Hans Leifhelm
Steirische Bauern
Hans Leifhelm

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Die Begegnung

Eine unruhige Bewegung war in das Hochtal gedrungen. Sie ging aus vom großen Straßenbau drunten im Haupttal. Viele Hunderte von Arbeitern waren von nah und fern zusammengeströmt, man hatte Arbeitslose aus den Städten hingesandt, eine buntgewürfelte Gesellschaft aus allen Teilen des Landes war hier versammelt. Meilenweit waren die Arbeiter über die Straße verteilt.

Man hatte sich entschlossen, keine Baracken zu errichten, und so waren die Arbeiter angewiesen, sich ihr Obdach bei den anrainenden Bauern zu suchen. Sie hausten in kleinen Trupps, manche in der Nähe der Arbeitsplätze, manche aber weiter droben an den Hängen; ja vereinzelte mußten täglich hinaufsteigen zu den ersten Bergbauern.

Auch St. Oswald bekam einige solcher Gäste. In der Woche waren sie kaum merkbar, mit dem ersten Tagesanbruch wanderten 22 sie bereits den weiten Weg hinab ins Tal, und wenn sie spät nach dem Feierabend heimkehrten, so war es schon dämmerig trotz der sommerlangen Tage. An den Sonntagen aber blieben sie daheim, besuchten einander, saßen mit den Knechten der Höfe beisammen oder zogen hinüber in das Gasthaus des Dorfes.

Dort war auch Severin mit ihnen zusammengetroffen. Er war voll von Begierde, etwas von der Welt draußen zu erfahren, und seine Hoffnungen erfüllten sich. Die Männer wußten von den Städten zu erzählen, und Severin unterschied nicht, was Wahrheit oder Prahlerei war, er sah das Leben der Städte, das dahin ging wie ein bunter, lockender Jahrmarkt. Es gab da alles, sie bestätigten es, was er ahnte, es gab Städte mit Tausenden von hohen Häusern und darin Lichtknöpfe und Wasserleitungen, es gab blitzende Werkstätten und brausende Fabriken mit Scharen von Menschen, die ihre feste Ordnung und ihre gute Bezahlung hatten.

Während er auf dem Heimweg war, vom Dorf hinauf zum Hofe seines Ziehvaters, standen die neuen Bilder verlockend vor seinem Auge. Er lebte fast wie ein Knecht, gerade, daß er nicht um Lichtmeß einen neuen Dienstplatz suchen mußte. Was hatte er hier bei den Bergbauern zu erwarten? Die Arbeit war schon jetzt fast zu schwer für seine jungen Arme, ein ganzes Leben lang würde es so weitergehn.

Sicher wäre alles leichter, wenn er versuchte, beim Straßenbau Arbeit zu finden. Das wäre ein Anfang. Die Straße führte in die Städte, schön und leicht war dort das Leben. Freilich, man sollte wissen, ob die Arbeiten an der Straße so gewaltig, so umfangreich waren, wie es die Arbeiter berichtet hatten. Nun – man müßte es mit eigenen Augen sehen. Hundert Kilometer weit erstreckten sich angeblich die Baulose. Während die Straße befahrbar blieb, während Fuhrwerke und Automobile ihren Weg nahmen von Norden nach Süden und von Süden nach Norden, wurde die Straße in Teilen aufgerissen, verbreitert, umgelegt, 23 über neue Trassen geführt. Dies alles mußte sich nachprüfen lassen. Wenn man etwa auf dem Schmettenkopf stand, dem steil abfallenden Ausläufer des Gebirgs, der das Tal beherrschend überschaute, dann mußte man ein richtiges Bild vom Straßenbau gewinnen. In vierzehn Tagen war es an der Zeit, daß er die oberen Almgründe aufsuchte, am Samstag früh, dann würde er den Umweg machen und sich überzeugen.

Bis dahin ging das neue Leben noch oft durch seine Gedanken. Und als es Samstag wurde, da wußte er, daß am nächsten Tag der Entschluß gefaßt werden müsse.

Nun war es Sonntag. Severin war schon früh am Morgen nach dem Almgang auf dem Schmettenkopf angelangt. Er hatte die Straße lockend dahinziehen sehn, die Straße, die andere Arbeit geben konnte, und die in die Städte führte. Die fremden Arbeiter hatten nicht gelogen, im Sonnenlicht glänzten die Sprengflächen an den Hängen, haushoch lag der Baustoff aufgestapelt, Bauhütten waren errichtet, Signalscheiben leuchteten rot – die Straße war auf viele Meilen in Bewegung.

Nun war er auf dem Heimweg. Sein Entschluß stand fest. Er hatte die Einsattlung des Ausläufers hinter sich, jetzt hielt er seine Mittagsrast droben am Kamm des Gebirges, von wo er das Tal von St. Oswald bereits überschauen konnte.

In der Einsamkeit der Höhe fuhr unstet der Bergwind über die Schneemulden und Felstrümmer, die gleißend in der Sommersonne lagen. Dann als die Sonne im Scheitelpunkt stand und die Glocken ihr Mittaggeläute aus den Tälern heraufsandten, mußte er ans Weiterwandern denken. Die Stimmen der Glocken hoben sich bald leiser, bald vernehmlicher aus der Tiefe zu ihm empor. Severin kannte alle Dörfer da unten und unterschied die metallenen Stimmen. Hart und gellend klang die Thorsteiner Glocke, sie war in der Kriegszeit geboren, als ihre Vorgängerin eingeschmolzen wurde. Eine tiefe, volle Stimme tönte aus St. Helen, kaum mochte man es glauben, daß sie aus 24 der winzigen Kirche dieses verlorenen Fleckens kam. Die Glocke von Wiesantberg bimmelte dazwischen, zerstreut und locker, wie die Häuser ihrer Gemeinde. Ganz fern ertönte jetzt die St. Kathreinerin mit ihrem spöttischem Klang. Und unendlich wohllautend kam zuletzt die Stimme von St. Oswald aus der Tiefe. Sie war ihm die liebste von allen. Die anderen mochten voller und prächtiger singen, aber zum Herzen sprach sie am eindringlichsten.

Nun wartete Severin noch auf die Hofglocke des alten Faustin, die seit jeher alltäglich der Dorfglocke nachzuläuten gewohnt war. Aber heute wartete Severin umsonst. Alle Stimmen in der Tiefe waren verstummt.

Severin streifte die Gurten seines Rucksackes über die Achseln und sprang über die Steine bergab. Die Zeit bis zur Dämmerung würde er noch für seinen Weg brauchen. Anfangs ging es pfadlos über die steinigen Almen. Er dachte heute nicht daran, nach den dunkelglühenden Granaten im Stein zu suchen, die Falter beachtete er kaum, die hier streifenden Graseulen und Felsenspanner. Flüchtig sah er, daß in den Mulden noch der letzte Almrausch brannte, daß tiefer abwärts der Arnika in sattem Gold leuchtete. Jetzt kam er in den Bereich der Herden, schon waren die Weiden begrenzt durch die schief in die Erde gerammten Zäune. Die Tiere drängten sich um ihn und bohrten schnaubend ihre Mäuler in seine Hände, um das geliebte Salz zu suchen.

Bald kam der tiefe Graben und dann hielt er bei seinem Abstieg die Richtung auf den Bergwald zu. Über kurzes Almgras ging sein Fuß, in dunklen Gruppen standen die Zirben, einzeln und in Sonne gebadet die lichthungrigen Lärchen. Süß duftete der Thymian, im Kraut funkelte schon da und dort eine reifende Preißelbeere, hinter Felstrümmern schwankte der dunkelblaue Eisenhut. Dann klang ihm das talwärts gehende Wasser entgegen, das aus der hölzernen Rinne in den Trog des ausgehöhlten Baumstammes fiel. Bläulinge verharrten regungslos am Rand 25 des Trogwassers, goldberingte Wespen befuhren auf einem Borkenstück die spiegelnde Fläche. Neue Gäste flogen zu und ab, und immer erzitterte das Wasser um das winzige Floß in kleinen zartbewegten Ringen. Aus dem Duft des Thymians flog eine wilde Biene auf, die den Wanderer wieder und wieder in magischen Kreisen umzog. Ihr Gesumm schwoll an und sank ab, als ob der Wind an eine unsichtbare Glocke rührte. Ein Stück Weges begleitete sie ihn, dann war sie verweht und verschwunden.

Nun näherte er sich schon dem Walde und er traf auf den Weg, den jeder nahm, der den Berg beging, mochte er aus der Höhe kommen oder aus dem Tal. Wuchtig drängten sich zwei Hänge aneinander, mühsam kämpfte sich der Wildbach durch das Gestein, hart neben ihm wand sich der Weg talab. Hier war der Wald verwüstet, die bleichen, gestreckten Gestalten abgerindeter Bäume lagen auf der Erde, fahlgrau und trocken waren die Brüche, lange schon lagen die Bäume im Schlag, gefällt vom Orkan oder vom niedergehenden Schnee. Die Stümpfe im Grase waren kaum sichtbar, Gesträuch und Stauden hatten sie längst überwuchert. In gelichteten Scharen ragten darüber noch die herrlichen uralten Bäume auf. In immer dichteren Wald tauchte der Weg. Vorbei war es mit der Sonne, kaum vermochte ihr Strahl durch das Geäst zu dringen. In purpurnen Flecken lag der letzte Schein auf den Baumrinden. Der Bach toste, aber der Wald war totenstill. Steil ging es bergab, dichter standen die Bäume, sie umringten, umfluteten ihn.

Nun war auch das letzte Licht verglommen, die tiefe Dämmerung fiel ein und verhüllte alles, der Wanderer ging durch den dunkelnden Wald wie durch eine stumme Ewigkeit. Nach langer Zeit ertönte ein Vogelruf. Als ob der Wald zum Leben erweckt wäre, berührten sich droben zwei Wipfel, ein Knistern ging leise, dann fiel ein Tannenzapfen aus unendlicher Höhe herab. Ein wenig war es wieder still, dann rauschte der Wald leise auf und es war, als ginge eine Sense gleitend durchs Gras. 26

Nun war auch der Mond aufgegangen, die ihm zugewandten Seiten der Stämme waren übergossen mit zitterndem Licht, die Harztropfen glitzerten an der Rinde.

Da kam er auf Severin zu, der alte Faustin. Seitwärts aus den Stämmen trat er heraus. Etwas vorgebeugt wie immer, vielleicht ein wenig müder noch als sonst. Den dunklen Anzug trug er, das bunte Seidentuch war um den Hals geschlungen, die schwere silberne Uhrkette mit den Hirschgranen blinkte im Licht. Auf dem Hut trug er aufgesteckt den Rosmarin und eine Nelke.

»Ihr, Faustin?«

»Ja –.« Er nickt mit dem bartlosen Gesicht, er sagt nichts weiter, er gibt ihm auch nicht die Hand. Stumm geht er neben Severin her und der Wald hüllt die beiden ein.

Dann hebt der alte Faustin an:

»Weißt du noch, wie du hergekommen bist? Dein Vater war im Krieg verblieben, deine Mutter hat dich mit in ihre Heimat genommen und ist dort verstorben. So bist du als Sechsjähriger wieder hier ins Dorf gebracht worden, aus dem dein Vater stammt, und der Kralehner ist dein Ziehvater geworden. Ich hab auch auf dich geschaut, rechtschaffen warst du und anstellig. Und jetzt bist du ein Gescheiter geworden und gehst auf den Straßenbau.«

Severin tut einen unsicheren Blick auf den Alten. Er hat doch mit niemanden über seinen Plan gesprochen?

»Und später kommst du in die Stadt.« Schweigend geht er weiter.

»Freilich, dort ist es gut für einen jungen Menschen, gerad für dich. Du brauchst nicht viel zu sorgen und hast, was du willst.«

Dann schweigt er eine Weile. Später beginnt er wieder:

»Grad solche wie dich brauchen sie, jung und unverbraucht. Frisches Blut brauchen sie.«

Er schweigt wieder ein wenig, dann spricht er fort: 27

»Aber es ist keine Erde dort. Und wenn dir ein Tropfen Schweiß oder ein Tropfen deines Bluts zu Boden fällt, dann trocknet er auf dem Asphalt. Er ist unnütz dort und verloren.«

Faustin geht dicht neben Severin; wie eine Welle geht es dem Burschen über das Herz. Und wieder hört er den Alten sprechen:

»Aber du weißt, was du tust. – Es liegt schon auf dem Kralehnerhof. Seit langen Zeiten sind die Kralehner auf ihm seßhaft; aber vorher – da war es auch so – da war einer, der ging davon mit einem Feldscher – Wird wohl zu Glück und Wohlstand gekommen sein – denn warum ist er nicht wiedergekommen? Was meinst du?«

Sie gehen schweigend durch den Wald.

»Faustin – wie war's mit dem Läuten heut zu Mittag?« fragt Severin ablenkend.

»War keine Zeit mehr.«

Immer lichter wird es, und der Wind weht in den Kronen der Bäume.

Die Unruhe ist immer stärker über Severin gekommen. Er will fragen, aber er findet kein Wort.

»Hast was gesagt?« fragt Faustin. Es liegt ein Lächeln in seiner Stimme und seine schweren Schuhe gehen ganz sacht über den mit Tannennadeln besäten Weg. Bald wird der Weg zu Ende sein.

»Jetzt ist's Zeit –« sagt der alte Faustin. Seine hellen grauen Augen hält er auf Severin gerichtet. Der mag nicht mehr fragen.

Da geht der Alte auch schon zwischen den letzten Bäumen am Waldrand davon. Ein schwacher Schein ist dort noch eine Weile sichtbar, dann kommt ein Vogelschrei aus seiner Richtung, und alles ist stumm.

 

Nun trat der Weg aus dem Wald, und Severin eilte über die helle Bergwiese. Eine halbe Stunde noch, dann war er beim höchsten Hof des Kirchspiels, dem des Faustin, angelangt. 28

Leicht ging der Wind über die steilabfallende Wiese, hinter dem Wald wuchs der Berg in das silberne Licht. Aus dem Schornstein des Hauses, der hinter dem Stall aufragte, stieg kein Rauch. Beim Näherkommen hörte Severin die Tiere im Stall, sie waren unruhig, als ob man vergessen hätte, das Futter zu streuen. Die Glocken tönten, die Hufe traten dumpf den Boden. Kein Knecht, keine Magd war zu sehen, während er sich dem Wohnhaus näherte.

Ein Fenster stand offen, in seinem Rahmen saß ein gelber Vogel. Da Severin näher kam, spreitete er die Flügel zum Flug. Die Haustür war angelehnt und in der Küche am kalten Herd saßen verängstigt die Jungmagd und der Hüterbub. Aus der großen Stube drangen die Geräusche der Abendmahlzeit.

»Geht ihr nicht essen?« fragte Severin. Sie schüttelten die Köpfe und deuteten auf die Stube des Faustin. Da drückte er leise die Tür auf. Die offenen Fensterflügel schlugen im Zugwind an die Mauer. Die helle Sommernacht leuchtete herein, und Severin sah den toten Faustin.

Hoch aufgerichtet saß er in den bunten Kissen. Sein Kopf war wie im Nachdenken etwas zurückgeneigt, die Augen hielt er auf den Berg gerichtet. Die Hände stützte er auf die Decke, vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch, zwischen dessen Blättern Kornähren gepreßt waren.

In der Mitte der Stube über zwei Bänken stand der glatte Fichtensarg. Der Deckel lehnte seitwärts an einem Kasten. Vor der Totentruhe stand ein kleines Bänkchen zum Niederknien. So hatte es der Faustin am Nachmittag befohlen – sterben wollte er allein.

So war Severin der Erste, der den Toten sah. Er blieb nicht, als die Leute zur Totenwacht kamen, sondern nahm den Weg übers Dorf zum jenseitigen Hang. Bald war er daheim.

Er schloß die Falter am Krahlenerhof auf. Seltsam ans Herz gewachsen war ihm der kreischende Ton. Der Hund winselte vor Freude, als Severin vorbeiging. 29 Severin kannte das Versteck des Stallschlüssels. Er schloß die Stallung auf. Hinter ihm blieb das Tor offen, in breiter Bahn kam das Mondlicht herein. Er ging an der Reihe der Kühe entlang, strich über ihre Lenden, nahm die Enden ihrer Hörner in die Hand, richtete ihre verhängten Ketten. Das Pferd äugte aus seinem Verschlag, seine Augen waren dunkel und blank wie Turmalin. Severin stieg die Holzstiege hinauf in die Getreidekammer. Er öffnete die Kästen. Süß und schwer entströmte ihnen der Duft des Korns, des Hafers. Er faßte mit den Händen in die Haufen, die Körner rieselten kühl durch seine Finger. Im vergangenen Frühjahr hatte er zum erstenmal neben dem Kralehner die Arbeit des Säens getan. Er meinte jetzt noch zu spüren, wie die Körner aus seiner Hand strahlten. Kein anderer auf dem Hof hatte je die Saat gestreut als der Kralehner und damals er, Severin, der Ziehsohn.

In dieser Stunde wußte es Severin, er war an den Hof gebunden.

Leise schloß er die Truhen. Er verließ den Stall, versorgte den Schlüssel und ging in seine Kammer. Dort entzündete er, wie es der Brauch im Dorfe will, das Totenlicht für den alten Faustin.

 


 


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