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Die Hauptmanns-Puppe

»Hannele!«

»Ja–a!«

»Wo bist du?«

»Hier.«

»Wo denn?«

Hannele hob den Kopf nicht von ihrer Arbeit. Sie saß in einem niedrigen Stuhl unter einer Leselampe, neben ihr stand ein Korb mit bunten Seidenflicken, und in den Händen hatte sie eine kleine Gliederpuppe, der sie einen Anzug machte. Sie war gerade mit dem Knie der Puppe beschäftigt, so daß der arme kleine Herr in grotesken Schwingungen mit dem Kopf nach unten baumelte und wild mit den Armen um sich schlug. Und das war durchaus ungehörig, denn die Puppe war ein schottischer Soldat in enganliegenden Tartanbeinkleidern.

Es klopfte an die Tür, und die Frauenstimme von vorhin rief:

»Hannele –?«

»Ja–a!«

»Bist du da? – Und bist du allein?« fragte die Stimme auf Deutsch weiter.

»Ja – komm herein!«

Die Aufforderung klang nicht sehr einladend. Hannele drehte, als die Tür aufging, gerade die Puppe um und zog ihr den Rock straff. Eine dunkeläugige junge Dame spähte durch den Türspalt herein, mit schelmisch betonter Schüchternheit. Sie war mit Anmut und Geschmack zum Ausgehen gekleidet; zum dicken Pelzumhang trug sie einen kleinen schwarzen Hut, der bis auf die Ohren herabgezogen war.

»Ganz, ganz allein –?« fragte sie verwundert. »Wo ist ›er‹ denn?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, sagte Hannele.

»Und dann sitzest du hier allein und wartest auf ihn? Nein, so was –! Das nenne ich Mut! Hast du denn gar keine Angst?« Mitchka schlenderte durch das Zimmer zum Platz ihrer Freundin.

»Warum soll ich denn Angst haben?« fragte Hannele kurz angebunden.

»Du fragst noch? – Und was machst du da? Wieder eine Puppe? Du – das ist aber ein famoses Stück! Ha ha ha! Er –! Das ist ja er! Nein – nein – das ist zu schön! Nein – das ist zu schön, Hannele! Das ist er – ganz genau er. Bis auf die Hosen –«

»Solche Hosen trägt er auch«, sagte Hannele und stellte die Puppe auf ihr Knie. Es war das vollendete Bildnis eines Offiziers aus einem Schottischen Regiment, schlank, mit zartester Kunst gebildet: sogar das leichte elegante Fallenlassen der Schultern fehlte nicht; er trug enganliegende Tartanbeinkleider. Das Gesicht war schön und mit wundervoller Bildniskunst geformt, dunkelhäutig, mit einem kleinen kurzgeschnittenen dunklen Schnurrbart und weitoffenen dunklen Augen; dazu jenem Ausdruck der Gleichgültigkeit und des unbedingten Mißtrauens, der das Kennzeichen des Offiziers und des Weltmannes ist.

Mitchka beugte sich vor und betrachtete die Puppe. Sie war ein hübsches Mädchen, mit warmgetönter dunkelgoldener Haut und klargezeichneten Brauen über dunkelbraunen Augen.

»Nein«, sagte sie leise und wie erschreckt, tief erschreckt. »Das ist er. Das ist er. Nur die Hosen nicht. Aber hübsch sind sie doch, die Hosen. Hat er wirklich so schöne schlanke Beine?«

Hannele antwortete nicht.

»Ganz genau er. Und genau so vollendet wie er. Genau so – vollkommen. Ganz genau so ist er: vollendet. Hat er die Puppe gesehen?«

»Nein«, sagte Hannele.

»Was er dann wohl sagt?« Sie fuhr auf. Ihr scharfes Ohr hatte einen Laut auf den Steinstufen der Treppe vernommen. Ein Ausdruck der Furcht erschien auf ihrem Gesicht. Sie flog zur Tür und aus dem Zimmer, sie schloß die Tür hinter sich.

»Wer kommt da?« rief draußen ihre ängstliche Stimme ins Treppenhaus hinunter.

Die Antwort kam in deutscher Sprache. Gleich darauf öffnete Mitchka die Tür und kehrte zu Hannele zurück.

»Es ist bloß Martin«, sagte sie.

Und sie blieb wartend stehen. Ein Mann erschien auf der Schwelle – straff, soldatisch.

»Ah! Komteß Hannele«, sagte er in seiner raschen, knappen Art. Er blieb auf der Schwelle stehen. »Darf man hineinkommen?«

»Ja, kommen Sie herein«, sagte Hannele.

Der Mann trat mit raschen, soldatischen Schritten ein, neigte sich über Hanneles Hand und küßte sie. Dann berührte er, auf weit vertraulichere Art, Mitchkas Hand mit den Lippen.

Mitchka sah sich derweil im Zimmer um. Es war eine sehr geräumige Dachstube; die Decke war schräg und fiel in zwei schön geschwungenen Linien auf die Wände ab. Das Licht der dunkelbeschirmten Leselampe füllte die mächtige, weißgetünchte Wölbung der Decke mit sanftem Glanz, beleuchtete matt die Gegenstände rings an den Wänden und schuf eine Insel von leuchtender Farbigkeit: dort saß Hannele in ihrem weichen roten Kleid und mit ihrem Korb voll Seidenflicken.

Sie war schön, mit ihrem dunkelblonden Haar und ihrer zarten Haut. Ihr Gesicht schien aus eigener Quelle zu leuchten: es war wie ein kurzes, lebendiges Aufglänzen, als sie zu dem Manne aufblickte. Er sah vorzüglich aus: glattrasiert, mit sehr blauen Augen, die ein wenig zu weit auseinander standen. Von seinem Gesicht war das Erlebnis des Krieges abzulesen.

Mitchka wanderte im Zimmer umher, sah sich alles an und sagte: »Schön! Aber wirklich – schön! Und so geschmackvoll! Ein Mann – und so viel Geschmack! Nein, so etwas braucht keine Frau. Nein, sieh dir das an, Martin – Hauptmann Hepburn hat sich das ganze Zimmer selbst eingerichtet. Da hast du den ganzen Mann. Siehst du's? So einfach – und doch so elegant. Der braucht keine Frau.« Das Zimmer war wirklich schön: geräumig, blaßfarben, von sanftem Licht erleuchtet. Ein großer, dunkelblauer Kachelofen sorgte für Wärme; im übrigen waren nur ganz wenige Möbel vorhanden: ein paar mächtige Bauernschränke aus bemaltem Holz – und ein riesiger Schreibtisch, mit Schreibgegenständen darauf und ein paar wissenschaftlichen Geräten und einem Kaktus mit schönen scharlachfarbenen Blüten. Aber es war ein männliches Zimmer. Tabak und Pfeifen lagen auf einem Rauchtischchen, an den Haken hinten an der Wand hingen soldatische Röcke und Wehrgehenke, ein Wandbrett trug zwei Gewehre. Auch waren zwei Fernrohre da; eines war auf einem Ständer am Fenster angebracht. Auf dem Tische lagen verschiedene astronomische Geräte.

»Und er liest in den Sternen. Denk doch nur – er ist ein Astronom und kann in den Sternen lesen. Sonderbare, ganz sonderbare Leute, diese Engländer!«

»Er ist Schotte«, sagte Hannele.

»Ja, Schotte«, sagte Mitchka. »Aber weißt du, ich hab immer Angst vor ihm, wenn er da ist. Er ist wie eine – eine Sackgasse. Ich weiß nicht, wie ich mit ihm weiterkommen soll. Hast du nicht auch Angst vor ihm, Hannele? Ach – wie eine Sackgasse ist er.«

»Warum soll ich denn Angst haben?«

»Ja, du! – Du weißt vielleicht gar nicht, wann es Zeit ist, Angst zu haben. Wenn er nun aber käme und uns hier fände? Nein, nein – wir wollen gehen. Laß uns gehen, Martin. Komm, laß uns gehen. Ich möchte nicht, daß Hauptmann Hepburn kommt und mich in seinem Zimmer findet. O – nein!« Mitchka knuffte Martin eifrig zur Tür, und er lachte dazu, mit dem sonderbar gequälten, furchtbar überreizten Ausdruck, den seine Augen auch beim Lachen hatten. Mitchka versuchte es nun mit ihrem Englisch. Sie sprach ein paar Sätze recht hübsch: »O nein! Das ist nichts für mich. Das ist nichts für mich. Oh no, Sir Captain, ich will nicht, daß Sie kommen. Ich möchte nicht hier sein, wenn Sie kommen. Oh nein. Ich gehe. Ich gehe, Hannele. Ich gehe, mein Hannele. Und du willst wirklich hier bleiben und auf ihn warten? Aber wann kommt er denn? Das weißt du nicht? Oh, mein Liebling, das gefällt mir nicht, das gefällt mir nicht. Ich warte nicht in dieses Mannes Zimmer. No – no – never – jamais – jamais, voyez-vous. Ach, du mein armes Hannele! Und er hat Frau und Kinder in England? Nie – maals! Nein, nie – maals warte ich auf ihn.«

Schon hatte sie Martin eifrig zur Tür hinausgeknufft und ihren Umhang zurechtgezupft und eine gezierte damenhafte Haltung angenommen, fertig zum Erscheinen auf der Straße; schon hatte sie mit der Hand gewinkt und Hannele mit großen angstvollen Augen angesehen – und war draußen. Komteß Hannele nahm die Puppe wieder zur Hand und nähte an ihrem Schuh. Den Unterhalt für ihr jetziges Dasein verdiente sie sich mit der Herstellung solcher Puppen.

Aber sie hatte keine Ruhe. Sie legte die Arme fest in den Schoß, als hätte die gekrümmte Haltung sie ermüdet. Dann blickte sie zu der kleinen Uhr auf dem Schreibtisch hinüber. Essenszeit war längst vorüber – warum war er nicht gekommen? Sie seufzte, und es klang ziemlich erbittert. Sie hatte ihre Puppe satt.

So setzte sie den Korb mit den Seidenflicken weg und trat an eines der Fenster. Die Sterne waren weiß und sehr nahe. Drunten war die dunkel gedrängte Masse der Hausdächer, aber aus dem Raum unter den finsteren Hausdächern stieg ein Lichtnebel auf, und vom Lärm der Stadt tief drunten drangen gedämpfte Bruchstücke herauf. Das Zimmer, so schien es, lag hoch, fern, im Himmelsraum.

Sie ging zum Tisch und betrachtete seinen Briefhalter mit den Briefen darin, betrachtete sein Siegelwachs und sein Briefmarkenkästchen, berührte dies und das und schob es hierhin und dorthin – nur um irgend etwas zu tun; in Wahrheit kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß sie überhaupt etwas tat. Dann nahm sie einen Bleistift und schrieb in steifen gotischen Buchstaben ihren Namen, einmal über das andere Mal ihren Namen: Johanna zu Rassentlow; und dann mit einem wunderlichen Ausdruck von Bitterkeit, der ihrer Nase eine scharfe Linie gab, ein einziges Mal seinen Namen: Alexander Hepburn.

Schon aber war sie der Sache überdrüssig und warf den Bleistift aus der Hand. Sie wanderte durch den Raum zu dem Fenster, an dem das große Fernrohr stand; ein paar Minuten verweilte sie reglos, die Finger auf dem Rohr, an der Stelle, wo es von seiner Berührung ein wenig heller erschien. Dann schlenderte sie ruhelos zu ihrem Stuhl zurück. Kaum hatte sie die Puppe wieder zur Hand genommen, als sie ihn draußen auf der Treppe hörte. Sie hob den Kopf und sah ihm entgegen, als er eintrat.

»Hallo, du bist da?« sagte er gelassen und machte die Tür hinter sich zu. Sie streifte ihn mit einem raschen Blick, blieb aber stumm und regungslos.

Er legte seinen Überrock ab, mit raschen, ruhigen Bewegungen, und ging durchs Zimmer, um ihn an den Kleiderhaken zu hängen. Sie hörte seinen Schritt und sah abermals zu ihm hinüber. Er glich Zug um Zug der Puppe: ein hoher, schlanker Mann in Uniform, von untadeliger Haltung. Als er sich wandte, hatte man den Eindruck, daß seine dunklen Augen ungewöhnlich weit offen standen. Sein schwarzes Haar begann an den Schläfen zu ergrauen: in einem ersten Anflug von Grau.

Sie arbeitete an ihrer Puppe. Ohne ein Wort zu sprechen, schwang er den Schreibtischsessel zu ihr herum, so daß er sie fast mit den Knieen berührte, als er sich setzte. Dann schlug er ein Bein über das andere. Er trug feingewebte Tartansocken. Seine Fußgelenke waren schlank und schöngebaut, seine braunen Schuhe saßen so vollendet, als gehörten sie zum Fuß. Eine kurze Weile sah er ihr beim Nähen zu. Das Licht fiel auf ihr weiches, feines Haar; es war überall von Strähnen hellen und matten Goldes und von dunkelnden Schatten durchzogen. Sie blickte nicht auf.

Stumm streckte er seine schmale, seltsam nackt aussehende braune Hand aus: er wollte die Puppe haben. Auf seinem Unterarm wuchsen schwarze Haare.

Nun blickte sie zu ihm auf. Es war sonderbar, wie frisch und licht ihr Gesicht neben dem seinen wirkte.

»Willst du sie sehen?« fragte sie. Ihr Englisch klang ganz ungezwungen.

»Ja«, sagte er.

Sie riß den Baumwollfaden ab und reichte ihm die Puppe. Er saß, mit gekreuzten Beinen, die Puppe in der Hand, ein unergründliches Lächeln in den dunklen Augen. Sein Haar, mit dem untadeligen seitlichen Scheitel, war von einem tiefen und glänzenden Schwarz.

»Du hast mich erwischt«, sagte er schließlich mit seiner belustigten wohltönenden Stimme.

»Wie?« fragte sie.

»Du hast mich erwischt«, wiederholte er.

»Was mir gleichgültig ist«, sagte sie.

»Was – es ist dir gleichgültig?« Nun ergriff das Lächeln von seinem ganzen Gesicht Besitz. Er hatte eine sonderbare Art zu antworten, als wäre er nur halb bei der Sache und dächte an etwas ganz Anderes.

Sie wagte sich vor: »Du kommst sehr spät, nicht?«

»Ja. Ich habe mich erheblich verspätet.«

»Und wie kommt das?«

»Na, also ich habe natürlich mit dem Obersten gesprochen.«

»Über mich?«

»Ja. Von dir war die Rede.«

Sie wurde blaß und sah ihm forschend ins Gesicht. Aber es war unmöglich, zu erkennen, ob Kummer sein dunkles Gesicht verschüttete oder nicht.

»Etwas Häßliches –?« sagte sie.

»O ja, schon. Es war sogar ziemlich häßlich. Nicht mit Bezug auf dich – das nicht. Aber ziemlich peinlich für mich.«

Sie sah ihn gespannt an. Aber er sagte nichts weiter.

»Was war es?« fragte sie.

»Ach – nur was ich schon erwartete. Sie wissen, scheint's, ein bißchen viel über dich – ich meine: über dich und mich. Nicht daß Irgendwer sich Irgendwas draus machte – inoffiziell, du verstehst schon. Das Dumme ist nur: es sieht so aus, als wollten sie sich offiziell darum kümmern.«

»Warum?«

»Tja – also meine Frau hat, scheints, Briefe an den Generalmajor geschrieben. Er ist ein Bekannter ihrer Familie – kennt sie schon seit ihren Kinderjahren. Und da hat sie wohl Gerüchte gehört, denke ich mir. Oder vielmehr: ich weiß, daß sie Gerüchte gehört hat. Sie schrieb es mir.«

»Und was willst du ihr darauf antworten?«

»Oh – ich schreibe ihr, es ginge mir gut; sie soll sich keine Sorgen machen.«

»Du glaubst doch wohl selber nicht, daß sie daraufhin aufhören wird, sich Sorgen zu machen?«

»Tja – ich weiß nicht. Warum soll sie sich denn Sorgen machen?«

»Ich finde, sie hätte schon einigen Grund dazu«, sagte Hannele. »Du warst seit einem Jahre nicht bei ihr. Und wenn sie dich sehr liebt – –«

»Ach, ich glaube nicht, daß sie mich sehr liebt. Sie hat mich ganz gern, glaub ich.«

»Glaubst du wirklich, daß du ihr so wenig bedeutest?«

»Ich sehe keinen Gegenbeweis. Natürlich möchte sie sich meiner gern sicher fühlen.«

»Und jetzt fühlt sie sich deiner nicht sicher?«

»Nein. Richtig. Ganz richtig. Darum dreht sichs. So liegt die Sache. Der Oberst verlangt von mir, daß ich auf Urlaub heimfahren soll.«

Er saß da, hielt die Puppe an einem Arm und starrte sic an – mit seinen sonderbar blanken, dunklen Augen, die aussahen, als wären sie auf ein ganz anderes Ziel gerichtet. Diese Puppe glich ihm auf eine ganz außergewöhnliche Art; glich ihm sogar in der weichen Scheitelung des Haars und in dieser ihm eigentümlichen Weise, die dunklen Augen auf ein Ziel zu heften.

»Wie lange?« fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte er zögernd. Dann, plötzlich bestimmt: »Für einen Monat.«

»Für einen Monat!« Sie sah ihn an, und das war, als sähe ihr Blick ihn schon entschwinden.

»Und willst du fahren?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.« Er hielt den Kopf gesenkt und schien, auf eine ziemlich zerstreute Art, zu überlegen. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ich kann mir nicht darüber schlüssig werden, was ich tun soll.« » Möchtest du denn gern fahren?« fragte er.

Er zog die Brauen hoch und sah sie an. Immer schmolz ihr das Herz in der Brust, wenn er sie mit seinen schwarzen Augen gerade ansah – vor diesem seltsamen blanken gleichsam blicklosen Blick, der mehr ein zweites Gesicht schien als eine unmittelbare menschliche Schau. Sie wußte niemals, was eigentlich er sah, wenn er sie anblickte.

»Nein«, sagte er einfach. »Ich verspüre nicht den Wunsch, zu gehen. Ich glaube wirklich, ich habe nicht das mindeste Verlangen, nach England zu fahren.«

»Und warum nicht?« fragte sie.

»Ich kanns nicht sagen.« Dann sah er sie wieder an; ein seltsam weißes Licht erschien aufglänzend auf seinen Augen, und seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. »Wenn Irgendwer es weiß, dann solltest du es wissen, finde ich.«

Sie sah halb froh, halb erschrocken aus.

»Willst du damit sagen, daß du mich nicht verlassen willst?« fragte sie mit stockendem Atem.

»Ja. Ich glaube, das ists, was ich damit sagen will.«

»Aber – du weißt es nicht gewiß?«

»Doch, doch. Ich weiß es ganz gewiß«, sagte er, und das wunderliche Lächeln war noch immer auf seinem Gesicht, und das seltsame Licht glänzte auf seinen Augen.

»– daß du mich nicht verlassen willst?« sagte sie mühsam, mit abgewandtem Gesicht.

»Ja«, wiederholte er. »Ich weiß ganz gewiß, daß ich dich nicht verlassen will.« Er hatte die sehr melodische Stimme, die man so oft bei Schotten findet. Aber es war das unbegreifliche Lächeln um seinen Mund, das sie überzeugte – und erschreckte. Es erinnerte fast an gewisse Sandsteinmasken; es war ein seltsames, lauerndes, wandellos scheinendes Grinsen.

Sie war beklommen und wandte sich ab. Als sie ihn wieder ansah, glich sein Gesicht einer Maske, mit seltsam tief eingegrabenen Linien und glatter dunkler Haut und starrem Blick – einer fast grotesken Maske, aus glattem Stein geschnitten. Das schwarze Haar auf seinem runden schöngeformten Kopf schien unverwandelbar.

»Du bist wohl recht müde?« fragte sie.

»Ja, das kann ich wohl behaupten.« Er sah sie an mit den schwarzen blicklosen Augen im maskenhaften Gesicht. Dann sah er zur Seite, als hörte er Irgendetwas kommen. Darauf erhob er sich, die Hand auf dem Koppel, und sagte: »Ich will mein Koppel abschnallen und den Rock wechseln, wenn es dir recht ist.«

Er ging durch das Zimmer und schnallte dabei das breite, braune Koppel los. Er trug eine elegante, tadellos sitzende Khaki-Uniform. Das Koppel hängte er an den Kleiderhaken und kehrte in einem leichten alten Waffenrock zurück, den er offenließ. Seine Hausschuhe trug er in der Hand. Als er sich niedersetzte, um seine Schuhbänder zu lösen, kam ihr wieder zum Bewußtsein, wie dunkel und stark sein Unterarm war, wie nackt seine braune Hand aussah.

Er zog die Hausschuhe an, stellte die Straßenschuhe weg, setzte sich wieder in seinen Stuhl und reckte sich behaglich.

»So«, sagte er. »Jetzt ist mir wohler.« Und er sah sie an. »Na, und du?« fragte er. »Wie gehts dir?«

»Mir?« fragte sie. »Liegt denn was an mir?« Es klang ziemlich bitter.

»Ob an dir was liegt?« wiederholte er, ohne auf die Bitterkeit ihres Tones zu achten. »Ja, was ist denn das für eine Frage? Du bist doch natürlich von der allergrößten Bedeutung. Wie? Oder etwa nicht?« Und er lächelte sein sonderbares Lächeln – einen Augenblick mußte sie an den Ausdruck festgefrorener Trauer auf den Gesichtern der Affen denken, die man in China aus Speckstein schneidet. Er faßte sie unters Kinn und fuhr ihr zart mit dem Finger über die Wange. Sie errötete tief.

»Aber so wichtig wie du bin ich doch wieder nicht, was?« fragte sie trotzig.

»So wichtig wie ich –? Aber, liebstes bestes Kind, ich bin kein bißchen wichtig. Kein bißchen wichtig bin ich!« Der sonderbare, ins Ungewisse schweifende Klang der Worte gab ihr neue Rätsel auf. Was will er damit nun wieder sagen? dachte sie.

»Und ich bin sogar noch weniger wichtig«, sagte sie bitter. »Aber nein, das bist du nicht. Wirklich nicht. Du bist sehr wichtig. Du bist wirklich sehr wichtig, das darfst du mir ruhig glauben.«

»Und deine Frau?« Die Frage klang aufrührerisch. »Deine Frau? Ist die nicht auch wichtig?«

»Meine Frau? Meine Frau?« Er ließ das Wort zögernd hingleiten, als wüßte er nicht genau, was es bedeutete. »Tja, gewiß – in ihrem Kreise wird sie schon wichtig sein.«

»Was für einem Kreise?« prustete Hannele auflachend. »Na – ihrem eigentlichen Kreise eben. In ihrem Hause, ihrem Heim, bei ihren beiden Kindern: das ist ihre Welt.«

»Und du? Wo hast du da deinen Platz?«

»Augenblicklich hab ich gar keinen Platz darin«, sagte er.

»Aber das ist doch gerade das Unglück!« sagte Hannele. »Wenn du eine Frau hast und ein Heim, dann hast du doch schließlich dafür zu sorgen, daß du dazugehörst; nicht?«

»Ja, das ist wohl so – wenn ich will.«

»Und – willst du?« fragte sie herausfordernd.

»Nein, ich will nicht«, antwortete er.

»Also –?« sagte sie.

»Richtig, ganz richtig«, versetzte er. »Es ist eine böse Klemme, das leugne ich gar nicht.«

»Und was willst du tun?« drängte sie.

»Tja, das weiß ich nicht. Das weiß ich wirklich nicht. Ich habe mich noch nicht entschlossen, was ich tun will.«

»Dann wäre es zu empfehlen, daß du mal mit dem Entschließen anfängst«, sagte sie.

»Ja, ich weiß. Ich weiß.«

Er stand auf und begann unbehaglich durch das Zimmer zu wandern. Aber immer noch kam der Schatten auf seiner Stirn von Gedanken, die sich nicht ahnen ließen. Die Hände hatte er in den Taschen. Hannele saß da und fühlte sich wehrlos. Es ließ sich nichts dagegen tun – sie mußte ihn lieben: seine Hände, seine ganze seltsam betörende Erscheinung, sein unberechenbares Da-Sein. Sie liebte die Art, wie er die Füße setzte, sie liebte die Art, wie er beim Gehen die Beine bewegte, sie liebte die Schwingung seiner Lenden, sie liebte die Art, wie er den Kopf ein wenig neigte, sie liebte diese verschattete Stirn, auf der dennoch nichts zu lesen war – keine Gedanken. Nun aber machte seine Ratlosigkeit sie unglücklich. Es führt ja zu nichts, dachte sie. Und doch habe ich ihn hineingetrieben.

Er nahm die Hände aus den Taschen und kehrte zu ihr zurück, als zöge sie ihn an wie der Magnet das Eisen. Er setzte sich wieder zu ihr, streckte die Hände aus und sah ihr ins Gesicht.

»Gib mir deine Hände«, sagte er sacht, in dem sonderbar achtlosen, leisen und doch so eindringlichen Ton, der ihr die Kraft nahm, sich gegen seinen Willen aufzulehnen. »Gib mir deine Hände und laß mich fühlen, daß wir beisammen sind. Worte sagen so wenig. Sie sagen gar nichts. Und mit allem Denken und Planen richten wir nichts, gar nichts aus. Laß mich fühlen, daß wir beisammen sind, und alles Andere ist mir gleich.«

Er sagte es langsam, wie es seine Art war, und mit seiner melodischen Stimme; seine Hände umschlossen die ihren. Ihr gehorchte noch immer die Stimme nicht.

»Aber es darf dir nicht gleichgültig sein. Du mußt zu einem Entschluß kommen. Du mußt ganz einfach«, beharrte sie.

»Ja, ich glaube auch, daß ich es muß. Ich glaube ja auch. Aber nun wir beisammen sind, will ich mir damit den Kopf nicht schwer machen. Nun wir beisammen sind, wollen wirs vergessen – ja?«

»Wenn wir es aber nicht mehr vergessen können

»Ja, dann – weiß ich auch keinen Rat. Aber – heute Abend – da können wirs, glaub ich, doch vergessen.«

Der sachte, melodische, ins Ungreifbare schweifende Klang seiner Stimme machte sie wehrlos. Er antwortet mir ja niemals, dachte sie. Irgendwelche Worte der Erwiderung flattern ihm vom Munde, weil er doch Irgendetwas sagen muß. Er selbst aber spricht niemals. Und da sitzt er nun vor mir, ein Geschöpf aus unabänderlich leerem Schweigen.

Sie war mit sich selber im Widerstreit. Als er die Hand wieder auf ihre Wange legte, sacht, mit einer ganz leisen und höchst merkwürdigen Art von halber Berührung: so wie uns zuweilen eine kleine Kinderhand streichelt, oder wie uns ein Hauch atemgleicher Luft trifft – da hätte sie sich am liebsten starr zurückgelehnt und ihm entzogen und ihm gesagt, sie wollte nichts mit ihm zu schaffen haben, weil er so halbherzig und so unbefriedigend war; aber sie tat es nicht, weil sie dem Zauber seiner kaum spürbaren Liebkosung erlag. Sie hatte wirklich den Wunsch, es ihm zu sagen. Aber immer, wenn sie damit begann, antwortete er ihr mit derselben sachten, ins Ungreifbare schweifenden Stimme, bei der ihr zumute war, als würde sie ganz mit Altweibersommer übersponnen: so daß sie weder denken noch handeln noch überhaupt klar empfinden konnte. Ihre Seele stöhnte in Aufruhr und Empörung. Und doch – wenn er ihr die Hand sacht unters Kinn legte und ihr Gesicht hob und mit seinem maskenhaften Lächeln auf sie niedersah, ließ sie sich von ihm küssen.

»Nun, wie ists mit heute Abend?« sagte er. »Wie ist die Stimmung?«

»Was hat der Oberst gesagt? Ich will es genau wissen«, antwortete sie und bemühte sich, ihn streng anzusehen.

»Bah!« sagte er. »Denk nicht mehr dran. Das ist doch ohne jede Bedeutung.«

»Was ist denn nun eigentlich von Bedeutung?« beharrte sie. Fast haßte sie ihn in diesem Augenblick.

»Was von Bedeutung ist? Für mich in dieser Minute nichts, was sich außerhalb dieses Zimmers befindet. Nichts in Zeit und Raum ist mir wichtig.«

»Ja, in dieser Minute«, wiederholte sie bitter. »Aber da ist doch schließlich die Zukunft. Und ich muß mich mit der Zukunft auseinandersetzen.«

»Die Zukunft! Die Zukunft! Die Zukunft wird mit jedem Lebenslage verbraucht. Für mich ist die Zukunft wie ein dickes wirres Knäuel schwarzen Garnes. Jeden Morgen wickelt man sich daraus mühsam einen Faden los – und das ist dann unser Tag. Und jeden Abend reißt man den losgewickelten Faden ab und wirft ihn weg, und das Knäuel ist um so viel dünner geworden: ein Faden weniger, ein Tag weniger. Da hast du alles, was ich mir aus der Zukunft machen kann.«

»Dann kannst du dir eben aus gar nichts etwas machen. Und ich bedeute dir auch nichts. Nichts als nur ein Stück nutzlosen Fadens, wie du sagst.« Sie ließ nicht locker.

»Nein, da irrst du. Denn du bedeutest mir ja nicht die Zukunft.«

»Was bedeute ich dir denn? – Die Vergangenheit?«

»Auch nicht. Nichts dergleichen. Du bedeutest nichts. Wenn man's so betrachtet, bedeutest du nichts.«

»Schönen Dank für die Einschätzung«, sagte sie spöttisch.

Aber gerade die Gewichtslosigkeit seines Wesens gab ihm Gewalt über sie. Er küßte sie mit kaum merklichen, gleichsam schattenhaften Küssen und berührte ihren Hals. Es war in ihm kein Sinn zu erkennen – gerade das bannte sie und nahm ihr die Kraft. Nein, sie konnte in ihm keine irgendwie geartete Bedeutung erkennen. Und doch: sein Mund, der so seltsam zu küssen verstand, sein behaarter Unterarm, seine schlanke, schöngebaute Brust mit dem schwarzen Haar – das alles hatte für sie den Reiz des Geheimnisses, als wäre einer von den Marsmenschen herabgestiegen, sie zu lieben. Und sie fühlte sich schwer und gebannt, und sie liebte den Zauber, der sie bannte. Liebte ihn – und liebte ihn auch wiederum nicht.

 

2.

Die Komteß zu Rassentlow hatte ein Atelier in einer der Hauptstraßen. Sie war aus ihrer Heimat geflohen. Und heutzutage kann man ja ein Großherzog und ein armer Teufel in Einem sein, wenn man ein Flüchtling ist. Aber Hannele war nicht arm, denn sie hatte gemeinsam mit ihrer Freundin Mitchka ein Atelier, in dem sie diese Puppen, schöne Kissen aus bestickter farbiger Wolle und ähnliche Erzeugnisse weiblicher Kunstfertigkeit arbeitete. Die Puppen waren recht berühmt geworden, und die Beiden brauchten nicht zu darben.

Hannele arbeitete nicht viel im Atelier; sie war lieber in ihrem Zimmer, einer Dachkammer neben der des Hauptmanns, ebenso schön, wenn auch nicht ganz so groß wie die seine. Oft aber ging sie nachmittags ins Atelier, und wenn Kunden kamen, wurde ihnen eine Tasse Tee angeboten.

Die Puppe Alexander war niemals zum Verkauf bestimmt. Was Hannele dazu veranlaßte, sie eines Nachmittags ins Atelier mitzunehmen, ist uns nicht bekannt. Jedenfalls nahm sie sie mit und stellte sie auf ein Schränkchen. Es war ein wundervolles kleines Bildnis eines Offiziers und Weltmannes, von einer so vollkommen nachgebildeten körperlichen Erscheinung, daß dem Betrachter der Atem stockte.

»Aber das ist – das ist ja genial!« rief Mitchka. »Das ist ein chef d'œuvre! Das ist dein Meisterstück, Hannele. Wunderbar – wirklich erstaunlich! Und schön! Ein schöner Mann ist das. Aber nein, die ist zu wirklichkeitsgetreu. Ich verstehe nicht, wie du so etwas wagen kannst. Ich hab immer gemeint, du wärst gut, Hannele, – wärest viel besser geartet als ich. Aber jetzt machst du mir Angst. Ja! Ich hab Angst, daß du bösartig bist, weißt du das? Und der Gedanke, du könntest bösartig sein, erschreckt mich. Aber nein! Du willst ihn doch wohl nicht da stehen lassen?« »Warum denn nicht?« fragte Hannele spöttisch.

Mitchkas dunkle Augen wurden ganz groß vor Erstaunen, Vorwurf und Angst.

»Aber das darfst du nicht«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Nein, du darfst es nicht tun. Du liebst ihn doch.«

»Nun – und?«

»Du kannst die Puppe da nicht stehen lassen.«

»Warum kann ich das nicht?«

»Aber du bist wirklich bösartig. Denk doch nur mal nach! – und er ist ein englischer Offizier.«

»Darum ist er noch lange nicht tabu.«

»Sie werden dich aus der Stadt jagen; ausweisen werden sie dich.«

»Na schön. Sollen sie doch.«

»Aber nein –! Wie denkst du dir denn das? Es wäre doch schrecklich, wenn wir nach Berlin oder München gehen und von vom anfangen müßten. Hier hat alles so gut geklappt.«

»Das ist mir gleichgültig«, sagte Hannele.

Mitchka sah ihre Freundin an und sagte nichts weiter. Aber sie war ärgerlich. Nach einer Weile wandte sie sich und stellte ein Ultimatum.

»Wenn du nicht hier bist, stecke ich die Puppe in eine Schublade. Ich werde sie keinem Menschen zeigen, keinem Menschen. Und das muß ich dir sagen: Es ängstigt mich, sie hier zu wissen. Es ängstigt mich. Und du hast nicht das Recht, mich mit hineinzureißen, verstehst du mich? Ich bin's ja nicht, die sich was aus den englischen Offizieren macht; ich nicht. Ich mag sie nicht; sie sind mir zu kalt und zu vollkommen. Ich werde mir wegen der englischen Offiziere niemals Ungelegenheiten auf den Hals holen.«

»Hab keine Angst«, sagte Hannele. » Dir tun sie schon nichts. Die wissen alles, was wir tun, ganz genau. Die haben ihre Spitzel überall. Dir geschieht schon nichts.«

»Aber wenn sie dich nun ausweisen – und ich sitze da mit dem Atelier – –«

Es führte zu nichts. Hannele trotzte.

So klingelte es denn eines sonnigen Nachmittags: eine weißgekleidete kleine Dame stand draußen, mit einem runzeligen Gesicht, das dennoch auf seine Art hübsch geblieben war.

»Guten Tag!« sagte sie in dem ziemlich schlampigen Englisch ihres heimatlichen Mittelstandes. »Ich hab mir gedacht, ob ich wohl mal die Sachen in ihrem Atelier ansehen darf?«

»O ja!« sagte Mitchka. »Bitte, kommen Sie herein.«

Kam also die kleine Dame mit dem verrunzelten netten Gesicht in ihrem Ausgehstaat herein. Sie war vielleicht noch nicht einmal alt: vielleicht sogar noch unter Fünfzig. Und es war sonderbar, daß sie so verrunzelt war; denn sie war sehr jugendlich schlank, ihre Augen waren blank und hell, und als sie lachte, zeigte sich, daß sie hübsche Zähne hatte. Ihre Kleidung war sehr gewählt: ein Kleid aus dicker weißer Seide, eine breite Hermelinboa, die nur an den Enden Schwänze hatte, ein schwarzer Hut, über den ein Zierbusch grüner Fischadlerfedern herabfiel. Sie trug eine ansehnliche Menge von Juwelen, und als sie die Hände hob, um ihr Haar zu ordnen, fielen zwei Armbänder klingelnd über ihre weißen Lederhandschuhe zurück. Sie stand und sah behaglich in die Runde.

»Ein entzückendes Atelier haben Sie – entzückend – also ganz einfach wonnig. Etwas Wonnigeres könnte ich mir einfach nicht vorstellen.«

Mitchka dankte mit einer leichten spöttischen Verneigung und sagte in ihrem drolligen schallend hervorgestoßenen Englisch:

»O ja. Auch wir finden es sehr schön.«

Hannele, die zunächst hinter einen Wandschirm geflüchtet war, kam nun rasch zum Vorschein.

»Oh, guten Tag!« lächelte die ältliche Dame. »Ich hatte doch auch gehört, daß Sie zu zweit wären. Welche ist nun welche, wenn ich mir eine solche Frage erlauben darf? Dies –« und sie lächelte auf eine anziehende Art und zielte mit einem weißledernen Zeigefinger auf Mitchka – »dies ist –?«

»Annemaria von Prielau-Carolath«, sagte Mitchka mit einer leichten Verneigung.

»Oh!« Der weiße Lederfinger schnellte in anderer Richtung.

»Dann ist dies –?

»Johanna zu Rassentlow«, sagte Hannele lächelnd.

»Aha, ja! Komteß zu Rassentlow! Und das ist Baroneß von – von – – aber ich behalte es ja doch nie, auch wenn Sie's mir sagen, denn es ist schrecklich mit meinem Namengedächtnis. Na, einerlei – ich werde eben die Eine mit Komteß und die Andere mit Baroneß anreden. Das genügt für mich arme alte Frau, ja? Nun würde ich mir furchtbar gern mal Ihre Sachen ansehen, wenn ich darf. Ich möchte ein kleines Geschenk kaufen, zum Mitnehmen nach England. Ich denke doch, der Zoll auf solche Sachen kostet ja wohl nicht die Welt, was?«

»O nein«, sagte Mitchka. »Kein Zoll. Spielsachen, wissen Sie, die – da ist – –« Hier saß sie mit ihrem gestotterten Englisch fest und sah sich nach Hannele um.

»Auf Spielsachen ruht kein Zoll, und Stickereien sieht kein Mensch«, sagte Hannele.

»Aha. Schön. Dann ists also richtig!« sagte die Kundin. »Ich hoffe, ich finde was wirklich Hübsches! Da hinten sehe ich schon einen einfach entzückenden Jumper – einfach wonnig. Aber ein bißchen zu jugendlich-heiter für mich, fürchte ich. Ach ja, ich bin früher auch mal jünger gewesen als jetzt.« Sie lächelte ihr liebes nettes Lächeln und zeigte ihre hübschen Zähne; ihre alten Perlohrringe baumelten.

»Ich habe so viel von Ihren Puppen gehört. Einfach köstlich sind sie, wurde mir gesagt. Richtige Kunstwerke. Darf ich mal ein paar davon sehen, bitte?«

»O ja«, lautete Mitchkas unabänderliche Antwort, denn dieser Ausruf war der Grundstein ihrer gesamten englischen Sprachkenntnisse.

Es waren immer nur drei oder vier Puppen ›auf Lager‹. Diesmal waren es sogar nur zwei. Der berühmte Hauptmann lag wohlverpackt in seiner Schublade.

»Einfach herrlich! Einfach entzückend!« murmelte die kleine Dame in bühnengerechtem Selbstgespräch. »Ich finde sie einfach wonnig. Wunderschön ist das, Komteß, daß Sie so was machen. Denn Sie machen sie doch, nicht? Oder machen Sie sie gemeinsam?«

Hannele erklärte ihr die Sache, und Betrachtung und begeisterte Lobpreisung nahmen ihren Fortgang. Aber es erwies sich, daß die kleine Dame eine vorsichtige Käuferin war. Sie besah sich alles mit äußerster Sorgfalt und bedachte sich mehr als zweimal. Die Puppen lockten sie, aber sie fand sie teuer und konnte sich nicht recht entschließen.

»Ich wünschte wirklich, Sie könnten mir eine größere Auswahl von den Puppen zeigen«, sagte sie sehnsüchtig. »Mir ist so, wissen Sie, als müßte eine darunter sein, für die ich Liebe auf den ersten Blick empfinde. Die da sind natürlich herzig – herzig sind sie; und jeden Pfennig wert, den Sie dafür fordern, wenn man bedenkt, was für Arbeit darinsteckt. Na, und die Kunst natürlich. Aber ich habe so ein Gefühl – Sie kennen das gewiß auch: wenn nur noch eine oder zwei mehr da wären, dann hätte ich vielleicht eine darunter gefunden, ohne die ich einfach nicht leben könnte. Sie kennen das doch auch, nicht? Natürlich ist es Torheit, aber – Wie sagt doch Goethe? ›Dort, wo du nicht bist –‹ Mein Deutsch hat noch nicht mal die Kinderschuhe an; da müssen Sie also Nachsicht haben. Aber es soll damit gesagt sein: Man meint immer, man würde sich anderswo glücklich fühlen, irgendwo, nur nicht da, wo man gerade ist. So stehts doch da, nicht? Ach ja, und das ist so sehr oft richtig – so sehr oft. Immer aber auch nicht, Gott sei Dank.« Sie lächelte ein wunderliches kleines Lächeln ganz für sich allein, spitzte die Lippen und schloß: »Ja, sehen Sie, so gehts mir also mit den Puppen. Wenn bloß noch eine oder zwei mehr da wären. Haben Sie nicht noch wenigstens eine einzige?«

Sie sah Hannele sehnsüchtig an.

»Ja«, sagte Hannele. »Eine ist noch da. Aber die ist bestellt. Sie ist nicht verkäuflich.«

»Ach, könnte ich sie nicht mal sehen? Sie ist gewiß entzückend. Ach, ich sterbe vor Neugier. Sie kennen die Weiberneugier doch, nicht?« – sie lachte ihr klingelndes kurzes Lachen. »Na, und ich bin, fürchte ich, durch und durch Frau – leider. Wir Frauen sind so viel härter und ertragen das Leben so viel besser, wenn wir ein bißchen was vom Wesen des Mannes haben. Aber ich fürchte, ich bin durch und durch Frau.« Sie seufzte und verstummte.

Hannele ging gelassen an die Schublade und holte den Hauptmann hervor. Sie reichte ihn der kleinen Dame. Die nahm ihn und erschrak. Sie bekam runde, hilflose Kinderaugen und wurde gelblich-blaß. Ihr Juwelenbehang klingelte nervös, als sie stotterte:

»Aber das – ist das nicht – –« Sie lachte – ein kurzes, hysterisches Auflachen, und wandte sich, als wollte sie flüchten.

»Ist es Ihnen recht, wenn ich mich setze?« sagte sie. »Ich glaube, das Stehen – –« und sie ließ sich in einen Stuhl fallen. Ihr Gesicht blieb abgewandt. Aber sie ließ die Puppe nicht los; ihre schmalen weißen Finger mit den großen juwelengeschmückten Ringen umklammerten die Hüften des Hauptmanns.

Mitchka bekam es mit der Angst und mischte sich hastig ein. »Wissen Sie, die Puppe ist nach dem Leben gemacht – ist das Bildnis eines Engländers, eines Herrn, wissen Sie. Ein Bildnis nach dem Leben, wissen Sie.«

»Ein Bildnis«, sagte Hannele heiter.

»Ja«, murmelte die Besucherin undeutlich. »Das sehe ich wohl. Und ein fabelhaft gemachtes Bildnis, das sehe ich auch.«

Sie machte sich mit einer Kette zu schaffen, brachte eine kleine goldene Lorgnette zum Vorschein und hielt sie vor die Augen, als wollte sie sich dahinter verbergen. Und so, im Schutze ihrer Lorgnette, betrachtete sie das Bildnis in ihrer Hand.

»Aber«, sagte sie, »keiner von den englischen – oder vielmehr von den schottischen Offizieren trägt jemals noch diese enganliegenden kurzen Tartanhosen – höchstens als Maskenkostüm.«

Ihre Stimme klang ausdruckslos und fern.

»Nein, das tun sie auch nicht«, sagte Hannele. »Aber es ist die eigentliche und ursprüngliche Kleidung. Und ich finde sie so hübsch – Sie nicht auch?«

»Tja, – ich weiß nicht. Das kommt darauf an – – « Und die kleine Dame beendete den Satz mit einem vieldeutigen Lachen.

»O ja«, sagte Hannele. »Dazu braucht es wohlgeformte Beine.«

»Wie das Vorbild Ihrer Puppe sie gehabt haben muß. Richtig«, sagte die Dame.

»O ja«, sagte Hannele. »Das Vorbild der Puppe hat sehr schöne Beine – finde ich.«

»Zweifellos«, sagte die Dame. »Soweit ich es nach seinem ›Bildnis‹, wie Sie es nennen, beurteilen kann. Darf ich nach dem Namen des Herrn fragen – oder ist das zu unzart?«

»Hauptmann Hepburn«, sagte Hannele.

»Aber ja, natürlich ist ers. Ich hab ihn sofort erkannt. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren.«

»Oh, bitte!« mischte sich Mitchka ein; »oh, bitte, sagen Sie ihm nicht, daß Sie sie gesehen haben! Oh, bitte! Bitte, sagen Sie es Niemandem!«

Die Besucherin sah mit einem farblosen kleinen Lächeln zu ihr auf.

»Aber warum denn nicht?« fragte sie. »Übrigens kann ichs ihm auch gar nicht sofort erzählen, denn er ist augenblicklich gar nicht da, höre ich. Können Sie mir zufällig sagen, wann er wiederkommt?«

»Morgen, glaub ich«, sagte Hannele.

»Morgen also – –«

»Und – bitte!« sagte Mitchka, der das ängstliche Flehen entzückend stand. »Bitte, sagen Sie Niemandem, daß Sie sie gesehen haben!«

»Wollen Sie mich schwören lassen?« sagte die kleine Dame mit einem schattenhaften Lächeln. »Also schön, ich werde ihm nicht erzählen, daß ich sie gesehen habe. Und nun muß ich gehen. Ja, ich nehme einstweilen die Kissenplatte da drüben, danke schön. Bitte, sagen Sie mir noch einmal, was sie kostet.«

An jenem Abend bekam Hannele es mit der Unrast zu tun. Er war in irgendeinem dienstlichen Auftrag drei Tage fortgewesen. Nun sollte er abends zurückkommen – hätte eigentlich schon zum Essen dasein sollen. Aber er war nicht gekommen, und sein Zimmer war verschlossen und dunkel. Vor Stunden schon hatte Hannele gehört, daß der Bursche den Ofen anheizte. Und nun war das Zimmer verschlossen und tot, wie seit drei Tagen schon.

Hannele war höchst unbehaglich zumute, weil sie ihn in den drei Tagen seiner Abwesenheit regelrecht vergessen hatte. Es war, als wäre er ganz aus ihr verschwunden. Sie konnte ihn sogar kaum noch in die Erinnerung zurückrufen. Er war ihr so bedeutungslos geworden, daß sie ganz bestürzt war.

Nun hatte sie den Wunsch, ihn wiederzusehen, um zu erkennen, ob es wirklich so war. Sie fühlte sein Kommen. Sie fühlte, daß er schon jetzt irgendeinen Einfluß auf sie gewann. Aber was für einen Einfluß? Und war er – wirklich? Warum hatte sie ihn in dieser Puppe dargestellt? Warum war diese Puppe so bedeutsam, wenn er selbst ein Nichts war? Warum hatte sie sie am Nachmittag dieser wunderlichen kleinen Dame gezeigt? Warum war sie so töricht, sich in derartige Verstrickungen zu bringen – gerade in dieser Stadt, wo sie sich damit solche Ungelegenheiten machen konnte? Wie kam sie überhaupt in diese Verstrickungen? Es war alles so unwirklich. Und ganz besonders er war unwirklich: so unwirklich wie eine Traumgestalt, von der man im Leben des Tages nie etwas gehört hat. Ihre deutschen Freunde – ja, die waren, im Leben des Tages, wirklich. Martin war wirklich, die deutschen Männer waren ihr Wirklichkeit. Aber dieser Andere: er war ganz einfach gar nicht da. Er war gar nicht wirklich vorhanden. Er war, in der Wirklichkeit, eine Null. Ja, eine Null – und dabei hatte sie sich irgendwie in Verstrickungen mit ihm gebracht.

Ist es möglich? fragte sie sich. Ist es möglich, daß ich in so enge Verstrickungen mit einem vollkommenen Nichts geraten bin? Jetzt, da er abwesend war, vermochte sie sich ihn nicht einmal mehr vorzustellen. Er war ihrer Vorstellungskraft entrückt; und als sie nun ihre Puppe ansah, war sogar die nichts Anderes mehr als eben eine tote Puppe. Und doch hatte sie sich vor wenigen Stunden noch für diese tote Puppe der Möglichkeit ausgesetzt, in Ungelegenheiten zu kommen – gerade jetzt, wo es für sie so gefährlich werden konnte.

Ihre deutschen Freunde – ja, das waren Männer, waren Geschöpfe in einer wirklichen Welt. Dieser englische Offizier aber war weder Fisch noch Fleisch, war, wie man so sagt, weder Puter noch Bücking. Er war, auch bei persönlicher Anwesenheit, sozusagen nur eine angenommene Größe. Sie dachte: Wenn er jetzt niemals wiederkommt, so wird mir zumute sein, als hätte ich eine ziemlich merkwürdige, aber innerlich unwahre Geschichte gelesen, eine ›tour de force‹, die mit ihrem Blendwerk unsere Phantasie in die Irre jagt.

Trotzdem war ihr unbehaglich zu Sinn. Sie hatte einen heimlich bohrenden Argwohn, daß da noch etwas Anderes im Spiele war. So wanderte sie voll Unbehagen immer wieder zur Treppe und lauschte ins Treppenhaus hinunter, ob sie ihn nicht endlich kommen hörte.

Ja: nun vernahm sie etwas. Ja: da klang sein langsamer Schritt auf den Stufen, da klang seine Stimme: ein gedehntes, ins Ungreifbare schweifendes Schnurren; und sobald sie die Stimme hörte, spürte sie wieder die alte Angst. Es war wirklich noch etwas Anderes im Spiele; jetzt wußte sie's. Sogleich auch war die Wandlung da: er war wirklich, ihre deutschen Freunde waren unwirklich. Im Augenblick, da sie die seltsame, langsam schwebende Melodie seiner Stimme vernahm, die in dieser Welt so fremd klang, schien ihr alles verwandelt, und Martin und Otto und Albrecht, ihre deutschen Freunde, wurden blaß und undeutlich, ja beinahe körperlos: fast könnte man durch sie hindurchsehen, dachte Hannele.

Das war eine Tatsache, mit der sie zu rechnen hatte: dies ruckhafte Hin und Her. Wenn er da war, schien er so furchtbar wirklich. Wenn er fort war, schien er ihr völlig umrißlos, und die männlichen Freunde aus ihrer eigenen Rasse waren für sie das einzig Wirkliche.

Er sprach. Mit wem sprach er? Der Widerhall der näher kommenden Schritte klang im Hohlraum des steinernen Treppenhauses; die Schritte waren langsam und schienen müde; langsam auch waren die wirr dazwischenklingenden Worte des Gesprächs. Hannele unterschied Hepburns sachte, schleppende Stimme – und dazwischen die eigentümlich rasche Sprechweise einer – ja, einer Frau. Vielleicht eines der Dienstmädchen? Nein; die Beiden sprachen Englisch. Sie lauschte angestrengt. Und stellte fest: Es war die rasche und doch ein wenig gedrückte, ein wenig traurig klingende Sprechweise einer Frau, die viel redet, aber immer so, als spräche sie mit sich selbst. Hanneles scharfe Ohren fingen auf, was sie sagte. »Ja, ich hab gefunden, daß die Baroneß ein wirklich ganz entzückendes Geschöpf ist, einfach ganz entzückend. Aber sie sieht doch ganz und gar wie eine Spanierin aus. Erinnerst du dich noch an die Spanierinnen in Malaga, Alec? Ich hab immer das Gefühl gehabt, daß sie dich richtig bezauberten, mit ihren Mantillas. Einfach entzückend würde sie in so einer Mantilla aussehen. Nur – sie ist vielleicht zu offenherzig, zu unüberlegt, das arme Ding. Sie hat nicht die Zurückhaltung dieser Spanierinnen. Armes Ding! Sie tut mir leid. Beide tun mir leid. Es muß doch sehr hart sein, sich mit solchen Arbeiten sein Brot verdienen zu müssen – wenn man früher daran gewöhnt war, daß man von den Leuten wer weiß wie sehr umworben wurde; als Frau; und dann natürlich auch des Adelstitels wegen. Sehr hart ist das für die Beiden; die armen Dinger –, ›Baroneß‹ – ›Komteß‹ – es klingt ein bißchen komisch, wenn man sich Wollstickereien bei ihnen kauft. Aber sie können wohl nichts dafür, die armen Dinger. Ich meine nur, es wäre besser, wenn sie auf die Titel ganz verzichteten – –«

»Das tun sie ja auch; aber die Leute wollens ja nun mal nicht anders. Die Engländer und Amerikaner finden es nun mal viel bequemer, ›Baroneß‹ oder ›Komteß‹ zu sagen als ›Fräulein von Prielau-Carolath‹ oder so.«

»Na, da sollten sie doch einfach ›Fräulein‹ sagen, wie wirs bei unseren Erzieherinnen machen – oder wenigstens machten, als es noch deutsche Erzieherinnen gab«, sagte die Frauenstimme.

»Ja, das ginge wohl«, sagte Hauptmann Hepburn.

»Denn schließlich – was hat man davon? – was hat man von Titeln, wenn man Puppen und Wollstickereien verkaufen muß – die noch nicht mal so besonders schön sind.«

»Richtig, jawohl. Durchaus richtig. Titel sind vielleicht überhaupt eine verfehlte Geschichte, denke ich mir. Aber schließlich hats das ja schon immer gegeben«, kam es gedehnt und melodisch von unten, in dem Singsang seiner Stimme, aus der eine hoffnungslose Gleichgültigkeit klang. Hannele erspähte den Zierbusch blaugrüner Fischadlerfedern, der tief drunten um eine Windung der Treppe kreiste; und sie trat hastig den Rückzug an.

 

3.

Es war eine kleine Plattform draußen auf dem Dach; dort stellte er zuweilen sein Fernrohr auf und beobachtete die Sterne und den Mond: besonders den Mond, wenn es möglich war. Das heißt: eine richtige sichere Plattform war es nicht, sondern eigentlich nur ein kleines Dachsims, vor dem Fenster am Ende des obersten Flurs: oder genauer gesagt der Treppenmündung; denn es handelte sich nur um den Raum zwischen den Dachkammern. Hannele bewohnte die hintere Dachkammer, er die andere, die wir schon kennen, und ein kleines Schlafzimmer, das eigentlich nur eine Rumpelkammer war. Bevor er kam, hatte Hannele allein dort oben gewohnt. Seine Zimmer hatten damals als Rumpelkammer und als Trockenboden für die Wäsche gedient. Aber er wollte nun einmal gern hoch droben wohnen, seiner Sterne wegen; und gerade diese Dachwohnung gefiel ihm.

Spät nachts hörte Hannele ihn umherwandern. Dann hörte sie ihn draußen auf dem Dachsims. Sie konnte nicht schlafen. Er störte sie. Der Mond war aufgegangen und stand groß und hell am Himmel. Vom Dom schlug es langsam zwei Uhr: zwei große Tontropfen, die in die graue Nacht fielen. Nun hörte sie ihn wieder draußen: Er räusperte sich. Dann schrie eine Katze.

Hannele stand auf, hüllte sich in ein dunkles Tuch und ging über den Flur zum Fenster. Der Himmelsraum war voll Mondlicht. Hepburn hockte wie ein großer Kater hinter seinem Fernrohr; er saß auf einem Schemel, mit weit gespreizten Knieen. Ganz reglos saß er in dieser Stellung auf dem Dache, wie eine Figur aus Blei. Das Mondlicht glänzte mit graphitenem Glitzern auf der großen Schrägfläche aus schwarzen Ziegeln. Sie stand still am Fenster und sah hinaus. Und er saß still und reglos hinter seinem Fernrohr. Schließlich klopfte sie leise an die Scheibe. Er sah sich um, mit weit offenen Augen, wie ein nachtwandelnder Kater. Dann langte er herüber und öffnete das Fenster.

»Hallo!« sagte er gelassen. »Schläfst du denn nicht?«

»Bist du denn nicht müde?« fragte sie ein wenig ärgerlich zurück.

»Nein, ich war so hellwach, wie man nur sein kann. Ist der Mond nicht schön heute abend? Wie? Einfach erstaunlich. Möchtest du nicht mal herauskommen und ihn dir durchs Fernrohr ansehen?«

»Nein, danke«, sagte sie hastig, schon beim bloßen Gedanken entsetzt.

Er nahm die frühere Haltung wieder ein und spähte durchs Fernrohr.

»Einfach erstaunlich«, sagte er halb zu sich selbst. Sie wartete eine Weile, auch sie bezaubert durch den großen Oktobermond und das leuchtende weißgrüne Licht, das den Himmelsraum füllte. Es war wie Tag – eine andere Art von Tag. Und da hockte er nun draußen auf dem Dach wie ein Kater! Ja, wie Tag war es – aber auf einem anderen Planeten.

Schließlich wandte er sich wieder nach ihr um. Ein schwaches Leuchten ging von seinem Gesicht aus, und seine Pupillen schienen vergrößert, wie die einer Katze im Dunkeln.

»Du hast wohl gehört, daß ich Besuch hatte?« sagte er.

»Ja.«

»– von meiner Frau.«

»Das war deine Frau?« Hanneles Erstaunen war echt. Sie hatte in der Besucherin eine Bekannte vermutet – vielleicht eine Tante – vielleicht auch eine ältere Schwester.

»Aber sie ist doch um Jahre älter als du«, sagte sie.

»Acht Jahre. Ich bin einundvierzig.«

Eine Weile schwiegen Beide.

»Ja«, sagte er nachdenklich. »Sie kam gestern plötzlich an, ganz überraschend, und traf mich nicht zu Hause. Sie wohnt im Hotel ›Vier Jahreszeiten‹.«

Abermals Schweigen.

»Willst du denn nicht mit ihr zusammen wohnen?« fragte Hannele.

»Doch, ich werde wahrscheinlich morgen ins Hotel übersiedeln.«

Diesmal dauerte die Pause noch länger.

»Und warum nicht schon heute –?« fragte Hannele.

»Ach, ich habs noch mal für einen Tag aufgeschoben. Für meine Frau hätte es Scherereien gegeben, weil sie sich ja im Hotel ein anderes Zimmer geben lassen muß – dafür wars zu spät –, und ich mußte mich nach der Reise ja auch erst mal richtig säubern.«

»Aber morgen gehst du zu ihr.«

»Ja, morgen gehe ich zu ihr. Auf eine Woche oder so. Und was dann wird, kann ich jetzt noch nicht sagen.«

Nun gab es eine sehr lange Pause. Er saß auf seinem Schemel und sah mit schwarzen, weitoffenen, leeren Augen ins Nichts. Sie stand drunten am offenen Fenster, nachdenklich.

»Gehst du gern zu ihr ins Hotel?« fragte Hannele.

»Tja – eigentlich nicht besonders gern. Aber auch nicht ungern; nein, das auch nicht. Wir sind sehr gute Freunde, meine Frau und ich. Das sind wir nun schon seit achtzehn Jahren – und verheiratet sind wir seit siebzehn Jahren. Sie ist eine sehr nette kleine Frau, weißt du. Ich möchte ihr nicht wehtun. Ich wünsche ihr nichts Böses – du verstehst das, ja? Im Gegenteil, ich wünsche ihr alles nur erdenkliche Gute.«

Er hatte keine Ahnung, mit welch fassungslosem Staunen Hannele diesen ziellos hingeworfenen Bemerkungen lauschte.

»Aber – –« stotterte sie, »aber – erwartet sie denn nicht, daß du – daß du sie liebhast?«

»Aber gewiß erwartet sie das. Du kannst dich drauf verlassen, daß sies erwartet. Sonst wäre sie ja keine Frau.«

»Und du –?« Die Frage hatte einen gefahrdrohenden Beiklang.

»Ach, ich hab schließlich nichts dagegen – nein, wirklich nicht, wenns mal für kurze Zeit ist, weißt du. Ach bin an sie gewöhnt. Ich hab sie immer gern gehabt – nicht wahr? – und also: wenns ihr Spaß macht – – Ich möchte ihr nun mal gern alle Freude am Leben verschaffen, die ich ihr geben kann.«

»Aber du – du selbst? Fühlst du denn gar nichts dabei?« Hanneles Staunen war auf dem Punkt angelangt, wo es zur Ungläubigkeit wurde. Sie begann anzunehmen, daß er ihr etwas vormachte. Das alles war so ganz und gar unvereinbar mit ihren eigenen Anschauungen. Daß Einer so ruhig dasitzen und im allerbesten Glauben derartige Dinge von sich geben sollte: nein, das war unmöglich.

»Ich bin nicht der Meinung, daß ich irgendwie wichtig bin«, sagte er ganz unbefangen.

Hannele blickte zur Seite. Wenn das keine Lüge war, so war es geistige Minderwertigkeit – oder noch Schlimmeres. Ihr fehlte im Augenblick wirklich die Antwort. Er ist, dachte sie, in seiner seelischen Verfassung mit einem Grashüpfer oder einer Kaulquappe oder einem Ammonshorn zu vergleichen. Vom Standpunkt menschlicher Seelenkunde darf man ihn gar nicht betrachten. Nein, wirklich, er ist nicht normal. Und ich habe mich von ihm bezaubern lassen! Es war lediglich erstaunte Neugier oder neugieriges Erstaunen, was sie zum Weiterfragen trieb.

»Aber bist du denn eigentlich niemals wichtig?« fragte sie, und ihr Ton hatte einen kaum merklichen Beiklang von lachendem Spott. Aber der Hauptmann nahm die Frage nicht übel.

»Tja – sehr selten«, sagte er. »Ich bin sehr selten wichtig. Das ist nun einmal meine Lebensauffassung. Der Einzelne bedeutet so sehr wenig.«

Sie fühlte sich ganz schwindelig vor Staunen. Und so etwas nannte sich Mann –!

»Wenn du so ganz und gar unwichtig bist – warum tust du dann überhaupt noch was?« fragte sie.

»Oh, das muß man doch. Und dann – warum schließlich nicht? Warum soll man nicht Dies und Jenes tun, auch wenns kaum darauf ankommt, ob man es tut oder läßt? Sieh dir den Mond an. Es macht für den Mond nicht den geringsten Unterschied, ob ich vorhanden bin oder nicht. Warum also soll es mir wichtig sein?«

Nach einem Verstummen, das ganz einfach durch Ungläubigkeit verursacht war, sagte sie:

»Also ich könnte mich totlachen. Das alles kommt mir dermaßen lächerlich vor – nein, ich kanns nicht glauben.«

»Vielleicht ist es immerhin ein Standpunkt«, sagte er.

Es gab ein langes vielsagendes Schweigen: aber es wäre unerfreulich, wenn wir verraten wollten, was dieses Schweigen sagte.

»Dann bedeute also auch ich dir nicht das Mindeste?« sagte sie.

»Das habe ich nicht gesagt«, gab er zurück.

»Es gibt doch nichts, das dir etwas bedeutet«, sagte sie angreiferisch.

»Auch das behaupte ich nicht.«

»Obs nun deine Frau ist – oder ich – oder der Mond – toute la même chose

»Nein, nein, so darf man die Sache doch wohl nicht ansehen.«

Sie starrte ihn mit abgrundtiefem Staunen an. Wenn er noch ein einziges Wort sagt, wird Irgendwas in mir platzen, dachte sie. Ist das nun ein Mann? – oder was ist das? Eines steht jedenfalls fest: das ist denn doch zu viel für mich.

»Na, dann leb wohl«, sagte sie. »Hoffentlich hast du recht schöne Tage in den ›Vier Jahreszeiten‹.«

Und sie verließ ihn. Er blieb draußen auf dem Dache sitzen.

»Vermutlich«, sagte sie zu sich selbst, »ist das Liebe à l'anglaise. Aber es ist mehr, als ich schlucken kann.«

 

4.

Wollen Sie nicht bei mir Tee trinken? Ja? Bitte! Kommen Sie doch gleich mit! Finden Sie nicht, daß es bitter kalt ist? Ja – also – nicht wahr – kommen Sie mit mir herein, und dann trinken wir in unserem kleinen Wohnzimmer eine schöne heiße Tasse. Das Wetter schlägt hier so plötzlich um, und man braucht wahrhaftig eine kleine Stärkung. Aber vielleicht trinken Sie nicht gern Tee?«

»Doch, doch. Ich hab mich in England daran gewöhnt«, sagte Hannele.

»Wirklich –? Soso. Waren Sie lange in England?«

»O ja – –«

Die beiden Damen waren einander auf dem Domplatz begegnet. Mrs. Hepburn, in einem wunderlichen Umhang aus sonderbar gestreiften Fellen, einem dunkelgrünen Röckchen und einem einigermaßen struppigen Hut, sah so aus, daß man unbedingt an Hanneles Puppen denken mußte. Hannele wirkte beinahe riesig neben ihr.

»Aber nun kommen Sie mit mir herein und trinken Tee, ja? Ach bitte, kommen Sie doch. Kümmern Sie sich nicht darum, obs ›de rigueur‹ ist oder nicht. Ich tue immer, was mir paßt. Mein Mann ist manchmal ein bißchen entsetzt, fürchte ich – aber da kann man nichts machen. Ich lasse mir nun mal von Niemandem Vorschriften machen.« Sie lachte ihr nettes kleines Lachen. »Also – kommen Sie mit herein, und dann wollen wir mal sehen, ob sich nicht auch heiße kleine Kuchen vorfinden. Ich mag zu gern heiße kleine Kuchen zum Tee, wenn es so kalt ist wie heute. Sie hoffentlich auch. Das heißt: wenn welche da sind. Das kann man noch nicht wissen.« Sie ließ ihr leises Lachen klingeln. »Vielleicht ist mein Mann zu Hause, vielleicht auch nicht. Aber das macht für uns beide keinen Unterschied, nicht? Da, jetzt schlägt es gerade halb fünf. An England trinken wir immer um halb fünf Tee. Mein Mann ist ganz versessen auf seinen Tee. Daß unser Butler sich mit dem Gong zum Tee auch nur um fünf Minuten verspätet, kommt, glaub ich, kaum ein einziges Mal im Jahr vor. Mein Mann macht sich gar nichts draus, wenns mit dem Essen mal ein bißchen später wird. Aber er wird ganz – ja, also ganz fuchsteufelswild, wenn wir uns mit dem Tee verspäten.« Sie ließ ihr Lachen klingeln. »Eigentlich sollte ich das ja nicht sagen. Er ist wirklich eine Seele – so gütig und geduldig. Ich hab ihn, glaub ich, im ganzen Leben niemals etwas Unfreundliches tun sehen – oder je gehört, daß er ein unfreundliches Wort sagte. Aber ich glaube kaum, daß er heute zu Hause ist.«

Er war jedoch zu Hause; er stand, mit gespreizten Beinen, die Hände in den Hosentaschen, droben im Hotel in dem kleinen Wohnzimmer. Ein wenig, ein ganz klein wenig hob er die Augenbrauen, als er Hannele hereinkommen sah.

»Ah – Komteß Hannele! Meine Frau hat Sie mitgebracht? Das ist aber nett – sehr nett ist das! Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen? Aber ja doch, kommen Sie – –«

»Hast du schon nach dem Tee geklingelt, Lieber?« fragte Mrs. Hepburn.

»Äh – ja. Ich hab ihnen gesagt, sie sollen ihn bringen, sobald du da bist.«

»Gut. Gut. Dann läute doch noch mal. Lieber, und sag ihnen, daß wir zu dritt sind, ja?«

»Ja – gewiß, gewiß.«

Er läutete. Dann stand er wieder da, die Hände in den Taschen, und wartete auf den Tee.

»Na, also dann«, sagte Mrs. Hepburn und nahm die Teekanne zur Hand, und ihre Armbänder klingelten, und ihre riesigen Diamanten in den Ringen blitzten, und ihre großen Ohrringe aus Staubperlentrauben schlugen baumelnd gegen ihre recht verwelkten Wangen. »Findest du es nicht auch reizend von Komteß zu – Komteß zu – –«

»– Rassentlow«, sagte er. »Die meisten Leute sagen, glaub ich, Komteß Hannele. Bei uns heißt sie jedenfalls immer so. Wir sagen ›Komteß Hanneles Laden‹ – –«

»›Komteß Hanneles Laden!‹ Na, also das ist doch einfach entzückend! Wie romantisch das schon klingt, wenn mans so sagt – – Nehmen Sie Sahne?«

»Danke, ja«, sagte Hannele.

Die Teestunde zog in einer Wolke von Geplauder dahin; Mrs. Hepburn handhabte die Teekanne, zündete die Spiritusflamme an und blies sie wieder aus, spähte in den Dampf der Teekanne hinein und konnte nicht feststellen, ob noch Tee darin war oder nicht – und – »zu Hause weiß ich genau, ich kann wohl sagen: auf einen Teelöffel voll genau, wieviel Tee noch in der Kanne ist. Aber diese Kanne hier – ich weiß nicht, woraus sie eigentlich besteht, Silber ist es jedenfalls nicht, so viel sehe ich – also diese Kanne ist an sich schon so schwer, daß ich mich schon mehrmals verrechnet habe. Aber mein Mann ist dermaßen gierig – ja, wirklich, dermaßen gierig – er verlangt mindestens drei Tassen – und, wenn er sie bekommen kann, vier oder fünf. Ja, Lieber, heute hab ich Tee in beliebiger Menge. Du kannst sogar fünf Tassen haben, wenn es dir nichts ausmacht, daß die beiden letzten ein bißchen dünner sind. Lassen Sie mich Ihnen noch mal eingießen, Komteß Hannele. Also ich finde den Namen entzückend

»Es gibt doch ein Theaterstück mit dem Titel ›Hannele‹, nicht?« fragte er.

Als er seine fünf Tassen gehabt hatte und als Mrs. Hepburn ihre Zigarette in der langen, langen schlanken weißen Spitze untergebracht hatte und in ihrer Ecke wie eine kleine Chinesin paffte, gab es eine kurze behagliche Pause.

»Alec, Lieber,« sagte Mrs. Hepburn, »nicht wahr, du denkst doch daran, daß du bei Mrs. Rackham die Nachricht von mir hinterlassen wolltest? Ich habe solche Sorge, daß es vergessen wird.«

»Nein, Liebe, ich vergesse es nicht. Äh – möchtest du gern, daß ich jetzt hingehe?«

Es fiel Hannele auf, wie oft er »äh« sagte, wenn er das Wort an seine Frau richtete. Aber sie waren wirklich so gute Freunde, die Beiden.

»Ja, also wenn du das wirklich tun wolltest, Lieber, dann wäre ich ganz und gar beruhigt. Aber es eilt nicht, gar nicht – bleib doch noch ein bißchen sitzen.«

»Oh, ich kann ebensogut gleich gehen.«

Und er ging. Mrs. Hepburn duldete nicht, daß Hannele ebenfalls aufbrach.

»Er ist ja so reizend gegen mich«, sagte die kleine Dame. »Er ist wirklich ein prachtvoller Mensch. Und er ist sich immer gleich geblieben – ganz unverändert. Deshalb – wenn er wirklich mal einen kleinen Seitensprung machte – wissen Sie, ich dürfte das wohl nicht allzu tragisch nehmen.«

»Nein«, sagte Hannele, und sie hatte das Gefühl, als würden ihr die Ohren lang vor Staunen.

»Das kommt vom Kriege. Das kommt wirklich nur vom Kriege. Er hat einen schrecklich verderblichen Einfluß auf die Männer gehabt.«

»In welcher Hinsicht?« fragte Hannele.

»Na, in moralischer natürlich. Wirklich, man findet kaum einen einzigen, der noch so ist, wie er vor dem Kriege war. Sie sind schrecklich verdorben.«

»Wahrhaftig –?« sagte Hannele.

»Wahrhaftig. Na – bei den deutschen Soldaten und Offizieren ist es doch ebenso, nicht?«

»Ja, ich glaube wohl«, sagte Hannele.

»Und ich bin überzeugt davon, nach allem, was ich so höre. Aber natürlich haben die Frauen in erster Linie die Schuld daran. Wir armen Frauen! Wir sind ein schuldbeladenes Geschlecht, fürchte ich. Aber ich werfe niemals Steine. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, Versuchungen ausgesetzt zu sein. Ich muß eben auch ein bißchen flirten – und als ich noch jünger war – na, da sind die Männer mir nicht entgangen, das können Sie mir glauben. Und ich habe mich so oft angesengt. Aber nie ganz versengt. Mein Mann hats niemals tragisch genommen. Er wußte, daß ich ihm in Wahrheit ganz sicher war. O ja, ich bin ihm immer treu gewesen. Aber – ich war der Flamme doch sehr, sehr nahe.« Und sie lachte ihr nettes kleines Lachen.

Hannele griff sich an die Ohren, um sich zu überzeugen, daß sie ihr nicht herunterfielen.

»Während des Krieges war es natürlich fürchterlich. Ich weiß von einem Lazarett, in dem kein Mädchen geduldet wurde, wenn es darauf bestand, anständig zu bleiben. Es wurde von den Oberinnen und Schwestern einfach an die Luft gesetzt. Sie wollten Keine haben, die nicht so war wie sie selbst. Und Sie wissen ja, was das bedeutet. Da ging es ganz so zu wie in dem Kloster in Balzacs Geschichte – Sie wissen natürlich, welche ich meine.« Und sie ließ ihr fröhliches Lachen klingeln.

»Aber schließlich – was soll man machen, wenn keine auskömmliche Anzahl von Männern vorhanden ist? Da hatte ich zum Beispiel eine Freundin in Irland. Sie und ihr Mann waren ein vorbildliches Paar, ein wirklich vorbildliches Paar. Regelrechte Spielkameraden; und mehr kann man ja schließlich nicht verlangen, nicht? Na schön, er wurde während des Krieges zum Major befördert. Und sie, das arme Ding, baute die allerschönsten Luftschlösser für die herrliche Zeit, die sie nach seiner Heimkehr miteinander verbringen wollten. Es geht ihr wie mir: Sie hat das Glück, daß sie ein eigenes kleines Einkommen besitzt – nicht etwa ein großes Vermögen – aber – na ja – Also: was wollte ich doch sagen? Richtig: Sie baute die schönsten Luftschlösser für die herrliche Zeit, die sie nach seiner Heimkehr miteinander haben wollten: so spann sie ihre Träume, das arme Ding, wie wir unseligen Frauen es ja immer machen. Ich glaube, davon werden wir nie geheilt.« Ein kurzes klingelndes Lachen. »Na, und es ging natürlich nichts davon in Erfüllung. Gar nichts.« Mrs. Hepburn hob ihre schwer mit Juwelen überladene kleine Hand in einer Bewegung der Empörung. Wunderlich: Ihre Hände waren hübsch und weiß, und nun sie ein Teekleidchen trug, sah man, daß auch ihr Hals und ihre Brust, soweit sie nicht unter den vielen blitzenden Kettchen und bunten Juwelen verschwanden, weiß und weich und hübsch waren. Warum nur hatte ihr ausgerechnet ihr Gesicht den üblen Streich gespielt, daß es ganz und gar mit Runzeln bedeckt war? Einerlei – jedenfalls war es so.

»Keine Spur von Erfüllung«, wiederholte die kleine Dame. »Als er heimkam, war er ganz und gar verwandelt. Sie hätte, sagte sie, in ihm kaum noch ihren Gatten von einst wiedererkennen können. Ich will Ihnen bloß ein kleines Beispiel erzählen. Nur eine Kleinigkeit – aber aufschlußreich. Er kam einmal – das war einige Zeit nach seinem Abschied aus dem Heere – also er kam einmal von London nach Hause, und er hatte ihr mitgeteilt, daß sie ihn am Schiff treffen sollte: Zeit und alles hatte er angegeben. Na schön, sie ging also zum Schiff, das arme Ding, und er kam nicht. Sie wartete – aber es kam kein Wort der Erklärung; nichts. So konnte sie sich nicht recht schlüssig werden, ob sie am anderen Tage wieder zum Schiff gehen sollte oder nicht. Immerhin: zuletzt beschloß sie, es nicht zu tun. Aber gerade mit dem Schiff kam er natürlich an. Als er im Hause erschien, sagte er: ›Warum hast du mich nicht abgeholt?‹ ›Gestern‹, sagte sie, ›war ich am Schiff, und da kamst du nicht.‹ ›Warum bist du denn heute nicht noch mal hingegangen?‹« Bitte, stellen Sie sich mal eine derartige Unverschämtheit vor! Und dabei waren sie richtige Spielkameraden gewesen! So was muß Einem doch das Herz brechen, nicht? ›Na, und du?‹ fragte sie zu ihrer Verteidigung dagegen. ›Warum bist du gestern nicht gekommen?‹ ›Oh,‹ sagte er, ›ich traf in der Stadt ein Mädel, das mir gefiel; sie lud mich ein, die Nacht bei ihr zu verbringen, und das hab ich getan.‹ Nun sagen Sie: Wie gefällt Ihnen das? Können Sie so etwas begreifen?«

»Nein«, sagte Hannele. »Ich nenne das eine unnötige Roheit.«

»Richtig! Grauenvoll, ihr so etwas ins Gesicht zu sagen! Was für eine Roheit gehört dazu! Ja, sehen Sie, so gehts aber heutzutage in der Welt zu. Ich danke Gott, daß mein Mann nicht auch so Einer ist. Damit will ich nicht sagen, daß er vollkommen wäre. Aber was auch immer er anstellen könnte, er würde niemals häßlich gegen mich sein, und roh könnte er gar nicht werden. Er könnte es einfach nicht. Niemals würde er mich anlügen – das weiß ich. Aber gefühllose Roheit – nein, von der ist Gott sei Dank nicht ein Funke in ihm. Wenn Einer von uns Beiden lasterhaft ist, dann bin ich es.« Ihr leises Lachen klingelte. »Oh, aber er hat sich vollendet gegen mich benommen, vollendet. Kaum jemals ein mürrisches Wort. Denken Sie: An unserem Hochzeitsabend kniete er vor mir nieder und gelobte, er wollte mir mit Gottes Hilfe ein glückliches Leben bereiten. Und ich muß sagen: Er hat, soweit das möglich ist, sein Wort gehalten. Er hat im Leben nur ein einziges Ziel gekannt: mein Leben glücklich zu gestalten.«

Die kleine Dame sah sinnend, mit strahlendem Ausdruck, zum Fenster. Sie war eine Heldin in einer romantischen Geschichte. So erschien sie Hannele in diesem Augenblick: als Darstellerin der Haupt- und Heldinnenrolle in ihrer eigenen romantischen Lebensgeschichte. Dies nun ist eine so echt weibliche Beschäftigung, daß keine Frau es übelnimmt, wenn sie dabei zur Zuhörerin gemacht wird.

»Ich habe, fürchte ich, in meiner ganzen Veranlagung mehr Weibliches als Mütterliches«, redete die kleine Heldin weiter. »Ich bin natürlich vernarrt in meine beiden Kinder. Der Junge ist in Winchester, und mein Mädel ist in einem Kloster in Brittany. Ach, sie sind prächtig, alle Beide – lieb und einfach prächtig. Aber zuallererst, fürchte ich, kommt in meiner Neigung der Mann. Und ich bin, fürchte ich, ziemlich altmodisch. Aber das macht ja nichts. Ich bin keineswegs blind für die Vorzüge anderer Männer – oh, keineswegs! Da lernte ich mal einen kennen, der war ein wahrhaft herrliches Geschöpf – von Beruf Ingenieur, sehr gescheit – aber sehr, sehr viel mehr als nur das. Aber reden wir nicht davon.« Die kleine Heldin schnupperte, als wäre ein Duft im Zimmer, und redete weiter: »Jedenfalls – ich weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, um die Flamme zu schwirren. Ich bin Irin, wie Sie wissen, und wir Iren können nun mal nicht anders. Um keinen Preis möchte ich Engländerin sein. Gerade dieser kleine Anflug von Phantasie – Sie wissen schon – –« Ihr leises Lachen klingelte. »Und eben das gibt mir die Fähigkeit, selbst dann für meinen Mann – oder mit meinem Mann – zu fühlen, wenn ich eigentlich nicht sollte. Sehen Sie: Als er mit mir daheim war, hat er auch nicht einen Gedanken für andere Frauen übrig gehabt; noch nicht einmal einen Gedanken. Ich muß sagen: er hat erreicht, daß ich zuweilen ein bißchen schuldbewußt war. Ja, sehen Sie, so ist er. Ich glaube nicht, daß er je in einer anderen Frau ein Geschöpf aus Fleisch und Blut gesehen hat, seitdem er mich kannte. Ich würde es wissen. Liebenswürdig war er, ritterlich, bezaubernd – aber andere Frauen waren keine Wesen aus Fleisch und Blut für ihn – sie waren einfach ›Leute‹ und ›Besuch‹ und so was. Oft genug hab ich mich gewundert, wenn irgend so ein einfach entzückendes Geschöpf ins Haus kam, in das ich an seiner Stelle mich innerhalb einer Minute Hals über Kopf verliebt hätte – und er war dann reizend und bezaubernd; er war durchaus nicht blind für ihre Vorzüge; aber sie bedeutete ihm nicht mehr als sagen wir mal: eine Schale mit Nelken oder ein schönes altes Stück Punto di Milano. Nicht etwa Fleisch und Blut. Ja, sehen Sie, vielleicht kann man sich auch allzu sicher fühlen. Vielleicht braucht man mal so eine winzig kleine Prise vom Salz der Eifersucht. Ich glaube wirklich, es ist so. Und ich habe siebzehn Jahre lang auch nicht einen Augenblick der Eifersucht gekannt. Deshalb war ich beinahe froh, ja, wirklich beinahe froh, als ich ein Getuschel hörte, daß hier Irgendwas im Gange wäre. Einmal hatte ich das Gefühl, als wäre ich nun einer eigenen kleinen Sünde sozusagen ledig gesprochen. Und dann war mir vielleicht zumute, als wäre er dadurch ein bißchen – menschlicher geworden. Denn schließlich ist es doch nur menschlich, daß Einer sich verliebt, wenn er lange Zeit allein und andererseits in der Gesellschaft einer schönen Frau ist; und wenn er dann obendrein selbst seine Anziehungskraft hat.«

Hannele saß da, die Augen weit offen und die Ohren sozusagen gespreizt vor Staunen, und wartete auf die weiteren Enthüllungen.

»Na ja, natürlich«, sagte sie, da sie wußte, daß von ihr irgend eine Äußerung erwartet wurde.

»Ganz recht: natürlich«, sagte Mrs. Hepburn und sah ihr aufmerksam forschend ins Gesicht. »Infolgedessen hielt ich es für besser, einmal selbst herüberzukommen und mich zu überzeugen, wie weit die Sache eigentlich gekommen war. Dabei wußte ich nichts Genaues – nur so eine Andeutung, wo ich zu suchen hatte. Ich wußte nicht einmal einen Namen – gar nichts. Ich hatte nur erfahren, daß sie eine Deutsche war und zu den adeligen Flüchtlingen gehörte – und daß er im Atelier zu verkehren pflegte.« Die kleine Dame behielt Hannele scharf im Auge und ließ ihr leises Lachen klingeln – ein wenig außer Atem; ihre Hände waren nervös verkrampft. Hannele saß vollkommen fassungslos: sie war nun wirklich wie vor den Kopf geschlagen.

»Aber es genügte natürlich«, redete Mrs. Hepburn weiter. »Es war ein vollkommen ausreichender Anhaltspunkt. Als ich Ihr Atelier besuchte, waren meine Absichten, fürchte ich, nicht ganz so lauter, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Ich wollte, fürchte ich, mehr sehen als nur Ihre Puppen. Aber als Sie mir dann sein Puppenabbild zeigten, da wußte ich alles. Da gab es natürlich auch nicht den Schatten eines Zweifels mehr. Und ich sah sofort, daß sie ihn liebt, das arme Ding. Sie war ja so aufgeregt. Und hatte keine Ahnung, wer ich bin. Und Sie haben mir die Puppe gezeigt – das war eigentlich gar nicht nett. Natürlich ahnten Sie nicht, wem Sie sie zeigten. Aber für Ihre Freundin, das arme Ding, ist es doch eine wahre Marter gewesen. Ich habe gemerkt, wie sehr sie litt. Und ich muß sagen, sie ist reizend, ganz einfach reizend mit dem Goldton ihrer Haut und ihren Augen, die wie dunkler Bernstein aussehen, und ihrer prachtvollen, wirklich prachtvollen Haltung. Und so ein kindliches, offenherziges Wesen! An einer einzigen Minute verrät sie alles, was man wissen will. Und dann ihre tiefe Stimme –: ›O ja! – O bitte!‹ – so ein Kind! Und dabei so wahrhaftig adlig – die schöne Bewegung, wie sie den Kopf wendet, und ihre schlichte und vornehme Art, sich zu kleiden. O ja, sie ist ganz entzückend. Und sie ist ganz genau der Typ, der auf ihn wirken würde, wenn er mich nicht hätte; ich habe das immer gewußt. Und ich habe schon manches Mal darüber gegrübelt – manches Mal. Jede Frau, die älter ist als ihr Mann, kennt diese Grübeleien – besonders dann, wenn auch er in mancher Hinsicht Anziehungskraft hat. Oft auch habe ich mir die Frau vorgestellt, der seine Liebe gehören würde, wenn er mich nicht hätte; und jedesmal war es dann dieser spanische Typ. Die Baronesse wirkt ja ungewöhnlich spanisch in ihrer ganzen Erscheinung. Sie muß irgend einen spanischen Ahnherrn aus edlem Blut gehabt haben. Meinen Sie nicht auch?«

»O gewiß«, sagte Hannele. »Es sind ja so viele Spanier unter den verschiedenen Kaisern auch nach Österreich gekommen.«

»Mit Karl dem Fünften, richtig. Ganz richtig. So muß es gewesen sein. Sie hat die ganze Schönheit der Spanierin – und das ganze Gefühl der Deutschen. Ich persönlich vermisse an ihr ja natürlich die Zurückhaltung, den Stolz. Aber sie ist reizend, ganz, ganz reizend, und ich bin gewiß, daß ich sie niemals würde hassen können. Selbst wenn ichs versuchte, ich könnte es nicht. Und ich will es gar nicht versuchen. Aber ich fürchte, sie ist für meinen Mann viel zu gefährlich, als daß er sie allzuoft sehen dürfte. Sind Sie nicht auch der Meinung?«

»Oh, aber es ist – es ist aber wirklich nichts dabei«, stotterte Hannele.

»Na –,« sagte die kleine Dame und legte mit listigem Ausdruck den Kopf auf die Seite, »es würde mir auch gar nicht gefallen, wenn mehr ›dabei‹ wäre.«

Es gab eine kurze Pause. Beide dachten nach. Und Hannele fragte sich, ob die kleine Dame vielleicht gar nur ihr Spiel mit ihr trieb.

»Jedenfalls,« fing Mrs. Hepburn wieder an, »der Funke ist da, und ich gedenke nicht zu dulden, daß das Feuer sich ausbreitet. Ich werde meinerseits sehr, sehr achtgeben, daß ich die Flamme nicht noch schüre. Ich denke gar nicht daran, meinem Manne Szenen zu machen; das wäre das Letzte, was ich täte. Ich glaube, es gäbe Unheil.«

»Ja«, sagte Hannele in die Pause hinein.

»Ich werde sehr vorsichtig sein. Sie glauben also, es hat nicht viel zu bedeuten – die Beziehung zwischen ihm und der Baronesse?«

»Nein, o nein, das weiß ich ganz bestimmt«, rief Hannele mit dem Brustton der Überzeugung. Sie war beinahe empört darüber, daß sie in den argwöhnischen Gedanken der kleinen Dame so gänzlich beiseite gelassen wurde.

»Hm! hm!« sagte Mrs. Hepburn und wackelte langsam und weise mit dem Kopfe. »Da bin ich nicht so sicher! Ich bin keineswegs so sicher, daß die Sache nicht doch schon recht hübsch weit gekommen ist.«

»Aber nein doch!« rief Hannele, und ihr Widerspruch klang nun schon richtig ärgerlich.

»Na schön«, sagte die Andere. »Jedenfalls gedenke ich nicht zu dulden, daß sie noch irgendwie weiter kommt.« Eine Weile war vollkommenes Schweigen.

»Es ist mehr daran, als Sie sagen wollen. Es ist mehr daran, als Sie sagen wollen«, bemerkte die kleine Dame nachdrücklich. »Ich kenne ihn doch. Er hat eine Wolke auf der Stirn. Und ich weiß, daß diese Wolke seine Stirn noch nicht eine einzige Minute verlassen hat. Und als ich ihm erzählte, daß ich im Atelier gewesen war, und ihm die Kissenplatte zeigte, wußte ich sofort, daß er sich schuldig fühlte. Ich lasse mich nicht so leicht täuschen. Wir Iren haben alle so eine kleine Veranlagung zum zweiten Gesicht, glaube ich. Natürlich habe ich ihn nicht beschuldigt. Ich habe die Puppe nicht einmal erwähnt. Nebenbei – wer hat die Puppe eigentlich bestellt? Haben Sie etwas dagegen, mir das zu sagen?«

»Nein. Sie war gar nicht bestellt«, bekannte Hannele.

»Aha. Dachte ich mirs doch! Das hab ich mir doch gedacht!« sagte Mrs. Hepburn und hob den Finger. »Wenigstens: ich wußte, daß kein Außenstehender sie bestellt hatte. Natürlich wußte ich das.« Und sie lächelte zu ihren eigenen Gedanken.

»Also,« fuhr sie fort, »ich war jedenfalls viel zu vernünftig, um Irgendwas davon zu sagen. Ich halte nichts davon, Wunden bloßzulegen. Ich halte es für besser, sie sacht zu bedecken und heilen zu lassen. Das allerdings hab ich gesagt, daß ich sie reizend finde.« Und die kleine Dame sah Hannele strahlend an.

»Ja«, sagte Hannele.

»Und seine Antwort war sehr verschwommen. ›Ja, nicht übel‹, sagte er. Warte, mein Junge, dachte ich, du kannst mich nicht täuschen mit deinem ›nicht übel‹. Sie ist sehr viel mehr als ›nicht übel‹. Das sprach ich auch aus. Er sollte natürlich merken, daß ich einen Verdacht habe.«

»Und – meinen Sie, daß ers gemerkt hat?«

»Natürlich hat ers gemerkt. ›Sie ist viel zu gefährlich,‹ sagte ich, ›als daß sie in einer Stadt sein dürfte, wo sich so viele fremde Männer aufhalten: verheiratete und unverheiratete.‹ Und dann drehte er sich auf dem Absatz herum und verriet sich – oh, verriet sich so deutlich. ›Warum?‹ fragte er. Aber in was für einem hochmütigen, fernen Ton! ›Mein lieber Junge,‹ sagte ich zu mir selbst, ›es wird Zeit, daß du aus der Gefahrzone geholt wirst.‹ Laut aber sagte ich: ›Es ist doch mal sicher, daß sich Irgendeiner in sie verliebt.‹ ›Ausgeschlossen,‹ sagte er, ›sie hält sich an ihre Landsleute,‹ ›Das kannst du mir doch nicht erzählen‹ sagte ich, › – die mit ihrem netten gebrochenen Englisch! Es ist ein Wunder, daß den Beiden erlaubt wird, in der Stadt zu bleiben.‹ Na, da fuhr er dann zum zweitenmal herum. ›Guter Gott!‹ sagte er. ›Willst du sie denn ausweisen lassen, bloß weil sie hübsch aussehen – wo sie doch wirklich keine andere Zufluchtsstätte haben und sich hier ihr bißchen Brot verdienen?‹ Ich kann Ihnen die Versicherung geben: in unserer ganzen Ehe hat er mich früher nicht ein einziges Mal dermaßen angefahren. So sagte ich nur ganz ruhig: ›Ich möchte jedenfalls gern unsere Männer schützen.‹ Darauf antwortete er mir nicht. Er warf mir nur so von unten herauf einen Blick zu und ging aus dem Zimmer.«

Hier gab es eine Pause. Hannele saß wartend, die Hände im Schoß, und Mrs. Hepburn saß sinnend, die Hände im Schoß. Ihr Gesicht sah gelb und sehr verrunzelt aus.

»Ja, also –« sagte sie und erwachte mit einem jähen Ruck wieder zum Leben. »Was tun wir da? Ach meine: Was kann man da tun? Sie sind die nächste Freundin der Baroneß. Und ich wünsche ihr nichts Böses – wirklich nicht.«

»Was kann man da tun?« sagte Hannele in das Schweigen hinein.

»Ich habe meinem Manne schon seit einiger Zeit dringend zugeredet, daß er den Abschied aus dem Heere nehmen soll«, sagte die kleine Dame. »Ich weiß, daß er ihn binnen eines Vierteljahres haben könnte. Aber es geht ihm wie so vielen anderen Männern heutzutage: er hat kein eigenes Einkommen, und er kann es nicht vertragen, sich abhängig zu fühlen. Was natürlich vollkommen unsinnig ist! Infolgedessen will er beim Heere bleiben – sagt er. Es ist früher niemals vorgekommen, daß er dermaßen gegen meine dringenden Wünsche handelte; ich kenne das gar nicht an ihm.«

»Es ist aber auch wirklich besser für einen Mann, wenn er unabhängig ist«, sagte Hannele.

»Das weiß ich. Aber es ist auch besser für ihn, daheim zu sein. Und ich könnte ihm einen Posten in einem Observatorium verschaffen. Da könnte er sich in der Wetterkunde betätigen.«

Hannele fand sich nicht bereit, darauf zu antworten.

» Wenn er aber hier bleibt,« sagte Mrs. Hepburn, »dann sollte die Baroneß die Stadt verlassen. Das wäre viel besser – für Beide.«

» Freiwillig wird sie das nicht tun, davon bin ich überzeugt«, sagte Hannele.

»Davon bin ich ebenfalls überzeugt. Aber man könnte sie vielleicht zu der Einsicht bringen, daß es viel klüger wäre, wenn sie aus eigenem freiem Willen ginge.«

»Wieso?« fragte Hannele.

»Na, weil sie jeden Augenblick von den englischen Behörden ausgewiesen werden könnte.«

»Warum?« fragte Hannele.

»Ich bin der Meinung, daß Frauen, die eine Gefahr für unsere Männer sind, ausgewiesen werden sollten.«

»Aber sie ist doch gar keine Gefahr für eure Männer!«

»Na, also darüber habe ich meine eigene Ansicht.«

Damit saß die Erörterung endgültig fest.

»Nun habe ich Sie furchtbar lange mit meinem Geschwätz aufgehalten«, sagte Mrs. Hepburn. »Aber ich möchte die ganze Sache so einfach wie möglich regeln. Wie ich Ihnen schon sagte: ich habe nicht den mindesten Groll gegen sie. Aber ich kann die Dinge nicht so weitergehen lassen. Weiß der Himmel, wann und wie das einmal endet. Natürlich, wenn ich meinen Mann dazu überreden kann, daß er seinen Abschied nimmt und nach England zurückkehrt – – Na, jedenfalls, wir werden ja sehen. So viel ist sicher: ich bin der letzte Mensch auf der Welt, der Anderen etwas Böses wünscht.«

Der Ton, in dem sie das sagte, barg eine schlimme Drohung.

Hannele stand auf.

»Oh, und dann noch etwas«, sagte ihre Gastgeberin, holte ein winziges Spitzentaschentuch hervor und betupfte sich zart damit die Nase. »Meinen Sie –« tupf, tupf – »daß ich die – also die Puppe, Sie wissen schon – bekommen könnte?«

» Die Puppe –?«

»Ja, die meinen Mann darstellt.« Die kleine Dame rieb sich die Nase mit dem Taschentuch.

»Der Preis beträgt drei Guineen«, sagte Hannele.

»So. Aha.« Mrs. Hepburn sagte es in sehr kaltem Tone.

»Ich dachte, sie wäre nicht verkäuflich –?«

Hannele hüllte sich in ihren Mantel.

»Also Sie schicken sie mir zu. Nicht wahr – Sie sind so freundlich?«

»Erst muß ich meine Freundin fragen.«

»Ja. Natürlich. Aber ich zweifle nicht, daß sie so freundlich sein wird, sie mir zu senden. Das Ding ist ein bißchen – hm – taktlos, meinen Sie nicht auch?«

»Nein«, sagte Hannele. »Nicht taktloser als ein gemaltes Bildnis!«

»Finden Sie?« sagte Mrs. Hepburn kalt. »Na, auch bei einem gemalten Bildnis wäre es mir wahrscheinlich lieber, wenn ichs in meinem Besitz hätte. Diese Puppe – –«

Hannele wartete auf den Schluß des Satzes, aber er kam nicht.

»Jedenfalls: der Preis beträgt drei Guineen oder den Gegenwert in Mark«, sagte sie.

»Also schön,« sagte die kleine Dame, »Sie sollen Ihre drei Guineen haben, sobald ich die Puppe bekomme.«

 

5.

Nachdenklich ging Hannele heim. Niemals ist ein Mann ein dermaßen jämmerliches Stück Mensch, wie er es dank seiner Frau zu sein scheint, wenn sie über ihn redet: »Mein Mann – –« Will darum eine Frau ihren angetrauten Mann aus den Klauen einer Anderen befreien, so braucht sie dieses weibliche Wesen nur zum Tee einzuladen und in aller Aufrichtigkeit über ihn zu reden: »Mein Mann, wissen Sie – –« Jeder Mann hat sich irgendwann einmal im Umgang mit einer Frau auf schauerliche Weise zum Narren gemacht. Keine Frau vergißt das jemals. Und die meisten Frauen werden dieses Schauspiel mit wahrhaft ergreifender Anschaulichkeit einer anderen Frau preisgeben. Das Bild zum Beispiel, wie Alec an seinem Hochzeitsabend zu den Füßen seiner Frau kniete und ihrem lebenslänglichen Glück sich zu weihen gelobte – dieses Bild blieb in Hanneles Gedächtnis haften und wurde von Zeit zu Zeit wieder sichtbar, wenn sie an ihren teuren Hauptmann dachte. Mit höchst verderblichen Folgen – für den Hauptmann. Wäre der Kniefall vor ihren eigenen Füßen vor sich gegangen, so hätte Hannele die Sache selbstverständlich beinahe natürlich gefunden: für einen fast notwendigen Auftritt im Schauspiel der Liebe. Da es sich aber um einen Fußfall vor dieser kleinen Dame gehandelt hatte – und was mochte die kleine Dame wohl angehabt haben? – an ihrem Hochzeitsabend? Hannele hoffte zu Gott, daß es nicht irgend so ein schauerliches Nachtkleidchen aus zarter geblümter Seide gewesen war. So mußte man sich die kleine Dame nur einmal vorstellen! Etwa in einem netten kleinen Boudoirhäubchen aus Punto di Milano und diesem Überwurf aus zarter geblümter Seide: und dann den Mann dazu womöglich in Hemdsärmeln! Der gnädige Himmel bewahre uns vor der Zeugenschaft der Augenblicke, da andere Leute ›sich gehen lassen!‹ Nein, nehmen wir lieber an, daß sie ein vorschriftsmäßiges – vor zwanzig Jahren vorschriftsmäßiges – Abendkleid getragen hat, sehr tief ausgeschnitten, mit einem stoffreichen Rock, der hinten zusammengerafft wird und ein wenig nachschleppt; dazu eine Agraffe mit einem kleinen Federstutz im hochgetürmten Haar, und mit sehr vielen Juwelen (Perlen natürlich); schließlich er in Abendjacke und weißer Weste; das Gänze vermutlich im Schlafzimmer eines Hotels in Lugano oder Biarritz. Und wie verhielt sie sich? Ließ sie vielleicht, vor ihm stehend, ihre kleine Hand auf seiner Schulter ruhen? – oder saß sie gar auf dem Diwan des Schlafzimmers? Gräßlicher Gedanke! Und doch: der ganze Vorgang war fast unabwendbar. Hannele war niemals verheiratet gewesen, aber sie war der Verwirklichung einer solchen Begebenheit hinlänglich nahegekommen, um zu wissen, daß ein derartiger Auftritt tatsächlich unvermeidbar war. Ein unerläßlicher Auftakt aller Flitterwochen. ›Er‹ auf den Knieen, Hacken aufwärts gekehrt!

Wie schwarz und hübsch mußte damals sein Haar gewesen sein! Da gab es noch kein Grau an den Schläfen. Ein vorzüglich aussehender junger Ehemann. Vielleicht noch mit einer weißen Rose im Knopfloch. Hannele sah ihn deutlich knieen, in seinen neuen schwarzen Beinkleidern und mit dem hohen Stehkragen. Und sie sah, wie er den Kopf neigte. Und sie hörte, wie er laut mit seiner wohlklingenden Stimme sagte: »Ich will dir ein glückliches Leben bereiten, so wahr mir Gott helfe. Dafür will ich leben – und für nichts Anderes.« Und dann hat die kleine Dame sicherlich Tränen in den Augen gehabt; und sie hat gesagt (ziemlich stolz hat das geklungen): »Ich danke dir. Lieber. Ich bin ganz fest überzeugt davon.«

Oh! Oh! Man sollte Ehemänner ihren Frauen überlassen; und man sollte Ehefrauen ihren Männern überlassen. Und kein Fremder sollte jemals zum Zeugen bei diesen gräßlichen Einzelheiten ehelicher Schauspielhandlungen gemacht werden. Nein, dachte Hannele, dieser Vorgang hat sich wirklich so zugetragen. Er hat tatsächlich stattgefunden. Und in den männlichen Mitspieler dieses Auftrittes bin ich verliebt gewesen –! In den treuergebenen Gatten dieser kleinen Dame! O Gott, o Gott, wie war das möglich! Er – auf den Knieen, auf den Knieen, Hacken aufwärts gekehrt!

Bin ich denn ganz und gar von aller Vernunft verlassen? Bin ich tatsächlich so ein blödes Frauenzimmer, das ihn anhimmelt wie ein dummes Gänschen? Wie konnte ich nur? Wie konnte ich nur?! Wenn man nur hört, wie er ›Ja, Liebe!‹ zu ihr sagt –! Und wenn man sieht, wie er alles tut, was sie verlangt! Und wie er im Zimmer herumlungert, mit den Händen in den Taschen! Wie er abgeht, wenn sie ihn wegschickt, weil sie mit mir reden will! Und er weiß auch, was sie vielleicht zu mir sagen wird. Trotzdem geht er ohne ein Wort der Frage ab und erledigt seinen Auftrag, wie ein Dienstbote. »Ich tue alles, was du willst, Liebling.« Immer und immer wieder hat er das zu der kleinen Dame gesagt, ganz bestimmt. Und gehandelt hat er auch danach. Alle seine Gelöbnisse und Versprechungen hat er gehalten. Oh! Oh! Hannele rang die Hände bei dem Gedanken, daß sie, sie sich in einen Handel mit diesem Manne verstrickt hatte. Und er war ihr so männlich erschienen. Er schien ihr von einer so starken, stummen, männlichen Leidenschaftlichkeit erfüllt. Und nun – diese kleine Dame! »Mein Mann hat sich immer vollendet gegen mich benommen – vollendet.« Vorstellen muß man sich das einmal! Und auf den Knieen hat er auch gelegen. Und dann sein »Ja, Liebe. Gewiß. Gewiß!« Nicht daß er vor der kleinen Dame Angst hätte; das nicht. Aber er ist in ihr, dachte Hannele, eben einfach eingesperrt, so wie Einer etwa im Gefängnis eingesperrt ist, oder im Paradiese.

Hatte sie ihn etwa nur im Traum geliebt? Oh, sie wünschte sehr, so sehr, daß sie niemals etwas für ihn gefühlt hätte. Sie wünschte so sehr, daß sie sich niemals an ihn weggeschenkt hätte. Weggeschenkt an ihn! – und auf eine so klägliche Art! Gehangen hatte sie an seinen Worten und Bewegungen, aufgeblickt hatte sie zu ihm, als ob er Cäsar wäre. Ja, so war er ihr vorgekommen: wie ein stummer Cäsar. Wie Germanicus. Wie – aber weitere Vergleiche stellten sich nicht ein.

Wie war das alles zugegangen? Was hatte sie so bezaubert? Etwa nur seine äußeren Vorzüge? Nein, doch wohl nicht. Denn er hatte gerade die Art von starrer Hübschheit, aus der sie sich nicht sonderlich viel machte. Er mußte wohl einen besonderen Reiz gehabt haben. Ja, er hatte Reiz. Immer vorausgesetzt, daß dieser Reiz wirkte.

Bei ihr hatte der Reiz nun schon seit einiger Zeit nicht mehr gewirkt – genau gesagt: seit jenem Abend nach der Ankunft seiner Frau nicht mehr. Seither war er ihr ziemlich abscheulich vorgekommen. Ja, ziemlich abscheulich: dumm; ein Esel; ein beschränkter, ziemlich gewöhnlicher Geselle. So kam er ihr vor, sobald sein Reiz nicht auf sie wirkte: wie ein beschränkter, ziemlich minderwertiger Geselle. Und das war in dieser Welt der Schieber und Geschäftemacher und gewöhnlichen Wichtigtuer das Schlimmste, was es geben konnte. Beschränkt, wiederholte sie; minderwertig; und ziemlich aufgeblasen. Der Ehemann dieser kleinen Dame! Und dabei – o Himmel, wie tief war sie in das Verhältnis zu ihm verstrickt! Freilich hatte er seit der Ankunft seiner Frau kein Wort mehr unter vier Augen mit ihr gesprochen. Wahrscheinlich würde er es auch niemals wieder tun. Sie hoffte zu Gott, daß er es niemals wieder tun würde. Abscheulich war die Vergangenheit, abscheulich das, was zwischen ihm und ihr bestanden hatte. Sie schauderte beim bloßen Gedanken daran. Der Ehemann dieser kleinen Dame –!

Aber es mußte doch schließlich einen Grund dafür geben, daß sie – – Seinen Zauber natürlich; das war es. Denn er besaß ihn wirklich, diesen Zauber. Aber o Himmel, wie sah das alles aus, sobald dieser Zauber nicht mehr wirkte! Und er hatte seine Wirkung auf Hannele in diesem Augenblick so vollkommen verloren, daß sie tatsächlich einen Salzgeschmack im Munde verspürte. Wenn man nun einmal die Summe zog – was ergab sich?

Worin bestand denn eigentlich sein Zauber? Wie hatte er auf sie wirken können? Wieder begann sie über ihn nachzudenken, und sie war bemüht, ihn im vorteilhaftesten Lichte zu sehen. Sie sah ihn vor sich, wie er auf sie wirkte, wenn sie mit ihm droben in seiner großen, einsamen Dachkammer allein gewesen war, den Sternen so nahe. Sein Zimmer –! die mächtigen weißgetünchten Wände, der erste Tabakduft, die Stille, das Gefühl, den Sternen so nahe zu sein, die Fernrohre, der Kaktus mit den schönen scharlachroten Blüten: und, als alles beherrschende Stimmung, sein Da-Sein in seinem seltsamen, ferngerückten, beharrlichen Schweigen – dieses Da-Sein, das ihr so im Tiefsten verwandt war. Die ihm eigentümliche Art, wie er den Kopf wandte, um zu lauschen – auf was zu lauschen? –: als ob er eine Stimme aus den Sternen vernähme. Der seltsame Ausdruck in seinen weitoffenen, beinahe starren dunklen Augen: wie Schicksal. Die schöne Linie seiner Stirn, auf der es immer wie eine Wolke lag. Die Anmut seiner geraden schönen Beine im langsamen Dahinschreiten, der erlesen schlanke Bau seiner dunklen Brust! Oh, nun spürte sie schon, wie der Zauber wieder über sie Gewalt gewann. Sie fühlte den Biß der Schlange in ihr Herz. Sie spürte die schwärenden Wunden von den Pfeilen der Begierde.

Aber, aber – und nun wanderten ihre Gedanken wieder zu der Teestunde in den ›Vier Jahreszeiten‹ zurück. Sie hörte seine Stimme: »Ja, Liebe. Gewiß. Gewiß tue ich das.« Und sie dachte an den dummen, einfältigen Ausdruck seines Gesichts. Und an die beinahe dienstbotenhafte Art, mit der er abzog, um den Auftrag seiner Frau auszuführen.

Und damit war der Zauber wieder dahin: so wird eine funkelnde Stadt, wenn die Glut des Sonnenunterganges erlischt, zur schmutzigen Industriehöhle. Und damit, dachte Hannele, wäre das Kapitel ›Zauber‹ zu schließen.

Das Kapitel ›Zauber‹ also war geschlossen. Sie tat besser, sich an Männer von ihrem eigenen Blut zu halten: an Martin zum Beispiel, der ein Weltmann war und ein kühner Soldat und ein schrulliger Kauz und ein trefflicher Unterhalter. Nur – ›Zauber‹ hatte er nicht. Zauber? Beim Wort allein schon krümmte sie sich. Zauber? Schwindel. Schwindel – das war es und nichts weiter. ›Zauber‹ –!

Halt, dachte sie – nicht zu hastig. Wie nun aber, wenn der Zauber wirklich bestanden hätte – an jenen Abenden in der großen himmelnahen Dachkammer? Hat er bestanden? Ja. Jawohl, ich bin verpflichtet, es zuzugeben. Es ist ein Zauber im Spiel gewesen. Wenn aber von seiner Gegenwart, von der Berührung mit ihm ein Zauber ausging, dann ist der Ehemann dieser kleinen Dame – Schon spürte sie wieder den Salzgeschmack des Ekels im Munde.

Also begann sie von vorn und mühte sich, diesen allzu flink entschlüpfenden Zauber einmal fest am Zipfel zu fassen. Du lieber Himmel, er entglitt Einem immer so rasch in die Bezirke der Ernüchterung. Trotzdem. Wenn er einmal vorhanden gewesen war, mußte er auch jetzt noch vorhanden sein. Und wenn er vorhanden war, dann war er auch ein Besitz, den zu halten sich lohnte. Gewiß, wer da wollte, mochte ihn einen holden Selbstbetrug nennen. Aber ein holder Selbstbetrug, der zum wirklichen Erlebnis wird, ist ein Besitz, den zu halten sich lohnt. Vielleicht war diese Entzauberung ein größerer Trug als jener Trug selbst. Vielleicht war diese ganze Entzauberung, die von der kleinen Dame und dem ›Mann‹ der kleinen Dame ausging, trügerischer als der holde Trug und Zauber jener wenigen Abendstunden. Vielleicht, sagte sich Hannele, ist die lange Entzauberung in unserem Leben trügerischer als die wenigen Augenblicke wirklichen Selbstbetrugs. Denn wenn sie es recht bedachte: den erlesen schlanken Bau seiner dunklen Brust – den langsamen Schritt, mit dem er den Raum durchquerte, nachdem er den Rock gewechselt hatte – – Nein, nein, wenn sie sich den holden Trug seines Zaubers erhalten konnte, so mochte alle Entzauberung der Hölle überantwortet sein. Nein, dachte sie, ich will unter dem Bann seines Zaubers bleiben. Das Verzaubertsein allein ist es, was ich mir wünsche, wonach ich mich sehne. Und der Feind, gegen den ich kämpfen muß, ist die Niedrigkeit der Entzauberung. Die ernüchternde Gewöhnlichkeit dieser kleinen Dame, die ernüchternde Gewöhnlichkeit ihres Ehemannes und seiner Unaufrichtigkeit, die ernüchternde Gewöhnlichkeit seines ›Ja, Liebe. Gewiß. Gewiß!‹ – das ist der Feind, gegen den ich kämpfen muß. Er war in dieser Stunde gewöhnlich und verabscheuenswert. Aber er war doch auch der seltsame Kauz, der einsam auf dem Dache hockte und die Sterne betrachtete. Und dann – der Kaktus mit seiner wundervollen roten Blüte. Das Geheimnis, das den Bewohner dieses Raumes umschwebte, wenn er durch das Zimmer geschritten kam, nachdem er den Rock gewechselt hatte. Sein Zauberreiz und seine Traurigkeit, sein Schweigen, wenn er sich neigte, um seine Schuhbänder zu lösen. Das seltsame, starre, maskenhafte Lächeln, wenn seine liebkosende Hand sich unter mein Kinn schmiegte. Unser Leben gestaltet sich ganz nach unserer Wahl. Und wenn ich das Geheimnis, den Zauber, den Reiz, das Trugbild, den magischen Bann wähle – Lieber den Tod als jenes andere Geschöpf, den Ehemann der kleinen Dame. Und wenn man nun aus allem die Summe zieht: Kann er Beides in Einem sein, der Ehemann der kleinen Dame – und der seltsame, schöngeschaffene Cäsar meines Erlebnisses? Welches von Beiden ist er?

Nein, beschloß sie. Ich werde ihr nicht die Puppe schicken. Niemals soll die kleine Dame diese Puppe haben.

Aber was für eine Puppe würde sie selbst abgeben! Himmel, was für eine verrunzelte Kostbarkeit!

 

6.

Hauptmann Hepburn erschien noch dann und wann im Hause, um seine Post abzuholen. Das Mädchen legte seine Briefe immer an einen verabredeten Platz unten im Hausflur, so daß er nicht die Treppe zu steigen brauchte.

Unter seinen Briefen – das heißt: gleichzeitig mit einem anderen Brief, denn sein Posteingang war sehr dürftig – fand er eines Tages einen Umschlag mit einem Helmbuschwappen. Der Umschlag enthielt zwei Briefe:

 

»Lieber Hauptmann Hepburn,

von Mrs. Hepburn empfing ich den beigefügten Brief. Ich habe nicht die Absicht, ihr die Puppe, die sozusagen Ihr Bildnis ist, zu senden; infolgedessen werde ich den Brief auch nicht beantworten. Auch sehe ich nicht ein, aus welchem Grunde sie eigentlich versuchen sollte, uns aus der Stadt jagen zu lassen. Sie hat damals nach dem Tee mit mir gesprochen, und sie glaubt, scheints, daß es Mitchka ist, die zu Ihnen in Beziehungen steht. Ich habe gar nichts, überhaupt nichts gesagt – nur daß es nicht wahr ist. Aber sie braucht vor mir keine Angst zu haben. Ich möchte nicht, daß Sie sich irgendwelche Sorgen machen. Immerhin ist es besser, wenn Sie wissen, wie die Dinge stehen.

Johanna z. R.«

 

Der zweite Brief war auf das ihm wohlbekannte starke Papier seiner Frau geschrieben, in ihrer ihm bekannten großen ›aristokratischen‹ Handschrift:

 

»Meine liebe Komteß,

ich frage mich, ob wohl irgendein Irrtum oder irgendein Mißverständnis entstanden ist. Vor vier Tagen sagten Sie mir. Sie würden mir die Puppe schicken, von der wir sprachen; aber ich habe bisher vergeblich gewartet. Eigentlich wollte ich ins Atelier kommen, aber ich möchte die Baroneß nicht stören. Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir die Puppe sofort senden würden, denn ich bin nicht eher beruhigt, als bis ich sie im Besitz habe. Sie dürfen darauf zählen, daß Sie den Scheck umgehend erhalten.

Generalmajor Barlow, ein alter Freund unserer Familie, besuchte mich gestern, und wir hatten ein sehr aufschlußreiches Gespräch über unsere Tommies und den Schutz ihres sittlichen Verhaltens. Daraus entnehme ich, daß es durchaus in unserer Macht steht, jede Person oder alle Personen, die unerwünscht sind, binnen vierundzwanzigstündiger Frist aus der Stadt zu weisen. Natürlich wird das immer in aller Stille erledigt, in der Absicht, möglichst wenig Aufsehen zu erregen.

Bitte, schicken Sie mir die Puppe morgen und fügen Sie vielleicht auch eine Andeutung über Ihre Zukunftsabsichten bei.

Empfangen Sie die besten Wünsche von Einer, die lediglich bemüht ist, sich als Ihre Freundin zu erweisen.

Aufrichtig die Ihrige
Evangeline Hepburn.«

 

7.

Und dann geschah etwas Furchtbares: etwas wirklich ganz Furchtbares. Hannele las es in der Abendzeitung der Stadt, dem ›Abendblatt‹. Mitchka kam mit der Zeitung die Treppe heraufgestürzt, um zehn Uhr abends, als Hannele gerade zu Bett gehen wollte.

Mrs. Hepburn war aus dem Fenster ihres im dritten Stock des Hotels gelegenen Schlafzimmers auf das Straßenpflaster gestürzt und sofort tot gewesen. Sie war beim Umkleiden zum Essen. Morgens hatte sie, so stellte man fest, ein kleines Mieder gewaschen und es zum Trocknen auf das Fensterbrett gelegt. Sie mußte, um es hereinzuholen, auf einen Stuhl gestiegen und dabei aus dem Fenster gestürzt sein. Ihr Mann, der nebenan im Ankleidezimmer war, hörte ein seltsames Geräusch, so etwas wie einen erstickten Schrei, und kam herüber, um zu sehen, was es gab: Aber er fand seine Frau nicht. Das Fenster war offen, der Stuhl stand am Fenster. So nahm er an, sie wäre auf einen Augenblick hinausgegangen, und kehrte zu seinem Rasierspiegel zurück. Er war zur Hälfte mit Rasieren fertig, als eines der Mädchen hereingestürzt kam. Als er aus dem Fenster auf die Straße hinabsah, wurde er ohnmächtig und wäre ebenfalls hinausgefallen, wenn das Mädchen ihn nicht noch rechtzeitig zurückgerissen hätte.

Am nächsten Tage schon kehrte der Hauptmann in seine Dachkammer zurück. Hannele bemerkte seine Rückkehr erst, als er spät abends an ihre Tür klopfte. Sie erkannte ihn sofort an seinem leisen Klopfen.

»Willst du nicht herüberkommen, damit wir ein bißchen plaudern können?« fragte er.

Sie zögerte ein paar Sekunden mit der Antwort. Dann war es vielleicht Überraschung, was sie zum Jasagen veranlaßte – Überraschung und Neugier.

»Ja, gleich«, sagte sie und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Als sie herüberkam, saß er reglos in seiner stillen Dachkammer; er rauchte nicht einmal. Auch stand er nicht auf, sondern wandte nur den Kopf nach ihr, mit einem schattenhaften Lächeln. Sein Gesicht schien ihr verändert: geschmeidiger, beweglicher. Aber das konnte, im dämmerigen Licht, eine Täuschung sein. Sie setzte sich ein wenig entfernt von ihm nieder.

»Du hast wohl gehört –?« fragte er.

»Ja.«

Nach einem langen Schweigen fing er wieder an.

»Ja. Man würde es nicht für möglich halten, daß so etwas geschehen kann. Aber es ist geschehen.«

Hannele hatte scharfe Ohren. Aber so genau sie auch achtgab, sie konnte aus dem Ton seiner Stimme nichts entnehmen.

»Furchtbar ist es. Ganz furchtbar«, sagte sie.

»Ja.«

»Glaubst du, daß sie – daß es ein Unglücksfall war?« fragte sie.

»Zweifellos. Das Mädchen war gerade eine Minute vorher noch bei ihr im Zimmer gewesen: da war sie so vergnügt wie nur möglich. Ich denke mir, sie muß einen plötzlichen Schwindelanfall bekommen haben, als sie sich über das breite Fensterbrett hinausbeugte. Warum sie mich nicht hinübergerufen hat, weiß ich wirklich nicht. Sie war nie imstande, auch nur aus einem hochgelegenen Fenster zu sehen. Ihr wurde immer gleich schlecht, wenn sie irgendwie in die Tiefe blicken mußte. Oft hat sie mir gesagt, sie könnte nicht einmal den Mond richtig ansehen: dann wäre ihr zumute, als stürze sie aus fürchterlicher Höhe ab. Niemals wagte sie mehr als einen flüchtigen Blick auf den Mond. Ich denke mir das so: Sie stellte sich immer den ungeheuren Raum vor, der unter ihr liegen würde, wenn sie auf dem Monde wäre.«

Hannele achtete nicht auf das, was er sagte – sie achtete nur auf seine Stimme. Sie klang ein wenig seelenlos und eintönig. Aber das ist wohl immer so, wenn man eine Erschütterung erlebt hat, sagte sie sich.

»Es muß furchtbar für dich gewesen sein«, sagte sie.

»O ja. Zuerst war es gräßlich. Gräßlich. Ich habe den – den Aufprall beim Sturz bis ins tiefste Innere gespürt. Kannst du dir das vorstellen?«

»Gräßlich«, wiederholte sie.

»Jetzt aber«, fuhr er fort, »habe ich ein sonderbares Glücksgefühl. Ja, ein Glücksgefühl. Ihretwegen bin ich glücklich. Mir ist zumute, als wäre sie nun von einer quälenden Spannung befreit. Zum ersten Male in ihrem Leben ist sie nun frei – meine ich. Gütig war sie, und ursprünglich war sie – aber sie war wie eine Elfe, die dazu verdammt ist, in Häusern zu leben und auf Stühlen zu sitzen und was dergleichen Zwang mehr ist. Verstehst du, wie ichs meine? Ihrem wahren Wesen hat das nie entsprochen.«

»Nein –?« sagte Hannele und saß in fassungslosem Staunen.

»Ich hatte immer das Gefühl, als wäre sie in eine falsche Zeit hineingeboren – oder auf dem falschen Planeten. Sie war, verstehst du, wie irgendein edles und zartes Geschöpf, das die Menschen im Augenblick seiner Geburt aus einem Tropenwalde entführen, um ihm von der ersten Stunde an allerlei Künste beizubringen. Du verstehst schon, was ich meine. Ihr ganzes Leben lang hat sie uns die Menschenkünste vorgemacht, und ein gescheiter und geschickter kleiner Affe war sie obendrein. Mir war sie bei weitem über. Aber ihre eigene arme kleine Seele ist ihr ganzes Leben lang eingesperrt und eingesargt gewesen; eine Elfenseele war das – diese Irinnen sind so seltsame Geschöpfe. Siehst du, da mußt du dir nun vorstellen, daß ihre Seele im Käfig saß, während sie selbst alle die Kunststücke des Lebens lernte und machte, die man heutzutage lernen und machen muß.«

»Aber«, stotterte Hannele, »was hätte sie denn getan, wenn sie frei gewesen wäre?«

»Ja, siehst du – wie die Welt nun einmal heute ist, konnte sie gar nichts darin tun. Stell dir zum Beispiel mal ihre Sprache vor. Sie hätte nie im Leben Englisch reden dürfen. Ich weiß nicht, was für eine Sprache sie von Rechts wegen hätte reden müssen. Mit der irischen ist nämlich auch nichts gewonnen – sie kommt ja auf dem Umweg über das Englische zustande. Die Iren denken auf Englisch und setzen dann einfach irische Ausdrücke dafür ein. Aber das Englische war niemals ihre eigentliche Sprache. Es sprudelte ihr nur so von den Lippen – verstehst du? Und eine andere Sprache hatte sie nicht. Sie war wie ein Starmatz, der von frühester Jugend an hat reden müssen und der jetzt nur noch diese Sprechgeräusche herausschreien kann. Sein natürliches Pfeifen hat er nie gelernt – er könnte es nicht, und wenns um sein Leben ginge. Könnte es einfach nicht. Es ist ihm verloren gegangen. Von seiner natürlichen Art, sich auszudrücken, ist ihm nichts geblieben, er hat nur noch die künstliche

Es gab ein langes Schweigen.

»Und wenn sie sich nun in irgendeiner unbekannten Sprache hätte ausdrücken können – dann wäre sie wohl ein wundervolles Geschöpf gewesen?« fragte Hannele eifersüchtig.

»Ich will gar nicht behaupten, daß sie dann ein wundervolles Geschöpf gewesen wäre. Ein redender Starmatz gilt ja natürlich immer wer weiß wie viel mehr als ein gewöhnlicher Starmatz. Das heißt: für mich persönlich nicht, aber doch für die meisten Leute. Und sie wäre dann wohl so etwas wie ein Starmatz gewesen. Und sie hätte ihre eigene Sprache und ihre eigene Art gehabt. Nun aber hat das arme Ding sich sein Leben lang Zwang angetan und hat in einem Käfig gesessen und geflattert und geplappert. Und sie hat niemals gewußt, daß sie im Käfig saß – ebensowenig wie wir wissen, daß wir in unserer Haut sitzen.«

»Hör mal,« sagte Hannele mit einem Anflug von Spott, »woher weißt du denn aber, daß du dir alles das nicht nur so zurechtgelegt hast – bloß um dich damit zu trösten?«

»Oh, diese Gedanken sind mir schon vor langer Zeit gekommen«, sagte er.

»Wenn auch,« beharrte sie heftig, »vielleicht hast du dir das alles doch nur erfunden, als eine Art von Trost für – für – also für das Leben, das du geführt hast.«

»Ja, das ist möglich«, gab er zu. »Aber ich glaubs nicht. Es war in ihren Augen. Hast du je ihre Augen richtig gesehen? Oft hab ich ihre Augen beobachtet. Da redete sie und redete sie, und alle die vielen Worte sprudelten ihr von den Lippen. Und ihre Augen waren so klar und hell und – anders. Wie bei einem Kinde, das auf Irgendwas lauscht und es gleich mit der Angst bekommen wird. Immer lauschte sie – und wartete sie – auf irgendwas Anderes. Ich will dir was sagen: Sie war ganz genau wie die Elfe in dem schottischen Volkslied, die einen Sterblichen liebt und voll Angst an der Landstraße sitzt und auf ihn wartet und die Regenpfeifer und die Brachvögel hört. Aber, siehst du, heutzutage fahren Motorzüge über die Moorstraßen, und dem armen Ding schwindet das Bewußtsein, und bewußtlos wird es in unsere Welt entrückt, und wenn es zu sich kommt, versucht es unsere Sprache zu reden und sich zu benehmen, wie wir uns benehmen, und es kann sich auf nichts Anderes mehr besinnen; und so geht das nun immer weiter, bis es einen jähen harten Fall tut und wieder in seine eigene Welt stürzt.«

Hannele schwieg, und er schwieg ebenfalls.

»Du hast sie also geliebt?« fragte sie schließlich.

»Ja. Aber siehst du, das war so: Als Junge hab ich einmal einen Vogel gefangen, eine Grasmücke, und ihn in einen Käfig gesperrt. Und den Vogel habe ich geliebt. Ich weiß nicht, warum, aber ich hab ihn geliebt. Ich liebte ihn eben einfach, den Vogel. Ginster und Heidekraut und Felsgestein und der heiße Duft der gelben Ginsterblüten und der Himmel, der mir in meinen Knabenjahren unendlich schien – alles, was ich mit der fast besessenen Liebe liebte, wie man sie als Junge empfindet – alles das schien mir in dieser kleinen flatternden Grasmücke verkörpert. Und sie pickte ihren Samen, als wüßte sie nicht recht, was sie sonst tun sollte; und sie sah um sich, immerzu, und schließlich begann sie zu singen. Nach ein paar Tagen aber neigte sie das Köpfchen auf die Seite und starb. Ja, sie starb. Nie wieder hab ich das Gefühl gehabt, das ich damals vor der kleinen Grasmücke hatte – bis ich meine Frau sah. Da empfand ich das alles abermals. Ich empfand das alles abermals. Und es war ganz genau dasselbe Gefühl. Ich wußte, daß sie sterben würde; nach ganz kurzer Zeit schon wußte ich das. Sie würde ihren Samen picken und im Käfig sitzen und sich umsehen, immerzu. Und schließlich würde sie sterben. Nur würde es bei ihr viel länger dauern. Aber sie wird im Käfig sterben wie die Grasmücke, sagte ich mir.«

»Aber sie liebte doch ihren Käfig! Sie liebte ihre Kleider und ihre Juwelen. Sie muß ihr Haus und ihre Möbel und alles das mit einer wahrhaft unsinnigen Vernarrtheit geliebt haben.«

»Das tat sie auch. O ja, das tat sie auch. Aber nur wie ein Kind seine Spielsachen. Große, wunderbare Spielsachen waren das für sie. O ja, sie ist nie auch nur für einen Augenblick davon weggegangen. Nie hat sie all den Kram vergessen – ihr Geschmeide und ihre Pelze und ihre Möbel. Niemals verließ sie das auch nur für eine Minute. Und alle ihre Gedanken waren sozusagen damit vermischt.«

»Grauenvoll!« sagte Hannele.

»Ja, es war grauenvoll«, antwortete er.

»Grauenvoll«, wiederholte Hannele.

»Ja. Furchtbar. Furchtbar! Und es wurde noch schlimmer. Auch mit dem, was sie sagte, wurde es schlimmer. Als ob es ihr so von den Lippen plätscherte. Ihre Augen aber verloren niemals den hellen Glanz, sie verloren niemals den Elfenblick. Nur – ich sah oft den Ausdruck der Angst in ihnen. Angst vor allem – sogar vor allen den Dingen, mit denen sie sich umgab. Geradeso blickte meine kleine Grasmücke durch die Gitterstäbe ihres Käfigs – so hell und so scharf, und doch so, als wüßte sie nicht, daß es dieser Käfig war, der sie von der Außenwelt trennte. Sie meinte, das trennende Gitter wäre in ihr selbst. Sie dachte, es gehörte zu ihrer Bestimmung, zu ihrem Wesen, eingeschlossen zu sein. So dachte auch meine Frau – – Und darum starben sie beide.«

Hannele sagte:

»Ich kann mir nicht vorstellen, was sie außerhalb ihres Käfigs hätte beginnen sollen. Konnte sie überhaupt ein anderes Leben führen als das mit ihren › bibelots‹ und ihren Möbeln und ihren – Worten? Und – was für eins?«

»Gar keins. Es gibt kein Draußenleben für uns Menschengeschöpfe.«

»Dann gibt es überhaupt kein Draußen«, sagte Hannele.

»Da hast du recht. Wenn mans im Großen betrachtet, gibt es überhaupt kein Draußen.«

»Danke schön«, sagte Hannele.

Es gab eine lange Pause.

»Vielleicht hatte ich die Schuld«, sagte der Hauptmann. »Vielleicht hätte ich irgend etwas tun müssen, um die Dinge zu ändern. Aber ich wußte nicht was. Wirklich, und wenn es mein Leben gekostet hätte: ich wußte nicht, was ich hätte tun sollen – außer dem einen: sie glücklich zu machen. Sie hatte Geld genug – und es war, fand ich, nichts dagegen einzuwenden, daß sie es mit mir teilte. Ich hatte immer einen Garten – und meine Sternkunde. Es war ein unsagbarer Trost für mich, den Mond zu betrachten. Wundervoll war das. Dann blickte ich nicht mehr in den Käfig hinein wie früher, wenn ich meinen Vogel, oder später, wenn ich sie ansah – dann blickte ich hinaus – in die Freiheit – in die Freiheit.«

»Damit meinst du den Mond?« fragte Hannele.

»Ja, den Mond.«

»Und das ist deine Freiheit?«

»Bei ihm habe ich das stärkste Gefühl von Freiheit gefunden«, sagte er.

»Na; ich habe nicht die Absicht, auf den Mond eifersüchtig zu sein«, sagte Hannele nach einer Weile.

»Warum solltest du auch? Da gibt es doch nichts eifersüchtig zu sein.«

Nach einer kurzen Weile wünschte sie ihm gute Nacht und ließ ihn allein.

 

8.

An diesem Wendepunkt seines Lebens wußte der Hauptmann vor allem Eines: daß durch alle Bande und Adern, die ihn mit den Menschen seiner Neigung verbanden, ein trennender Beilhieb gefahren war: nun waren von allen seinen lebendigen menschlichen Beziehungen nur blutende Enden übrig geblieben. Warum das so war, wußte er nicht. Aber wir kennen ja niemals das Warum und Wozu unserer Gefühlswandlungen.

Er wußte nur, daß es so war. Der Gefühlsstrom, als Verbindung zwischen ihm und allen Leuten, die er kannte oder liebte, war unterbrochen; und für den Augenblick war diese Unterbrechung das Einzige, was ihm zum Bewußtsein kam: der Riß, den es zwischen ihm und seinen Mitmenschen gegeben hatte; die Kluft, die ihn nun von ihnen trennte. Er wußte Niemanden, dem er die Schuld daran hätte geben können – auch den sogenannten ›Verhältnissen‹ nicht. Er konnte weder sich selbst noch Anderen einen Vorwurf daraus machen. Was sich ereignet hatte, war die Folgerung aus einer langen Entwicklung. Und nun war plötzlich die Kluft da. Erst eine lange, langsame Entfremdung: und nun dieses plötzliche stumme Zerreißen aller Bande.

Die erste Folge von alledem war, daß er nicht einmal mehr den Wunsch verspürte, Hannele zu sehen. Mehr noch: er spürte sogar nicht einmal den Wunsch, auch nur an sie zu denken. Aber ebensowenig trieb es ihn. Andere zu sehen oder an sie zu denken. Mit einer Abneigung, die an Widerwillen grenzte, zog er sich von seinen Freunden und Bekannten und ihren Beileidskundgebungen zurück. Sobald Irgendjemand versuchte, an seinen Empfindungen teilzuhaben, empfand er diesen jäh aufschießenden Widerwillen. Er wollte nun einmal seine Empfindungen und Gefühle mit Niemandem teilen, niemals. Er wollte das Bewußtsein des Alleinseins haben, auch in der Gesellschaft Anderer.

So fuhr er nach England, um seine Angelegenheiten zu ordnen, und weil er die Pflicht fühlte, sich um seine Kinder zu kümmern. Er wünschte seinen Kindern von Herzen das Allerbeste – nur Eines nicht: eine Gefühlsverknüpfung mit ihm selbst. Seine Tochter nahm er sofort aus dem Kloster heraus und brachte sie in eine richtige nette englische Schule. Der Junge war gut untergebracht; der mochte bleiben, wo er war.

Der Hauptmann hatte nun ein Einkommen, das ihm seine Unabhängigkeit sicherte, aber es reichte doch nicht aus, um den Haushalt seiner Frau weiterzuführen. Infolgedessen leitete er den Verkauf des Hauses und fast der gesamten Einrichtung ein. Auch beschloß er, seinen Abschied aus dem Heere zu nehmen, sobald man ihn freigab. Und dann wollte er eine Zeitlang umherwandern, bis er Irgendetwas fand, das ihn lockte.

Der Winter ging vorüber, ohne daß er nach Deutschland zurückkehrte. Sein Abschied war ihm bewilligt worden. Er ließ sich treiben und beschäftigte sich mit der Regelung seiner Angelegenheiten. Da gab es freilich nicht viel von Bedeutung zu regeln. Und während der ganzen Zeit schrieb er nicht ein einziges Mal an Hannele. Immer noch konnte er den Widerwillen nicht überwinden, der ihn jedesmal befiel, wenn Andere sich in seine Gefühle einzudrängen versuchten und von ihm Anteilnahme verlangten. Sie waren ihm unerträglich mit allem, was sie fühlten und taten. Mochten Andere doch fühlen und empfinden und ernst nehmen und emsig betreiben, was sie Lust hatten. Er fand es sogar ganz nett, daß sie ihre Angelegenheiten mit so buntwimmelndem Eifer betrieben. Aber sobald sie ihm nahekamen, um ihn in ihre Gefühle und Geschäfte zu verstricken, stieg ein unüberwindlicher Ekel in ihm auf, und ihm war geradezu körperlich übel, bis er ihnen entrinnen konnte.

Das war nicht der rechte Gemütszustand für Liebesbindungen. Er mochte an Hannele nicht einmal denken. Und an Irgendjemanden sonst brauchte er nicht zu denken; so meinte er wenigstens. Er war aus tiefem und ganzem Herzen dankbar dafür, daß seine Frau tot war. Es war eine Erlösung von der Qual; denn nun war sie dem Leid entronnen, das arme Ding, und hatte ihren Weg ins Nichts gefunden, wie ein Vogel, der davonflog.

 

9.

Immerhin – ein Mann hat mit vierzig Jahren sein Leben noch nicht vollendet. Wenn er vielleicht auch einen großen Abschnitt seines Lebens hinter sich gebracht hat.

Und Alexander Hepburn war nicht zum Alleinleben geschaffen. Alle unsere Kümmernisse, sagt irgendein Weiser, kommen auf unser Haupt, weil wir nicht allein sein können. Und das ist ja nun recht schön und gut gesagt. Das Alleinsein müßte uns eben auch möglich sein, sonst sind wir Opfer, nichts weiter. Sobald uns aber das Alleinsein möglich ist, erkennen wir, daß uns nichts Anderes übrig bleibt, als eine neue Beziehung zu einem anderen – oder sogar demselben – menschlichen Wesen zu knüpfen. Daß die Menschen sämtlich getrennt voneinander aufgebaut werden sollten wie die Telegraphenpfähle, ist Unsinn.

So erging es auch unserem geschätzten Hauptmann. Zuerst trieb es ihn, sich mit einem krampfhaften Ruck eine Art von Telegraphenpfahl-Einsamkeit zu schaffen: was durchaus gut und notwendig für ihn war. Dann aber knospte in ihm ein neues Verlangen nach – ja, wonach? Nach Liebe?

Es war das eine Frage, die er sich beharrlich und gewissenhaft stellte. Und wirklich: die netten jungen Mädels von Achtzehn oder Zwanzig lockten ihn sehr; sie waren so frisch, so unverbildet triebhaft; und die blickten zu ihm auf, als wäre er ein Halbgott. Ja, wenn er zwei oder drei von ihnen hätte heiraten können, anstatt einer einzigen!

Liebe –! Wenn das Verlangen eines Mannes nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, so streben seine Gedanken immer wieder dem Vergangenen zu wie die Kompaßnadel zum Pol. Liebe – dieses ärgerliche Wort! Es umgreift so vielerlei Dinge. Für ihn begriff es das Gefühl, das er für seine Frau gehabt hatte. Er hatte sie geliebt. Aber ihn schauderte bei der Vorstellung, daß er ein solches Liebeserlebnis noch einmal durchmachen müßte. Dann aber bezeichnete das Wort auch sein Gefühl für die furchtbar netten jungen Dinger, denen er hier und da und dort begegnete: frische, unverbildete Mädels, die bereit waren, ganz und gar ihr Herz wegzuschenken. O ja, sagte er sich, ich könnte mich in ein halbes Dutzend von ihnen verlieben. Aber er wußte auch, daß es sich keineswegs empfahl.

Schließlich schrieb er an Hannele und bekam keine Antwort. Darauf schrieb er an Mitchka und bekam ebenfalls keine Antwort. Nun holte er eine Auskunft ein – und war um nichts klüger. Er erfuhr nur, daß die Beiden nach München gegangen waren.

Damit ließ er es einstweilen sein Bewenden haben. Hannele war für ihn nicht gerade die Verkörperung rosenfarbener Liebe. Eher die einer harten Schicksalsbestimmung. Er ›betete sie nicht an‹. Nein, er fühlte keine Spur von Anbetung für sie. Man hätte alle Reize und Tugenden einer Frau zu allen Schätzen Indiens gesellen können – er wäre davor natürlich keineswegs in die Versuchung geraten, es wieder mit dem Verfahren der Anbetung zu versuchen. Er war einmal in seinem Leben in die Kniee gesunken und hatte mit schwankender Stimme gelobt, er wolle versuchen, die Angebetete glücklich zu machen. Einmal; und niemals wieder. Niemals wieder.

Diesmal lag die Versuchung nahe, sich anbeten zu lassen. Irgendeines von diesen frischen jungen Dingern würde ihn, das wußte er, anbeten wie einen Gott. Und es lag etwas sehr Verlockendes in diesem Gedanken. Etwas sehr, sehr Verlockendes. Mal dir das aus, sagte er sich: dann bist du der allmächtige Herrgott in deinem Hause, und so ein süßes junges Ding betet dich an, und dein Haupt entsendet Strahlen hellen Glanzes wie einen Heiligenschein! Wer geriete da nicht in Versuchung: als Mann von vierzig Jahren? Und das war der Grund, weshalb er die Zeit vertrödelte.

Schließlich aber und plötzlich saß er im Zuge nach München. Als er anlangte, kam ihm die Stadt scheußlich ungemütlich, ihre Bewohner grob und unangenehm vor: denn er fand keine Spur von den verloren gegangenen weiblichen Wesen, nicht einmal im Café Stephanie. Er wanderte ruhelos durch die Stadt.

Und dann, eines Tages, o Himmel, sah er im Fenster einer kleinen Kunsthandlung seine Puppe. Er stand und starrte sie an wie verzaubert.

»Na, das ist aber doch, um die Schwerenot zu kriegen!« sagte er. »Sich selbst in einem Ladenfenster zu finden!« Er ärgerte sich dermaßen, daß er es nicht fertigbrachte, in den Laden zu gehen.

Dann aber wanderte er eine Woche lang jeden Tag in die kleine Straße und betrachtete sich selbst im Schaufenster. Da stand er, eine Hand in der Tasche. Und auch sein Abbild hatte eine Hand in der Tasche. Da stand er, die Mütze ziemlich tief in die Stirn gezogen. Und auch sein Abbild hatte die Mütze tief in die Stirn gezogen. Nur bestand seine eigene Mütze jetzt Gott sei Dank aus bürgerlichem Halbtuch. Aber da stand er, den Kopf ein wenig vorgeneigt, und starrte aus unbeweglichen dunklen Augen. Und drinnen stand sein kleines Abbild, die verhexte Puppe, stand da, den Kopf ein wenig vorgeneigt, und starrte aus unbeweglichen dunklen Augen. Es war ein richtiger kleiner Mensch; dermaßen wirklich, daß es dem Hauptmann den Atem verschlug: mit jedem Male, da er die Puppe sah, verschlug es ihm gründlicher den Atem. Und um so mehr haßte er sie auch. Aber der Bann ließ ihn nicht los, und er kam immer wieder.

Und immer war die Puppe da. Ein einsames kleines Wesen, müßig dastehend mit einer Hand in der Tasche und ohne jegliche Beschäftigung, inmitten von all dem kunterbunten Krimskrams. Armer Teufel; er führte ein so ganz ungereimtes Dasein in dieser Welt. Und doch verlor er nichts von seiner männlichen Haltung.

Ein mannhafter kleiner Teufel, trotz aller seiner elenden Verlassenheit. Und doch – welch eine Miene des Abgeschlossenseins, des Nichtdazugehörens! Und doch so straff und männlich in seinen Tartanhosen! Dabei mußte man sich einmal diese Umgebung richtig ansehen: mit dem Rücken lehnte er sich lässig an ein japanisches Lackschränkchen, zur Rechten hatte er ein paar alte Töpfe, zur Linken ein strafbares Messingschreibzeug; der gesamte Hintergrund war mit langen, aber keineswegs sehr schönen Filetspitzen behangen. Armer kleiner Teufel: das Ganze wirkte wie eine wohlgezielte Satire.

Und dann, eines Tages, war die Puppe nicht mehr da. Das Schränkchen war noch da; auch die Filetspitze; ebenso das strafbare Messingschreibzeug: der kleine Herr aber war nicht mehr da. Sogleich ging der Hauptmann in den Laden.

»Haben Sie die Puppe verkauft? – den unbekannten Soldaten?« fragte er, ohne recht zu wissen, was er redete.

Die Puppe war verkauft.

»Wissen Sie, wer sie gekauft hat?«

Die Verkäuferin musterte ihn mit eisigem Blick. Nein, sie wußte es nicht.

»Die Dame, die – von der die Puppe stammt, ist eine Bekannte von mir. Und die Puppe stellt mich dar«, sagte er.

Nun betrachtete ihn die Verkäuferin mit plötzlich erwachender Aufmerksamkeit.

»Finden Sie nicht, daß sie mir sehr glich?« fragte er.

»Vielleicht – –« Die Verkäuferin begann zu lächeln.

»Sie stellte mich dar. Und ihre Schöpferin ist eine Freundin von mir. Sie kennen doch den Namen?«

»Ja.«

»Gräfin zu Rassentlow«, rief er, und seine Augen leuchteten.

»Ganz recht. Ihre Puppen sind ja berühmt.«

»Wissen Sie, wo sie sich aufhält? Wohnt sie in München?«

»Das ist mir nicht bekannt.«

»Aber Sie könnten es erfahren?«

»Ich weiß nicht. Aber ich könnte mich erkundigen.«

»– oder die Baroneß von Prielau-Carolath?«

»Die Baroneß ist tot.«

»Tot?!«

»Sie ist in Salzburg erschossen worden, bei einem Streit. Ihr Geliebter soll es getan haben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Es stand in den Zeitungen.«

»Tot –! Wie ist das nur möglich! Armes Hannele!«

Es entstand eine Pause.

»Ja, also –« sagte er, »wenn Sie sich nach der Wohnung der Komteß erkundigen wollen –? Ich komme wieder herein.«

An der Tür wandte er sich noch einmal um.

»Da fällt mir noch ein – hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, für welchen Preis die Puppe verkauft worden ist?«

Die Verkäuferin zögerte. Sie spürte geringe Neigung, aus der Schule des Geschäfts zu plaudern. Schließlich aber antwortete sie widerwillig:

»Für fünfhundert Mark.«

»Billig«, sagte er. »Guten Tag. Ich erkundige mich also noch einmal.«

 

10.

Dann stieß er auf eine neue Spur: im Unterhaltungsteil der ›Münchener Neuen Zeitung‹, unter den ›Nachrichten aus dem Kunstleben‹. Da stand: »Theodor Worpswedes neuestes Bild ist ein Still-Leben; es stellt eine ergötzliche Gruppe dar: eine Puppe, zwei Sonnenblumen in einem Glaskrug und ein ›verlorenes Ei‹ auf Röstbrot. Der Gegensatz zwischen den drei dargestellten Gegenständen ist höchst unterhaltsam und aufschlußreich, und Worpswede hat mit diesem Bilde vielleicht eines seiner bemerkenswertesten Werke geschaffen. Nebenbei bemerkt: Die Puppe ist eine Schöpfung unserer rührigen Komteß Hannele. Sie stellt einen englischen oder vielmehr schottischen Offizier dar, in den berühmten Tartanbeinkleidern, die beim großen Julius Cäsar und bei seinen Kohorten solchen Anstoß erregten, weil sie so prall um die Beine der rüstigen Gallier lagen. Wir sind natürlich über solche Zimperlichkeiten längst hinaus; vielmehr bewundern wir aufrichtig die hohen schöpferischen Gaben unserer verehrten Komteß. Die Puppe ist ein Meisterwerk, und sie hat ein zweites Meisterwerk ins Leben gerufen: Theodor Worpswedes ›Still-Leben‹. Hier sei vermerkt, daß ein Gerücht über eine Verlobung der Komteß zu Rassentlow zu uns gedrungen ist. Der Glückliche ist, sagt man, Herr Regierungsrat von Poldi aus Kaprun, der schönsten aller Tiroler Sommerfrischen – –«

 

11.

Der Hauptmann kaufte das ›Still-Leben‹. Dieses neue Auftauchen seines Abbildes in Gesellschaft eines verlorenen Eies und zweier Sonnenblumen war einigermaßen erschreckend. Infolgedessen packte er sein Bild in den Koffer und fuhr nach Kaprun in Österreich; wobei es zwei Gefechte zu bestehen gab: eines, um das verdammte Ding aus Deutschland heraus-, das zweite, um es nach Österreich hineinzubringen. Müde und wütend kam er in Salzburg an und war blind für alle landschaftlichen Schönheiten. Am nächsten Tage war er in Kaprun.

Vor dem Kriege war das einmal ein elegantes Modebad gewesen: ein herrlicher See mitten in den Alpen, an seinen Ufern eine alte Tiroler Stadt, ihr gegenüber grüne Wiesenhänge, fern und hoch über alledem ein Gletscher. Der Ort war noch immer überfüllt und noch immer elegant. Aber es war bei aller Eleganz eine Gesellschaft erledigter und verzweifelter Bankrottmacher, und die Läden waren fast leer.

Dem Hauptmann war ziemlich wirr zumute. Es stellte sich heraus, daß das Hotel voll von reichen Juden der unangenehmen Art war. Der Ort Kaprun war schön, aber das Leben war nicht schön.

 

12.

Der Herr Regierungsrat war kein Mann, der beim ersten Anblick bestach. Er ging auf die Fünfzig und war, wie so viele Männer aus seinem Stande und Lande, beleibt und ein bißchen salopp geworden. Auch trug er einen jener fürchterlichen langen und weiten Röcke, die sozusagen arme Verwandte des weltmännischen Gehrocks sind und die man wohl am besten als Familienröcke bezeichnen könnte. Der Herr Regierungsrat, vom Gewedel dieses Rockes im Gehen umwallt, sah auf den ersten Blick aus, als gehörte er zur unteren Schicht des Mittelstandes.

Das war aber eine Täuschung. Da er ein Beamter im zusammengebrochenen Österreich war, so war er natürlich Republikaner. Seinem Wesen nach aber war er Monarchist, ja Imperialist, wie jeder echte Österreicher. Und er war ein echter Österreicher: und als solcher viel feiner und geistiger, als er aussah. Hatte man sich erst einmal an ihn gewöhnt, an sein ziemlich fettes Gesicht mit der gutgeschnittenen Nase und dem ein wenig bitteren, gespitzten Mund, so fand man heraus, daß sein Kopf an die Büste eines spätrömischen Kaisers erinnerte. Und wer mit ihm umging, der bemerkte bald und sah es immer deutlicher, daß die sackartig gebauschte bürgerliche Hülle so etwas wie großspurige Erhabenheit barg. Dafür war der Herr Regierungsrat nicht verantwortlich zu machen. Es war etwas achtlos Hinwischendes und Nachlässiges in seinem Wesen: großartig, ein bißchen rechthaberisch und scheinbar ungezogen; in Wahrheit aber war es nichts weniger als schlechte Erziehung, sondern ein wenig Bitterkeit und ein gut Teil Gleichgültigkeit gegen seine Umwelt. Er sah auf den ersten Blick so gewöhnlich und emporkömmlingshaft aus. Dann aber mußte man sich klarmachen, daß er aus einem großen alten Kaiserreiche stammte, wo man in eine Art von Epikureertum geraten – und ein wenig bitter war. Es war nichts von Kleinheit, von Niedrigkeit der Gesinnung, von wirklicher Gewöhnlichkeit an ihm. Aber er war ein großer Redner vor dem Herrn, und gegen seine Zuhörer kannte er kein Erbarmen.

Diese Rednergabe war es, die Hannele anzog. Er begann, sobald das Essen auf den Tisch kam: und nach dem Essen nahm er Kanne und Weinglas mit hinaus auf den Balkon der Villa, über dem See, und redete weiter bis Mitternacht. Die Sommernacht war still und warm: der See lag tief und voll, und drüben glitzerten die Lichter des alten Städtchens. Die Luft schmeckte ein wenig, ein ganz klein wenig nach Schnee: das kam von den hohen Gletschergipfeln, die drüben, unsichtbar, in die Nacht ragten. Zuweilen fuhr ein Boot mit einer Laterne gitarrenschwirrend vorüber. Die Blüten der Klematis, deren Ranken von der Terrasse niederhingen, waren ganz schwarz, wie Blätter.

Es war so schön hier mitten im Herzen Tirols. Die Hotels funkelten von Licht: elektrisches Licht war ja noch immer billig. Reich und voll und schön war die Nacht. Und doch barg sie auf geheimnisvolle Art alle Schrecken der Zerstörung: es war, als winde die Kraft des Lebendigen sich in Qualen, als verrinne unablässig sein Blut.

Und unablässig und immerzu redete der Herr Regierungsrat, mit der ganzen witzigen Geläufigkeit des vielgewandten Österreichers. Er war wirklich sehr witzig, voll echter Menschlichkeit; und alles, was er sagte, hatte etwas von der Würze des bitteren Spottes, der an einen echten alten Römer aus der Kaiserzeit erinnerte. Diese mit flinker Gescheitheit gepaarte Unempfindlichkeit, dieses durchaus nicht gefühlsduselige Epikureertum, diese unbekümmerte Hoffnungslosigkeit bezauberten natürlich die Frauen. Und ganz besonders Hannele. Er redete und redete – von seiner Arbeit vor dem Kriege, als er eine maßgebliche Stellung hatte und zur herrschenden Schicht gehörte – dann vom Kriege – schließlich von der Hoffnungslosigkeit der Gegenwart: und in alledem war, so schien es ihr, ein Hochmut, eine auf Gleichgültigkeit beruhende Sorglosigkeit, eine Hoffnungslosigkeit, die sich selbst verlachte. Vom echten alten Österreichertum hatte Hannele sich von jeher bezaubern lassen. Von seiner Verkörperung in diesem witzigen, bitteren und gleichgültigen Herrn Regierungsrat war sie einfach hingerissen.

Infolgedessen wandte er sich in unbewußtem Spürsinn an sie, wenn er auf seine rasche, pausenlose Art redete – das heißt: eine Pause nur machte, um zu lachen und zu trinken und einen neuen Anlauf zu nehmen. Ihr gefiel der Klang seiner österreichischen Mundart: echt in ihrer Unbekümmertheit und ihrer witzigen Nichtachtung aller Regeln und Vorschriften. O nein, dachte sie, ›le grand geste‹ ist noch nicht tot; hier gibt es das noch.

Er wandte sich ihr mit einer Drehung seines breiten Oberkörpers zu, machte eine rasche Bewegung mit seiner fetten, wohlgeformten Hand, gab mit großer Geschwindigkeit eine neue gescheite und scheinbar herzlos erzählte romanhafte Geschichte von sich, spitzte die Lippen und leerte wieder einmal sein Glas. Dann betrachtete er seine halbvergessene Zigarre und begann von neuem.

Er hatte etwas beinahe Jungenhaftes und dem Augenblick Hingegebenes an sich: in der Art, wie er sich ihr zuwandte und sozusagen seine mächtige Brust vor ihr auftat. Und dann wiederum kam er ihr beinahe ewig vor, wie er da so in seinem Stuhl saß, mit gespreizten Knieen. Das sah aus, als würde er sich niemals wieder erheben, als würde er in alle Zukunft sitzen bleiben und reden. Man hätte meinen können, seine Beine wären nur zum Draufsitzen da: zum Stehen und Gehen hatte ihn die Natur nicht geschaffen.

Schließlich aber erhob er sich doch und küßte ihr die Hand mit der großen Gebärde, die sich der Franzose oder der Deutsche nie zu eigen machen konnte: erst diese Achtlosigkeit, diese tiefe Gleichgültigkeit gegen die Maßstäbe und Anschauungen Anderer – und nun plötzlich diese stille Hingegebenheit, mit der er sich neigte und ihr die Hand küßte. Natürlich kam sie sich wie eine Königin in der Verbannung vor.

Nun ist dies – nämlich sich wie eine Königin in der Verbannung vorkommen – vielleicht gefährlicher, als wenn man sich wie eine Königin ›in situ‹ fühlt. Sie verliebte sich in ihn, in diesen umfangreichen, schweren, saloppen Witwer von fünfzig Jahren, der zwei Kinder hatte. Geld dagegen hatte er nicht, nur ein bißchen österreichisches Geld, das jenseits der Grenzen wertlos war. Er konnte nicht einmal nach Deutschland fahren. Da saß er nun, festgeschmiedet in diesem Nest mitten in Tirol.

Dennoch hatte er, da er ein alter Römer aus der Niedergangszeit war, noch einen Ehrgeiz. Er hatte Jahr auf Jahr und in aller Stille den Stoff für eine sehr genaue und gründliche Geschichte seines Bezirks gesammelt: also des Chiemgaus und des Pinzgaus. Hannele merkte bald, daß er auf diesem Gebiet einen unerschöpflichen Schatz des Wissens besaß; und seine Gescheitheit war so erlesen und so menschlich, sein Gesichtskreis war so weit, daß sie etwas wie Ehrfurcht vor ihm empfand. Es war sein Wunsch, die Geschichte aufzuzeichnen. Und es war ihr Wunsch, ihm dabei zu helfen.

Denn er kam natürlich niemals dazu, sie zu schreiben. Er war Regierungsrat: das bedeutete, daß er der Orts- und Miniaturbeherrscher seines Städtchens und des unmittelbar drumherumliegenden Bezirks war. Das Amtshaus war ein großes altes Gebäude, angefüllt mit Massen von Papier; junge Damen auf hohen Absätzen flirteten darin mit jungen Herren, die Tirolerkleidung trugen und nackte Kniee hatten; zuweilen trennten sie sich, um in netter, anziehender Haltung ein paar Worte zu schreiben; dann flatterten sie wieder zueinander und widmeten sich ein Weilchen angenehmerer Unterhaltung. Das Verwaltungsgeschäft in diesem Bezirk wurde von einer ganz ungewöhnlich großen Zahl schöngebauter, hübscher junger Leute besorgt, die in einem Alter standen, wo der Mensch zu nichts als zu Liebesgeschichten taugt. Und der Herr Regierungsrat segelte in dem großen alten Raum aus und ein, die Schöße seines weiten Rockes umflatterten ihn wie Flügel, daß die Papiere auf den Tischen raschelten, und sein etwas weingerötetes Altrömergesicht lächelte, auf seine etwas bittere Art. Und wenn die Ungarn die Grenzen überschritten hätten oder in Wien die Cholera ausgebrochen wäre, hätte der Herr Regierungsrat natürlich zunächst einmal eine witzige Bemerkung darüber gemacht.

Wenn er auf den Beinen war, ging er mit behendem und lebhaftem Schritt; seine Rockschöße waren immer in flatternder Bewegung. So flatterte er durch die Stadt, grüßte alle paar Schritte Jemanden und grinste dazu und bewahrte dennoch eine gewisse hochmütige Zurückhaltung. O ja, es war ein gewisser witzgewürzter Hochmut in seiner Art, der ihm das Vertrauen der Leute verschaffte. Und er sprach die heimische Mundart so prachtvoll echt.

Hannele kam zu dem Ergebnis, daß sie ihn gern heiraten würde. Es würde ihr Freude machen, ihm nahe zu sein. Es würde ihr Freude machen, seine Geschichte aufzuzeichnen. Es würde ihr Freude machen, wenn er sie so behandelte, daß sie sich wie eine Königin in der Verbannung vorkam. Noch nie hatte ein Mann ihr so die Hand geküßt, wie er sie küßte, mit diesem plötzlichen andächtigen Verstummen und dieser seltsamen ritterlichen Hingabe – ja: Selbstaufgabe. Wie würde er sich an sie hingeben! – schrecklich – wundervoll – vielleicht ein bißchen schauerlich. Er hatte spät geheiratet, und seine Frau war nach siebenjähriger Ehe gestorben. Auch das begriff Hannele. Sterben muß man ja. Jeder zu seiner Zeit.

Es kam zur Verlobung. Aus einem Grunde, der ihr selbst nicht recht klar war, aber zögerte sie vor der Heirat. In Österreich sein: das hieß damals so viel wie auf einem Wrack sein, das nach kurzer Zeit sinken mußte. Und den Herrn Regierungsrat heiraten: das hieß so viel wie den zum Untergang verurteilten Kapitän des zum Untergang verurteilten Schiffes heiraten. Dieses Gefühl unabwendbaren Geschickes machte einen Teil der Verlockung aus.

Und doch zögerte sie. Die Sommerwochen gingen hin. Die Fremden fluteten herein und überschwemmten das Städtchen und verzehrten alles Eßbare wie die Heuschrecken. Das Papiergeld wurde nicht mehr gezählt, sondern nach Kilogramm gewogen. Die Bauern stapelten es in einer Ecke der Mehlkiste auf, und die Mäuse nagten Löcher hinein. Niemand wußte, woher die nächste Sendung Lebensmittel kommen sollte: aber sie kam eben; immer. Und der See wimmelte von Badenden. Als Hauptmann Hepburn ankam, betrachtete er voll Erstaunen die Scharen stämmiger, starker junger Burschen, die den ganzen Tag badeten, und all das prachtvolle blonde Fleisch männlichen und weiblichen Geschlechts. Kein Wunder, daß die alten Römer staunend vor den mächtigen Gliedern der blonden Riesen im wilden Germanien standen.

Ja, das Leben war nun einmal zur Besessenheit geworden. Die Hotels nahmen fünfzehnhundert Kronen für den Tag; die Frauen, alte wie junge, prunkten in Bauerntracht: geblümten Baumwollkleidern mit bunten kostbaren Seidenschürzen; die Männer trugen das Tirolerkostüm: nackte Kniee und kurze Jäckchen. Lederhose und blaue Leinenjacke mußten so alt wie nur irgend möglich sein, wenn der Mann als vorschriftsmäßig gekleidet gelten wollte. Ein Loch in der Sitzfläche erhöhte den Wert.

Alles war so ganz und gar aufs Körperliche gestimmt. Überall, in den Hotels und auf den Straßen, prachtvolle nackte Glieder und nackte Leiber, nackte weiße Frauenarme und nackte braune starke Männerkniee und -schenkel. Überall das Verlangen des Fleisches und die nie endende Qual des Fleisches. Selbst in den Bauern, die ihre Boote über den See trieben und im Stehen mit einem langsamen schweren Gondoliereschwung ihr geschwungenes Ruder handhabten, lebte diese nie endende Qual leiblichen Verlangens.

 

13.

Es wurde August, bis Alexander und Hannele einander begegneten. Sie kam unter einem Sonnenschirm aus Kattun daher, in einem blauen Baumwollkleid mit kleinen roten Rosen und einer rotseidenen Schürze: ohne Hut, mit weißen Strümpfen unterm kurzen Kleid. Nackt und weich schimmerten ihre Arme. Der Herr Regierungsrat ging an ihrer Seite, beleibt und behende, und belachte eine frischgeprägte witzige Bemerkung.

Alexander, im leichten Sommeranzug, den Panama auf dem Kopfe, kam gerade aus der Bank und schob zwanzigtausend Kronen in seine Brusttasche. Vom Amtsgericht her sah er sie auf sich zukommen, über den besonnten Platz, den Herrn Regierungsrat zur Seite. Sie lachte und bemerkte ihn nicht.

Sie bemerkte ihn erst, als er den Hut abnahm und sie grüßte. Da sah sie ihn – sah zuerst sein schwarzes, weiches, glänzendes Haar; und wurde blaß. Da tauchte nun dieser Kopf mit dem schwarzen weichen enganliegenden Haar vor ihr auf – und der blaue österreichische Sonnentag schrumpfte und verging vor ihren Augen.

»Guten Tag, Komteß! Ich hatte doch gehofft, Ihnen zu begegnen.«

Da hörte sie nun seine gedehnt und traurig klingende, ins Ungreifbare schweifende Stimme wieder – und preßte die Hand mit dem Sonnenschirmgriff an die Brust. Sie hatte sie vergessen – hatte diese seltsame, gedehnt klingende Stimme vergessen. Und nun erschien sie ihr wie ein Ton, der durch die Stille der Nacht klingt. Wie unbegreiflich ist das, dachte sie, daß plötzlich so vor unseren Augen die Welt bersten und uns ihren Kern aus Finsternis zeigen kann. Wäre er doch nicht gekommen, dachte sie.

Der Herr Regierungsrat, mit Alexander bekanntgemacht, war förmlich und kalt. Wo Alexander wohnte, wollte sie wissen. Und fügte, da sie nichts anderes zu sagen wußte, hinzu:

»Wollen Sie nicht zum Tee kommen?«

Sie wohnte in der Villa drüben, auf dem anderen Ufer.

Ja, er wollte zum Tee kommen.

Er kam. Er mietete ein Boot und ließ sich hinüberrudern. Es war nicht weit. Da stand die Villa mit ihren übereinanderliegenden braunen Balkonen; die leuchtenden roten und weißen Geranien prunkten überall, die Ranken der dunkelvioletten Klematis hingen von einer Ecke des Hauses nieder. Die großen Balkontüren waren sämtlich geöffnet: aber kein Mensch war zu sehen. In dem kleinen Garten am Wasser standen hoch und schlank die Rosenstämme, wie emporgezogen von den dunkelgrünen Bäumen im Hintergrund. Ein weißer Tisch mit Stühlen und Gartenbänken stand im Schatten eines großen Weidenbaumes, und dahinter baumelte eine Hängematte mit Kissen darin. Aber kein Mensch war zu erblicken. Ein kleiner Landungssteg führte zum Garten hinauf: und auch ein hübsches großes Bootshaus stand am Rande des Gartens.

Der Hauptmann wußte nicht recht, ob das Bootshaus zur Villa gehörte. Vom Wasser her kamen rufende und lachende Stimmen: dort schwammen Badende. Ein schlanker nackter junger Mensch mit einem roten Käppchen auf dem Kopfe und einem winzigen roten Lendentuch um die schmalen jungen Hüften stand auf den Stufen vor dem Bootshause und rief den drei Frauen zu, die in der Nähe des Ufers schwammen. Die Dunkelhaarige mit der weißen Kappe schwamm an die Stufen heran und packte den Jungen am Fußgelenk. Er schrie und lachte und wehrte sich und stieß sie mit dem Fuß vor die Brust.

»Nein, nein, Hardu!« rief sie, als er sie mit der Zehe piekte. »Hardu! Hardu! Hör auf!« – und sie fiel mit einem Platsch wieder ins Wasser. Der Junge lachte mit seiner tiefen Stimme, der man es anhörte, daß er eben erst den Stimmwechsel hinter sich hatte.

»Was macht er denn?« rief eine Stimme vom Wasser her. Ein dunkelhäutiges Mädchen schwamm rasch heran und blickte mit großen dunklen Augen belustigt herüber.

»Hardu! Jetzt hörst du aber auf! Schluß jetzt, ja?« Die Dunkelhaarige stieg hinauf in die Sonne, auf den farblosen rohen Holzstufen der Bootshaustreppe; das Wasser gleißte auf ihren sanftgeschwungenen Schenkeln und Lenden, über denen sich der dunkelblaue baumwollene Schwimmanzug spannte: indessen der Junge, mit ausgestrecktem Fuß, sie wieder ins Wasser zu stoßen versuchte. Aber sie kam trotzdem hinauf und setzte sich auf die besonnten Stufen, ein wenig schwer atmend. Sie sah anziehend aus mit ihrem reifen schöngewachsenen Körper und ihren hübschen kräftigen Frauenbeinen.

Im Garten tauchte ein Dienstmädchen auf, in schwarzem Kleid und weißer Schürze, ein Aufwartebrett in der Hand. »Kaffee, gnädige Frau!«

Ganz deutlich klang die Stimme über das Wasser.

»Hannele! Hannele! Kaffee!« rief die Dunkelhaarige auf den Stufen.

»Tante Hannele! Kaffee!« rief das dunkeläugige Mädchen, den Kopf zurückgewandt, und schwamm dann dem Ufer zu.

»Kaffee! Kaffee!« brüllte der Junge in begeisterter Erwartung.

Das dunkeläugige Mädchen, das ein buntes Seidentuch ums Haar geschlungen trug, hatte die Stufen erreicht und kletterte heraus, ein schlanker junger Fisch in ihrem prallsitzenden schwarzen Badeanzug. Nun standen die Drei beisammen auf den Stufen, und die Frau hatte einen Arm um die nackten Schultern des Jungen, den anderen um die Schultern des Mädchens gelegt. Und alle Drei sangen im Chor:

»Hannele! Hannele! Hannele! Wir warten auf dich!«

Der Bootsvermieter ließ das Ruder ruhen, und das Boot trieb langsam zum Ufer. Die Familie verstummte, als sie den Eindringling gewahrte. Die ältere der Frauen wandte sich und nahm ihren Bademantel auf: er hatte ein mittleres Blau, das ihr gut stand. Sie legte ihn um die Schultern, mit einem Schwung, als wäre es ein Abendmantel. Der Junge starrte neugierig auf das Boot hinab.

Der Hauptmann beobachtete Hannele, die herangeschwommen kam. Sie hatte ein weißes Tuch um ihr bräunliches seidiges Haar geschlungen. Er sah ihre weißen Schultern und das flimmernde Aufleuchten ihrer Beine im klaren Wasser. Rings um das Boot sprangen plötzlich Fische auf. Die Drei auf den Stufen standen schweigend und sahen dem Boot mit dem Eindringling verärgert entgegen. Der Bootsführer hatte den Kopf nach ihnen umgewandt und betrachtete sie. Der Hauptmann dagegen, der ihnen zugewandt saß, betrachtete Hannele. Sie schwamm langsam und mühelos heran, faßte das Geländer der Treppe, beugte sich vor und stieg langsam aus dem Wasser. Ihre Beine waren stark und leuchteten weiß und waren ein erlesener Anblick: die üppigen weißen blaugeäderten Schenkel und die schöne Fülle der sanftgeschwungenen Lenden.

»Ah! Schön! Schön wars! Herrlich ist das Wasser!«

Alexander hörte ihre Stimme: es klang wie halber Singsang, da sie Atem schöpfte.

»Heiß«, sagte die Frau droben auf der Treppe. »Zu warm.« Der Junge trat zur Seite, um Hannele vorbeizulassen. Als sie droben stand, reckte sie sich, sah in die Runde, atmete ein wenig schwer und griff nach dem Knoten des Tuches, das sie um den Hals geschlungen hatte. Prachtvoll und leuchtend weiß waren ihre Beine.

»Guck mal die Leut da drüben«, sagte die Frau in dem blauen Bademantel leise.

»Ja«, sagte Hannele gleichgültig. Dann sah sie hinüber. Sie machte eine Bewegung, als erschrecke sie, sah um sich, als wollte sie davonlaufen; sah zum zweitenmal hinüber und traf den Blick des Hauptmanns. Hepburn nahm den Hut ab.

Sie rief laut und im Ton der Bestürzung:

»Oh, aber – ich dachte, es wäre erst morgen –?«

»Nein – heute«, tönte die ruhige Stimme des Hauptmanns über das Wasser.

»Heute?! Wissen Sie das bestimmt?« rief sie zum Boot hinüber.

»Ganz bestimmt. Aber wir könnens ja auf morgen verschieben, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte er.

»Heute –? Heute –?« wiederholte sie verwirrt. »Nein! Warten Sie eine Minute.« Und sie rannte ins Bootshaus.

»Wer ist das?« fragte die Dunkelhaarige, die Hannele gefolgt war.

»Besuch für mich – ein Freund – Hauptmann Hepburn«, tönte Hanneles Stimme.

Der Bootsmann ruderte langsam zum Landungssteg. Die Dunkelhaarige, die ihren blauen Bademantel wie einen Abendumhang trug, schritt stolz und unbeteiligt durch den Garten und die Stufen zum ersten Balkon hinan. Hannele, in einen alten gelben Bademantel gehüllt, an den Füßen lose Pantoffeln, die bei jedem Schritt klapperten, kam zum Landungssteg und schüttelte dem Hauptmann die Hand.

»Seien Sie mir nicht böse. Es war so dumm von mir. Ich war überzeugt, es wäre erst morgen«, sagte sie.

»Nein, wir hatten für heute verabredet. Aber Ihretwegen wärs mir allerdings lieber. Sie hätten recht«, antwortete er.

»Nein, nein. Es macht ja nichts. Sie nehmens nicht übel, wenn ich Sie eine Minute warten lasse, nein? Und, bitte – seien Sie mir nicht böse, weil ich mich so dumm benommen habe.«

Und sie ging zum Hause; die absatzlosen Pantoffeln schlugen klappend an ihre bloßen Hacken. Dann schlich sich das großäugige dunkelhäutige Mädchen ins Haus; und dann ging auch der nackte Junge: der aber ging kaltblütig und gelassen. Es mußte einmal ein schöngebauter, hübscher Mann aus ihm werden; und er wußte das.

 

14.

Hepburn und Hannele wollten einen kleinen Ausflug zu dem Gletscher machen, zu dem man vom Tale aus tagein, tagaus emporblickte: kalt und höhnisch ragte er zum Himmel. Es war sehr heiß gewesen; nun aber bedeckte lockeres Gewölk den Himmel. Der Hauptmann kam schon bald nach der Morgendämmerung über den See gerudert. Hannele stieg zu ihm in das kleine Boot, und sie ruderten zum Städtchen zurück. Ein Wind kam auf und kräuselte das Wasser, so daß das Boot schwankte und gluckste. Der Gletscher, sichtbar in einem Durchblick durch die gedrängten Berge, sah kalt und böse aus. Hold aber war das Morgenlicht im Himmelsraum, und der Wind, der von den Talwiesen am oberen Ende des Sees herüberwehte, duftete sehr süß vom zweiten Grasschnitt. Über dem Tal stand nacktes graues Felsgestein wie eine Wand aus Bergen: kahler Felsen mit kaum sichtbaren dünnen Schneestreifen. Gestern hatte es auf dem See geregnet. Bald mußte die Sonne hinter dem Breitensteinhorn hervorkommen; der Himmel mit seinen Wolken, die im blauen Licht und gelben Glanz dahinschwammen, war nun wieder lieblich und heiter. Aus dem Pinzgautal aber schienen dunkle Wolken heraufzuquellen. Und jenseits des Sees, wo das Wasser nicht mehr den Morgenhimmel widerspiegelte, lag alles im Schatten.

Es war ein Festtag, ein Feiertag. Schon zu dieser frühen Stunde badeten drei junge Leute aus den Bergen im See; sie schwammen nahe den Stufen der Badeanstalt. Hübsche, körperlich tüchtige Burschen mit starken Gliedern; wirbelnd und schwenkend schwammen sie im morgenkühlen Wasser. Und sie hatten offenbar ihre Freude daran. Hepburn aber hatte immer das Gefühl, als reckten sich schwarze Schwingen über den Himmel und überschatteten die Berge wie ein Verhängnis. Und auch diese drei jungen frischen nackten Menschen schwammen und wirbelten sich im Schatten des Schicksals.

Hepburns Boot war das erste Schiff, das unterwegs war. Er machte vor dem Bootshause des Hotels fest, und die Beiden gingen ins Städtchen. Es lag noch in tiefem Schatten, obwohl das Licht des Himmels, der mit Schäferwolken bedeckt war, hell darüber glänzte. Aber dunkel und frostig und schwer lag der Schatten in der schwarzweißen Stadt, wie geronnenes Dunkel.

Alle Läden waren noch geschlossen, aber Bauern aus dem Bergland schlenderten schon in ihren Festtagskleidern durch die Straßen; die Männer in ihren kurzen Lederhosen, die wie Fußballhosen aussahen, mit nackten braunen Knieen und schweren Schuhen; ihre kurzen grauen Jacken hatten grüne Aufschläge, und auf ihren grünen Hüten prangte der Gamsbart. Aber sie irrten umher wie verlorene Seelen; und mochte auch der stolze Gamsbart auf ihren Hüten, der stolze, hahnenhafte, auftrotzen wie der aufragende Schwanz eines Bergbocks – er wurde Lügen gestraft durch den Ausdruck dieser Männer, die, Hände in den Hosentaschen, ziellos durch die Straßen schlenderten: sie sahen wie verlorene Seelen aus. Auch ein paar Frauen waren darunter: Bauersfrauen, mit ihren wunderlichen schwarzen Hütchen, die dickes Gold unter der Krempe hatten; aus einer Einbuchtung am hinteren Rand wallten lange schwarze Bänder nieder, lange schwarze Wasserwellenbänder, die bis zum Rocksaum niederflatterten. Diese Frauen in ihren dicken schwarzen Kleidern mit den enganliegenden Miedern, den schweren, weiten, stoffreichen Röcken und den hellen oder dunklen Schürzen, schritten einher mit dem schweren Schritt der Gebirglerinnen, einem schweren, raschen Gang mit vorgeneigtem Körper. Sie warteten auf den Tagesbeginn im Städtchen.

Alexander trug einen Rucksack mit den Vorräten für den Tag. Aber es fehlte ihnen noch an Brot. Sie fanden den Bäckerladen offen und bekamen einen Laib Brot: einen langen, noch heißen Laib reinen, weißen, schönen, süßen Brotes. Er kostete siebzig Kronen. Für Hepburn blieb es immer ein Geheimnis, woher das köstliche Brot kam in diesem verlorenen Lande.

Auf dem kleinen Platz bei der Uhr standen Menschengruppen; dort hielten ein großer Autobus und ein zweiter Kraftwagen, der etwa acht Fahrgäste fassen mochte. Hepburn hatte seine siebenhundert Kronen für die beiden Fahrkarten bereits bezahlt. Hannele band sich einen Schleier um den Kopf und zog ihren dicken Mantel an. Sie und Hepburn setzten sich vorn zu dem kränklich aussehenden Fahrer. Um sieben Uhr fuhr der Wagen ab und sauste zur Stadt hinaus, vorüber an dem hübschen alten schwarzweißen Tiroler Schloß mit den schmucken schwarzen Spitztürmchen, vorüber am Bahnhof, unter den Bäumen am Ufer dahin. Die Straße war nicht gut, aber der Wagen fuhr sehr rasch, vorüber am schilfbewachsenen Ende des Sees, hinein in den offenen Schlund des Tales, dort, wo das Gebirge sich in zwei Schluchten auftat. Es war kalt im Wagen. Hepburn knöpfte seinen Rock bis an den Hals zu und zog den Hut über die Ohren. Hanneles Schleier flatterte. Sie saß stumm, steil aufgerichtet, und sah geradeaus; ihr Gesicht war schön und kühn. Aus dem tiefen Pinzgautal kam rauschend und rasend der Fluß, ein Gletscherstrom mit blassem siedendem Eiswasser. Hinüber sauste der Wagen, über die Holzbrücke, auf die riesigen Berghänge des anderen Ufers zu. Dann, plötzlich, kam eine gewaltige Biegung, ein jähes Ausweichen vor dem Berghang – und wieder ein fliegendes Vorwärtsschießen, unter den Birnbäumen der Landstraße, vorüber an der mächtigen alten Schloßruine, die so stolz den Taleingang und den schäumenden Fluß bewachte; in rascher Fahrt dahin durch ein Dorf, unter den hohen Dächern der balkongezierten Bauernhäuser; dann, wieder im Bogen, in eine andere Talmündung: da stand, dichtgedrängt auf einer Anhöhe, ein Dörfchen, ganz in Schwarz und Weiß; die weiße Kirche hatte einen schwarzen Glockenturm, das weiße Schloß hatte schwarze Türmchen. Geräumig waren die schwarzweißen Tiroler Häuser. Sie haben etwas Großzügiges, diese Bauernhäuser mit ihren großen offenen Vorhallen, in denen die Schwalben nisten und in denen man ein ganzes englisches Landhaus unterbringen könnte.

So sauste nun der Wagen in dieses neue enge, wildere und düsterere Tal hinein. Ein Trupp fast wilder junger Pferde, hübscher rötlichbrauner Tiere, stob jäh vor dem Wagen auseinander, und eine große trächtige Stute galoppierte hufklappernd vor dem Wagen her, indessen ihr Fohlen laut und kläglich hinter ihr her wieherte. Aber nein, sie konnte nicht von der Straße loskommen. Dröhnend, mit blitzenden Hufen, mühsam, galoppierte sie immer vor dem Wagen her. Schließlich aber bog sie doch vom Wege ab, unter den kümmerlichen Erlen am schroffen Flußufer.

»Wanns ka Rind is, is es a Roß«, sagte der Fahrer. Er war dünn und wortkarg und hatte ein Wieselgesicht. Über die Ohren hatte er sich Schutzkappen gezogen.

Die große Stute aber hatte sich in wilder Schwenkung herumgeworfen und galoppierte mit trompetendem Gewieher zu ihrem Fohlen zurück. Hannele hatte Angst ausgestanden.

Der Wagen sauste dahin, inmitten von Rieselwiesen, auf einer Strecke kahler weißer Gebirgsstraße. Vor ihnen hob sich dunkel ein mit Föhren bewachsener Berghang. Zur Rechten rauschte im steinigen Bett der wütende löwenmähnige Fluß, dessen Wasser hier gelbbraun war; auf dem anderen Ufer hob sich der Hang. Die Straße aber schwang sich für den Augenblick ziemlich eben durch die Rieselwiesen des rauhen Tales. Der Wagen mußte durch Gittertore, und Hepburn, als wäre er dafür angestellt, sprang ab, um sie zu öffnen. Die dicken Juden von der unangenehmen Sorte, die hinten im Wagen saßen, rührten sich natürlich nicht.

Vor einem Hause auf einer kleinen Anhöhe ließ der Fahrer die Hupe dröhnen, und sogleich kamen Kinder herausgerannt und schrieen: »Papa! Papa!« Ihnen folgte eine Frau mit einem Korb. Der Mann mit dem Wieselgesicht lächelte seinen Kindern zu; seine blauen Augen blickten warm und männlich. Ein paar kurze Worte – dann sprang der Wagen wieder vorwärts. Das ganze Wesen des Mannes hatte sich verwandelt, als er seine Familie sah. Als Hepburn ihm die Gittertore geöffnet hatte, brachte er nicht einmal einen Dank über die Lippen. Er haßte, ja verachtete seine Menschenfracht aus Bürgersleuten. Tief, tief sitzt der Klassenhaß, und er saugt alles menschliche Gefühl in seinen Abgrund hinab. So saß der kleine Fahrer am Steuer, die Schutzklappen über den Ohren, die dünne Nase von Kälte gerötet: steif, stumm, mager, geschickt – und ohne sich um seine Fahrgäste zu kümmern.

Mit plötzlicher Schwenkung bog der Wagen unter die Bäume ein: nun ging es in den Hohlweg. Der Fluß brüllte in der Tiefe einer Schlucht. Fichten ragten mit starrenden Zweigen. Die Luft war schwarz und kalt und auf ewig sonnenlos. In dieser Finsternis sauste der Wagen dahin, unter den Felswänden und den Fichten.

Plötzlich aber bremste der Fahrer. Vor ihnen war ein mächtiger Autobus, gelbbraun und riesenhaft. Bergsteiger und Ausflügler, die gestern abend hinaufgefahren waren, kamen vom Gletscher zurück. Der große Wagen stand wie ein mächtiger Felsen. Und der kleinere Wagen drängte sich knapp daran vorüber, schräggeneigt, mit zwei Rädern in der Rinne unter der Felswand.

So fuhren sie eine Weile durch dieses Tal des Todesschattens, das in schroffen Windungen aufwärts führte; der Wagen kletterte prachtvoll und erkämpfte sich an Bäumen und Felsen vorüber den Weg nach oben; und schließlich waren sie am Ziel. Da stand ein großes Gasthaus oder Ausflüglerhotel aus braunem Holz: und hier endete die Straße in einem kleinen runden Wendeplatz, der von Bäumen umgeben und überhangen war. Drüben stand eine Kraftwagenhalle, und eine Brücke führte über den rauschenden Fluß. Und jäh und eng über allem waren die Bäume mit ihren tiefhängenden Zweigen und die unerträglich steilen Hänge. Hannele ließ ihren dicken Mantel zurück. Über den düsteren Schatten dieses Tales leuchtete blau der Himmel. Sie gingen auf der Holzbrücke mit den hohldröhnenden Planken über das nie endende tolle Gebrause des Eiswassers; und sogleich stieg, unter dunklen Bäumen, der Weg bergan. Aber ein kleiner alter Mann, der in einer Art von Schilderhaus stand, wollte fünfzig oder sechzig Kronen haben: offenbar eine Art von Wegzoll für die Unterhaltung der Straße.

Auch die anderen Ausflügler kamen heran; etliche blieben zurück, um erst einmal etwas zu trinken. Der zweite Autobus war noch nicht da. Hannele und Hepburn waren die Ersten, die langsam den dunklen Pfad unter den Bäumen zu ersteigen begannen. Die Gräser, die an der Felswand hingen, waren noch taufeucht. Es gab ein paar wilde Himbeeren, einen kleinen Heidelbeerbusch, an dem da und dort die dunklen Beeren saßen, und ein paar Büsche mit unreifen Kronsbeeren. Die vielen Hunderte von Bergsteigern, die im Auf- und Absteigen hier vorüberkamen, ließen nicht viel zum Pflücken übrig. Ein paar kleine Gebirgsglockenblumen, wie Glocken aus blauem Wasser, hingen kalt glänzend im Schatten. Da und dort stand einsam, blaßblau, steif und starr, mit senkrecht geneigtem Kelch, die bärtige Glockenblume; zuweilen sah man auch eine große, feuchte, müde geneigte Gänseblume.

Langsam klommen die Beiden auf dem steilen Rand einer Straße empor. Das Tal war nichts weiter als ein Felsenriß, unmittelbar in den harten lebendigen Felsen eingespalten; schwarze Bäume wuchsen wie Haar auf diesem versteckten und nackten Erdenfleck. Auf dem Grunde des keilförmigen Spalts toste in alle Ewigkeit das wilde unersättliche Wasser. Der Himmel drang von oben herein wie ein scharfer Keil, der sich seinen Weg in die Erdspalte erzwang, und das ewig rauschende wilde Wasser war wie die scharfe Kante des Keils, eine furchtbare stählerne Schneide, die sich in den dichten Felsen biß. Wer hätte glauben mögen, daß das sanfte Licht im Himmelsraum, daß der lockere Schaum des Wassers sich so in die dunkle, feste Erde drängen und sie durchdringen konnte? Und doch war es so. Hannele und Hepburn, mühsam emporklimmend auf der steilen schmalen Kante einer Straße, die halb in den Abgrund hinabstieg, blickten von Zeit zu Zeit zurück, hinab auf die braunen Stämme und die Schindeldächer des Hotels, die nun, aus der Höhe, feucht und gedrängt aussahen wie Uferkiesel. Und dann auf die nächsten Bergsteiger, die hinter ihnen emporklommen. Schließlich hinab auf das Wasser, das wie ein beutegieriges Raubtier dahinraste. Dann aber, als sie höher kamen, blickten sie auch empor, auf die fahlen mächtigen Felshänge: fahles nacktes Felsgestein, das sich von der Himmelskante in furchtbarem steilem Schwung niederwarf.

Im tiefsten Herzen haßte Hepburn das alles. Er haßte es, er verabscheute es, es erschien ihm beinahe häßlich und widerwärtig: diese fahle nackte Gleitbahn aus Felsgestein, unvorstellbar mächtig und massig, die in diesen Abgrund niederglitt, wo Büsche im Finstern wuchsen wie Haar und Wasser toste. Hoch droben lag in schmalen Streifen Schnee.

Langsam kletterten die Beiden weiter auf dem ewigen Abhang des Tals, in schwitzender Mühsal. Zuweilen schien die Sonne, die nun hoch emporgestiegen war, voll auf die Talwand, auf der sie gingen. Auch von droben kamen einzelne Bergsteiger, zwei Mädchen mit nackten Armen und bloßen Köpfen, mächtige Schuhe an den Füßen; Männer mit großen Rucksäcken, Edelweiß am Hut. Sie grüßten mit ›Bergheil!‹ Der Hauptmann aber sagte ›Guten Tag‹. Er lehnte es ab, den ›Bergheil‹-Rummel mitzumachen. Daß in diesen scheußlichen Bergen die Leute auch noch in Schwärmen umherzogen, verursachte ihm beinahe Übelkeit.

Auch waren er und Hannele einander keine gute Gesellschaft. Es herrschte etwas wie stumme Feindseligkeit zwischen ihnen. Sie haßte die Anstrengung des Kletterns; aber die Luft der Höhe, gesättigt von Kälte, das wilde Katergeheul des lärmenden Wassers, diese fürchterlichen massigen Felsflanken – all das erfüllte sie mit einer fremden und wilden Erregung. Er dagegen, dunkel, schlank und katzenhaft, von einer Anmut, die an die Geschmeidigkeit der sammetpfotigen Tiere gemahnte, haßte dieses mühsame Erklettern des Felsens, haßte das Gebrause des Wassers; es verursachte ihm Beklemmungen, und die Luft der Höhe biß ihn in die Brust wie eine Natter.

»Wundervoll! Wundervoll!« rief sie, und ihre prachtvolle Brust hob sich in tiefen Atemzügen.

»Ja. Und gräßlich. Abscheulich«, sagte er.

Sie wandte sich ihm zu, ein Aufflammen im Gesicht; ihre Stimme hatte den hohen schneidenden Klang der Bergluft. »Wenn du es so abscheulich findest – warum bist du dann bloß gekommen?« fragte sie mit deutlichem Spott.

»Ich mußte den Versuch machen«, sagte er.

»Und wenn du es so abscheulich findest – warum mußt du es dann auch mir verleiden?« fragte sie.

»Ich hasse es«, antwortete er.

Sie kamen nun allmählich aus dem Tal in helleres Licht, auf freieren Weg, in helle Sonne. Das in den Felsen gespaltene Tal versank unter ihnen. Vor ihnen war immer nur der kahle mächtige Hang aus nacktem Felsgestein, der sich geradenwegs aus dem Himmel niederwarf. Dann, an einer Wegbiegung, sahen sie tief drunten den See, fern und klein, sahen die Mauer der anderen Felsen wie eine Kulisse aus Stein, fernhin verdämmernd zum Horizont. Am Himmel mischte sich Wolkengerinnsel mit durchsonnter Bläue.

»Wundervoll, wundervoll ist es hier oben«, sagte sie und atmete in tiefen Zügen.

»Ja«, sagte er. »Es ist wundervoll. Aber auch höchst abscheulich. Ich fühle mich am wohlsten in der Nähe des Meeresspiegels. Ich habe keinen Kraxlerehrgeiz.«

»Offenbar nicht«, sagte sie.

»Bergheil!« rief ein Jüngling mit nackten Armen, nackter Brust und bloßem Kopf; er trug schreckenerregende Nagelschuhe, einen Rucksack und einen Bergstock, und Wind und Sonne der Berge hatten seine Haut bronzebraun gefärbt und sein Haar ein wenig gebleicht. Hepburn besah seinen großen schweren Rucksack, seine in Falten niedergerutschten Strümpfe, seine gräßlichen Nagelschuhe – und fand ihn ekelhaft.

»Guten Tag«, antwortete er kalt.

»Grüß Gott«, sagte Hannele.

Und der junge Tannhäuser, der junge Siegfried, der junge Balder in seiner Schönheit schritt mit festen Tritten die Felsen hinab zu Tal und schwang seinen Bergstock. Und unmittelbar hinter ihm kam ein Mädchen, das Haar im Winde flatternd, die Hemdbluse offen, in Kordbeinkleidern, faltigen Wollstrümpfen und schweren Schuhen, mit Rucksack und Bergstock. Sie ging ohne Gruß vorüber. Alexander und Hannele blieben in ärgerlichem Schweigen stehen und sahen ihr nach, wie sie zu Tal ging.

 

15.

Ja, und schließlich endet ja alles einmal, auch die längste Kletterpartie. So kamen auch Hepburn und Hannele nach vielem Schweißvergießen und vieler Mühsal und vieler Mißgelauntheit endlich auf die rundgeschwungene Felsenhöhe, wo sich die Straße der abscheulichen großen Felsspalte entwand und in höhere Bezirke gelangte. Sie entrannen dem Reich der Bäume, mit dem Gefühl, als ob es etwas Fürchterliches gewesen wäre, und kamen auf eine ebenere Höhe: eine große, kahle Hochfläche mit Stein und Gras.

»Gott sei Dank!« sagte Hannele.

Und sie stapften mühsam um das Felsenrund und hatten den Anblick vor sich, der immer wieder, immer wieder wundervoll ist: vor ihnen lag eines der flachen Hochlandstäler, in denen die Quellen der Ströme schäumend sich sammeln. Ein flach sich dehnendes, untiefes, ganz und gar ödes Tal, weit und offen unterm Himmel wie eine riesige Schale, mit Felshängen und grauen Steinschrägen und Abgründen überall in der Runde, mit dem Gezack von Schneestreifen und Eiszungen, niederreichend aus der Höhe, mit Flüssen, Strömen und abermals Flüssen, die von den Eiszungen und spitzen Schneestreifen niederstürzen: Gewässern, die im rasenden Rausch der neugewonnenen Freiheit sich zu Tal werfen, in Wasserfällen und Kaskaden und dünnen Schnüren, hinab in das weite flache Bett des Tales, das mit zahllosen Felsen und Steinen übersät ist; und nirgends sieht das Auge einen Baum, nirgends einen Strauch. Aber es sieht natürlich zwei Hotels – oder wenigstens Gasthäuser. Hier oben aber sind es nur noch niedrige, flachgestreckte, ländlich anmutende Gebäude, inmitten der Steine verloren, mit Steinen auf dem Dache, so daß sie aussehen wie natürliche Bestandteile des Tales. Da lag das Tal, übersät mit Felsblöcken und herabgerollten Steinen, durchwoben von unzählbaren Rinnsalen junger Gewässer; die Straße, hier nur noch ein schmaler Pfad, wand sich durchs öde flache Hochlandtal, erst am einen Hause vorüber, dann am anderen, über den einen Wasserlauf, dann über den anderen, bis hin zu der Felswand, über die der Gletscher herabreichte wie eine riesige ausgestreckte Zunge.

»Es ist doch wundervoll!« sagte Hepburn wie im Selbstgespräch.

Sie warf einen raschen Blick auf sein Gesicht und erfaßte den seltsamen, rätselhaften, undeutbaren Ausdruck, mit dem er in die Ferne sah. Seine Augen waren schwarz und reglos, als wollte er den Tatsachen, die sich hier oben dem Blick darboten, auf ewig ins Antlitz sehen.

Triumph durchschauerte sie: Er war überwältigt.

»Es ist wundervoll«, sagte sie.

»Wundervoll. Und in alle Ewigkeit wundervoll«, wiederholte er.

»Oh, und im Winter – –« rief sie.

Sein Ausdruck wandelte sich, und er sah sie an.

»Im Winter kann man hier nicht heraufkommen«, sagte er. Sie gingen weiter. Auf den Hängen weidete Vieh: das vereinsamte Tong-tong-tong der Kuhglocken war wie langsam tönender Niederfall klingenden Eises auf die reglos stehende Luft. Der Klang weckte in Hepburn immer eine aus Urzeiten stammende, beinahe hoffnungslose Schwermut. Jedesmal tat ihm das Herz in der Brust weh. Er sah in die Runde. Hier oben gab es weder Baum noch Busch, nur große graue Felsen und fahles Geröll, überall verstreut, wo Bäume und Büsche hätten sein sollen. Doch nein: da wuchsen auf einer Seite des Felsens wie ein dichter dunkler Bart die Alpenrosenbüsche.

»Im Mai«, sagte er, »muß hier oben alles ein blaßrotes Meer von Alpenrosen sein.«

»Dann muß ich heraufkommen. Dann muß ich heraufkommen!« rief sie.

Bergsteiger waren da und dort auf der Straße: und zwei winzige, niedrige Karren mit seidigen langohrigen Maultieren davor. Die Karren fuhren geradenwegs hinab ins Tal, zum Endpunkt der Kraftwagen, um Vorräte für das Gletscherhotel zu holen: denn es stand noch ein zweites großes Hotel droben am Gletscher. Hepburn fühlte sich glücklich in diesem Hochlandstal, diesem Mischbecken, dieser Wiege junger Gewässer. Schön ist das, dachte er, wie diese mächtigen Fangzähne und Peitschenschnüre aus Eis und Schnee sich in den Felsen gegraben haben, als hätte sich das Eis in das Fleisch der Erde eingefressen. Schön ist das, wie aus den Spitzen dieser Klauen und Zähne das Wasser hervorbricht, mit rauhtönendem Geburtsschrei, um sich ins Tal zu stürzen.

An der rasigen Straße und unter den Felsen wuchsen viele Blumen: wundervolle Glockenblumen von der rundblättrigen Art, groß und kalt und dunkel, beinahe schwarz: sie sahen aus wie purpurdunkles Eis; kleine Büsche winziger blaßblauer Glockenblumen: das war, als hätte ein Märchenfrosch Schaumblasen aus dem Eise hervorgeprustet; daneben, geformt wie ein Bischofsstab, die größere, starre bärtige Glockenblume; weiter, in vielen blaßlavendelfarbenen, mit Erdfarbe gesprenkelten Sternen, Enzian; und endlich Eisenhut, gelber, primelgelber Eisenhut – und dann, plötzlich, üppig wachsender dunkler Eisenhut. Die dunkelblaue, die schwarzblaue, die furchtbare Farbe des seltsamen üppig wachsenden Eisenhuts zog Hepburns Blick immer wieder an. Wie kommt, dachte er, das Eis zu diesem prunkvollen tiefen dunklen leuchtenden Purpurblau? – zu diesem königlichen Gift? – zu der tückischen Pracht dieser zahllosen Blüten?

 

16.

An einem der laut rauschenden Gewässer, unter einem Felsen in der Sonne, wo es nach Minze oder Thymian duftete, ließen sie sich zum Frühstück nieder. Es war etwa elf Uhr. Eine winzige Biene kam zu den duftenden Blüten und flog hinüber zum blühenden Augentrost. Das Wasser rauschte mit all der Lust und Gier seiner jungen Freiheit über die Steine. Hepburn schöpfte einen Becher voll für Hannele, helles, eiskaltes Wasser, und sie mischte es mit dem roten Ungarwein.

Auf der Straße wanderten da und dort die Bergsteiger wie Pilger; drüben, am geschlossenen Ende des Tales, erkletterten sie, winzig, die in den Stein gehauene Straße, die bergan führte. Nur weil sie sich bewegten, konnte man sie überhaupt wahrnehmen. Am Tale selbst aber sahen sie aus wie dahinrollende kleine Steine. Ein wunderlicher Zug kam vorüber: zuerst eine Frau in mittleren Jahren, die ein Sommerkleid aus Halbtuch trug, und ein hochgewachsener, hochmütig aussehender Mann in Kniehosen; dann ein hübsches, zierliches Maultier, das ein sehr komisches kleines Gefährt zog: einen Stuhl, so etwas Ähnliches wie einen runden Bürosessel, der mit rotem Samt gepolstert und auf zwei Räder gesetzt war. Der rote Samt des alten Sessels hatte goldene und gelbrote und Fruchtsafttöne angenommen: das war wirklich sehr hübsch. Der Maultiertreiber, ein schäbig aussehender kleiner Kerl, watschelte aufgeregt nebenher.

»Oh, sieh mal!« rief Hannele. »Sieht das nicht beinahe aus wie aus Vorkriegszeit? – beinahe so friedlich.«

»Wenn man davon absieht, daß der Stuhl zu schäbig ist, und daß sie sich alle wer weiß wie besonders vorkommen«, gab er zurück.

Droben in diesem Hochlandstal kam kein Gefühl des Friedens auf. Das Rauschen des Wassers klang wie Waffengeklirr, und die Bergsteiger waren, schien es, alle auf einer leidenschaftlichen und hastigen Jagd: nach Glück, nach Erschütterung. Es war ein Anblick, der das Herz bedrückte.

Die Beiden saßen unter dem Felsen, bald im Schatten, bald in der Sonne; der Duft der Bergblumen erfüllte die schneebittere Luft; sie aßen Eier und Wurst und Käse und tranken den hellroten Ungarwein. Es war eine liebliche Stunde: beinahe wie vor dem Kriege; man hatte beinahe wie damals das Gefühl, als wäre ein Feiertag, der kein Ende nahm: als wäre die Welt für einen nie endenden Feiertag der Menschen geschaffen. Beinahe – aber nicht ganz. Und niemals wieder wird es ganz so sein. Die Welt ist nicht für einen nie endenden Feiertag der Menschen geschaffen.

Als Alexander das Brot wieder in den Rucksack tat, rief er: »Oh, sieh mal!«

Sie blickte hinüber: er zog einen flachen, in Papier gewickelten Gegenstand aus dem Rucksack: anscheinend ein Bild.

»Ein Bild –?« fragte sie.

Er packte das Ding aus und reichte es ihr. Es war Theodor Worpswedes Still-Leben: nicht sehr groß, auf Holz gemalt. Hannele sah es an und wurde blaß.

»Aber das ist ja gut –!« rief sie mit etwas schwankender Stimme.

»Ausgezeichnet«, bestätigte er.

»Besonders das verlorene Ei«, sagte sie.

»Ja. Man könnte beinahe sagen: das verlorene Ei lebt.«

»– aber wo hast du denn das aufgetrieben?«

»Oh, im Atelier des Künstlers.« Und er erzählte ihr, wie er auf die Spur des Bildes gekommen war.

»Eine merkwürdige Geschichte!« sagte sie. »Aber warum hast du es gekauft?«

»Ja, das weiß ich selber nicht so recht.«

»Gefiel es dir denn so?«

»Nein, das eigentlich nicht.«

»– und du könntest es doch niemals aufhängen.«

»Nein, niemals«, sagte er.

»Findest du es denn vom künstlerischen Standpunkt gut?«

»Ich finde, es ist witzig und geschickt gemalt. Die Auffassung als solche gefällt mir natürlich nicht. Dafür bin ich zu katholisch.«

»Nein, nein, das ist es nicht«, sagte sie langsam und stockend. »Es ist wirklich ziemlich abstoßend. Deshalb wundere ich mich ja auch, daß du's gekauft hast.«

»Vielleicht um zu verhindern, daß ein Anderer es kaufte«, sagte er.

»Dann ärgerst du dich also sehr darüber?« fragte sie.

»Nein, ich ärgere mich nicht sehr darüber. Aber es war mir durchaus nicht recht, daß du die Puppe verkauft hattest«, sagte er.

»Ich brauchte Geld«, sagte sie ruhig.

»Ach so.«

Ein paar Augenblicke schwiegen Beide.

»Mir war zumute, als hättest du mich verkauft«, sagte sie mit einer Ruhe, die unterdrückte Wildheit war.

»Wann?«

»Als deine Frau auftauchte. Und als du verschwandest.«

Wieder gab es eine Pause: diesmal lag es an ihm.

»Ich habe dir geschrieben«, sagte er.

»Wann?«

»Oh, – im März, glaub ich.«

»Ach so, ja. Den Brief habe ich bekommen.« Ihr Ton war noch genau so ruhig, und es bebte eine noch größere Wildheit darin.

Daß es abermals eine Pause gab, lag daran, daß Beide nichts zu sagen wußten. Dann stand Hannele auf.

»Ich will weiter«, sagte sie. »In dem Tempo kommen wir niemals auf den Gletscher.«

Er packte das Bild ein und schnallte den Rucksack auf den Rücken: sie brachen auf. Dann und wann bückte sich Hannele, um die sternförmigen, erd- und lavendelfarbenen Enzianblüten vom Wegrand zu pflücken. Als sie am zweiten der Talgasthäuser vorüberkamen, sahen sie den Herrn und die Dame von vorhin vorm Hause sitzen: sie aßen Brot und Käse; der rotsamtene Stuhl wartete am Wege im Grase. Zur Linken wuchs schwarzpurpurner Nachtschatten, ein ganzes Gebüsch. Ein paar niedrige, langgestreckte Stallungen standen da; mit ihren steinbeschwerten Dächern sahen sie aus wie Gewächse der Halde: so wachsen droben ja auch die Steine der Halde durch das Gras. Wild und öde war das Ganze. Ein paar schwarze Schweine trieben sich schnüffelnd umher.

So kamen sie auf dem gewundenen Wege zum Ende des Tales und sahen den steilen Hang vor sich: hoch oben stäubten Wasserfälle von den tiefgreifenden Klauen des Eises nieder, wie Dampf oder Schaum, der von den Klauen eines Ungeheuers niederträuft. Und da war auch schon ein Ausläufer des Gletschers; wie ein großer blauweißer Pelz sah er aus, der ein Stückchen über die Felskante herabhing.

Dort, wo das Tal sich abermals verengte, waren die Blumen besonders schön: am schönsten die großen, dunklen, wie blaues Eis aussehenden Glockenblüten; sie hätten so leicht im Winde schwingen können, aber ihre Kelche hingen dunkel und mit der grauenhaften Reglosigkeit der Hochgebirgsblumen nieder. Und die Straße wandte sich mit abermaliger Biegung der langen Schräge an der Felswand zu, um sie dann wie eine Treppe zu erklettern. Langsam, langsam klommen die Beiden hinan. Nun sahen sie abermals das Tal hinter sich, unter sich. Der Stuhlwagen mit dem Maultier kam eilig heran; die Dame saß darin, mit dem Rücken zum Maultier, in Decken gehüllt. Der lange, gutaussehende, in den besten Jahren befindliche, mit Kniehosen angetane Ehemann ging unmittelbar hinter dem Gefährt, ohne Hut.

Alexander und Hannele erklommen langsam, langsam die Schräge, unter der tropfenden Felswand, wo die weißen geäderten Blüten des Parnassenkrautes still und kühl im Schatten standen, wie Wasser, das zu weißem Blütenfleisch geronnen ist. Droben sahen sie die niedergleitende Kante des Gletschers, wie eine furchtbare mächtige Pranke, bläulich. Und vom Horizont dampften dunkle Wolken empor, wie Dampf, der schwarz und eisig aus einem Eiskessel hervorbrach.

»Es gibt Regen«, sagte Alexander.

»Wird nicht schlimm«, sagte Hannele kurz.

»Hoffentlich nicht.«

Er hätte gern den Anstieg beschleunigt, aber Hannele wollte nicht; sie bestand darauf, stehen zu bleiben und die Aussicht zu betrachten. Bald wurde der dunkle, eisigschwarze Wolkenqualm dichter, und auf einem kalten Winde flog Regen heran. Das Maultiergefährt hastete vorüber; die Dame saß behaglich im Stuhl, mit dem Rücken zum Maultier; ihr Halbtuchhut war mit einem kleinen Stutz Fasanenfedern geziert; ihr Mann – wie Tannhäuser sah er aus – langte sich seinen dunklen Kragenmantel vom Wagen. Alexander hatte seinen Staubmantel, aber Hannele hatte nur ein leichtes gestricktes Wollkostüm, wie es die Damen im Hause tragen. Über den ausgebogten Felsenkamm peitschte stählern der kalte Regen herab. Sie kletterten weiter. Hinter ihnen kam ein zweites Maultier heran, das einen kleinen schiebkarrenartigen Wagen zog, mit Körben voll Kohl und Mohrrüben und Erbsen und großen Fleischstücken: Lebensmittel für das Gletscherhotel. Ein kleiner alter Mann trabte nebenher.

»Wird es viel Regen geben?« fragte Alexander den gnomenhaften Fuhrmann.

»Wie meint der Herr?« kam die Antwort.

»Der Regen – wird er lange dauern?«

»Nein. Nein. Der dauert net lang.«

Das Maultier mußte ausgerechnet und unbedingt hier stehen bleiben, um sein Geschäft zu erledigen. Dann zog der Gnom weiter, und Hannele und Alexander waren die Letzten am Abhang. Die Luft schmeckte nach stahlkaltem Regen und heißem Maultierkot. Alexander sah, wie der Regen Hanneles Schultern und ihren blauen Rock peitschte.

»Es ist schade, daß du deinen dicken Mantel drunten gelassen hast«, sagte er.

»Du hast gut reden. Damit hab ich ihn nicht«, antwortete sie, bis in die Nasenspitze blaß vor Ärger.

»Richtig«, sagte er. Seine Augen funkelten, und seine Stirn verdüsterte sich. »Warum gibt man überhaupt immer wieder anderen Leuten einen Rat? Sie kümmern sich ja doch nicht drum.«

Sie standen im Regen, hoch droben auf dem steilen Kletterpfad, nahe dem Gipfel; eine Gletscherklaue hing beinahe unmittelbar über ihnen, und drunten im Abgrund toste das Wasser. Hannele wandte sich ihm zu, und sie sahen einander ins Gesicht.

»Wann hättest du mir je einen Rat gegeben?« fragte sie, und ihr Gesicht sah seltsam nackt aus in seiner bitteren Wut, eisig wie der Regen selbst. »Wann hättest du mir je einen Rat gegeben?«

»Wann wärest du je für einen Rat zugänglich gewesen?« fragte er dagegen, mit verdunkeltem Gesicht und sonderbar glimmenden Augen.

»Ich? Ich? Ha! Als ob ich nicht darauf gewartet hätte, daß du mir irgendeinen Rat gäbest! Aber was tust du? kommst hierher mit einem Bilde im Koffer und machst mir Vorwürfe, weil ich deine Puppe verkauft habe. Ha! Ich bin froh, daß ichs getan habe. Eine dumme nutzlose Porträtspielerei war sie obendrein, ein albernes glotzendes Ding. Was konnte ich denn sonst damit anfangen – was sonst als sie verkaufen? Warum sollte ich sie behalten – kannst du mir das sagen?«

»Warum bist du denn dann heute mit mir hierhergekommen?«

»Warum ich heute mit dir hierhergekommen bin?« gab sie zurück. »Weil ich die Berge sehen will. Sie sind wundervoll, und ihr Anblick schenkt mir Kraft. Meinst du, ich bin heraufgekommen, um dich zu betrachten? Warum sollte ich –? Du bist doch immer drunten in dem oder jenem Hotel zu finden.«

»Du bist gekommen, um den Gletscher und die Berge in meiner Gesellschaft zu sehen«, antwortete er.

»Ja? Dann hab ich eine Dummheit gemacht. Du mäkelst doch sogar am lieben Gott herum, weil dir seine Berge nicht gefallen. Weiter kannst du nichts.«

Jäh flog eine düstere Flamme über sein Gesicht.

»Ja«, sagte er. »Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse ihren Schnee und ihr großartiges Getue.«

»Großartiges Getue?!« lachte Hannele. »Oh! Sogar den Bergen wirfst du ›Getue‹ vor, ja?«

»Ja!« sagte er. »Ihren Hochmut und ihren Höhendünkel. Ich hasse ihren Höhendünkel. Ich hasse Leute, die auf Berggipfeln umherstolzieren und in seelischer Erhebung machen. Wenns nach mir ginge, müßten sie alle hier oben bleiben, auf ihren geliebten Berggipfeln, und sich den Bauch mit Eis vollschlagen. Ich ließe sie überhaupt gar nicht wieder hinunter, samt und sonders nicht. Ich hasse das alles, sage ich dir; ich hasse es.«

In verwundertem Sinnen betrachtete sie sein dunkles glühendes ohnmächtiges Gesicht. Ihr kam es vor wie eine düstere Flamme, die bei Tageslicht und im eisigen Regen brannte: ohnmächtig und ganz überflüssig.

»Du mußt wohl ein bißchen verrückt sein, wenn du so über die Berge sprichst«, sagte sie hochmütig. »Sie sind doch viel größer als du.«

»Nein«, sagte er. »Nein! Das sind sie nicht.«

»Was?!« Hannele lachte laut auf. »Die Berge sind nicht größer als du? Hör mal, du bist wirklich – außergewöhnlich.«

»Sie sind nicht größer als ich«, rief er. »Ebensowenig, wie du größer bist als ich, wenn du dich auf eine Leiter stellst. Sie sind nicht größer als ich. Sie sind geringer als ich.«

»Oh! Oh!« rief sie in erheitertem Staunen. »Die Berge sind also geringer als du.«

»Ja«, rief er. »Das sind sie.«

Plötzlich verstummte er, und als sie ihn ansah, schien er ihr ganz ferngerückt. Sein Gesicht hatte sich wieder verschlossen, und es war, als stünde er eine weite Strecke von ihr entfernt, jenseits einer unsichtbaren Grenzlinie. So sehr sie verblüfft und empört war – sie betrachtete ihn staunend und schon ein wenig gebannt. In welches Land der Erde gehört er? fragte sie sich – in welchen düsteren und fremden Himmelsstrich?

»Du leidest ja wohl an Größenwahn«, sagte sie. Und damit sprach sie wirklich ihr Empfinden aus.

Er aber sah sie nur an mit seinen dunklen gefahrdrohenden hochmütigen Augen.

Schweigend setzten sie ihren Weg durch den Regen fort. Bei ihm war das Schweigen ganz erfüllt von einem leidenschaftlich verbissenen Machtwillen, einer seltsamen, düsteren, herrschsüchtigen Kraft, die ihm die Fähigkeit zum Denken nahm. Und sie, immer zum Grübeln geneigt, grübelte auch jetzt: Ist er wahnsinnig? Was meint er eigentlich? Ist er unzurechnungsfähig? Er will mich einschüchtern. Zu irgendeinem Zweck will er mich einschüchtern. Aber zu welchem Zweck? Will er, daß ich ihn lieben soll? Bei dieser abschließenden Frage verweilte sie. Und entschied: ja, das ist es; er will, daß ich ihn lieben soll. Und dieser Gedanke schmeichelte ihrer Eitelkeit und ihrem Stolz und besänftigte ihren Zorn. Wirklich – sie fühlte, wie ihr Zorn gegen ihn schmolz.

Aber was für ein Mittel hatte er sich da ausgesucht! Er wollte, daß sie ihn lieben sollte. Dessen war sie gewiß. Immer, sogar schon vom ersten Augenblick an, hatte er gewollt, daß sie ihn lieben sollte. Nur hatte er damals noch keinen Entschluß gefaßt. Nach dem Tode seiner Frau war er abgereist, um mit sich darüber ins reine zu kommen. Jetzt hatte er einen Entschluß gefaßt. Er wollte, daß sie ihn lieben sollte. Und er war beleidigt, tödlich beleidigt, weil sie »seine« Puppe verkauft hatte.

Dies also war der Schluß, zu dem Hannele kam. Und er gefiel ihr, er schmeichelte ihr. Und er bewirkte, daß ein warmes Gefühl für ihn in ihr aufwallte, indessen sie durch den Regen gingen. Übrigens ließ der Regen jetzt auch nach. Der Schaum, der über den ausgebogten Felsensattel – sie kamen der Höhe immer näher – herabsprühte, wurde erheblich dünner. Schon sahen sie wieder die Gletscherpranke, die ein wenig über den Rand herabhing. Bald würde der Regen ganz aufhören. Und sie waren nun nicht mehr fern vom Hotel; dann hatten sie die dritte Hochfläche von Lammerboden erreicht.

Er wollte, daß sie ihn lieben sollte. Nun spürte sie wieder Glut und Siegesgefühl in sich, und sie kümmerte sich keinen Deut mehr um den Regen, der auf ihre Schultern schlug. Ja, so mußte sie es auslegen. Nicht auf seine Liebe zu ihr kam es ihm an – nur auf ihre Liebe zu ihm.

Und dann nahm sie, da sie Frau war, seine Liebe als sichere Voraussetzung an. So viele Männer waren so sehr gern bereit gewesen, sie mit ihrer Liebe zu beschenken. Dieser Eine aber bestand – zu ihrem Erstaunen, zu ihrer Empörung, und eigentlich zu ihrer heimlichen Genugtuung – mit grimmiger Entschlossenheit auf seinem Willen: sie mußte ihn lieben. Schön, dachte sie – ich will ihm den Gefallen tun. Das ist es: Er besteht mit grimmiger Entschlossenheit auf seinem Willen. Was er empfindet, soll dabei nicht erörtert werden. Und ich soll mich dermaßen einschüchtern lassen, daß ich ihm seinen Willen tue. Darauf kommt es hinaus. In seiner stummen, düsteren, trotzigen Seele lebt der Entschluß, mich zu zwingen, Gewalt über mich zu gewinnen. Meine Liebe zu ihm soll ihm diese Gewalt geben. Er will mich hörig machen: körperlich, geschlechtlich, seelisch.

Und ich? dachte sie weiter. Nun, ich bin wohl mit ebensoviel Selbstvertrauen entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. Ich werde ihn lieben; wahrscheinlich werde ich es tun; höchstwahrscheinlich tue ich es bereits. Aber ich lasse mich nicht von ihm einschüchtern, ganz gleich zu welchem Zweck. Nein – auf die Kniee muß er, wenn er meine Liebe will. Und dann werde ich sie ihm geben. Denn ich liebe ihn ja. Aber einen kleinen Haustyrannen und Großsprecher will ich mir nicht anschaffen; niemals.

Dies war der siegesbewußte Abschluß ihrer Gedanken. Mittlerweile hatte der Regen beinahe aufgehört, und sie hatten den Rand der dritten Hochebene, zu der sie aufklommen, fast erreicht. Hepburn schritt in dem mißtrauischen Schweigen dahin, das immer zur Folge hatte, daß sie ihn beobachtete, weil sie nicht aus ihm klug werden konnte: was fühlt er, was denkt er, was ist er überhaupt? Er war ihr ein Rätsel: auf ewig unbegreifbar in allem, was er fühlte, ja: in allem, was er sagte. Sie konnte weder Folgerichtigkeit noch Vernunft in seinen Empfindungen und in seinen Worten entdecken. Nie konnte sie die Ursachen seiner jäh wechselnden Stimmungen ergründen. Das war unbehaglich, und deshalb beobachtete sie ihn. Zugleich aber war es ein Reiz für ihre Aufmerksamkeit. Er hatte etwas von der bannenden Anziehungskraft des Unbegreifbaren. Und sein dunkles, unergründbares Gesicht – es war doch nicht nur eine deutungslose Maske, denn noch vor einer halben Stunde hatte sie gesehen, wie es in einer unfaßbaren und, wie ihr schien, unsinnigen Leidenschaft schmolz. Einer seltsamen, düsteren, widersinnigen Leidenschaft. Behauptete er doch mit einer wunderlichen düsteren Wildheit, er wäre größer als die Berge. Tollheit! Tollheit! Größenwahn! Aber gerade weil er sich so verriet, vergab sie ihm, ja: liebte sie ihn. Und seine seltsame Leidenschaftlichkeit, die so unfaßlich jäh aufloderte, übte unzweifelhaft einen Zauber auf sie aus. Sie hatte sogar ein wenig, ein ganz klein wenig Mitleid mit ihm. Aber einschüchtern wollte sie sich von ihm nicht lassen. Beugen, dachte sie, werde ich mich nicht vor ihm und seiner düsteren Leidenschaft. Nein, niemals. Liebe auf der Grundlage der Gleichberechtigung muß es sein – oder gar nichts.

Zur Liebe auf der Grundlage der Gleichberechtigung war sie durchaus bereit. Sie wartete nur darauf, daß er sie ihr anbot.

 

17.

Im Hotel summte ein Bergsteigerschwarm. Alexander und Hannele saßen im Restaurant, tranken heißen Kaffee und Milch und sahen sich die Leute an: Bedienerinnen in Baumwollkleidern und Schürzen, mit nackten Armen; hübsche Jungen mit zarten mädchenhaften Hälsen: sie alle trugen mächtige, gefräßig aussehende Stiefel; dazu viele Juden von der unangenehmen Sorte und ebenso unangenehmem Aussehen. Diese Juden gebärdeten sich sämtlich sehr österreichisch, trugen Tirolerkostüme, die ihnen nicht standen, und spielten sich in Bewegungen und Sprechweise auf österreichischen Adel hinaus: wenn man nicht genau hinhörte oder nicht zweimal hinsah, konnte man sie tatsächlich dafür halten. Vorurteil hin, Vorurteil her – sie waren in diesem Sommer ganz gewiß die Herren der Alpen oder wenigstens der Alpenhotels. Juden von der unangenehmen Sorte. Und doch brachten sie so etwas wie einen Hauch von gesunder Vernunft, Ernüchterung und bekömmlichem Mangel an Empfindsamkeit in diese Luft des aufgeregten »Bergheil«-Rummels. Dunkeläugig, mit verkniffenem Spott, betrachteten sie das bergfrohe Jungvolk, als wollten sie sagen: »Laßt euch die Flügel der Begeisterung nur nicht zu lang wachsen, Kinder!«

Der Regen hatte aufgehört. Schon flog wieder ein erster Sonnenschimmer über den grauen Himmel. Alexander ließ den Rucksack zurück, und die Beiden gingen wieder ins Freie. Vor ihnen lag die letzte Hochebene des Anstiegs zum Gletscher, der Lammerboden. Es war eine unwirtliche Aushöhlung zwischen den Bergspitzen, ein letztes flaches Tal, ungefähr eine Meile lang. An seinem Ende strömte von dem plumpen Eisgipfel der mächtige zähe unwandelbare Eisfluß des Gletschers herab. Das Eis war glanzlos, trübfarbig, an der Oberfläche von der großen Hitze dieses Sommers geschmolzen: so glich es einer riesigen gestauten teigig weichen Flut, die in dem Talbett aus Felsgetrümmer in einer Wellenmauer aus steinbesätem Eise endete. Es war eine beklemmend düstere Schräghalde mit Steinen und Felsblöcken, dieses kleine Talbett, durch das ein Wassersturz tobte. Zur Linken wuchs der graue Felsen auf; dort aber war der Gletscher und streckte seine gewaltigen Eispranken herab. Er glich einem riesigen, dichtbepelzten Eisbären, der droben auf den Höhen ausgestreckt lag und mit furchtbaren Eisklauen ins Tal niedergriff: einem unermeßlich großen Himmelsbären, der von droben her in den festen Erdhöhlen fischte. Hepburn fand den Anblick grauenhaft. Auch Hannele war tief getroffen, aber das Bild versetzte sie in eine Art von Rausch. Einige von den riesigen bepelzten Eisklauen, die zwischen die Felsen griffen, waren von lebhaft blauer Farbe, aber es war ein erschreckendes, giftiges Blau, wie kristallisiertes Kupfersulfat. Zumeist aber war das Eis von einem trüben, durchsichtigen grünlichen Grau.

Nun war für die Beiden, wenn sie zum Hauptteil des Gletschers gelangen wollten, noch das breite, öde Steinbett zu durchwandern: ein Weg unter Felsen und über Gewässer. Die Blumen waren auf dieser letzten Strecke noch schöner als zuvor. Besonders die dunklen Glockenblüten, groß und fast schwarz; ihr eisiges Blau hatte metallischen Glanz, und man konnte sich vorstellen, daß sie, angerührt, mit gedämpftem Eisklirren läuteten. Aufrecht stand das Parnassenkraut, mit weißgeäderten großen Schalen-Kelchen, die es erschreckend nackt und offen der Eisluft bot.

Hinter dem großen plumpen Eisgipfel, der am Ende des Tales die Sicht versperrte, stieg ein fahlgrauer wolliger Nebel auf, wolkenähnlich: das war wie Schmelzdunst des Eises, riesig ausgehaucht in den Himmel, ein mißfarbener Dunstkreis, der den Gipfel des Gletschers umgab. Auf dem ganzen Wege durch das Tal pilgerten Menschen; wunderlich unbedeutend sahen sie aus in dieser grauen Wirrnis aus Stein und Fels: wie Insekten. Hannele und Alexander eilten sich, um den ermüdenden Weg hinter sich zu bringen.

»Bist du jetzt froh, daß du gekommen bist?« fragte sie und sah ihn siegessicher an.

»Sehr froh«, antwortete er. Seine Augen waren geweitet von einer Erregung, die mit dem begeisterten »Bergheil«- Rummel nichts zu tun hatte: das war ein geheimnisvoller und dunkler innerer Kampf, ein Ringen mit dem Dämon. Diese Erregung mit ihrer seltsamen zitternden Ausstrahlung war schuld daran, daß Hannele das Bild als befremdlich und eigentlich als beklemmend empfand. Auch sie erschauerte. Der große stumme lebendige Gletscher aber war, so schien es ihr, die Quelle all dieses Zaubers, all dieses Entrücktseins. Wie ein riesiges Ungeheuer kam er ihr vor.

Im Näherkommen sahen sie die Eiswand vor sich: das Ende des Gletschers, dick überkrustet und gefleckt mit Steinen und schmutzigem Getrümmer. Aus der Tiefe, aus unter Steinen versteckten Quellen, sprang rauschendes Wasser. Ganz in der Nähe gewahrten sie dann, daß das Ungeheuer am ganzen Leibe schwitzte: in kleinen Bächen und Flüssen rann der Schweiß an seinen Flanken aus reinem, trübdurchsichtigem Eise nieder. Da war er nun, der Gletscher, und endete jäh in der Eiswand, unter der sie standen. Das Eis war fast rein, aber ganz mit Wasser durchsetzt; die Hitze dieses Sommers hatte die ganze Oberfläche zerfressen. Es war trüb-durchsichtig; seine Farbe war ein wässeriges dunkles Bläulichgrün. Dort, wo es der Erde nahe kam, wurde seine Farbe aber wieder hell: in kleinen Höhlen über den feuchten Steinen, wo das ewige Geriesel und Getröpfel begann, glänzte es grün wie von Jade, glänzte es blau wie von dünnen blassen Saphiren.

Alexander spürte den Wunsch, auf den Gletscher zu klettern. Das war in diesem Augenblick sein einziges Verlangen: auf dem Gletscher zu stehen. So kletterten sie mühsam, inmitten von Felsen, an der feuchten durchscheinenden Wand dahin weiter, dorthin, wo der Pfad das Eis erklomm. Ein paar andere Kletterer waren vor ihnen – keine eigentlichen Bergsteiger, bloß Tagesausflügler; sie alle wußten nicht recht, ob sie sich weiter wagen sollten. Denn vor ihnen hob sich steil und schlüpfrig der Eishang: reines, besonntes, schwitzendes Eis. Aber es war doch wie ein gewölbter Rücken. Man konnte hinaufklimmen und kletternd die erste Hochfläche erreichen, die wie die flache Oberseite einer gewaltigen Pranke war.

Da stand die kleine Menschengruppe und betrachtete den Steilhang aus trübem, reinem, aufgeweichtem Eise. Alle miteinander hatten Angst: das war nur natürlich. Alle waren bemüht, diese Angst zu überwinden: das war nur menschlich. Es war seltsam, daß das Eis so rein aussah: wie Fleisch. Nicht etwa blank; denn die Oberfläche war wie weiche, dicke Haut. Aber es war reines Eis, bis hinab in unermeßliche Tiefen.

Nach einigem Zögern unternahm Alexander einen vorsichtigen Angriff auf das Eis. Er hatte Angst davor. Auch hatte er keinen Stock, und die Sohlen seiner Schuhe waren nicht genagelt. Aber das Verlangen, auf dem Gletscher zu stehen, ließ ihm keine Ruhe. So wagte er vorsichtig und unsicher ein paar mühsame Kletterschritte auf dem Eishang. Das Eis war an der Oberfläche weich; er konnte die Hacken hineinstoßen und so, mit seitwärts gestellten Füßen, ein wenig Halt gewinnen. Also gelang es ihm, schwankend, seitwärts gehend, ein paar Meter zu klettern; nun war er auf dem nackten Eishang.

Sogleich versuchten die Anderen drunten es auch: ein fetter Mann, ein paar Jünglinge, zwei Mädchen. Eine Weile indessen hatte Alexander, vorsichtig und mühsam kletternd, die Führung. Der Abhang wurde steiler, wo das Eis begann, und war gewölbt, so daß es schwierig war, sich auf den Beinen zu halten. Zuweilen glitt er aus und mußte sich an dem weichen Eise festhalten, so daß ihm die Fingerspitzen brannten. Dann versuchte er es auf die Art, daß er seinen Rock hinwarf und so für seinen Fuß Halt gewann. Schließlich kam er ganz rasch vorwärts, indem er sich bückte, mit den Fingern da und dort Halt fassen konnte und so gewissermaßen auf allen Vieren lief: was lächerlich genug aussah.

Hannele sah der lächerlichen Veranstaltung von drunten zu und wußte nicht, ob sie Angst haben oder lachen sollte; aber die Angst überwog. Zur großen Freude der Österreicher ringsumher rief sie immer wieder:

»Komm herunter. Komm doch herunter!«

Er aber, nun wieder auf den Füßen, winkte ihr, die in ihrem blauen Kleide fern drunten stand, nur ein wenig trotzig mit der Hand. Die anderen Bergsteiger hatten nun Mut gefaßt und kletterten wie die Krabben: jetzt konnten sie es besser als unser Held und überholten ihn.

So kam er an eine Spalte im Eise. Er setzte sich am Rande nieder und blickte hinab. Reines, unvermischtes Eis: die Schmelze hatte es fahl gemacht, aber drunten in der Spalte verlief es in ein tiefes Blau, wie Kupfersulfat. Es sah nicht kristallen aus, sondern zerschmolzen: wie wenn man Borax über einem Bunsenbrenner schmelzen läßt. Und drunten in der Tiefe der Spalte wurde es ein scharfes, böses Blau. Alexander blickte aufwärts. Er hatte den Abhang noch nicht einmal zur Hälfte erstiegen. Also kletterte er weiter auf dem weichen Eisfleisch des gewaltigen Leibes. Manchmal kam er nur schräg und auf allen Vieren vorwärts, manchmal nahm er seinen Rock zu Hilfe, meistens aber schlug er die Hacken seitwärts ins Eis. Hannele drunten rief immer noch, er solle umkehren. Nun hatten ihn schon wieder zwei von den Jünglingen beinahe eingeholt.

Also klomm er weiter, bis er so ziemlich über den Rand war. Dann blieb er stehen und betrachtete das Eis. Von droben kam es herab in mächtiger Ausbuchtung: eine Welt aus Eis. Eine Welt, eine furchtbare Landschaft mit Höhen und Tälern und Abhängen, alles reglos, alles aus Eis. Droben die graue Nebelwolke am Gipfel wurde dichter und größer. Nahe der Stelle, wo Alexander stand, waren gewaltige Risse, einer neben dem anderen, als hätte das Eis Kiemen. Man hätte meinen können, das Eis atme mit diesen gerandeten Kiemen. In alle diese Spalten konnte man hinabsehen, Reihen von Spalten, alle grauenvoll tief; in allen brannte dieses scharfe, heftige Blau, das sich mit zunehmender Tiefe verstärkte. Die erhöhten Ränder der Kiemen aber lagen, einer neben dem anderen, blaßblau über den Abgründen. Es sah wahrhaftig aus, als ob das Eis hier atmete.

Wundervoll, dachte Hepburn; grauenvoll; und bitter. Nie wird sich hier ein lebendiges Blatt entfalten, nie eine Gebärde des Lebens zeigen. Eine Welt, die sich selbst genügt in ihrer Leblosigkeit, all dieses Eis.

Er wandte sich zum Abstieg, obwohl die jungen Leute die Kletterei fortsetzten. Als er nun sah, wie das nackte durchscheinende Eis sich in gefährlichem Bogen abwärts schwang – immer hatte man nur dieses dunkle durchscheinende Eis unter den Füßen –, wurde ihm angst. Wenn er fiel, so war es sicher, daß er den ganzen Abstieg hinunterrutschte und sich ein paar Knochen brach. Niedersitzen half auch nicht viel: da hätte er sich schon mit den Fingernägeln ans Eis klammern müssen, denn wenn er einmal ins Rutschen kam, würde er das ganze Gefälle auf dem Hosenboden hinabrutschen und wer weiß wo landen.

Hannele sah ihm von drunten zu. Und er hockte droben auf der Schulter der Eishöhe und hatte Angst und wußte nicht, wie er hinunterkommen sollte. Über ihm ragten die großen blauen Ränder der Eiskiemen in die Luft. Unter ihm waren zwei blaue Spalten und die letzten feuchten flachen Eisklauen, die auf den Steinen lagen. Und dort stand Hannele mit den drei oder vier Anderen, die unten geblieben waren.

Nun stellte er fest, daß es gar nicht so schlimm war: wenn er die Hacken seitwärts mit genügendem Nachdruck ins Eis schlug, konnte er sich auf den Füßen halten, mochte der Abhang auch noch so steil sein. Und also begann er im Zickzack den Abstieg.

Während Alexander abwärts kletterte, traf ein Führer ein. der einen schwarzen Bart und den ganzen Kriegsschmuck an Seilen und Eispickeln und nagelstarrenden Schuhen mit sich führte. Er und sein Schützling eröffneten den Angriff auf das Eis. Wenn man diese Stiefel mit den wie Zähnen starrenden Nägeln hatte und sich obendrein auf einen Bergstock stützen konnte, war es freilich ganz leicht.

Hannele, die des Wartens überdrüssig geworden war und es mit der Angst bekam, hatte eiligen Schrittes den Rückweg angetreten. Er beeilte sich, sie einzuholen – dankbar, daß er dem Eise entronnen war, aber erregt und befriedigt. Als er sich umblickte, sah er den Führer und seinen Schützling auf dem Gletscher stehen und das Eis und den Himmel betrachten. Dann wandten sie sich und stiegen wieder ab. Das Wetter schien ihnen nicht sicher genug.

 

18.

Nachdenklich und erregt gingen sie den gewundenen Weg durch die Einöde aus Felsen und rauschenden Gewässern, zurück zum Hotel. Eine kurze Weile schien warm die Sonne herab, und Alexander fühlte sich beglückt, obwohl ihm die Fingerspitzen ein wenig bluteten von der Kletterei auf dem Eise.

»Einmal aber,« sagte Hannele, »möchte ich mit einem Führer hinauf, ganz hoch hinauf, regelrecht auf den Gletscher.«

»Nein«, sagte er. »Ich bin weit genug gewesen. Mir sind die Weltgegenden lieber, wo Kohlköpfe aus dem Boden wachsen. Auf Gletschern wächst nichts.«

»Ich habe einmal gehört, es gibt Gletscherfliegen, die nur auf den Gletschern leben«, sagte Hannele.

»Na, mir sah das Eis eigentlich nicht sehr appetitlich und nahrhaft aus, selbst nicht für einen Fliegenmagen.«

»Das kann man niemals wissen«, lachte sie. »Aber du bist froh, daß du droben warst, nicht?«

»Sehr froh. Nun brauche ich niemals wieder hinauf.« »Aber – du hast es doch wundervoll gefunden, nicht?« »Wundervoll, ja. Und gräßlich – für meinen Geschmack.«

 

19.

Im Hotel aßen sie Wildbraten und Spinat; dann brachen sie wieder auf. Beiden war froher zumute. Hannele pflückte ein paar Blumen und tat sie in ihr Taschentuch, um sie frisch zu erhalten. Dann, am Ufer des Gewässers, ließen sie sich abermals nieder, um ein wenig Wein zu trinken. Aber der Wind blies wieder Wolken heran: hinter dem Gletscher stieg es auf, dick wie Qualm. Hannele wurde unruhig. Sie drängte zur Eile. So gingen sie ziemlich rasch. Auch die anderen Ausflügler eilten in großer Zahl zu Tal. Der Regen begann – hinter dem Gletscher hervor flog, wie geschleudert, eine Handvoll spitzer Tropfen heran. Hannele und Alexander gönnten sich nun keine Rast mehr, und der Abstieg durch das abschüssige dunkle Tal zum Endpunkt der Autobuslinie war auch nicht beschwerlich.

Als sie ankamen, tranken sie Tee, ziemlich müde, aber ganz behaglich. Das große Restaurant war abscheulich und schien schmutzig. Am trüben Licht einer grauen, früh hereinbrechenden Dämmerung gingen die Beiden wieder ins Freie und setzten sich auf eine Bank, um sich die Bergsteiger und die Ausflügler und die Kraftwagenleute anzusehen. Zwei Juden aus Wien bemühten sich um ein Mädchen, ebenfalls eine Jüdin: sie hatte einen riesigen weißen wolligen Hund, so groß wie ein Kalb, weiß und wollig und seidig und nett wie ein Spielzeug. Die beiden Herren kamen natürlich heran und tätschelten ihn und bewunderten ihn, wie es die Männer immer tun, im wirklichen Leben und in Romanen. Und das Mädchen, die Leine in der Hand, lehnte sich in malerischer Stellung zurück und sah sogleich aus wie eine Romanheldin auf einem Buchumschlag. Sie eröffnete den Zuhörern, daß das kühle weiße Ungetüm ein sibirischer Steppenhund sei. Was fangen sie in den Steppen bloß mit so einem Köter an? fragte sich Alexander. Und die drei Juden benahmen sich durchaus so, als wären sie elegante Österreicher aus gerngelesenen Romanen.

»Hast du eigentlich vor, den Herrn Regierungsrat zu heiraten?« fragte Alexander.

Sie wandte sich ihm zu, mit großen Augen.

»Es sieht danach aus, nicht?« sagte sie.

»Freilich.«

Hannele betrachtete den wolligen weißen Hund. Infolgedessen kam er natürlich heran, mit heftigem Gewedel seines immer zur Freundlichkeit aufgelegten Hinterteils. Hannele sah ihn noch immer an, aber sie berührte ihn nicht.

»Sonderbare Frage – wie kommst du darauf?« fragte sie.

»Das weiß ich selbst nicht recht. Jedenfalls – mit deiner Antwort kann ich nichts anfangen. Hast du tatsächlich und regelrecht die Absicht, den Herrn Regierungsrat zu heiraten? Ist das in diesem Augenblick dein unumstößlicher Entschluß?«

Sie sah zu ihm auf.

»Bevor ich dir antworte, müßte ich aber doch wohl wissen, warum du fragst?« gab sie zurück.

»Vielleicht weißt du es schon«, antwortete er.

»Du kannst mir glauben, daß ich es nicht weiß.«

Er schwieg ein paar Augenblicke. Der große wollige Hund stand vor ihm und hechelte einladend, mit hängender Zunge. Er sah ihn an, ohne ihn doch zu sehen.

»Ja, also,« sagte er, »wenn du nämlich den Herrn Regierungsrat nicht heiratest, dann wollte ich dir vorschlagen, mich zu heiraten.«

Sie sah zu der Kraftwagenhalle hinüber, unverwandt; auf ihrem Gesicht erschien ein kleines, ganz kleines Lächeln: des Belustigtseins; oder der Genugtuung; oder des Spottes; vielleicht auch aller drei Dinge zugleich. Und auch ein wenig Scheu war darin.

»Aber warum denn?« fragte sie.

»Was heißt das: warum?« fragte er dagegen.

»Ich meine: warum schlägst du mir vor, daß ich dich heiraten soll?«

» Warum –?« wiederholte er in seiner gedehnten Art. » Warum –? Ja – zu welchem Zweck macht denn wohl so im allgemeinen ein Mann einer Frau einen Antrag?«

»Zu welchem Zweck?« wiederholte sie ein wenig von oben herab.

»Schön – also aus welchem Grunde?« berichtigte er sich.

Sie schwieg ein paar Augenblicke. Ihr Gesicht war verschlossen und ein wenig starr, ihre Hände lagen ganz still im Schoß. Sie sah ihn nicht an; sie blickte über die Straße hinweg.

»Da gibt es doch wohl im allgemeinen nur einen Grund«, antwortete sie ziemlich leise.

»Ja –?« fragte er neugierig. »Und was für ein Grund ist das nach deiner Meinung?«

»Der, daß er sie wirklich liebt, denke ich mir. Das ist, scheint mir, die einzige Entschuldigung dafür, daß ein Mann einer Frau einen Antrag macht.«

Es folgte ein vollkommenes Schweigen, und er hatte keine Neigung, es zu brechen. Er wußte, daß er ihr zu antworten hatte, aber er spürte – warum, wußte er selbst nicht – keinerlei Lust, zu sagen, was hier zu sagen war.

»Lassen wir doch mal die Frage, ob du mich liebst oder ob ich dich liebe, ganz beiseite – –« fing er an.

»Es fällt mir aber gar nicht ein, sie beiseite zu lassen«, sagte sie.

»Und mir fällt es ebensowenig ein, sie zu erörtern«, sagte er, ebenso trotzig wie sie.

Hannele wandte sich ihm zu und sah ihn an; in ihrem Gesicht malten sich Verblüffung, Spott und Ärger.

»Ich glaube tatsächlich, du bist verrückt«, sagte sie.

»Ich glaube nicht, daß du das glaubst«, gab er zurück. »Es ist lediglich eine Art, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ich glaube, du bist dir über meine Absicht vollkommen klar.«

»Deine Absicht –!« rief sie. »Deine Absicht –! Ach so, du verfolgst also eine Absicht mit all dem Gerede?«

»Aber ja!« sagte er.

Eine Weile war sie stumm vor Entrüstung. Dann sagte sie zornig:

»Also ich bin mir über deine Absicht nicht klar. Nimm das bitte zur Kenntnis. Ich sehe hier überhaupt keine Absicht. Ich sehe nur Überheblichkeit.«

»Also schön«, sagte er. »Meine Absicht ist, die Frage zu klären, ob wir auf der Grundlage der Liebe heiraten. Das ist der Punkt, auf den es ankommt.«

»Sieh an! Heiraten! Wir – und heiraten! Ich kann wirklich nicht finden, daß das ›der Punkt ist, auf den es ankommt‹.«

Er holte seinen Rucksack unter der Bank hervor. Und aus dem Rucksack nahm er das schicksalhafte Bild.

»Als«, sagte er, »die Dinge zwischen uns so standen, daß man auf gegenseitige Liebe schließen durfte, hast du diese Puppe von mir gemacht, nicht wahr?« Und er betrachtete das verwünschte Bild.

»Ich habe mich nie auch nur für einen Augenblick der Täuschung hingegeben, daß du mich wirklich liebtest«, sagte sie bitter.

»Kläre, bitte, die andere Frage: ob du mich liebtest – oder nicht«, sagte er.

»Wie konnte ich dich lieben, wenn ich nicht an deine Liebe zu mir glaubte?« rief sie.

Er nahm das Bild zwischen die Kniee.

»Die ganze Geschichte mit der Liebe«, sagte er, »ist sehr verwirrend und sehr verwickelt.«

»Sehr! – wenigstens für dich. Für mich ist die Liebe ganz klar und einfach«, sagte sie.

»Ja? Ist sie das? Und war es diese ›einfache‹ Liebe, die dich veranlaßte, diese Puppe von mir zu machen?« »Warum sollte ich keine Puppe von dir machen? Tut dir das irgendwie und irgendwo weh? Und warst du denn nicht eine Puppe? Gütiger Himmel, du warst doch nichts Anderes als eine Puppe! Also – kann es dir doch auch nicht wehtun?«

»Doch. Das tut es aber. Es verletzt mich so sehr wie nur möglich«, antwortete er.

Sie wandte sich ihm zu, die Augen weit offen vor Staunen und Wut.

»Wieso? Bitte – wieso? Kannst du mir sagen, wieso?« »Nein«, sagte er, nahm das Bild wieder auf und hielt es zur Betrachtung vor sich. »Das kann ich nicht so recht.« Sie wandte das Gesicht von dem Bilde weg, mit einer Bewegung, wie eine Katze sich vor einer brennenden Zigarette wegwendet. »Aber wenn ich das hier sehe – wenn ich mir das hier ansehe – dann weiß ich, daß es keine Liebe gibt zwischen dir und mir.«

»So? Und warum redest du dann in dieser niederträchtigen Art zu mir?« flammte sie ihn an, Tränen des Zorns und der Empörung in den Augen. »Du willst dich wohl bloß an mir rächen, weil ich diese Puppe von dir gemacht habe?« »Das mag stimmen – aber es ist nur in geringem Maße richtig«, sagte er.

»Nein. Es ist ganz richtig! Es ist ganz und gar richtig!« rief sie. »Und nur aus diesem Grunde bist du überhaupt zu mir zurückgekommen – nur um dich auf diese kleinliche Art zu rächen. Na, das hast du ja nun getan. Aber, bitte, sag jetzt kein Wort mehr zu mir. Ich will sehen, ob ich einen Platz in dem großen Autobus bekomme.«

Sie stand auf und ging weg. Er sah sie nach dem Schaffner fahnden. Er sah, wie sie in den Hof der Kraftwagenhalle eindrang. Er sah sie nach einer Weile wieder herauskommen und den Weg zum Flusse einschlagen. Er blieb vor dem Hotel sitzen. Was sonst hätte er tun sollen?

Die Ausflügler, die in dem großen Autobus gekommen waren, begannen sich zu sammeln. Bald rollte auch das gelbgraue Ungetüm selbst heran und stand, groß wie ein Haus, vor dem Hoteleingang. Die Fahrgäste kletterten hinein und suchten sich ihre Sitze. Unter ihnen waren auch die beiden männlichen Helden des Romans um den weißen Hund; die Heldin aber und der Hund selbst blieben zurück. Hepburn hätte gern gewußt, ob Hannele es wohl durchgesetzt hatte, daß sie umsteigen durfte. Er bezweifelte es, denn er wußte, daß der Autobus dicht besetzt war.

Außerdem hatte er ihre Fahrkarte.

Die Fahrgäste waren untergebracht. Der Schaffner sammelte die Fahrkarten ein. Und schließlich rollte der große Autobus davon. Der Rundplatz am Straßenende sah sehr verlassen aus. Selbst das Mädchen mit dem weißen Hund war fort. Bald mußte der andere Wagen, der sogenannte Luxus-Autobus, erscheinen. Hepburn saß und wartete. Es dämmerte, der Abend war frostig, beklemmend sahen die Bäume aus.

Schließlich kam auch Hannele wieder zum Vorschein und schlenderte zögernd und widerwillig heran.

»Ich glaube, du hast meine Fahrkarte«, sagte sie.

»Ja, die habe ich«, antwortete er.

»Willst du sie mir geben, bitte?«

Er gab sie ihr. Sie zögerte einen Augenblick. Dann ging sie weg.

Der Motor eines Kraftwagens wurde hörbar. Mit stolzem Schnurren bog der Luxus-Autobus aus dem Hof an der Halle und fuhr vor dem Hotel vor. Hannele kam hastig heran. Sie ging geradenwegs zu einer der hinteren Türen – ihr Platz war, mit Hepburn, vorn, neben dem Fahrer. Schon hatte sie den Fuß auf dem Trittbrett, um zu den Hintersitzen zu gelangen. Dann aber bekam sie es mit der Angst. Der kleine Fahrer mit dem scharfgeschnittenen Gesicht – einen Schaffner hatte der Wagen nicht – kam heran, um sein Fahrzeug zu mustern. Er sah Hannele an mit den scharfen, metallisch glänzenden Augen, wie die Leute von den Maschinen sie haben.

»Fahren Alle wieder mit, die vorhin hergekommen sind?« fragte sie und trat zurück.

»Jawohl.«

»Dann ist er also besetzt – der Wagen?«

»Jawohl.«

»Und – einen anderen Platz kann man nicht bekommen?«

»Nein.«

Hannele zog sich geschlagen zurück. Gegen die Einsilbigkeit des Fahrers war nichts auszurichten.

Sechs von den Fahrgästen waren zur Stelle: vier saßen schon an ihren Plätzen. Hepburn saß noch immer auf der Bank, Hannele ging unschlüssig neben dem Wagen auf und ab, und der kleine Fahrer, der sich ein gewaltiges Wolltuch um den Hals gebunden hatte, rannte hierhin und dorthin und aus und ein auf der Suche nach den beiden fehlenden Fahrgästen. Jawohl, es fehlten noch zwei, natürlich. Nein, er konnte sie nicht finden. Und wieder trabte er davon, wie ein Wiesel auf der Kaninchenjagd. Schließlich als Alle schon ärgerlich wurden, grub er sie irgendwo aus und schleppte sie eiligst zum Wagen.

Nun nahm auch Hannele Platz, und Hepburn setzte sich neben sie. Der Fahrer sammelte hastig die Fahrkarten ein und kletterte auf den Führersitz. Mit einem rachgierigen Aufkreischen der Hupe glitt der Wagen die Schlucht hinab. Wieder einmal war eine dieser verfluchten Fahrten vorüber, wieder einer dieser vom Teufel erfundenen lustigen Feiertage vergangen.

»Na,« meinte Hepburn, »dann kann ich ja wohl fertigreden, was ich sagen wollte?«

»Was?« schrie Hannele, im reißenden Luftzug der sausenden Fahrt.

»Ich möchte fertigreden, was ich zu sagen hatte.« Der Wind verschlug ihm den Atem.

»Also rede fertig«, schrie sie, und die Enden ihres Halstuchs flatterten im Wind.

»Als meine Frau starb,« sagte er laut, »da wußte ich, daß ich nicht mehr würde lieben können.«

»Aach –!« schrie sie spöttisch.

»Wirklich,« brüllte er, »ich erkannte, daß Liebe ein Irrweg ist – wenigstens für mich.«

» Was ist ein Irrweg?« schrie sie.

»Liebe –!« bellte er.

»Liebe –!« schrie sie. »Ein Irrweg?« Es klang höhnisch.

»Für mich persönlich!« brüllte er.

»Ach so, nur für dich persönlich«, schrie sie mit einem kurzen prustenden Auflachen.

Der Wagen ging jäh in die Kurve, und sie fiel auf den Fahrer. Dann rückte sie sich wieder zurecht. Wieder ging der Wagen in die Kurve, und sie fiel auf Alexander. Ärgerlich rückte sie sich abermals zurecht. Und nun ging die Fahrt geradeaus: und es gab ein wenig mehr Ruhe.

»Ich erkannte,« sagte er, »daß ich jedesmal auf einem Irrweg war, wenn ich den Versuch unternahm, zu lieben.«

»Eine Unternehmung muß das freilich gewesen sein – für dich«, rief sie.

»Ja, ich fürchte, das war es wirklich. Mich hat nie wirklich danach verlangt. Das bildete ich mir nur ein. Und, siehst du – das war eben der Irrweg.«

»Wen hast du denn je geliebt? – selbst wenn es nur eine Unternehmung war?« fragte sie.

»Zunächst einmal: meine Mutter, und das war ein Irrweg. Dann meine Schwester; und das war ein Irrweg. Dann ein Mädchen, das ich schon seit gemeinsamer Kindheit gekannt hatte; und das war ein Irrweg. Dann meine Frau; und das war der furchtbarste Irrweg von allen. Und dann geriet ich auf den Irrweg der Liebe zu dir.«

»– der Unternehmung, mich lieben zu wollen, meinst du«, sagte sie. »Aber wenn ichs recht bedenke, hast du es niemals wirklich unternommen. Nein, du hast es niemals wirklich unternommen, mich zu lieben.«

»Nicht so richtig, nein?« sagte er.

Da saß sie nun und war zornig, weil er es nie richtig unternommen hatte, sie zu lieben.

»Nein,« wiederholte er, »nicht so richtig. Deshalb bin ich zu dir zurückgekehrt. Ich habe nicht den Wunsch, dich zu lieben. Ich will keine Ehe auf der Grundlage der Liebe.«

»Auf was für einer Grundlage denn?«

»Ich glaube, du weißt es, auch ohne daß ich es in Worte fasse«, sagte er.

»Nein, ich weiß es nicht, wirklich nicht. Du gibst mir allzu schwere Rätsel auf«, sagte sie.

Ein Gespräch in einem rasch fahrenden Kraftwagen ist eine nervenzerrüttende Angelegenheit. Beide brauchten eine Pause, um auszuruhen und auf eine ruhigere Straßenstrecke zu warten.

»Es läßt sich nicht ganz leicht in Worte fassen«, sagte er. »Aber ich habs mit der Ehe mal auf der Grundlage der Liebe versucht, und ich muß sagen: es war auf die Länge eine grauenvolle Angelegenheit. Das würde es, glaube ich, für mich immer werden – mit jeder Frau.«

»Dann muß bei dir wohl Irgendwas nicht in Ordnung sein«, sagte sie.

»Soweit die Liebe in Frage kommt: ja. Und doch wünsche ich mir die Ehe. Ich wünsche mir das Verheiratetsein. Ich wünsche mir eine Frau, die mich ehrt und mir gehorcht.«

»Wenn du mit deinen Befehlen ganz und gar vernünftig und sehr sparsam umgehst«, sagte Hannele. »Und wenn du sehr auf den Ton deiner Befehle achtgibst.«

»Kurz gesagt: ich möchte so etwas wie eine geduldige Griselda. Ich will, daß man mich ehrt und mir gehorcht. Auf Liebe verzichte ich.«

»Wie Griselda es fertig bekam, ihren Narren von einem Manne zu ehren, selbst wenn sie ihm gehorchte, ist mehr, als in meinen Kopf geht«, sagte Hannele. »Ich möchte wohl einmal wissen, wie sie wirklich über ihn dachte was jede Frau über einen solchen bullenbeißerischen Narren von Mann denkt.«

»Damit«, sagte er, »kann ich nichts anfangen.«

Darauf schwiegen sie, bis der Wagen am Bahnhof hielt. Dort stiegen sie aus und gingen unter den Bäumen am See dahin.

»Wir wollen uns auf eine Bank setzen und zum Schluß kommen«, sagte er.

Hannele war tatsächlich begierig, zu hören, was er sagen würde; auch war sie, nach Frauenart, gebannt, sobald ein Mann im Begriff war, seine geheimsten Gedanken preiszugeben – mochte sie hinterher auch noch so sehr darüber spotten. Also setzte sie sich neben ihn auf die Bank. Der Abend war grau, und es begann zu dunkeln. Jenseits des Sees flimmerten Lichter, und das Hotel drüben schickte seine Lichtbänder aus, eines nach dem anderen. Ein paar kleine Ruderboote steuerten gelassen dem Ufer zu. Grau war der Abend, schwer von jener seltsamen und unerklärlichen Trauer, die fast immer die Kalenderfeiertage endet.

»Ehrung und Gehorsam: und die angemessenen körperlichen Empfindungen«, sagte er. »Das bedeutet für mich die Ehe. Das und nichts Anderes.«

»Aber die ›angemessenen körperlichen Empfindungen‹ sind die denn etwas Anderes als Liebe?« fragte Hannele. »O ja«, sagte er. »Jede Frau verlangt, daß man sie anbeten, daß man in sie verliebt sein soll – und das will ich nicht. Darauf lasse ich mich nicht wieder ein, und wenn ich den Rest meiner Tage als Mönch verbringen soll. Ich will dich weder anbeten noch in dich verliebt sein.«

»Danke schön, dazu wirst du auch keine Gelegenheit haben. Und was verstehst du denn eigentlich unter den ›angemessenen körperlichen Empfindungen‹, wenn sie bei dir nichts mit Liebe zu tun haben? Das kommt, scheint mir, auf etwas Häßliches hinaus.«

»Wenn eine Frau mich ehrt, wirklich und unbedingt aus ihrem tiefsten Wesen ehrt und mir infolgedessen gehorcht, dann reicht mein Verlangen nach ihr sehr viel tiefer, als wenn ich in sie verliebt wäre oder sie gar anbetete. Das ist meine Überzeugung.«

»Es kommt auf dasselbe hinaus. Wenn du liebst, dann kommt alles Andere von selbst: Ehrung und Gehorsam und alles, was du sonst noch willst. Und wo die Liebe fehlt, da fehlt auch alles Andere,« sagte sie.

»Das stimmt nicht,« antwortete er. »Eine Frau mag ihren Mann lieben, sie mag ihn anbeten, aber damit ist noch lange nicht gesagt, daß sie ihn ehrt oder ihm gehorcht. Jede noch so liebe- und anbetungsvolle Frau kann jeden Augenblick hergehen und aus ihrem Manne eine Puppe machen wie du es mit mir gemacht hast.«

»Immer und immer die Puppe! Warum steckt dir die so im Kopf?«

»Ich weiß es nicht. Aber sie tut es nun mal. Sie war ja nicht bös gemeint. Sie war meinetwegen sogar schmeichelhaft. Aber sie sitzt mir in der Erinnerung wie ein Dorn: ja, wie ein Dorn. Immer denke ich: Da ist sie nun, irgendwo in der Welt, irgendwo in Deutschland. Und du magst sagen, was du willst – heutzutage wäre jede Frau, mag sie ihren Mann auch noch so sehr lieben, jeden Augenblick imstande, herzugehen und ihn zur Puppe zu machen. Dann wäre die Puppe ihr Held: und ihr Held wäre nicht mehr als eben ihre Puppe. Meine Frau war auch dazu imstande. Sie hats in Gedanken sogar getan. Oh, sie hatte ihre Puppe Alexander, das kannst du mir glauben. Ich habe gehört, wie sie mit anderen Frauen über mich sprach. Und ihre Puppe war ganz beträchtlich törichter als deine. Aber es kommt alles auf dasselbe hinaus. Jede Frau macht sich aus dem Manne, den sie liebt, eine Puppe. Sie ist nicht eher zufrieden, als bis sie die Puppe hat. Und wenn sie sie hat, ist sie ganz und gar zufrieden. Das bedeutet Liebe. Infolgedessen will ich nicht geliebt werden. Ich will überhaupt keine Liebe. Ich will nicht, daß Irgendwer mich liebt. Es ist eine Beschimpfung. Mir ist zumute, als wäre ich vierzig Jahre lang beschimpft worden: durch Liebe, durch die Frauen, die mich liebten. Ich will nicht geliebt werden. Und ich will keine Liebe. Ich will Ehrung und Gehorsam – oder gar nichts.«

»Dann wirst du höchstwahrscheinlich beim ›Gar nichts‹ landen«, sagte Hannele spöttisch. »Denn du darfst mir glauben, daß ich nichts als Liebe zu bieten habe.«

»Dann behalte deine Liebe«, sagte er.

Sie lachte kurz auf.

»Und du?« rief sie, »Du?! Nehmen wir doch mal an, du bekämst, was du verlangst: Ehrung und Gehorsam. Dann hast du nichts weiter zu tun als dazusitzen wie ein Pascha und dich damit füttern zu lassen, nicht?«

»O nein, ich habe vielerlei Dinge zu tun – und ich tue sie auch, ob mit oder ohne Frau.«

»Und was für Dinge sind das, bitte?«

»Ach, nichts besonders Aufregendes. Ich will nach Ostafrika und einem Manne helfen, der sich da drüben sämtliche Knochen bricht, um mit seinen dreitausend Morgen Land fertigzuwerden. Und wenn ich noch eine Anzahl weiterer Versuche und Beobachtungen angestellt und alle erforderlichen Tatsachen beisammenhabe, dann schreibe ich ein Buch über den Mond. Das hab ich vor – mit oder ohne Frau.«

»Und die Frau? – vorausgesetzt, du bekommst das beklagenswerte Geschöpf?«

»Na, die wird dann eben mitkommen, und wir werden da draußen unseren Haushalt gründen.«

»Und sie wird so als Nebenperson all das Ehren und Gehorchen und Haushalten besorgen, während du am Tage draußen herumreitest und nachts den Mond anstarrst.«

Er antwortete nicht. Er starrte in die Ferne, über den See. »Was gedenkst du denn für die Frau zu tun, das arme Ding, während sie sich zu Tode schindet mit all dem Ehren und Gehorchen und der schrecklichen Haushaltarbeit in Afrika? – denn das kann doch gewiß fürchterlich werden. Fürchterlich

»Ja, siehst du,« sagte er langsam, »sie ist eben meine Frau, und ich behandle sie als solche. In den Trauungsformeln ist doch vom Werthalten und Lieben die Rede – also in dem Sinne werde ich sie als meine Frau behandeln.«

»Oh –!« rief Hannele. »Sagtest du ›Lieben‹? Du willst das arme Geschöpf tatsächlich lieben?«

»Nicht im üblichen Sinne des Wortes, nein. Ich will sie weder anbeten noch in sie verliebt sein. Aber sie ist dann meine Frau, und ich werde sie als solche lieben und werthalten.«

»Bloß weil sie deine Frau ist. Nicht um ihrer selbst willen. Ein grauenvolles Schicksal für die unselige Frau – ganz gleich, wer sie ist.«

»Das kann ich nicht finden. Ich finde, es ist ihre höchste Schicksalsbestimmung.«

»Deine Frau zu sein?«

»Frau zu sein – und als Frau geliebt und beschirmt zu werden – nicht als liebelndes Weibchen.«

»Geliebt und beschirmt zu werden, bloß weil sie deine angetraute Frau ist! Nein, danke. An alledem kann ich nichts weiter bewundern als den Dünkel und die Unverfrorenheit.«

»Tja, also so steht die Sache – und daran ist nichts zu ändern«, sagte er und stand auf.

Sie erhob sich ebenfalls, und die Beiden gingen zu der Stelle, wo das Boot festgemacht war.

Als sie stumm über den See fuhren, sagte er beim Rudern:

»Ich reise morgen ab.«

Sie antwortete nicht. Sie saß und sah zu den näherkommenden Lichtern der Villa hinüber. Und dann sagte sie:

»Ich will dich nach Afrika begleiten. Aber ich will nicht versprechen, dich zu ehren und dir zu gehorchen.«

»Auf andere Art will ich dich aber nicht haben«, sagte er sehr ruhig.

Das Boot trieb an den kleinen Landungssteg. Hanneles Freunde standen auf dem Balkon und erhoben ein Begrüßungsgeschrei.

»Hallo!« rief sie zurück. »Ja, da bin ich. Ja, wunderschön wars.«

Dann, zu ihm:

»Willst du mit hereinkommen?«

»Nein«, sagte er. »Ich fahre sofort wieder hinüber.«

Hanneles Freunde kamen die Treppe heruntergerannt, ihr entgegen.

»Du willst mich also nicht haben, auch wenn ich dich liebe?« fragte sie.

»Ich verlange das andere Versprechen«, sagte er. »Es steht in den Trauungsformeln.«

»Hats geregnet? Wie war das Wetter? Warst du auf dem Gletscher?« tönte es aus dem Garten.

»Nein – kein Regen. Wunderschön! Ja, er war ganz auf dem Gletscher«, rief Hannele zurück. Dann, zu ihm, gedämpft:

»Sei kein feierlicher Esel. Komm mit herein.«

»Nein«, sagte er. »Ich will nicht mit hereinkommen.«

»Aber du willst morgen abreisen? Tu's – wenn du es wirklich willst. Und – jedenfalls – vor der Trauung sage ichs nicht. Das hab ich doch auch nicht nötig, nicht?«

Sie trat aus dem Boot auf den Landungssteg.

»Oh,« sagte sie und wandte sich zu ihm zurück, »gib mir doch, bitte, das Bild, ja? Ich will es verbrennen.«

Er gab es ihr.

»Und – komm morgen, ja?« sagte sie.

»Ja. Morgen früh.«

Und er verschwand mit raschen Ruderschlägen in der Dunkelheit.


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