Else Lasker-Schüler
Freunde. Kurze Prosaskizzen
Else Lasker-Schüler

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Ein Amen

Einmal, als ich sie besuchte, malte jemand ihre Hand – eine schmale Dolde am Ast, eine Seele, die blühte. Ellen Neustädter spielt nicht zur Schau; ihr Spiel ist eine tiefe Dichtung. Die Bühne fängt die Geschehnisse ihres Herzens auf und reicht sie dem Besucher, ein vielköpfiges Ganzes. Sie gibt dem Gemach oder der Landschaft die Farbe, und ihr Odem ist überall. Die Damen vom künstlerischen Theater in Moskau könnten ihre Schwestern sein; die haben allerdings ihre Partner, ihre Zugehörigkeit. Ellen Neustädter hat nur einen gleichwertigen Bruder in Berlin: Oskar Sauer. Warum trennt man das rechtmäßige Spielerpaar? Klein Eyolfs Eltern sind sie. Schwere, hehre Paradiesstimmung, düstere Ernte. Eine Engeline: Ellen Neustädter; der Erzengel unter den Schauspielern ist Oskar Sauer. Was ihre Lippen bringen, ist Kunst aus Segen gewölbt. Sein Spiel segnet, ihr Spiel belohnt; ist ihr Wesen aus Glas, sein Wort aus Stahl. Immer erzwingt die Gabe der beiden Wunderkünstler ehrfürchtige Anbetung. Es schneite draußen weiße Sterne. Oskar Sauer war seinen Leiden erlegen in »Nora«. Ich stand noch lange nach Schluß der Vorstellung am Theatertor – ich bildete mir ein, er sei wirklich gestorben. Auch heute wagte ich mich nicht stürmisch zu begeistern. Ellen Neustädters Seele ist eine zagende Dolde. Durch die lange Theaterabendstraße ging ich auf Zehen heimwärts, denn mein Herz träumte noch. Genial ist das Unantastbare, Erzengel ist alles Genie, es erlöst vom Täglichen, bringt Verlorenheit und Seligkeit zugleich.

 


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