Marder frißt den Auerhahn, der Fuchs den Marder, den Fuchs der Wolf. Er frißt? Er frißt vielleicht auch nicht. Das ist mir noch nicht gewiß genug. ich sage also: er fraß. Und siehe, mein Satz ist zur Fabel geworden!

Ein Marder fraß den Auerhahn,
Den Marder würgt ein Fuchs, den Fuchs des Wolfes Zahn.von Hagedorn: Fabeln und Erzehlungen, erstes Buch. S. 77.

Was kann ich nun sagen, daß in dieser Fabel für eine Allegorie liege? Der Auerhahn, der Schwächste; der Marder, der Schwache; der Fuchs, der Starke; der Wolf, der Stärkste. Was hat der Auerhahn mit dem Schwächsten, der Marder mit dem Schwachen usw. hier Ähnliches? Ähnliches! Gleichet hier bloß der Fuchs dem Starken und der Wolf dem Stärksten, oder ist jener hier der Starke so wie dieser der Stärkste? Er ist es. – Kurz, es heißt die Worte auf eine kindische Art mißbrauchen, wenn man sagt, daß das Besondere mit seinem Allgemeinen, das Einzelne mit seiner Art, die Art mit ihrem Geschlechte eine Ähnlichkeit habe. Ist dieser Windhund einem Windhunde überhaupt, und ein Windhund überhaupt einem Hunde ähnlich? Eine lächerliche Frage! – Findet sich nun aber unter den bestimmten Subjekten der Fabel, und den allgemeinen Subjekten ihres Satzes keine Ähnlichkeit, so kann auch keine Allegorie unter ihnen statthaben. Und das nämliche läßt sich auf die nämliche Art von den beiderseitigen Prädikaten erweisen.

Vielleicht aber meiner jemand, daß die Allegorie hier nicht auf der Ähnlichkeit zwischen den bestimmten Subjekten oder Prädikaten der Fabel und den allgemeinen Subjekten oder Prädikaten des Satzes, sondern auf der Ähnlichkeit der Arten, wie ich ebendieselbe Wahrheit itzt durch die Bilder der Fabel und itzt vermittelst der Worte des Satzes erkenne, beruhe. Doch das ist soviel als nichts. Denn käme hier die Art der Erkenntnis in Betrachtung und wollte man bloß wegen der anschauenden Erkenntnis, die ich vermittelst der Handlung der Fabel von dieser oder jener Wahrheit erhalte, die Handlung allegorisch nennen: so würde in allen Fabeln ebendieselbe Allegorie sein, welches doch niemand sagen will, der mit diesem Worte nur einigen Begriff verbindet.

Ich befürchte, daß ich von einer so klaren Sache viel zuviel Worte mache. Ich fasse daher alles zusammen und sage: die Fabel als eine einfache Fabel kann unmöglich allegorisch sein.

Man erinnere sich aber meiner obigen Anmerkung, nach welcher eine jede einfache Fabel auch eine zusammengesetzte werden kann. Wie, wenn sie alsdenn allegorisch würde? Und so ist es. Denn in der zusammengesetzten Fabel wird ein Besonderes gegen das andre gehalten; zwischen zwei oder mehr Besondern, die unter ebendemselben Allgemeinen begriffen sind, ist die Ähnlichkeit unwidersprechlich, und die Allegorie kann folglich stattfinden. Nur muß man nicht sagen, daß die Allegorie zwischen der Fabel und dem moralischen Satze sich befinde. Sie befindet sich zwischen der Fabel und dem wirklichen Falle, der zu der Fabel Gelegenheit gegeben hat, insofern sich aus beiden ebendieselbe Wahrheit ergibt. – Die bekannte Fabel vom Pferde, das sich von dem Manne den Zaum anlegen ließ und ihn auf seinen Rücken nahm, damit er ihm nur in seiner Rache, die es an dem Hirsche nehmen wollte, behülflich wäre: diese Fabel sage ich, ist sofern nicht allegorisch, als ich mit dem PhaedrusLib. IV. fab. 3. bloß die allgemeine Wahrheit daraus ziehe:

Impune potius laedi, quam dedi alteri.

Bei der Gelegenheit nur, bei welcher sie ihr Erfinder Stesichorus erzählte, ward sie es. Er erzählte sie nämlich, als die Himerenser den Phalaris zum obersten Befehlshaber ihrer Kriegsvölker gemacht hatten und ihm noch dazu eine Leibwache geben wollten. »O ihr Himerenser, rief er, die ihr so fest entschlossen seid, euch an euren Feinden zu rächen; nehmet euch wohl in acht, oder es wird euch wie diesem Pferde ergehen! Den Zaum habt ihr euch bereits anlegen lassen, indem ihr den Phalaris zu eurem Heerführer mit unumschränkter Gewalt ernannt. Wollt ihr ihm nun gar eine Leibwache geben, wollt ihr ihn aufsitzen lassen, so ist es vollends um eure Freiheit getan.«Aristoteles Rhetor. lib. II. cap. 20. – Alles wird hier allegorisch! Aber einzig und allein dadurch, daß das Pferd hier nicht auf jeden Beleidigten, sondern auf die beleidigten Himerenser; der Hirsch nicht auf jeden Beleidiger, sondern auf die Feinde der Himerenser; der Mann nicht auf jeden listigen Unterdrücker, sondern auf den Phalaris; die Anlegung des Zaums nicht auf jeden ersten Eingriff in die Rechte der Freiheit, sondern auf die Ernennung des Phalaris zum unumschränkten Heerführer; und das Aufsitzen endlich nicht auf jeden letzten tödlichen Stoß, welcher der Freiheit beigebracht wird, sondern auf die dem Phalaris zu bewilligende Leibwache gezogen und angewandt wird.

Was folgt nun aus alle dem? Dieses: da die Fabel nur alsdenn allegorisch wird, wenn ich dem erdichteten einzeln Falle, den sie enthält, einen andern ähnlichen Fall, der sich wirklich zugetragen hat, entgegenstelle, da sie es nicht an und für sich selbst ist, insofern sie eine allgemeine moralische Lehre enthält, so gehöret das Wort Allegorie gar nicht in die Erklärung derselben. – Dieses ist das zweite, was ich gegen die Erklärung des de La Motte zu erinnern habe.

Und man glaube ja nicht, daß ich es bloß als ein müßiges, überflüssiges Wort daraus verdrängen will. Es ist hier, wo es steht, ein höchst schädliches Wort, dem wir vielleicht eine Menge schlechter Fabeln zu danken haben. Man begnüge sich nur, die Fabel, in Ansehung des allgemeinen Lehrsatzes, bloß allegorisch zu machen, und man kann sicher glauben, eine schlechte Fabel gemacht zu haben. Ist aber eine schlechte Fabel eine Fabel? – Ein Exempel wird die Sache in ihr völliges Licht setzen. Ich wähle ein altes, um ohne Mißgunst recht haben zu können. Die Fabel nämlich von dem Mann und dem Satyr. »Der Mann bläset in seine kalte Hand, um seine Hand zu wärmen, und bläset in seinen heißen Brei, um seinen Brei zu kühlen. Was? sagt der Satyr, du bläsest aus einem Munde warm und kalt? Geh, mit dir mag ich nichts zu tun haben!«Fab. Aesop. 126 – Diese Fabel soll lehren, οτι δει φευγειν ημας τας φιλιας, ων αμφιβολος εστιν η διαθεσις; die Freundschaft aller Zweizüngler, aller Doppelleute, aller Falschen zu fliehen. Lehrt sie das? Ich bin nicht der erste, der es leugnet und die Fabel für schlecht ausgibt.

Richer– – contre la justesse de l'allegorie. – – Sa morale n' est qu'une allusion, et n'est fondée que sur un jeu de mots équivoque. Fables nouvelles, Preface, p. 10. sagt, sie sündige wider die Richtigkeit der Allegorie; ihre Moral sei weiter nichts als eine Anspielung und gründe sich auf eine bloße Zweideutigkeit. Richer hat richtig empfunden, aber seine Empfindung falsch ausgedrückt. Der Fehler liegt nicht sowohl darin, daß die Allegorie nicht richtig genug ist, sondern darin, daß es weiter nichts als eine Allegorie ist. Anstatt daß die Handlung des Mannes, die dem Satyr so anstößig scheinet, unter dem allgemeinen Subjekte des Lehrsatzes wirklich begriffen sein sollte, ist sie ihm bloß ähnlich. Der Mann sollte sich eines wirklichen Widerspruchs schuldig machen, und der Widerspruch ist nur anscheinend. Die Lehre warnet uns vor Leuten, die von ebenderselben Sache ja und nein sagen, die ebendasselbe Ding loben und tadeln: und die Fabel zeiget uns einen Mann, der seinen Atem gegen verschiedene Dinge ver schieden braucht, der auf ganz etwas anders itzt seinen Atem warm haucht, und auf ganz etwas anders ihn itzt kalt bläset.

Endlich, was läßt sich nicht alles allegorisieren! Man nenne mir das abgeschmackte Märchen, in welches ich durch die Allegorie nicht einen moralischen Sinn sollte legen können! – »Die Mitknechte des Aesopus gelüstet nach den trefflichen Feigen ihres Herrn. Sie essen sie auf, und als es zur Nachfrage kömmt, soll es der gute Aesop getan haben. Sich zu rechtfertigen, trinket Aesop in großer Menge laues Wasser, und seine Mitknechte müssen ein Gleiches tun. Das laue Wasser hat seine Wirkung, und die Näscher sind entdeckt.« – – Was lehrt uns dieses Histörchen? Eigentlich wohl weiter nichts, als daß laues Wasser, in großer Menge getrunken, zu einem Brechmittel werde? Und doch machte jener persische DichterHerbelot Bibl. Orient. p. 516. Lorsque l'on vous donnera à boire de cette eau chaude et brulante, dans la question du Jugement dernier, tout ce que vous avez caché avec tant de soin, paroitra aux yeux de tout le monde, et celui qui aura acquis de l'estime par son hypocrisie et par son deguisement, sera pour lors couvert de honte er de confusion. einen weit edlern Gebrauch davon. »Wenn man euch«, spricht er, »an jenem großen Tage des Gerichts, von diesem warmen und siedenden Wasser wird zu trinken geben: alsdenn wird alles an den Tag kommen, was ihr mit so vieler Sorgfalt vor den Augen der Welt verborgen gehalten; und der Heuchler, den hier seine Verstellung zu einem ehrwürdigen Manne gemacht hatte, wird mit Schande und Verwirrung überhäuft dastehen!« – Vortrefflich!

Ich habe nun noch eine Kleinigkeit an der Erklärung des de La Motte auszusetzen. Das Wort Lehre (instruction) ist zu unbestimmt und allgemein. Ist jeder Zug aus der Mythologie, der auf eine physische Wahrheit anspielet oder in den ein tiefsinniger Baco wohl gar eine transzendentalische Lehre zu legen weiß, eine Fabel? Oder wenn der seltsame Holberg erzählet: »Die Mutter des Teufels übergab ihm einsmals vier Ziegen, um sie in ihrer Abwesenheit zu bewachen. Aber diese machten ihm so viel zu tun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in der Zucht halten konnte. Diesfalls sagte er zu seiner Mutter nach ihrer Zurückkunft: Liebe Mutter, hier sind Eure Ziegen! Ich will lieber eine ganze Compagnie Reuter bewachen als eine einzige Ziege!« – Hat Holberg eine Fabel erzählet? Wenigstens ist eine Lehre in diesem Dinge. Denn er setzet selbst mit ausdrücklichen Worten dazu: »Diese Fabel zeiget, daß keine Kreatur weniger in der Zucht zu halten ist als eine Ziege.«Moralische Fabeln des Baron von Holbergs, S. 103. – Eine wichtige Wahrheit! Niemand hat die Fabel schändlicher gemißhandelt als die ser Holberg! – Und es mißhandelt sie jeder, der, eine andere als moralische Lehre darin vorzutragen, sich einfallen läßt.


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