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Einleitung

Freund oder Feind – ein jeder, der diese Briefe kennen lernt, gelangt zu der Überzeugung, daß wir in ihnen außerordentlich interessante Dokumente unserer überaus interessanten Epoche besitzen. Viele dieser Briefe verdanken ihren Ursprung Anlässen, die, mit den späteren Ereignissen verglichen, zweitrangig oder jedenfalls des aktuellen Interesses bar erscheinen könnten. Und in der Tat, diese Episoden sind entweder schon vergessen oder werden es bald sein, aber die Art und Weise, wie Lenin auf sie reagierte, ist geblieben, sie wird bleiben und als eins der wichtigsten Elemente in die entstehende Kultur der Arbeiterklasse eintreten.

Dies kommt daher, weil die Lebenssplitter, die Lenins Briefe berühren, in ihnen vom konzentrierten Licht einer allumfassenden und bis zu Ende durchdachten Idee beleuchtet sind, von der Idee der revolutionären Befreiung der Menschheit von aller Fäulnis, Niedertracht und altem Gerümpel, die das Leben der Menschen aufgespeichert hat. Im Lichte dieser Idee ergießen sich die einzelnen Tatsachen des alltäglichen Kampfes in den allgemeinen Strom der sich entfaltenden grandiosen historischen Ereignisse. Sie gewinnen so historischen Sinn und Bedeutung.

In Lenins Briefen findet man keine feierlichen Worte, keinen gehobenen Stil einer »historischen Persönlichkeit«; sie sind einfach, natürlich, oft scherzhaft, immer »sachlich«, durchsichtig und klar bis zu Ende, wie in einem Zuge geschrieben – und doch fühlt man, wenn man sie durchblättert, mit aller Deutlichkeit die Größe dieser Arbeit, die Gewalt jener geistigen Energie, deren zufällige, fazettierte Spiegelungen Lenins Briefe sind. Es sind gleichsam funkelnde Scherben, die man auf dem Arbeitstisch eines großen Meisters des Gedankens vorgefunden hat.

Unwillkürlich genießt man die Kraft, Präzision, Klarheit und Elastizität dieses großen Geistes, man beobachtet, wie er eine beliebige, in seinen Gesichtskreis geratene Frage stellt und löst, – und plötzlich erblickt man das Aufblitzen einer stählernen Klinge, die diese oder jene komplizierte Frage des menschlichen Denkens oder der Geschichte restlos aufdeckt. Keinerlei Verwirrtheit, keinerlei Unklarheiten, keine äußere »Schönheit«, keine Spur von Phrasen: eine erstaunliche Exaktheit des politischen Denkens, eine verblüffende und überwältigende Fähigkeit, jede Frage des laufenden Lebens durch klare Übergänge mit den Grundlagen der gemeinen Weltanschauung und den Kardinalaufgaben der historischen Epoche in Beziehung zu setzen.

Für den Autor der Briefe ist die Arbeiterbewegung, die Richtung der Arbeiterpartei, nicht eine außer ihm stehende Aufgabe, in deren »Dienst« er getreten, für die er »arbeitet«: nein, er ist mit dieser Aufgabe restlos verschmolzen, es ist ihm organisch – man möchte sagen physiologisch – unmöglich, seinen persönlichen »subjektiven« Standpunkt von dem Verlauf der internationalen Bewegung des Proletariats zu trennen: in Iljitschs Persönlichkeit haben sich diese beiden Standpunkte zu einem untrennbaren Ganzen verbunden. Nirgends und niemals ist auch der geringste Riß oder Spalt zwischen dem persönlichen Geschmack, den persönlichen Interessen und den Gesichtspunkten und Interessen des sich entfaltenden historischen Prozesses zu bemerken.

Gerade diese Geschlossenheit und Einheitlichkeit verleiht sogar den einzelnen Äußerungen in Lenins Briefen eine monumentale Bedeutung, ungeachtet ihrer äußeren Anspruchslosigkeit und sozusagen Zufälligkeit. Je mehr man sich in diese gelegentlichen Bemerkungen vertieft, desto mehr begreift man, daß aus Lenins Munde eine neue, zu Leben und Kampf erwachende, historische Schicht spricht, daß es Millionen sind, für die keinerlei festgesetzte Gesichtspunkte und keine Autoritäten bindend sind, die ihre eigene Einstellung zu allen Fragen der Geschichte und des Lebens suchen und finden.

Das macht Lenins Briefe zu wahren Dokumenten einer neuen, sich im Kampfe gestaltenden, proletarischen Kultur. Aus dem gleichen Grunde sind diese Briefe – Dokumente des Krieges, eines tagaus, tagein unaufhörlich geführten Krieges der neuen Klasse an der ideologischen Front. Nicht umsonst nennt Wladimir Iljitsch einige seiner Briefe »wilde« Briefe.

Der Kampfgeist, die Bereitschaft, sich in jedem Augenblick um die echten Werte der Arbeiterklasse in den Kampf zu stürzen, der Zorn und die Empörung gegen jeden Versuch, die alte ideologische Fäulnis aufzuputzen und sie der Arbeiterklasse einzuimpfen – durchdringen aller Briefe Wladimir Iljitschs. Einer ihrer charakteristischen Züge ist ihre ideologische Unerbittlichkeit.

Lenin, dieser große Meister von praktischen »Kompromissen«, wenn diese von der revolutionären Zweckmäßigkeit aufgezwungen wurden, war immer der größte Feind von »Kompromissen« auf dem Gebiete der Idee. Jederzeit bereit, ein sachliches Bündnis »mit dem Teufel und seiner Großmutter« einzugehen, wenn der Gang der revolutionären Bewegung dies forderte, duldete Lenin nicht den geringsten »Opportunismus« auf dem Gebiete der Idee, auf dem Gebiete der Theorie, auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Sozialismus. »Getrennt marschieren, vereint schlagen«, »zunächst die klare Scheidung, dann die Verständigung« – diese Formeln der Leninschen Taktik sind von ihm immer in dem Sinne aufgefaßt worden, daß jede Verständigung der Arbeiterklasse mit den ihr feindlichen Kräften als die unbedingte Voraussetzung – Präzision, Reinheit, Bestimmtheit ihrer eigenen Linie fordert. Und diese ihrerseits fordert die größte Unerbittlichkeit jedem Versuch gegenüber, in die Ideologie der Arbeiterklasse diese fremden Elemente hineinzutragen. Hier liegt die Quelle jener ständigen »wilden« Kämpfe, die Iljitsch an der ideellen Front führte, und die in seinen Briefen an Gorki einen starken, klaren Ausdruck gefunden haben. »Ich lasse mich eher vierteilen, ehe ich mich bereit erkläre, an einem Organ oder Kollegium teilzunehmen, das derartige Dinge predigt«, schrieb Lenin an Gorki über die Ansichten eines früheren Gesinnungsgenossen.

Wie einstmals, am Morgen der russischen Befreiungsbewegung, das von dem »wütigen Wissarion«, Belinsky, verkündete Vermächtnis der Unversöhnlichkeit und seine Weigerung, sich an einen Tisch mit den »Philistern« zu setzen – den revolutionären Bruch der Demokratie mit der aristokratisch-bürgerlichen Ideologie zum Ausdruck brachte, so waren 75 Jahre später Lenins »wilder« Kampf gegen alle Elemente der bürgerlichen Ideologie, sein »Sektierertum«, sein »Ketzertum«, seine ideologische Unerbittlichkeit die unerläßlichen und rettenden Bedingungen für die Entstehung einer wahrhaft revolutionären Ideologie des kämpfenden Proletariats.

»Vergleichen Sie das alles«, schrieb Lenin an Gorki, »die ganze Summe der ideologischen Strömungen in den Jahren 1908 bis 1912 bei den Sozial-Revolutionären, bei den »Trudowiki«, »Bessaglawzy« und Kadetten mit dem, was bei den Sozialdemokraten war und ist (irgendeinmal wird irgendein Historiker diese Arbeit gewiß machen), und Sie werden sehen, daß alle, buchstäblich alle außer den Sozialdemokraten dieselben, buchstäblich dieselben Fragen zu lösen suchten, derentwegen sich von unserer Partei Grüppchen mit der Tendenz zu Liquidation und Rückzug lösten.

Die Bourgeois, die Liberalen und die Sozial-Revolutionäre, die die »großen Fragen« niemals ernst behandeln, hinter den andern dreintrotten, diplomatisieren, sich mit Eklektizismus durchhelfen, sie alle schreien andauernd darüber, daß es bei den Sozialdemokraten Händel und Reibereien gäbe. Der Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und ihnen allen ist der, daß der Kampf innerhalb der einzelnen Gruppen der Sozialdemokratie tiefen und klaren ideellen Wurzeln entstammte, während bei ihnen die Gegensätze äußerlich geglättet, innerlich aber leer, kleinlich und oberflächlich sind. Niemals und um keinen Preis würde ich den scharfen Kampf der Strömungen bei der Sozialdemokratie gegen die geschniegelte Leere und Armut der Sozial-Revolutionäre und Konsorten eintauschen.«

Lenins Briefe an Gorki sind in der schwersten, gedrücktesten Epoche der Arbeiterbewegung geschrieben. Als Wladimir Iljitsch Anfang 1908 nach der Niederlage der ersten Revolution nach dem trostlosen Genf zurückkehren mußte, sagte er zu Nadeschda Konstantinowna, er kehre wie in einen »Sarg« zurück. Lange Jahre der Gegenrevolution begannen, Jahre des Zerfalls der Bewegung, der offenen und geheimen Verrätereien, des Renegatentums, der Liquidationstendenzen, der Trostlosigkeit. Aber wir finden in den Briefen Lenins keine Spur von Mutlosigkeit, von Zweifeln oder Schwanken. Sie verblüffen uns mit ihrem mutigen Ton, mit ihrer tiefen Überzeugung von der Wiedergeburt der Bewegung, mit ihrem sicheren Wissen, daß die Arbeiterklasse nach ungeheuren Opfern auf neuen Wegen und in einer neuen Lage die Hindernisse auf ihrem Wege überwinden wird, daß, trotz allem »auch in unserer Gegend einmal ein Festtag kommen wird!«

Und wie charakteristisch ist für Lenin neben dieser absoluten Überzeugung von dem endgültigen Sieg seiner Sache der freudige Widerhall in seinen Briefen auf jeden geringsten Schritt der Arbeiterbewegung: mit welch zügelloser Freude berichtet er Gorki von dem Erscheinen einer kleinen Arbeiterzeitschrift, von der Ankunft eines »guten Burschen«, eines Arbeiters aus Rußland, von dem Siege der Bolschewisten im Gewerkschaftsverband oder in einer Versicherungskasse.

Der tiefe, organisch eingewurzelte Haß gegen das Kleinbürgertum, gegen alles Kleinbürgerliche und vor allem gegen die ideologische Kleinbürgerlichkeit, und die revolutionäre Leidenschaft, von der Wladimir Iljitsch getrieben wurde, – beides fand einen Ausdruck in Dutzenden von Abhandlungen von Lenin. Aber in den Briefen an Gorki zeigte sich das vielleicht freier, ungezwungener und deshalb klarer als irgendwo sonst.

Gerade deshalb, weil es Briefe an einen Freund sind, die unter Tags in freien Augenblicken ohne jeden Gedanken an die Möglichkeit ihrer Veröffentlichung hingeworfen sind, erscheint Lenin hier vor uns nicht so sehr als der politische Führer, als Parteileiter, sondern als Iljitsch, als Mensch. Es gibt viel weniger Dokumente, die Hunderten und Tausenden Menschen die Möglichkeit geben, an Lenins Persönlichkeit, an die Grundzüge seiner geistigen Erscheinung heranzutreten, als solche, die ihn als Gelehrten, führenden Politiker schildern. Es gibt ihrer nur sehr, sehr wenige. Unter diesen seltenen Dokumenten sind die Briefe an Gorki wohl die wichtigsten.

Wladimir Iljitsch hat A. M. Gorki nicht nur als den großen Künstler des neuen revolutionären Rußlands geschätzt. In Gorki sah er einen mächtigen Bundesgenossen für die gemeinsame Sache, einen Kampfgefährten, der zwar mit einer andern Waffe kämpft, aber gegen denselben Feind und um dasselbe Ziel. Gorkis Waffe – das künstlerische Wort – schätzte Wladimir Iljitsch sehr hoch ein und maß ihm eine ungeheure Bedeutung zu. Aber ein um so größerer Eifer und Zorn erfüllte Wladimir Iljitsch, wenn es ihm schien, daß diese Waffe sich nach einer falschen Richtung wandte, wenn der Kampfgenosse das Ziel verfehlte. Je höher Wladimir Iljitsch Gorkis Kraft bewertete, um so mehr wollte er Gorki neben sich in dem allgemeinen Kampfe sehen, desto aufmerksamer beurteilte er jedes literarisch-politische Auftreten Gorkis, desto sorgsamer warnte er ihn vor den Gefahren jener Ideensümpfe, die den Weg der Gestaltung der proletarischen Ideologie umgeben.

Aber Wladimir Iljitsch schätzte nicht nur Gorki, er liebte ihn einfach als den großen Menschen, als den Vertreter eben jener »unteren« Schichten in deren Triumph Lenin die nächste Etappe der Menschheitsgeschichte erblickte. Aufrichtiges Interesse und Anhänglichkeit an Gorki sprechen aus allen Briefen Wladimir Iljitschs. Noch klarer kam dies in den mündlichen Unterhaltungen zum Ausdruck … Alles das verlieh den Beziehungen Lenins zu Gorki jenen gewissen Tonfall, wie ihn freundschaftliche Offenheit und ehrliches Interesse mit sich bringen.

Diese bedeutsamen Dokumente, die jetzt vor uns liegen, verdankt die Arbeiterklasse nicht nur dem Umstande, daß Lenin sie geschrieben hat, sondern auch jenem andern, daß er diese Briefe an einen Mann wie Gorki richten konnte. Und das macht Lenins Briefe an Gorki nicht nur zu einem wertvollen Kommentar seiner Werke, sondern auch zu einem unschätzbaren Dokument für die Kenntnis Lenins als Menschen. An diesen Briefen des größten Führers der revolutionären Massen an den größten Künstler der revolutionären Epoche, werden viele Generationen der proletarischen Jugend und der proletarischen Intelligenz der ganzen Welt lernen. Diese Briefe gehören zum eisernen Inventar der neuen proletarischen Kultur.

L. Kamenew.


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