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V

Ganz plötzlich war es Herbst geworden, obgleich der August noch nicht zu Ende war. Die Morgen waren kalt und neblig, und wenn die Sonne später am Tage die Nebel zerteilt und verjagt hatte, blieb in der kräftigen, kühlen Luft ein eigener säuerlicher Hauch zurück, eine Vereinigung von salziger Seeluft und dem Modergeruch, der das beginnende Absterben der Pflanzen verkündet.

An so einem kühlen, nebligen Vormittag ruhte Ingeborg auf einem Liegestuhl drunten in dem kleinen Pavillon, der am Abhang vor der Villa übers Meer hinausragte.

In Tücher und Decken dicht eingehüllt, sehr blaß und mit einem ruhigen, müden Ausdruck in dem feinen Gesichtchen, lag sie da. Seit zwei Tagen war sie fieberfrei, und mit Erlaubnis des Arztes durfte sie ein paar Stunden in der frischen Luft zubringen.

Und so lag sie da, schaute aufs Meer hinaus und in die Nebel hinein. Sie ballten sich zusammen, und ein leichter Wind trug sie davon.

Ingeborg stützte den Kopf in die Hand und dachte an das, was ihr widerfahren war – sie hatte ja nichts anderes, an das sie hätte denken können. Alles schien schon so weit zurück zu liegen, schon ganz fern zu sein, obgleich sie wußte, daß erst sechs Tage vergangen waren, seit es geschehen war.

Aber sie war so einsam geworden. Ihr Mann war allerdings viel um sie mit seiner Pflege, seiner Fürsorge, aber sie sprach nur flüchtig mit ihm – sah ihn kaum. Und Jonna, nach der sie in den ersten Tagen ihrer Krankheit gefragt hatte, war nicht erschienen – sie war wohl zu ihrer Mutter zurückgebracht worden.

Das war vorüber und dahin – wie alles andere, das um sie eingestürzt war. Es war entflohen und ausgelöscht.

Sie ganz allein war zurückgeblieben mit dem erkältenden Bewußtsein, daß sie fortan nur auf sich selbst angewiesen sei.

Der Nebel über dem Wasser draußen wurde jetzt offenbar wieder dichter, er wogte und ballte sich zusammen und wurde allmählich sonderbar lebendig ... Weit draußen tauchte ein Gesicht auf – ein alter Mann mit aufgesperrtem Mund, aber es verzerrte sich und zerfloß in ein anderes Bild, das nun dahinjagte gleich einer weiblichen Gestalt mit ausgebreiteten Armen ...

Ingeborg suchte noch weitere Gestalten in den wogenden Nebelmassen zu erkennen – und bald sah sie nichts anderes mehr als fliehende Schatten, lauter Körper und Gesichter, die miteinander davonjagten, ineinander glitten, verschwanden ... wieder auftauchten und sich schließlich – draußen auf dem Meere ganz auflösten.

Plötzlich vernahm Ingeborg leise Schritte auf der hohen Treppe, die von ihrem Platze aus auf die Veranda hinaufführte, und im nächsten Augenblick erschien ihr Mann mit Jonna auf dem Arm.

Er blieb auf der obersten Stufe stehen und sah Ingeborg fragend an.

Ingeborg betrachtete die beiden: Jonna trug das weiße Sammetmäntelchen, das sie am Tage ihrer Ankunft angehabt hatte, und Hartwig einen grauen Jackettanzug. Unbeweglich standen die beiden da droben. Ingeborg war es, als lächle Hartwig wie etwas verlegen, und als habe Jonnas Gesichtchen einen ernsthaften, scheuen Ausdruck, während sie, ein Fingerchen im Mund, auf dem Arm ihres Vaters saß und zu Ingeborg hinschaute.

Halb geistesabwesend betrachtete Ingeborg die beiden unverwandt. Sie waren nicht so ganz lebendig für sie, sondern glitten gleichsam in die nebelhafte Schattenwelt hinein, die sie soeben umgeben hatte.

Aber jetzt räusperte Hartwig sich, und er trat mit der Kleinen näher.

»Ja,« sagte er mit einem stärkeren und noch verlegeneren Lächeln, »Jonna kommt, dir adieu zu sagen.«

»Ist sie noch nicht fortgewesen?« fragte Ingeborg ruhig.

»Nein, ich meinte, ich wollte sie nicht ... es wäre besser, wenn wir warteten, bis du ganz hergestellt seiest – das meinte der Doktor auch ... und jetzt kann sie ja hübsch danke sagen ...«

»Wo ist sie denn diese Zeit über gewesen?« fragte Ingeborg.

Hartwig setzte sich mit Jonna auf einen in der Nähe stehenden Stuhl. »Sie hat unten bei Laura gewohnt,« begann er dann, »aber ich habe für sie gesorgt, so gut ich konnte, nicht wahr, Jonna?« fuhr er, zu dem Kinde gewendet, fort.

Jonna legte sich in seinen Arm zurück, betrachtete aber, das Fingerchen noch immer im Mund, Ingeborg unverwandt.

»Du würdest sie wohl nur ungern wieder hergeben?« fragte Ingeborg.

»Das kommt natürlich ganz auf dich an,« erwiderte er rasch und neigte sich leicht gegen Ingeborg vor ... »Ich habe gar keine Wünsche mehr ... nach diesem Schrecken ... gar keine ... ausgenommen natürlich, daß es dir wieder ganz gut gehen möge ...« fügte er hinzu.

Ingeborg hatte den Kopf in die Hand gestützt und betrachtete ihren Mann und sein Kind. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden, die da mit demselben etwas scheuen, fremden Ausdruck im Gesicht vor ihr saßen, war unverkennbar. Ja, und der Mund war ja ganz derselbe bei beiden ...

Aber Jonna sah aus, als kennte sie Ingeborg gar nicht mehr.

»Ob mich Jonna wohl ganz vergessen hat?« fragte Ingeborg ruhig.

»Das fehlte nur noch!« rief er lächelnd. »Willst du nicht hingehen und ein Händchen geben?« sagte er zu der Kleinen.

Aber Jonna rührte sich nicht, sondern sah Ingeborg nur immerfort an.

»Ich muß mich ja verändert haben,« sagte Ingeborg mit einem flüchtigen Lächeln. »Es ist nur merkwürdig, daß sie mir das ansieht ... von außen.«

»Wer sitzt denn dort, Jonna?« fragte Hartwig und schüttelte sie ein wenig. »Nun, sag es! Wer ist es?«

»Innbor,« flüsterte die Kleine, hielt aber zugleich mit ihrem Händchen Hartwigs Daumen krampfhaft fest.

»Ja ja, freilich,« sagte ihr Vater. »Nun, willst du nicht zu Innbor hin?«

Aber die Kleine rührte sich nicht.

»Sie hat Angst vor mir,« sagte Ingeborg kopfschüttelnd.

»Aber das wäre doch merkwürdig!« rief Hartwig. »Sie hat ja keine Spur von Grund dazu.«

»Sie fürchtet sich vor dem Kummer,« versetzte Ingeborg. »Kinder haben ja Instinkt.«

Er schwieg – und alle drei saßen unbeweglich da.

Doch plötzlich streckte Ingeborg die Hand aus:

»Jonna!« rief sie sanft.

Noch einen Augenblick zögerte Jonna. Dann ließ sie sich wie mit einem plötzlichen Entschluß auf den Boden hinabgleiten – stand noch einen Augenblick still – und ging dann, zögernd und mit kleinen Pausen, zu Ingeborg hin und legte ihr winziges Händchen in deren ausgestreckte Rechte.

Ingeborgs Hand umschloß die der Kleinen und hielt sie einen Augenblick fest; diese kleine lebendige Hand in der ihrigen tat ihr wunderbar wohl. Und sie lächelte dem Kinde zu.

»Auf!« sagte Jonna. »Auf!«

Hartwig erhob sich rasch und trat näher.

»Willst du sie haben?« fragte er.

Sie erwiderte nichts, machte aber Platz neben sich auf dem Stuhl, und Hartwig setzte Jonna neben seine Frau.

Einen Augenblick betrachtete er die beiden; dann sagte er:

»Ich gehe hinauf, um zu sehen, ob der Wagen da ist.« Er nickte ihnen zu, ging zurück und verschwand – vom Nebel ausgelöscht wie ein Schatten.

»Er möchte sie gerne behalten, seiner selbst wegen,« dachte Ingeborg. »Sollte ich es auch tun – meinetwegen?«

Ganz still und noch ein wenig erschrocken, saß Jonna bei Ingeborg und spielte sachte mit deren Hand, die auf dem Schoß der Kleinen lag.

Aber Ingeborg merkte es nicht – sie dachte an das Leben, das nun vor ihr lag – zusammen mit Ernst. Die Leere, die entstehen mußte – die armen Tage – die langen, langen, grauen, toten Jahre ... was sollten sie da einander sagen, sie und ihr Mann – sie hatten ja nichts mehr, worüber sie hätten sprechen können!

Wie die kalten Schatten draußen war ihr gemeinsames Leben jetzt – Schatten von dem Leben, das einst gewesen war ...

»Sieh!« sagte Jonna plötzlich. »Sieh!«

Ingeborg sah herunter.

Die Kleine hatte einen von Ingeborgs Fingern ergriffen und zeigte eifrig einen schmalen Goldreifen, auf dem drei kleine Brillanten nebeneinander glänzten. Dieser Ring war das erste Schmuckstück gewesen, das sie von ihrem Manne erhalten hatte, das einzige, das sie immer trug.

»Ja sieh,« sagte Ingeborg. Sie zog den Ring ab, und mit einer kleinen, ruhigen Handbewegung warf sie ihn über das Geländer der Veranda hinab, so daß er zwischen das Riedgras in den Sand fiel.

»Es war lieb von dir, daß du mir ihn gezeigt hast, Jonna,« sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Nun ja, du bist ja auch die nächste dazu!«

Aber mit weit aufgerissenen Augen und erhobenem Arm schaute Jonna dem Ringe nach, der vor ihren Augen verschwand.

»Du kannst ja nichts dafür, du kleines Ding,« flüsterte Ingeborg. Dann setzte sie sich in ihrem Stuhl auf, zog Jonna näher heran, strich ihr sanft über die Wangen und betrachtete sie forschend.

»Dich hätte von Rechts wegen ich haben sollen,« dachte sie.

Und sie nahm das Gesichtchen in beide Hände und betrachtete es forschend Zug um Zug.

Ja, ganz der Vater ... der Mund, auch die Augen, die Stirne, der Vater überall.

»Es ist wie ein Vexierbild,« dachte Ingeborg; »zuerst konnte ich nichts finden – jetzt sehe ich nur noch ihn.«

Aber Jonna, der behaglich zumute geworden war, als sie Ingeborgs weichen und doch festen Griff um ihr Köpfchen fühlte, blies die Wangen auf, schnitt Gesichter vor Vergnügen, öffnete das Mäulchen und klappte es klatschend wieder zu.

Ingeborg mußte lächeln.

»Wie lebendig sie doch ist! ... ein Menschenkind ... ein ganzer kleiner Mensch ...«

»Ich habe ihr schon so viel zu verdanken,« dachte sie weiter. »Sie hat mich gelehrt, meine eigene Natur zu verstehen – und sie hat mich von meinen Illusionen geheilt. Jetzt stehe ich auf dem Boden der Wirklichkeit – und was könnte der Mensch in diesem Leben sonst noch verlangen?«

»Meinst du, du könntest einmal Ingeborgs kleine Freundin werden?« fragte sie plötzlich.

»Innbors tleine Eundin,« wiederholte Jonna zustimmend und nickte mit ihrem Köpfchen in Ingeborgs Hände hinein.

Ingeborg küßte sie. »Zum Ersatz, daß dein Vater nicht Ingeborgs Freund bleiben konnte,« sagte sie leise. Aber als sie jetzt Schritte hinter sich hörte, lies sie die Kleine los und richtete sich auf.

Laura war es, die von Hartwig Bescheid brachte.

»Herr Hartwig läßt sagen, daß der Wagen jetzt da sei, und fragen, ob die gnädige Frau ihn benützen wolle.«

»Ich?« fragte Ingeborg und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Nein, lassen Sie nur wieder ausspannen, Laura.«

Das Mädchen ging.

Jonna wurde auf den Boden gesetzt, wo sie sogleich hinter den Stühlen Verstecken zu spielen begann.

Aber Ingeborg schaute über das Meer hin: die Nebel waren im Begriff, sich zu verziehen. Da und dort zeigte sich ein Schein der graublauen Wasserfläche tief drunten – und der Dunst hatte jenen weißlichen Glanz bekommen, der andeutet, daß bald klare Luft sein wird.

Ende

 


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