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11

Auf den Korridoren der Gäste herrscht große Aufregung. Sorgsam verschlossene Türen öffnen sich, in den Türrahmen erscheinen verärgerte Gesichter, und man ruft laut und ungehalten nach dem Dienstpersonal.

Die halbe Stunde Kartoffelschlacht unten in den Speiseräumen des Personals hat das präzise Uhrwerk des Hotels in Unordnung gebracht. Die Leute fehlen überall.

Während sich sonst die Essenden schichtweise ablösten, war jetzt eine Stockung in dem normalen Verlauf des Tages eingetreten.

Auf unerklärliche Weise hat sich unter den Gästen auch die Ursache dieser Unordnung herumgesprochen. Der kleinliche Anlaß, ja die Lächerlichkeit dieser Rebellion erhöht noch ihre Ungeduld. Wegen einiger Kartoffeln würden ihre Wünsche nicht sofort erfüllt! Verschiedene erklären in den schrillsten Tönen, daß sie sofort das Hotel zu verlassen wünschten. Andere geben den Rat, doch die Polizei gegen das widerspenstige Personal zu Hilfe zu nehmen.

Fräulein Wesley weiß überhaupt nicht mehr, wie sie die vielen telefonischen Anforderungen beantworten soll. Sie wiederholt immer nur ins Telefon »jawohl, Herr«, »jawohl, gnädige Frau«, aber sie ist so aufgeregt, daß sie oft den weiblichen Stimmen »jawohl, Herr« antwortet und den männlichen »jawohl, gnädige Frau«.

Da war die Dame mit den zerrissenen Zetteln, auf denen das Wort Arzt stand. Sie verlangte nach dem Stubenmädchen, das ihrer Meinung nach die Zeitschrift »Gesellschaftliches Leben im Süden« verlegt haben mußte. Sie wollte darin noch lesen. Außerdem brauchte sie sofort lindernde Arznei, die ihr ein Page in der Hotelapotheke besorgen sollte.

Auch sie hat schon von der Kartoffelgeschichte erfahren; wirklich, sie beneidete diese Leute, die nicht wußten, welches Glück es war, sich wegen einiger Kartoffeln aufregen zu können. Wieviel Schrecklicheres mußte sie erdulden, was für Entsetzliches hatte sie heute schon erlebt. Sie hatte ihr Todesurteil erfahren. Die anderen können leben, sie brauchen keine Angst vor dem Tod zu haben. Und ihr verweigerte man Hilfe. Sie konnte das, was sie haben wollte, nicht sofort bekommen.

Der Besuch heute vormittag in dem Ärztehaus, in dem riesigen weißen Wolkenkratzer, war schrecklich. Die weite Marmorhalle erinnerte an einen maurischen Hof. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, bronzene und marmorne Männer- und Frauengruppen von renommistischer Schönheit, Gesundheit und Kraft standen auf erhöhten Sockeln. Ein aufdringlicher Duft südländischer Blumen versuchte vergeblich, den Gestank von Desinfektionsmitteln und den der Ausdünstungen kranker Körper zu betäuben.

Die Wartenden umkreisten den Springbrunnen wie Gefangene einen Gefängnishof. Sie liefen umher und warteten auf Hilfe. Sie wollten leben, alle wollten leben!

Und dann hörte sie wieder die Worte: bösartiges Geschwür, wir müssen operieren. Sie wußte, es war das Ende, aber man wollte sie erst noch quälen, sie aller Segnungen der Wissenschaft teilhaftig werden lassen.

Atemlos und verzweifelt war sie darauf in das Hotel zurückgekehrt und saß dann lange auf der Estrade der Halle. Die dort Wartenden waren eigentlich nur wenig verschieden von denen in dem Haus der Krankheiten. War das Leben lebenswert? Und doch, warum beneidete sie alle, die sie für gesund hielt? Warum war sie ungeduldig, weil sie die Zeitung aus der Heimat nicht lesen konnte? Warum verlangte sie so dringend nach ihrer Arznei, von der sie wußte, daß sie ihr nicht helfen würde? Warum zitterte sie vor Ungeduld, weil niemand kam, ihre Befehle auszuführen?

Auch der Professor hat wiederholt die Zentrale verlangt. Fräulein Wesley beeilte sich immer wieder zu versichern, daß sie sofort einen Pagen in das Appartement des Professors schicken würde. Der Anlaß zu soviel Ungeduld war gering. Die Frau Professor brauchte Garn, eine ganz bestimmte Farbe. Sie häkelte ein Jäckchen für ihr erstes Enkelkind. Aber man war nicht gewohnt, Wünsche, die man aussprach, nicht gleich erfüllt zu sehen.

Der Professor ging ungeduldig in den Zimmern auf und ab. Nicht das Fehlen des Garns machte ihn unruhig, nur die Ungeduld seiner Frau. Er haßte das Jäckchen in den unmöglichen Farben, und er bemerkte jetzt erst, während seine Frau mit den Häkelnadeln in der Luft fuchtelte, deutlich, daß er auch sie haßte. In akademischen Kreisen hatte man ihn und seine Frau mit den Spitznamen Philemon und Baucis beehrt, und er war bis vor kurzem stolz auf sein vorbildliches und puritanisches Leben. Er haßte sie schon lange, aber er hatte es sich noch nie so offen eingestanden. Er haßte sie, weil sie mit solcher Selbstverständlichkeit, so ganz ohne Widerwillen altern konnte. Er verzieh es ihr nicht, daß er wie in einem Zerrspiegel in ihrem Gesicht sein eigenes Altern wiedererkennen mußte, die Runzeln, die weißen Haare, die verwelkenden Hände. Wenn sie lächelnd über »wir Alten« sprach und in dieses »wir« auch ihn einbezog, fühlte er sich kalt werden vor Wut.

Der Professor kam aus einer kleinen Universitätsstadt nach New York; es war ihm auf seinen Wunsch für längere Zeit ein Urlaub bewilligt worden. Er wollte sich hier ausschließlich der Wissenschaft widmen. In Wahrheit war er auf der Flucht.

In der Universitätsstadt, in der der Professor gelebt hatte, gab es weder Industrie noch Landwirtschaft von Bedeutung. Hier standen sich nicht in erster Linie Klassen, sondern Alter und Jugend gegenüber, und obgleich »die Herrschenden«, die Professoren, die Alten waren, war es keineswegs die Jugend, die den kürzeren zog.

Diese Jugend, die in Pelzmänteln, in teuersten Kleidern, in der elegantesten Ausstattung im College erschien, die laut ihre Rechte verkündete, die offen erklärte, vom Leben nur Genuß zu erwarten, brachte den Professor und seine Kollegen zur Verzweiflung. Die Väter dieser Studenten und Studentinnen, die die vornehme Universität besuchten, hatten natürlich alle Geld, und als ihre erste Pflicht sahen sie es an, ihre Kinder reichlich mit Mitteln zu versorgen, da sie selbst als Mummelgreise ohnehin ungeeignet waren, es auf passende Weise auszugeben. Die Jungen tanzten, ließen ihre Grammophone spielen, durchrasten mit ihren Autos die Umgebung und proklamierten die Freiheit der Liebe. Sie wollten nicht nur alles genießen, sie wollten es auch in schnellstem Tempo tun.

In dieser kleinen oberen Schicht, die nur einen winzigen Teil der wirklichen Jugend ausmachte, sah der Professor die »neue Jugend«, wie er sie halb höhnisch, aber auch mit uneingestandener Bewunderung nannte.

Das Schlimmste für ihn war, daß ihn von dieser Jugend die sporttrainierten, gut angezogenen, ihre Vorurteilslosigkeit laut betonenden Studentinnen auf das stärkste erregten.

Er erduldete Qualen wie in seinen Pubertätsjahren und wollte sie sich selbst nicht einmal eingestehen. Er war immer stolz auf seine puritanische Moral, sie schien ihm der größte Wert des amerikanischen Lebens, etwas, wodurch Amerika wirklich über die lockere europäische Lebensauffassung gehoben wurde. Er konnte wohl aus der Universitätsstadt flüchten, jedoch nicht vor sich selbst. Denn es stellte sich bald heraus, daß seine Lage in New York nicht besser wurde. Im Gegenteil, in dieser Stadt, die weder Jugend noch Alter kannte, in der er nicht als »alter Professor« abgestempelt war, erwarteten ihn überall Verführungen.

Während nun die Frau Professor über das Fehlen von passendem Garn jammerte und zwischendurch ausführlich über einige billige Gelegenheitskäufe, die ihr heute vormittag gelungen waren, berichtete, dachte er an das kornblonde Stubenmädchen, das er mit seinen verheimlichten Bildern ertappt hatte, an eine schlanke, elegante Dame, der er im Hotelkorridor öfters begegnet war, an eine kleine Tänzerin, die er in einem Varieté sah, an eine Zigarrenverkäuferin in einem Klub.

Die Frau Professor scheuchte ihn aber aus seinen Gedanken auf. Ihr Wunsch nach Dienstpersonal wurde so dringend, daß sie den Professor bat, sich nach dem Grund des beispiellosen Versäumnisses zu erkundigen.

So geschieht es, daß sich der Professor Fräulein Wesleys Tisch nähert. Hier haben sich schon verschiedene andere Gäste versammelt, die ihren Unwillen nicht verbergen. Am lautesten ist eine sehr aufgeregte Dame, die immer wieder den gleichen Satz wiederholt.

»Mein Zimmer ist nicht in Ordnung, und ich erwarte Gäste, es ist ein Skandal, daß niemand kommt, wenn man darum telefonisch bittet.«

Fräulein Wesley versucht, die Gründe dieses tatsächlich bisher beispiellosen Falles klarzulegen.

»Was gehen mich die Kartoffeln der Dienerschaft an? Ich werde die Hotelleitung auf Schadenersatz verklagen.«

Fräulein Wesley bettelt, während sie in die Sprechmuschel des immerfort klingelnden Telefons Beschwichtigungen flüstert, um einige Minuten Geduld.

»Ich würde das Zimmer selbst in Ordnung bringen, aber ich kann von hier keinen Augenblick weg. Das Personal kommt sofort.«

»Man müßte alle entlassen.«

»Man wird sie alle entlassen«, versicherte Fräulein Wesley, »aber Ihr Zimmer, gnädige Frau, wird erst aufgeräumt.«

»Ein Skandal, ich werde Ersatzansprüche stellen.«

»Ja, Schadenersatz«, sagt auch der alte Herr mit den vielen Arzneiflaschen in seinem Zimmer. Er braucht zwar nichts, aber die allgemeine Aufregung, die Ungeduld hat auch ihn erfaßt, und nachdem er an Fräulein Wesleys Tisch das Wort Schadenersatz vernommen hat, erklärt er, daß er dringend eine Arznei benötige.

»Ein Page – sofort«, flüstert Fräulein Wesley.

»Wir kennen Ihr ›sofort‹«, schreit die aufgeregte Dame.

Dem Professor gelingt es in diesem Lärm nicht, zu Wort zu kommen; er bemerkt aber die Dame, die ihm schon wiederholt auffiel und die sich auch vergeblich bei Fräulein Wesley Gehör zu verschaffen versucht.

»Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?« wendet er sich an die elegante Dame und ist selbst über diese Äußerung seiner Hilfsbereitschaft überrascht.

Die große Dame aus der kleinen Stadt, so charakterisiert sie der Professor im geheimen, ist schneller bereit seine Hilfe anzunehmen, als er erhofft hatte.

Ja, sie führt ihn sogar fort von dem Pult Fräulein Wesleys, die weiter von Aufgeregten belagert bleibt, an die Tür ihres Zimmers.

»Sind Sie Arzt?«

Sie ging also von einer falschen Voraussetzung aus, sie hielt ihn für einen Arzt. Der Professor ist enttäuscht, er bekennt ihr aber schnell, daß er ihr nur rein menschliche Hilfe anbieten könne.

Vielleicht sei das mehr als eine ärztliche, meint sie und läßt ihn ins Zimmer treten.

»Sie wollten sich Medizin holen lassen, nehme ich an.«

Die Dame lächelt bitter.

»Es wäre für mich viel nützlicher, wenn ich Gift für mich bestellen könnte. Glauben Sie nicht auch, daß kein Mensch zu schrecklichsten körperlichen Qualen gezwungen werden sollte?«

Der Professor kann nur schwer seine Enttäuschung verbergen. Hat er nicht uneingestanden auf ein Abenteuer gehofft? Und nun mußte er eine Unterhaltung führen, die wenig geeignet sein konnte, ihn zu erheitern.

Wirklich, die Dame läßt nicht ab von dem düsteren Gesprächsstoff.

»In welch einer Zeit leben wir! Mit dem Todesurteil in der Hand werden wir gezwungen, Foltern zu erdulden, und kein Arzt ist bereit, unsere Qualen zu verkürzen.«

Der Professor wäre gern geflüchtet, aber es scheint ihm gefährlich, diese Frau alleinzulassen. Er muß sie beruhigen.

»Jeder von uns hat Augenblicke der Verzweiflung, die vorübergehen. Stellen Sie sich vor, was mit der Menschheit geschehen würde, wenn man uns jederzeit ohne weiteres Gift zur Verfügung stellen würde. Ich bin überzeugt, Sie sehen Ihren Zustand zu pessimistisch, Sie sehen ja strahlend aus, Sie können unmöglich schwer krank sein. Glauben Sie mir, ich bin kein Arzt, aber ein Laie hat oft bessere Augen.«

»Finden Sie das wirklich? Sie übertreiben, man kann unmöglich behaupten, daß ich strahlend aussehe.«

Die Dame sucht ihr Bild in dem Spiegel. Die Unterredung hat ihren Augen Glanz verliehen. Sie kann sich nicht verhehlen, daß das Kompliment des Professors ihr nicht unverdient erscheint. Wollte sie wirklich Gift, wollte sie wirklich aus dem Leben flüchten? Wollte sie nicht vielmehr jetzt erst, da sie wußte, daß alles zu Ende ging, das Leben wirklich leben – bewußt, jede Minute wie eine Kostbarkeit? Man wollte sie operieren, zerschneiden – gut, sie war bereit, alles auf sich zu nehmen. Man konnte auch so noch weiterleben. Es war besser, als halber Mensch zu leben als gar nicht. Besser Qualen erdulden als nichts mehr fühlen, überhaupt nichts mehr sehen, nichts mehr wissen. Oder belügt sie sich jetzt nicht selbst? Warum hat sie diesen Unbekannten in ihr Zimmer gelockt? Hat sie Angst vor dem Alleinsein? Planlos geht sie im Zimmer auf und ab. Plötzlich fällt es ihr ein, zu lachen, über sich selbst zu lachen.

Der Professor schaut sie an, als ob er Angst um ihren Geisteszustand hätte.

»Es ist wirklich komisch, ich suche die Zeitschrift ›Gesellschaftliches Leben im Süden‹, deshalb telefonierte ich vorhin nach dem Stubenmädchen und war ungeduldig, als es nicht kam. Sie können sich nicht vorstellen, Herr –.«

Der Professor holt das Versäumnis nach und stellt sich vor.

»Ich hasse das Leben, das ich bisher geführt habe, es erscheint mir heute erschreckend nutzlos und leer, und doch will ich unbedingt wissen, welche meiner Bekannten eine Gesellschaft gab, wer im Bridge gewonnen hat und was es Neues in unserem Landklub gibt.«

»Ja, wir können nicht aus unserer Haut und können nicht über unseren eigenen Schatten springen; so sind wir verurteilt, unser vergangenes Leben nie von uns abschütteln zu können.«

Die große Dame aus der kleinen Stadt denkt an ihr vergangenes Leben: sie ging dreimal wöchentlich zu Bridgepartien, jeden Sonntag in die anglikanische Kirche, die vornehmste der Stadt; sie hatte gesellschaftliche Verpflichtungen, besuchte Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse der Gesellschaft. Das Leben bestand aus Zeremonien, die jede Wirklichkeit verdeckten.

Sie war über das Einkommen ihrer Bekannten, über die Kleiderrechnungen ihrer Freundinnen, über die Kosten der Gesellschaften, die diese gaben, über die guten und schlechten Eigenschaften ihrer Dienstmädchen und Ehegatten informiert. Sie kannte die Erbschaftsstreitigkeiten und die Scheidungsaffären der Gesellschaft, die sich in der Hauptsache auch nur um das Geld drehten. Das war ungefähr alles, was sie über das Leben wußte. Und nun sollte es zu Ende sein, unwiderruflich zu Ende.

»Das Schreckliche ist, daß ich Angst habe, Angst nicht nur vor dem Ende, sondern auch vor mir selbst. Ich will noch darüber lesen, es schwarz auf weiß sehen, wie das Leben zu Hause ist. Aber ich kann nicht mehr zurück, ich kann nicht mehr in mein Heim. Ich glaube nicht mehr an das Leben, das ich bis jetzt geführt habe. Begreifen Sie aber, was es bedeutet, ohne feste Überzeugungen zu leben, ohne irgendeine Hemmung? Ich brauche ja nichts mehr zu fürchten, da ich bestimmt weiß, das endgültige Ende kommt bald. Und doch fürchte ich mich vor mir selbst. Retten Sie mich, Professor, beschaffen Sie mir Gift.«

Der Professor sieht eine Aufgabe vor sich, er muß die Unbekannte trösten. Dieses Trösten könnte vielleicht ihm selbst zum Trost dienen.

Er steht auf und nähert sich ihr. Erst läßt er seine Hände vorsichtig auf ihren Armen ruhen; sie straft ihn nicht für seine Kühnheit. Ihre Hemmungslosigkeit ist also doch schon ziemlich fortgeschritten! – diese Feststellung gewährt dem Professor eine gewisse Befriedigung. Er zweifelt nicht daran, daß es ihm gelingen würde, sie dem Leben zurückzugewinnen. Und diese Lebensrettung könnte vielleicht auch ihm Angenehmes bringen.

Er ist selbst überrascht, als nun seine Arme die Dame auf leidenschaftliche Weise umfangen. Er ist ein Menschenfreund, will trösten. Welchen anderen Trost kennt die Kreatur als diesen?

»Ich fürchte mich vor dem Tier in mir.«

»Unsere tierischen Freuden sind noch die einzig menschlichen«, hört sich der Professor sagen. Seine eigene Verderbtheit erfüllt ihn mit Scham, aber auch mit Freude.

Während der Spanne einiger Minuten vergißt die Dame ihre Krankheit, den Tod und das »Gesellschaftliche Leben im Süden« – der Professor seine Frau, das Garn und die »neue Jugend«.

   

Aber es dauert nicht lange und alles fällt ihnen wieder ein: der Lärm von draußen dringt ins Zimmer.

»Warum rufen Sie nicht die Polizei, wenn die Leute nicht gehorchen wollen?« Schrill tönt eine laute Stimme durch den Korridor.

»Ich verklage das Hotel auf Schadenersatz.«

»Ich habe vor zehn Minuten nach der Schneiderei telefoniert, und niemand kommt, das ist unerhört, ich kann doch nicht in zerdrückten Kleidern ausgehen.«

»Sofort, einen Augenblick Geduld.«

Leider ist Fräulein Wesley die einzige, die ihre Geduld nicht verliert.

Jetzt fällt dem Professor schuldbewußt das Garn seiner Frau ein.

»Ich muß leider kanariengelbe Wolle besorgen.«

Er kann nicht länger seine Zeit der Unbekannten widmen, um sie zu trösten.

Übrigens telefoniert auch sie schon wieder; sie verlangt nach dem Stubenmädchen, man habe eine wichtige Zeitschrift verlegt.

Frau Strong ruft an, sie fordert die beste Büglerin des Hotels für den Brautschleier.

»Sofort, gnädige Frau.«

Fräulein Wesley findet, daß sie noch nie eine schlimmere halbe Stunde erlebt hat. Menschen, die nicht gewohnt sind, auf die Erfüllung ihrer Wünsche zu warten, können recht unbequem werden, wenn Hindernisse auftauchen. Schon allein die Vermutung, man lasse sie unbeachtet, erschüttert ihre Sicherheit. Es kann also geschehen, daß die Welt nicht allein für sie da ist. Aber man konnte sich ja wehren! Und sie taten es nun laut und vernehmlich. Jede Minute, die sie vergeblich warten, erscheint ihnen endlos. Man wagt, sie herauszufordern ...! Das Schlimmste ist, sie fühlen sich hilflos, nur auf sich gestellt, mißachtet.

»Soll ich vielleicht in einem erstklassigen Hotel mein Zimmer selbst machen?« schrie die hysterische Dame, »ich erwarte Gäste, ich erzähle Ihnen das nun schon seit einer halben Stunde.«

Fräulein Wesley beschäftigt sich bereits ernstlich mit dem Gedanken, einfach selbst auszurücken, als sie die Arbeitsuniformen des Personals auftauchen sieht.

Auf allen dreißig Stockwerken erlebten die Etagenvorsteherinnen Ähnliches wie Fräulein Wesley; die Szenen, die sich abspielten, waren die gleichen, und auch die Erleichterung bei dem Erscheinen der Arbeitsuniformen war überall dieselbe.

Langsam kommen die Stubenmädchen, die Scheuerfrauen, die Hausmänner, die Pagen ... Sie haben es noch immer nicht so eilig.

»Um Gottes willen, wo bleibt ihr denn alle? Ich weiß schon nicht mehr, wie ich die Gäste beruhigen soll«, ruft Fräulein Wesley und beeilt sich, nach allen Seiten Befehle zu erteilen.

»Und wenn wir nun überhaupt nicht gekommen wären, was wäre dann geschehen?« Es ist Celestina, die das sagt, und Fräulein Wesley sieht sie mit entgeisterten Augen an.

»Dürfen wir nicht auch einmal darüber sprechen, was uns angeht?«

»Celestina, um Gottes willen, nimm den Eimer und mache deine Badezimmer. Ich verrate dich nicht wegen deiner rebellischen Reden – aber wenn Frau Magpag dich hören würde!«

Doch Celestina ist nicht ängstlich. Wenn Shirley so frei reden konnte, warum sollte nicht auch sie sagen können, was sie denkt. Shirley steht hinter ihr, sie soll merken, daß auch ihre Mutter nicht feige ist. Und wenn man überdies die große Aufregung auf den Gästekorridoren sieht, nur weil das Personal einige Minuten später zur Arbeit zurückgekommen ist, dann merkt man erst, wie wichtig man ist, wie wichtig alle sind, die arbeiten.

Über etwas Ähnliches muß auch Shirley grübeln, denn ihr Gesicht ist sehr nachdenklich. Es beginnt ihr klarzuwerden, daß der ganze große Betrieb nur durch die Arbeitenden in Bewegung ist, daß ohne sie alles stillstehen müßte, ohne sie, die am schlechtesten leben. Es fällt ihr ein, daß sie sich doch noch mit dem neuen Küchenjungen unterhalten müßte, bevor sie für immer fortgeht. Was meinte er, als er sagte, sie müsse noch viel lernen, aber dann könnte sie viel tun für alle?

»Nun, Shirley, hast du nichts zu tun?« fragt Fräulein Wesley.

»Ich muß aus verschiedenen Zimmern noch Wäsche abholen.« Shirley ist selbst überrascht, daß man sie noch nicht weggeschickt hat. Nun will sie wenigstens die Zeit nutzen und versuchen herauszufinden, was mit ihr nach diesem Tage geschehen wird. Ihr Freund bleibt jedoch unsichtbar, auch jetzt noch, wo sie eigentlich schon Bestimmtes wissen müßte. Man muß schon Geduld haben, wenn man sich in ein höheres Leben hinaufschwingen will.


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