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Dritter Teil

 

Frau Geheimrat Reinhart an Aenne Hoffmann.

Liebes Fräulein Hoffmann!

Mein Bruder verlässt mich eben. Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck seiner Nachrichten, die mich tief erschüttert haben. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich von alledem bis zu dieser Stunde keine Ahnung hatte. Auch dass ich die gegen Sie angewandten Mittel verwerfe, bedarf nicht der Versicherung. Mein aufrichtiges Mitgefühl gehört Ihnen. Und so unverändert fest in mir der Wille ist, Sie von Peter zu trennen, so leidenschaftlich ist auch mein Verlangen, wieder gutzumachen, was an Ihnen, armes Kind, gesündigt worden ist.

Ich habe meine Schwiegersöhne soeben verständigt. Sie wissen nun, wie ich über die Art ihres Vorgehens denke. Ich habe ihnen mit einer mir sonst fremden Bestimmtheit jeden weiteren Schritt in dieser unglückseligen, verfahrenen Angelegenheit ein für alle Male untersagt. Die Quälerei, die nie hätte beginnen dürfen, hat also ihr Ende.

Zunächst müssen Sie jetzt einmal zur Ruhe kommen. Erst wenn Sie sich von Grund aus erholt haben, werden wir, und zwar in aller Güte und Freundschaft, wieder über Peter reden. Es ist nur natürlich, wenn ich Sie nach dem, was Sie von unserer Seite erfahren haben, um Ihr Vertrauen bitte. Glauben Sie mir, dass mir in dieser Stunde Ihr Wohlergehen ebenso wichtig ist, wie die Trennung von Peter, an der ich, um es nochmals zu sagen, mit aller Bestimmtheit festhalte. Das hindert mich aber nicht, Ihnen als Menschen meine ganze Sorgfalt zuzuwenden und, soweit es in meiner Kraft steht, Ihnen Ihr Leben gestalten zu helfen. Ich möchte Sie bitten, sich nach den Erregungen der letzten Zeit ein paar Wochen vollkommener Ruhe zu gönnen; aus Berlin herauszugehen und sich in guter Luft und anderer Umgebung eine Zeitlang zu erholen.

Auch brauchen Sie irgendeinen verständigen Menschen, mit dem Sie sich aussprechen und beraten können. Mein Bruder, der als Arzt und Mensch gleich vorzüglich ist, wird Sie aufsuchen und Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, mit seinem klugen Rat und seinem guten Herzen zur Seite stehen.

Lassen Sie sich durch das Vergangene nicht niederdrücken und seien Sie überzeugt von der Aufrichtigkeit der Gefühle Ihrer ergebenen

Frau Julie Reinhart.

 

Aenne Hoffmann an Frau Geheimrat Reinhart.

Sehr verehrte gnädige Frau!

Ich bin gerührt von so viel Güte, die mir in meiner jetzigen Verfassung doppelt ans Herz geht. – Mein Besuch bei Ihrem Herrn Bruder und nun Ihr Brief haben mich gesundheitlich mehr gefördert, als es voraussichtlich wochenlanges Ausspannen vermag. Auch glaube ich, dass mein Gemütszustand, sobald ich wieder eine Tätigkeit habe, die mir zusagt und die meinen Fähigkeiten entspricht, sich schnell bessern wird. Und wenn ich dann noch weiss, dass ich in Ihrem Herrn Bruder einen Berater habe, den ich gewiss nicht unnütz beschweren will, so ist das Mass der Zufriedenheit, deren ich ohne Peter fähig bin, voll.

Empfangen Sie, gnädige Frau, den Dank Ihrer Sie verehrenden

Aenne Hoffmann.

 

*

Am Abend desselben Tages besuchte mich der Medizinalrat. Wie einer guten alten Bekannten schüttelte er mir die Hand und stellte einen grossen Strauss Flieder auf den Tisch.

»Ich dachte mir, dass der Raum ein bisschen Leben vertragen würde; da habe ich mir erlaubt …«

Dann sah er sich im Zimmer um und schüttelte unbefriedigt den Kopf.

»Das ist nichts!« sagte er und ging ans Fenster. »Noch dazu Norden; hier müssen Sie raus! Schon der Erinnerungen wegen. – Erlauben Sie, dass ich mich setze?«

»Verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit – aber ich bin so erregt – das alles kommt mir vor, wie ein Traum – schon, dass sich plötzlich jemand um mich bekümmert – und dann: in mir ist alles noch so frisch …«

»Ich verstehe,« sagte er, »ich verstehe durchaus! So was braucht Zeit. – Aber Sie werden mal sehen: in anderer Luft und unter anderen Menschen, wie schnell da alles ein anderes Gesicht bekommt.«

Dann untersuchte er mich sehr gründlich und sagte mir mit einem Gesicht, das ernst und bedenklich war, so sehr er sich auch mühte, das zu verbergen, dass ich arg herunter sei und dass auf der Stelle etwas geschehen müsse.

»Verbrauchte Nerven!« sagte er; »sehr vor der Zeit verbrauchte Nerven! Aber das holen wir wieder ein! Nur heisst's jetzt Ruhe! Absolute Ruhe! Und tüchtig essen! Ganz unterernährt sind Sie!«

»So schlimm steht's um mich?« sagte ich. »Dabei fühle ich mich seit gestern viel besser – mir ist, als wenn ich jetzt alles hinter mir hätte.«

»Das haben Sie auch! Sie sind von einer schweren Krankheit genesen! sind Rekonvaleszentin! Gewiss! Aber die Folgen, die eine solche Krankheit hinterlässt, die müssen wir beseitigen. Sehen Sie, das ist es! Und darum müssen Sie zunächst mal fort, und zwar so schnell wie möglich! Am besten noch heute!«

»Aber wohin soll ich denn?«

»In ein Sanatorium! Sie brauchen sehr sorgfältige Behandlung, die Sie da, wo ich Sie hinschicke, haben werden. Sie müssen raus aus diesem Häusermeer, aus dieser Enge! Sie müssen ins Freie! Diese kahlen, kalten Wände« – und er wies durchs Fenster auf den Hof – »müssen ja einen gesunden Menschen niederdrücken – nun gar einen Kranken. – Also, wie ist's? Heut abend?«

»Das geht ja nicht!«

»Und warum nicht?«

»Ich bin ja in ungekündigter Stellung.«

»Wo?«

Ich erzählte es ihm.

»Also werde ich mit heranfahren.«

Ich wollte widersprechen.

»Es ist für mich nicht einmal ein Umweg. Und wenn es einer wäre! Das ist jetzt mal das Wichtigste: aus dem jungen Fräulein wieder einen gesunden, widerstandsfähigen Menschen zu machen.«

»Und wieviel Zeit, glauben Sie, wird dazu gehören?«

»Viele Wochen! Vielleicht ein Vierteljahr! Und dann dürfen Sie hinterher auch nicht gleich tagsüber acht Stunden an der Schreibmaschine sitzen. Sondern ganz allmählich, nach und nach, wird dann die Arbeit wieder aufgenommen.«

»Sie vergessen, Herr Geheimrat, ich bin darauf angewiesen.«

»Diese kleine Sorge müssen Sie in der Folge uns schon überlassen.«

»Das kann ich unmöglich!«

»Natürlich können Sie das! – Wir sind durch glückliche Verhältnisse dazu in der Lage – Sie nicht. Es ist also nicht mehr als selbstverständlich …«

»Wer denkt denn so?« fragte ich.

»Leider die wenigsten. Das Gros beschränkt sich darauf: »Entsetzlich« zu sagen, wenn es liest, dass wieder mal eine Mutter mit ihren Kindern aus Nahrungssorgen in den Tod gegangen ist. Und den bittren Nachgeschmack solcher Meldung spült man mit einem Glas Champagner herunter. Der Mildtätigkeit ist Genüge geschehen, und man lenkt das Gespräch mit feinem Elan wieder zum Wintersport und den letzten Modeneuheiten. Sie müssen sich schon gefallen lassen, dass das in diesem Falle ausnahmsweise mal anders ist.«

»Das bedrückt mich aber.«

»Lächerlich!« widersprach der Medizinalrat. »Wenn jemand bedrückt zu sein hat, dann sind wir es! Wir haben Sie heruntergebracht! Also haben wir Sie auch wieder heraufzubringen! Das ist ganz einfach unsre Pflicht! Und Sie haben nicht einmal ›danke‹ zu sagen.«

Ich gab ihm die Hand und sagte:

»Sie machen es einem leicht, Wohltaten anzunehmen.«

»Es sind keine Wohltaten!« widersprach er. »Wenn ich meine Hunde auf Sie hetze, und die reissen Sie in Stücke, so bin ich haftbar. Das haben wir getan! Seelisch in Stücke haben die Hunde Sie gerissen! Also kein Wort mehr!« – Er drückte mir die Hand. – »Ich selbst bringe Sie hinüber und spreche mit dem Arzt, der mein Freund ist. Und wenn Sie Lust und Zeit oder irgendeinen Wunsch haben, dann schreiben Sie mir!«

»Wenn ich das darf!«

»Und bis zum Herbst sind Sie längst wieder in einer Position, die Ihnen zusagt – wie, das lassen Sie meine Sorge sein.«

Also, er liess wirklich keinen Widerspruch aufkommen. Er sprach noch über tausend Dinge mit mir, die sämtlich von einer Anteilnahme zeugten, die selbst Verwandten gegenüber rührend gewesen wäre.

Alles, was er sagte, ging so gar nicht auf Wirkung aus, war so gerade und einfach, klang so gar nicht gewollt, – und ging vielleicht darum gerade zu Herzen.

Und als er nach einer Stunde aufstand und von mir ging, war er mir kein Fremder mehr. Und es drückte mich auch nicht, dass er mir in geschlossenem Kuvert Geld für Reiseanschaffungen zurückliess.

Mein Zimmer war mir nun noch einmal so behaglich. Und ich sass ihm in Gedanken noch lange gegenüber und hörte ihm zu.

So, Peter, stelle ich Dich mir vor, wenn Du einmal alt bist. Du hast seinen weichen Mund mit den weissen Zähnen, die ich so liebe, und seine klaren blauen Augen, von denen so viel Güte ausgeht.

 

*

 

Aenne Hoffmann an Frau Geheimrat Reinhart.

Sehr verehrte, gnädige Frau! Ich bitte Sie, Ihnen sagen zu dürfen, dass ich mich seit dem Besuche Ihres Herrn Bruders um vieles ruhiger und freier fühle. Das lang entbehrte, seltene Gefühl, jemanden zu haben, der mir wohl will, macht mich gesund.

Wenn ich trotzdem, und zwar nicht leichten Herzens und erst nach vielem Erwägen, entschlossen bin, von dem gütigen Anerbieten, ein Sanatorium aufzusuchen, keinen Gebrauch zu machen, so ist das weder die Folge falscher Bescheidenheit, noch mangelnden Vertrauens. Sie meines Vertrauens zu versichern, wäre kränkend, und da andererseits die Form, in die Sie Ihre Wohltaten kleiden, mich kaum fühlen lässt, dass Sie die Gebende, ich die Empfangende bin, so würde selbst zarteste Empfindsamkeit keinen Grund zur Ablehnung finden.

Es handelt sich um etwas anderes: so sehr Sie von der Aufrichtigkeit meiner Gesinnung überzeugt sein dürfen, so müsste ich Sie doch in einem Falle, der uns alle – auch ohne dass wir von ihm sprechen – innerlich beschäftigt, enttäuschen. Denn weder Zeit noch Umstände können an meinen Gefühlen etwas ändern, deren Richtung und, wie ich annehmen darf, auch Tiefe, Sie nun kennen. Und wenngleich ich weiss, Sie würden mich trotz allem Guten, was Sie an mir tun, nicht undankbar schelten, wenn ich in meiner Gesinnung fest bleibe, so halte ich es doch für meine Pflicht, das heute schon zum Ausdruck zu bringen.

Ich habe Ihnen bis heute manche Sorge, manchen Kummer bereitet. Wäre ich imstande, Ihnen zu sagen, es wird nicht mehr geschehen, ich würde des Vergangenen wegen keinen Augenblick zögern, Ihre Wohltaten anzunehmen. Ich habe den Frieden Ihrer Familie gestört und werde ihn, durch die Verhältnisse gezwungen, weiter stören. Ich kenne die Welt und die Vorstellungen nicht, in denen Sie leben, aber ich kann mich doch in Ihre Lage versetzen und begreifen, dass Sie, die Sie so viel Liebe und Sorgfalt auf Ihren Sohn verwandt haben, in den Vorurteilen, in denen Sie nun einmal leben, seine Liebe zu mir beinahe wie eine Kränkung empfinden. Ich müsste mich selbst verachten, wollte ich dies Gefühl billigen. Aber ich verstehe es. Und ich sehe daraus, dass mein Glück Ihr Unglück wäre – und umgekehrt.

Und daher – ich weiss nicht, ob es ein guter oder schlechter Zug von mir ist – bedrückt mich Ihre mir gütige Gesinnung, die sich in Taten äussert und die ich nicht in Taten erwidern kann.

Hinzu aber kommt noch eine andere Erkenntnis, die ganz gewiss eigensüchtig ist, die ich aber trotzdem nicht für mich behalten will – mag es auch unklug sein. Sie wissen, gnädige Frau, mit wieviel Niedertracht ich Wochen hindurch zu kämpfen hatte. Diese Niedertracht hat mich in meinem Widerstand gestärkt; hat ihn befestigt; hat mir – in einer Beziehung also – eher genützt als geschadet!

Ihr Kummer aber würde meinen Widerstand womöglich erschüttern, würde zum mindesten den Trotz, der so stark macht, ins Gegenteil kehren. Ich würde darunter leiden, dass ich Ihnen Schmerz bereiten und Sie kränken muss! Und das darf nicht sein!

Und nun denke ich, sehr verehrte Frau, werden Sie begreifen, wenn ich Sie bitte, mir Ihre teilnahmsvolle Gesinnung zu bewahren, im übrigen aber mich mir selbst zu überlassen! Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben und noch tun wollten, und ich werde immer daran denken, dass es in der Zeit meiner höchsten Not Peters Mutter war, die mich vor dem Aeussersten bewahrte!

Und da sich meine Dankbarkeit immer nur in meiner Liebe zu Ihrem Sohne wird äussern können, so wäre es von Ihnen unklug, mich Ihnen noch mehr zu verpflichten, wie es von mir schlecht wäre, mir von Ihnen noch weiterhin Wohltaten erweisen zu lassen. Ich bin, sehr verehrte Frau, Ihre Sie dankbar verehrende

Aenne Hoffmann.

 

Frau Geheimrat Reinhart an Aenne Hoffmann.

Liebes Fräulein Hoffmann!

Prächtig ist die Gesinnung, die aus Ihren Zeilen spricht. Sie geht mir ans Herz und lässt mich von neuem bedauern, mit wie rohen Gewalten gegen Ihre zarte Empfindsamkeit angekämpft wurde. Dass Sie seelisch intakt blieben, dass Sie nicht einmal verbittert wurden, erleichtert mein Gewissen, ohne meine Verantwortung aufzuheben. Es sind keine Wohltaten, die ich Ihnen erweise, es sind einfach Dinge, die mein Gewissen fordert, und die Sie zu verlangen haben! Selbst wenn sie ihren Zweck erfüllen, ist noch lange nicht gutgemacht, was an Ihnen gesündigt wurde.

Missverstehen Sie mich nicht. Ich beanspruche für mich nach wie vor das Recht, Ihre Trennung von meinem Sohne zu betreiben. Hier aber sollte eine gerechte Sache mit schlechten Mitteln erzwungen, mit anderen Worten: eine gute Sache sollte schlecht gemacht werden. Ein auf diese Weise erzwungenes Opfer, das mich moralisch ins Unrecht setzte, hätte ich niemals angenommen. Und so habe ich denn durch diese Kämpfe mehr verloren als gewonnen. Daher muss, ehe wir weiterkämpfen – ich leide genug darunter, dass das sein muss! – die mit unerlaubten Mitteln von uns erzielte Wirkung restlos aufgehoben werden.

Und darum bitte ich Sie in meinem Interesse – auch wenn es Ihnen zuwiderläuft – meinem Wunsche, für Sie sorgen zu dürfen, keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen und mir die Möglichkeit zu geben, den Kampf um meinen Sohn in absehbarer Zeit mit Ihnen wieder aufzunehmen.

Ich werde mich in diesem Kampfe nunmehr darauf beschränken, Sie von der Notwendigkeit einer Trennung im Interesse Peters zu überzeugen. Nicht, weil Sie unwürdig wären – ich wünschte, ich fände ihm in meinen Kreisen eine so tapfere und gesinnungstüchtige Frau! – sondern weil die soziale Kluft – wenn Sie es doch glauben wollten! – ein dauerndes Glück ausschliesst!

Mit freundlichen Grüssen Ihre Sie aufrichtig schätzende

Frau Julie Reinhart.

 

Aenne Hoffmann an Frau Geheimrat Reinhart.

Sehr verehrte, gnädige Frau!

Ich habe um so weniger Veranlassung, mich Ihren Erwägungen zu verschliessen, als es auch nicht in meiner Absicht liegt, Sie mit anderen Gründen zu überzeugen als solchen, die Peter und mich unmittelbar angehen. Ich werde also die Reise heute antreten und mich der vorgeschriebenen Kur unterziehen.

Da mich der Gedanke an Peter aber auch nicht auf Stunden verlässt, so bitte ich Sie, nicht bis zu meiner Rückkehr mit Ihrem Versuche, mir die Notwendigkeit einer Trennung klar zu machen, zu warten.

Ich versichere Sie, dass dieser Aufschub den Nutzen der Kur illusorisch machen hiesse. Dass ich keinen Augenblick Ruhe hätte und immer nur an die Erregungen denken müsste, die mich nach meiner Rückkehr erwarten. Und mit jedem Tag, der diesem Zeitpunkt näher rückt, würde sich meine Unruhe steigern.

Aus diesem Grunde will ich auch das wenige, was ich über Peter und mich zu sagen habe, schon heute aufs Papier zu bringen suchen. Das meiste sind ja Gefühle, für die mir die Ausdrucksmöglichkeit fehlt, und eigentlich ist alles mit den paar Worten gesagt, dass wir uns lieb haben.

Ich kann natürlich nur von mir sprechen – aber wenn Peter auch nur in einem einzigen, noch so nebensächlichen Punkte ein Atom anders fühlte als ich – dann freilich hätte ich kein Recht mehr, Ihren Gründen meine Liebe entgegenzusetzen, die uns eben nur bei vollkommener und bedingungsloser Uebereinstimmung in allem berechtigt, uns über das, was Sie »soziale Kluft« nennen, hinwegzusetzen.

Aber ist denn das überhaupt nötig? Solange meine gute Mutter noch am Leben war, wünschte ich wohl die Legitimierung unserer Beziehungen, die für ihren einfachen Sinn eine Frage der Ordnung und moralischen Sauberkeit war.

Was soll das nun? Nun, wo Mutter unter der Erde liegt, leiste ich gern darauf Verzicht. Mir liegt nichts daran, meine Zugehörigkeit zu Peter durch irgendeinen formalen Akt nach aussen zu dokumentieren. Ja, ich würde es geradezu als störend empfinden, wenn Peter durch irgend etwas anderes als lediglich durch sein Gefühl an mich gebunden wäre.

Andere Erwägungen kenne ich nicht, da mein Interesse am Leben sich in meiner Liebe zu Peter erschöpft. Und damit scheint mir alles gesagt. Ihn aufgeben, heisst, mich aufgeben. Darüber täuscht mich heute nichts mehr hinweg. Und das allein rechtfertigt schliesslich auch die Opfer, für die ich mir Rechenschaft schulde.

Somit werden Sie begreifen, gnädige Frau, dass ich heute mehr denn je Ihren Bemühungen, uns zu trennen, jeden nur erdenklichen Widerstand entgegensetzen muss. Möglich auch, dass Sie auf Grund dieser Bekenntnisse nicht mehr so bedingungslos wie bisher unsere Zusammengehörigkeit bekämpfen, die ihre Berechtigung lediglich aus dem Gefühl herleitet, dass wir getrennt einsam wären. Und darin scheint mir unser Recht, zugleich aber auch unsere Stärke zu liegen.

Diese Offenheit glaubte ich Ihnen, gnädige Frau, schuldig zu sein. Ihre Sie verehrende

Aenne Hoffmann.

 

Frau Geheimrat Reinhart an Aenne Hoffmann.

Mein liebes Fräulein Aenne!

Es ist für mich eine grosse Beruhigung, diese Zeilen nach Schandau richten zu können, wo ich Sie in guter Luft und bester Pflege weiss. Befolgen Sie nur die Ratschläge der Aerzte und seien Sie so viel wie möglich im Freien.

Es gibt um diese Jahreszeit in ganz Deutschland kaum ein Stück Erde, das wie dies selbst das abgestumpfteste Gefühl in uns belebt und uns wieder an tausend schöne Dinge glauben lässt, die wir zu Hause in unseren vier Wänden längst für immer abgeschworen hatten. Streifen Sie planlos umher, halten Sie Herz und Augen offen, und Sie werden fühlen, wie alle schweren Gedanken von Ihnen abfallen, wie das Leben am Ende hell und heiter ist und gar nicht verlangt, so schwer genommen zu werden. Sie werden sich da draussen fragen: »wer bin ich inmitten all der Grösse?« und wie Sie zögernd bekennen werden: »nichts«, so werden Ihnen auch die Schmerzen, die Sie mit sich herumschleppen, als wenn Sie die Last der Welt auf Ihren Schultern trügen, nun weniger schwer erscheinen.

Widersetzen Sie sich nicht! Lassen Sie den Frühling da draussen auf Ihr krankes Gemüt mit seiner ganzen Kraft wirken! Sie werden die grosse Wohltat spüren, die von der Natur ausgeht, die erst den Körper und dann das Herz trifft und jene wohlig leichte Stimmung erzeugt – und werden dann vielleicht erkennen, dass das Leben, auch wenn man es nicht so feierlich ernst und wichtig nimmt, noch immer lebenswert, vielleicht noch lebenswerter ist. Ihre ganz ergebene

Julie Reinhart.

 

Frau Geheimrat Reinhart an Aenne Hoffmann.

Mein liebes Fräulein Hoffmann!

Unsere letzten Briefe haben sich gekreuzt; leider auch unsere Gedanken. Und da ich nach Ihren Zeilen kaum noch hoffen kann, dass Sie Ihre Gefühle für Peter auch nur während der wenigen Wochen Ihres dortigen Aufenthalts zurückdrängen, so will ich Ihrer Bitte folgen und über Peter mit Ihnen sprechen.

Wie ich, die ich Sie nicht kränken will, auf Ihre Liebe Rücksicht nehme, deren Ernst und Tiefe ich erkannt habe, so bitte ich Sie, mir meine Erfahrung zugute zu halten, die, wie Sie wissen, weit, sehr weit zurückreicht. Ich glaube Ihnen aufs Wort! Also auch, dass Sie nicht die Absicht haben, Peters Frau zu werden. Ich für meine Person würde mich vielleicht damit abfinden, dass Peter zeitlebens Junggeselle bleibt; würde es um so leichter, da ich ihn nach meinem Tode in der Obhut einer Frau weiss, deren »Interesse am Leben sich in der Liebe zu Peter erschöpft«. Aber: wie diese Art des Zusammenlebens Ihrer seligen Mutter aus Ordnungssinn und einem Gefühle moralischer Sauberkeit heraus nicht behagte, so kann auch ich mich, und zwar aus denselben Gründen, nicht mit dem Gedanken abfinden, dass dieser, in diesem Falle gewiss nicht unsittliche, immerhin aber ungewöhnliche Zustand zeitlebens fortdauert.

Ich gehe noch weiter: meine Liebe zu Peter und meine Achtung vor Ihnen ist viel zu gross, als dass ich es ertrüge, die Frau, die er liebt und die zu ihm gehört, von der Welt missachtet zu sehen. Auch dass von dieser Missachtung mehr als nur ein Schatten auf Peter zurückfällt, werden Sie zugeben. Das allein wird Sie nach meiner Ueberzeugung bestimmen, diesen Gedanken fallen zu lassen.

Aber, mein liebes Fräulein, nachdem ich Ihren Gefühlen Rechnung getragen habe, bitte ich Sie, nunmehr auch meine Erfahrung zu Worte kommen zu lassen. Und ich bitte Sie, mir zu glauben, dass so ernst fundierte Liebesverhältnisse wie das Ihre, bei noch so festem Vorsatz des Gegenteils, mit der Zeit doch alle Male – in Ehe ausarten! Ich kann Ihnen Dutzende solcher Fälle nennen. Und nun halten Sie sich bitte die Wirkungen einer solchen Ehe vor Augen! Ich will sie nicht der Reihe nach aufzählen. Aber ich denke, Sie sind nicht so weltfremd, um nicht zu wissen, mit welchen Gefühlen man Sie in der Gesellschaft empfangen, respektive nicht empfangen würde. Denn Peter wäre vor die Wahl gestellt, entweder jeden gesellschaftlichen Verkehr überhaupt abzubrechen oder ihn – es ist hart, aber es muss einmal ausgesprochen werden – ohne seine nicht gesellschaftsfähige Frau fortzuführen. Unterschätzen Sie das nicht! Es ist mehr als nur eine Aeusserlichkeit! Es ist eine fortgesetzte Kränkung. Und da Sie sich die Schuld daran zuschreiben müssten – bedenken Sie, wie Sie darunter leiden würden!

Es tut mir schon wehe, liebes Kind, nur diesen Punkt Ihnen gegenüber zu berühren. Einen von vielen. Aber genügt nicht schon er, um Zweifel in Ihnen wach zu rufen, ob – sagen wir: seine Liebe diese dauernden Kränkungen ertragen wird?

Ersparen Sie mir doch, Ihnen noch mehr weh zu tun! Glauben Sie doch, dass ich es neben dem Glück meines Sohnes, das mir natürlich über alles geht, auch mit Ihnen gut meine!

Herzlichen Gruss
Ihre Julie Reinhart.

 

Dr. Peter Reinhart an seine Mutter.

Liebe Mutter!

Meinen ausführlichen Zeilen, die ich Dir gestern schrieb, will ich nach Empfang Deines heutigen Briefes schnell noch ein paar Worte beifügen. Ich wiederhole, dass ich dankbar anerkenne, mit welchem grossen Interesse Ihr Euch alle um meine Zukunft müht, und dass mich die Karriere, die Ihr mir vor Augen führt, natürlich sehr reizt. Es wäre ja unnatürlich, wenn das anders wäre! Denn ein gewisses Streben liegt ja wohl in jedem Menschen. Ich sage also mit aller Bestimmtheit ja und wäre des guten Zweckes wegen auch bereit, noch ein Jahr länger in den Kolonien zu bleiben. Um so mehr als ein Vierteljahr dazwischen liegt, das ich zu Hause bei Dir verleben könnte!

Und weiter: ich sehe auch ein, dass an einer Ehe mit Aenne diese wie jede andere Staatskarriere scheitern würde. Ganz gewiss! Aber die beiden Schlüsse, die Ihr daraus zieht, kann ich nicht, wenigstens nicht ohne weiteres, anerkennen. Aenne, an der ich, um es vorweg zu sagen, noch immer hänge, brauchte ja nicht meine Frau zu werden. Du verstehst: es gibt hier viele höhere Beamte, denen eine mehr oder weniger junge und hübsche Frau das Haus führt. Das könnte sie auch! Und ich wäre sehr dafür, dass sie, statt beim Notar zu arbeiten, irgendwohin ginge, wo sie Haus und Wirtschaft führen lernt, vielleicht sogar mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in unseren Kolonien. So was gibt's gewiss, und Ihr werdet, wenn Ihr nur den guten Willen habt, schon das Richtige für sie finden. Eine Ehe brauchtet Ihr nicht zu befürchten; die würde, wenn das meine Position gefährdet, schon an ihrem Widerstande scheitern. Diesen Vorschlag bitte ich Euch als ersten und mir liebsten zu erwägen.

Und nun der zweite: Ich sehe nicht ein, warum ich, selbst, wenn ich mich aus irgendwelchen Gründen, die ja auch bei ihr liegen können, von Aenne trenne, dann ausgerechnet die kleine Rosen heiraten soll. Das komische ist: ich kenne sie nämlich wirklich! Ich war – ich entsinne mich nicht mehr wo – auf irgendeinem Korpsball mit ihr zusammen. Und ich weiss auch noch, dass ich, obgleich sie links von mir bei Tische sass, sehr enge Fühlung mit ihr nahm und sie in ihrem Auto – die Zofe schlief auf dem Rücksitz oder sie tat doch so – nach Hause brachte. Den Verlobungskuss hat sie – unter uns! – also schon weg, was immerhin den Fall erleichtert und ihm sogar, wenigstens in meinen Augen, die allerdings von der Tropensonne etwas geblendet sind, einen Schein Romantik gibt. Dich, Mutter, wird das, wie ich Dich kenne, wohl eher ernüchtern. Aber sieh, obschon wir beide nie mehr aneinander gedacht haben, könnte man der Welt gegenüber unsere Liebe doch von jener Nacht her datieren, und es machte sich gewiss gut, wenn es hiesse, die lieben sich schon seit fünf Jahren!

Ausser diesem Kuss weiss ich von Fräulein Rosen aber wirklich nichts. Sie soll sehr hübsch und klug und elegant sein! Das ist viel! Und da ihr Vater, dessen einzige Tochter sie ist, zu den sechs ersten Steuerzahlern Berlins gehört, ich in der mir zugedachten Karriere aber stark werde repräsentieren müssen, so scheint in der Tat viel für diese Verbindung zu sprechen. Daran, dass ich keine Schulden habe, wird sich mein zukünftiger Schwiegervater hoffentlich nicht stossen.

Soviel über das Projekt. Aber ich wiederhole: ich halte nach wie vor zu Aenne: nur wenn sie anderen Sinnes geworden ist, was ich aus ihrem eigenen Munde hören müsste, wäre ich bereit, die Bekanntschaft mit Fräulein Rosen – wie viele mögen sie in den fünf Jahren nach Hause gebracht und geküsst haben! – zu erneuern. Also, Mutter, nun weisst Du Bescheid!

In Liebe
Dein Peter.

 

Aenne Hoffmann an Frau Geheimrat Reinhart.

Sehr verehrte, gnädige Frau!

Ich habe Ihnen für zwei Briefe, die schnell aufeinander folgten, zu danken. Vor allem aber für Ihre Güte, die mich hier leben und gesunden lässt.

Schade, dass zwischen Ihren beiden Briefen nicht ein Zeitraum von Tagen lag. Es wären schöne Tage für mich gewesen!

Nun, unter dem Eindruck des ersten Schrittes, den Sie in Verfolg Ihres Zieles taten, ist es gedrückt und trübe um mich her.

Ich kenne den Wert des gesellschaftlichen Verkehrs nicht und kann daher auch nicht beurteilen, wie weit er das Glück eines Menschen ausmacht. Ich weiss nur, dass Peter ihn nicht sonderlich hoch bewertet und mehr als einmal, wenn er unter Menschen musste, geäussert hat: wie viel lieber bliebe ich heute bei Dir!

Trotzdem, sehr verehrte Frau Geheimrat, werden Sie nicht ganz unrecht haben. Denn selbst in den Fällen, in denen man freiwillig gern längst verzichtet hätte, kränkt ein gezwungener Verzicht. Das würde hier der Fall sein. Und ich wäre der Anlass. Ja! Sie haben recht, er würde darunter leiden und ich nicht minder.

Aber glauben Sie wirklich, dass solch ein äusserer Anlass, der im ersten Augenblick vielleicht verstimmen und die Eitelkeit kränken kann, imstande wäre, irgendwie unsere Liebe zu erschüttern?

Darin liegt ja gerade ihre Stärke, dass sie keine Menschen braucht, dass wir die ganzen Jahre über allen Menschen und jeder Zerstreuung aus dem Wege gingen. Nicht, weil wir wie Jungverliebte die Einsamkeit suchten, um uns Zärtlichkeiten zu sagen. Darüber waren wir nach den ersten Wochen hinaus. Das instinktive Gefühl, dass wir zusammengehören, war bestimmend. Und ist es bis heute geblieben.

Wir genügen uns! Und darin scheint mir die Erwiderung auf Ihre Zeilen und zugleich die Abwehr zu liegen. Für beide Fälle, die dadurch gerade so unterschiedslos werden. Denn ob Freundin oder Frau, die Liebe bleibt darum dieselbe. Und mein Wunsch ist es, dass Sie sie nie auf eine härtere Probe stellen mögen.

Ihre Sie dankbar verehrende
Aenne Hoffmann.

 

*

»Ist es Fräulein Rosen?« fragte Frau Reinhart den Diener, der mit einem silbernen Tablett in der Hand ins Zimmer trat.

Der Diener warf einen Blick auf die Karte, die auf dem Tablett lag, verbeugte sich und sagte:

»Jawohl, gnädige Frau!«

Er wusste es längst.

»Führen Sie die Dame bitte in den Salon.«

Als der Diener draussen war, wandte sie sich zu dem Medizinalrat, der neben ihr sass, und sagte:

»Du kannst dir gar nicht denken, Max, wie schwer mir das fällt!«

»Ich begreif das schon!« erwiderte der und stand auf. »Immerhin …« er zog die Schultern hoch.

»Was meinst du?« fragte sie.

»Entweder oder! – Karriere oder Gefühl! Beides geht nicht.«

»Leider!« seufzte sie.

»Und da du willst, dass er Karriere macht …«

»Er selbst will es,« unterbrach sie ihn.

»Um so mehr musst du die Konsequenzen ziehen und fest bleiben. Meine Ansicht kennst du, – wenn's mein Sohn wäre – ich wüsste, was ich täte.«

»So erschwer' es mir doch nicht noch!«

»Fällt mir nicht ein. Ich bin mir ganz klar, dass du gar keine Wahl hast. Du hast Familie, hast Schwiegersöhne – und was für welche! – da darfst du nicht nach deinem Gefühl gehen, da musst du Rücksichten nehmen. Und wenn dir die Familie Rosen nicht passt – schliesslich, du heiratest ja nicht – und an die Tochter wirst du dich gewöhnen.«

»Seh ich dich abends?« fragte sie.

»Gewiss! Ich muss doch wissen, wie sie dir gefallen hat.«

Er gab ihr die Hand und ging.

Frau Reinhart öffnete die Tür zum Salon und begrüsste Fräulein Rosen, das allerliebst aussah, zurückgelehnt auf einem Sessel sass und in einem Barockspiegel, der ihr gegenüber hing, mit ihren hübschen Beinen kokettierte.

Als Frau Reinhart ins Zimmer trat, stand sie auf und ging ihr ein paar Schritte entgegen.

»Guten Tag, mein Fräulein,« sagte Frau Reinhart freundlich und gab ihr die Hand. »Ich freue mich, dass ich Sie kennen lerne.«

Margot war gar nicht verlegen. Sie machte einen tiefen Knicks und küsste Frau Reinhart die Hand.

»Oh! Wie artig!« sagte die. – »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Als sie sich gegenübersassen, sagte Frau Reinhart:

»Sonderbar! Da wohnt man nun jahrelang nebeneinander und kennt sich nicht einmal vom Sehen.«

»Wir kennen Sie ganz genau,« erwiderte Margot.

»So?« fragte Frau Reinhart, »woher denn?«

»Ach schon ewig lange!«

»Nun, gar zu lange kann das bei Ihrer Jugend ja wohl kaum der Fall sein.«

»Ich entsinne mich noch genau, als ich vor zwölf Jahren zur Schule kam und einer Freundin wegen in eine Privatschule wollte, dass Mama sagte: »Unsinn!« – das ist nämlich ihr zweites Wort – »Du gehst in die Charlottenschule! Wie alle jungen Mädchen aus ersten Häusern,« und dann zählte sie eine ganze Reihe von Namen auf, und ich weiss genau, darunter auch Fanny und Elise Reinhart.«

»Das sind allerdings meine Töchter. Und Sie kamen in die Charlottenschule?«

»Ja! Das heisst, lange hat das Vergnügen nicht gedauert.«

»Wie? Sie sind nicht bis zu Ende dagewesen?«

»I Gott bewahre! In diesen städtischen Schulen ist man ja so gewissenhaft und kleinlich.«

»Nach welcher Richtung?«

»Die Leute verlangen, dass man sich an ihre Ferien hält.«

»So?«

»Sie stehen ganz ausserhalb der grossen Welt und wundern sich, wenn man während der Schulzeit nach Meran oder St. Moritz fährt.«

»Da haben sie auch recht.«

»Aber ich bitt Sie! Dann sollen sie die Ferien anders legen. Sie können doch von einer Familie, die auf sich hält, nicht verlangen, dass sie im Februar statt in St. Moritz in Berlin sitzt.«

»Man hat Ihnen also den Urlaub verweigert?«

»Denken Sie, Frau Geheimrat, die Frechheit! Der Direktor sagte: nein! Obgleich mein Vater persönlich bei ihm antelephonierte.«

»Sehen Sie mal an!« sagte Frau Geheimrat, und Margot war so im Reden, dass sie die Ironie gar nicht herausspürte.

»Papa war natürlich ausser sich und wollte sich beim Minister beschweren. Aber Mama meinte: ›Unsinn! Was versteht denn so 'n Schulmeister von gesellschaftlichen Dingen!‹ – Unser Hausarzt schrieb ein Attest.«

»Was schrieb er denn da hinein?«

»Irgendwas, was Mama ihm diktierte – jedenfalls, ich bekam den Urlaub.«

»Nun also!«

»Ja, aber dann, zwei Monate später, im April, als wir natürlich nach Meran reisten …«

»Aha! Ich kann mir schon denken,« sagte Frau Reinhart, »der Herr Direktor fand das vermutlich ganz und gar nicht natürlich.«

»Richtig!« rief Margot, »Sie kennen diese Outsider.«

»Wen?« fragte Frau Reinhart.

»Sie interessieren sich nicht für Rennen?«

»Durchaus nicht!«

»Schade!« sagte Margot, »für mich fehlt einem Sommer ohne die grosse Woche in Baden-Baden der richtige Abschluss; also Outsider, das ist ein sportlicher Ausdruck und bedeutet so viel wie …«

»Danke!« unterbrach sie Frau Reinhart, »wir standen noch bei der Schulbildung, dazu gehört das ja wohl kaum.«

Uebermässig sympathisch ist sie nicht, dachte Margot – und wusste nicht, dass Frau Reinhart in diesem Augenblick dasselbe dachte. Es war wohl das einzige Mal, dass beide gleich empfanden.

»Was geschah also im Februar?« fragte Frau Reinhart, der daran lag, das Leben und den Bildungsgang ihrer präsumtiven Schwiegertochter kennen zu lernen.

»Papa nahm mich von der Charlottenschule herunter, und ich kam in eine Privatschule. Na, da konnte ich natürlich machen, was ich wollte. Wenn einem da etwas nicht passte, drohte man einfach mit Abgang, und der Direktor wickelte einen in Watte.«

»Und was haben Sie da gelernt?«

»Gelernt?« sie dachte nach, »viel nicht; aber Mama meinte: ›Unsinn! Du hast es ja Gott sei Dank nicht nötig‹.«

»Und später, nach der Schule, haben Sie da noch irgendwie etwas Ernstes getrieben?«

»Gott ja! So zwischen Sport und Gesellschaften 'n bisschen Literatur, Malerei, Klavier und Gesang.«

»Eines gründlich, wäre wahrscheinlich praktischer gewesen.«

»Nein! Nein!« widersprach Margot, »dafür bin ich nun gar nicht! Nur nichts gründlich! Zuerst, da interessiert mich alles. Wenn ich mich dann aber damit beschäftigen soll, kaum, dass ich hineinsehe, habe ich auch schon genug. So ist's mir bisher mit allem ergangen, ausser mit dem Sport. Na, und dann – aber das wissen Sie wohl?«

»Was?« fragte Frau Reinhart.

»Dass ich eine der besten Tänzerinnen von Berlin bin.«

»Das wusste ich nicht.«

»Richtig, da fällt mir ein!« rief Margot, »als ich vor fünf Jahren Tanzstunde bekommen sollte, da war auch von Ihnen die Rede.«

»So?«

»Da ging Mama nämlich alle Familien durch, die uns damals erreichbar waren. Viel waren es nicht, Sie wissen, Papa hat sein grosses Vermögen erst in den letzten acht Jahren erworben.«

»Das interessiert mich nicht,« sagte Frau Reinhart, und Margot dachte: so'n Schwindel! Als ob ich sonst hier sässe. – Aber sie erinnerte sich ihrer Kinderstube und sprach es nicht aus, sondern sagte:

»Jedenfalls war auch damals von Reinharts die Rede, und ich weiss noch genau, dass Mama ihren Friseur beauftragt hat, doch mal einer gemeinsamen Tanzstunde wegen bei Ihnen anzutippen – o Gott, schon wieder so'n Sportausdruck!« sagte Margot und erschrak.

»Bei Ihrem Friseur?« fragte Frau Reinhart ganz entsetzt.

»Ja!« erwiderte sie und war erstaunt, »weshalb denn nicht?«

»Ja, wer ist denn dieser Friseur?«

»Wir haben doch seit Jahren denselben.«

»Soo?«

»Das wussten Sie nicht?« sagte Margot und dachte: die Frau kann sich aber verstellen.

»Und durch den lässt Ihre Frau Mutter so etwas erledigen? Der vermittelt Ihren Verkehr?«

»Gott, Frau Geheimrat, ohne ihn wüsste man doch überhaupt nicht, was in der Berliner Gesellschaft vorgeht!«

»Und der hat Ihnen erzählt, dass er sich mit mir über Ihre Tanzstunde unterhalten hat?«

»Das weiss ich nicht. Jedenfalls: aus Reinharts wurden Beers; Sie wissen, von Beer und Mass.«

»Ich kenne sie nicht.«

»Da verlieren Sie auch nichts; es ist nämlich nicht viel los mit ihnen. Er ist erst kürzlich Kommerzienrat geworden; soll sonst aber n' ganz anständiger Mensch sein. – Jedenfalls Verkaufsklasse.«

»Wie?« fragte Frau Reinhart.

Margot erschrak:

»Ach so! Ich bin schon wieder bei meinen Pferden – jedenfalls, ich weiss …«

Frau Reinhart wurde unruhig – sie brach ab:

»Auf alle Fälle: Sie lernten tanzen; mit wem, das spielt ja wohl keine Rolle.«

»Unsinn!« platzte Margot heraus – beide erschraken. Margot wurde sogar verlegen.

»Verzeihen Sie bitte,« sagte sie, »ich habe mir das so von Mama angewöhnt – es ist schrecklich! Ich wollte sagen: eine Rolle spielt es schon, mit wem man tanzt. Mir zum Beispiel …«

»Lassen wir das!« unterbrach Frau Reinhart, »mit dem, was wir zu besprechen haben, hat es jedenfalls nichts zu tun.«

Margot widersprach.

»Ich möchte doch aber, dass Sie mich kennen lernen!« sagte sie lebhaft.

»Ich kann mir schon ein Bild machen,« erwiderte Frau Reinhart.

Margot strahlte.

»Das freut mich,« sagte sie, »dass ich Ihnen gefalle. Ich bin im Anfang nämlich immer etwas schüchtern …«

Frau Reinhart konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»… aber das verliert sich. Ich gewinne im näheren Verkehr.«

»Das sollte mich freuen!«

»Ganz bestimmt,« ereiferte sich Margot, »fragen Sie Bertholds – das sind doch Bekannte von Ihnen – die kennen mich.«

»Ich meine,« erwiderte Frau Reinhart, »wir sollten, statt uns von Bertholds zu unterhalten, doch lieber über Dinge reden, die uns im Augenblick näher liegen.«

Margot tat verlegen. Sie sah zur Erde und sagte:

»Gott ja! Ich kenne ja Ihren Sohn.«

»Er hat es mir geschrieben.«

Margot war erstaunt:

»So? Erinnert er sich meiner? – Ich glaube, wir sind mal irgendwo auf einer Gesellschaft zusammengewesen.«

»Ich glaube auch!« sagte Frau Reinhart und sah Margot fest in die Augen.

»Wo war es doch gleich?«

Margot dachte nach:

»Ich komme nicht drauf.«

»Sollte es nicht auf einer studentischen Feier gewesen sein?«

Margot besann sich:

»Richtig! – Auf dem Stiftungsfeste des S. C.«

»Stimmt!« sagte Frau Reinhart, »und wenn er sich nicht irrt, dann hat er Sie damals in Ihrem Auto auch nach Hause begleitet.«

»So?« sagte Margot so ungezwungen, dass man deutlich sah, sie entsann sich nicht. Und Frau Reinhart schloss daraus, dass dies zärtliche Rencontre im Automobil, das sie so empörte, für Margot durchaus kein ungewöhnliches Erlebnis war. –

»Sie wissen, dass es der Wunsch meines Sohnes – und auch der Ihrer Familie ist, dass Sie und mein Sohn sich näherkommen.«

»Das meine ich auch; wenn wir uns verloben, so müsste er – schon der Leute wegen – wenigstens auf ein paar Tage herüberkommen.«

»Wie …?« Frau Reinhart verstand – oder begriff sie nicht.

»Nicht wahr, das meinen Sie auch? Denken Sie, Mama ist darin so komisch.«

»Wieso? – Was meint denn die?«

»Sie sagt: Unsinn! Rüberkommen! Als wenn das so 'n Katzensprung wäre! Ihr wohnt – wenigstens für die Welt – lange genug nebeneinander, um euch zu kennen.«

»Das ist auch eine Auffassung!« sagte Frau Reinhart, und Margot, die den Spott nicht fühlte, erwiderte:

»Gewiss! Mama ist überhaupt eine gescheite Frau! Wenn man bedenkt, was wir heute für ein Haus ausmachen! Und wie es noch vor fünf Jahren bei uns aussah! Und Sie dürfen mir glauben, das ist – vom Gelde abgesehen – allein Mamas Verdienst.«

»Ich glaube es!« sagte Frau Reinhart. »Und ich habe auch schon gehört, dass man sich Leute ins Haus lädt, von denen man nichts weiter als den Namen und das Einkommen kennt. In diesem Falle aber, ich meine bei Peter und Ihnen, wo es sich doch immerhin um etwas mehr als ein Diner, nämlich um eine Ehe, handelt, da scheint mir doch, dass man sich erst etwas näher kennen müsste, ehe man sich verlobt! Sie können ja gar nicht wissen, ob Ihnen mein Sohn gefällt?«

Margot lächelte überlegen; sie öffnete ihre Handtasche, die sie am Arme trug, und entnahm ihr ein kleines Blatt, auf dem ein Bild war.

»Bitte!« sagte sie und reichte es Frau Reinhart. »Peter gefällt mir ganz ausgezeichnet! Sie kennen das Bild? Es war vorige Woche in ›Sport im Bild‹. – Schade, wenn wir da schon verlobt gewesen wären, wäre ich mit hineingekommen – oder glauben Sie, dass sich das später noch einmal machen lässt?«

Frau Reinhart reagierte nicht.

»Ihre Frau Mutter und Sie wären also bereit, ohne dass Sie mit meinem Sohne auch nur gesprochen haben, die Verlobung zu veröffentlichen?« fragte sie.

»Gott, wissen Sie, wir sind doch moderne Menschen! Auf das, was wir miteinander zu sprechen haben, werden wir beide gern verzichten. Ich weiss, was er mir sagen will, und er weiss, dass ich nicht nein sagen werde. Wenn es also Umstände macht, so kann er meinetwegen drüben bleiben.«

»Aber zur Hochzeit, nicht wahr, da müsste er sich schon selbst bemühen?«

Margot wusste nicht, ob sie das ernst meinte, oder ob es ein Scherz war, und auf gut Glück sagte sie:

»Natürlich! Das müsste er!« und sie war froh, als Frau Reinhart erwiderte:

»Na, dann bin ich beruhigt!«

»Aber,« meinte Margot, »über die Hochzeit sprechen Sie wohl besser mit Mama.«

Frau Reinhart schüttelte den Kopf. Margot sah sie gross an und begriff das nicht.

»Und Sie sind das einzige Kind?« fragte sie Margot.

»Ja! Ich möchte auch gar keine Geschwister haben. Familienanhang ist was Grässliches.«

»Und Ihre Frau Mama ist so ohne weiteres damit einverstanden, dass sie Sie nun an meinen Sohn abtreten soll?«

»Mama ist glücklich!«

»Glücklich ist sie?«

»Sie ist ja so ehrgeizig!«

Sie merkte nicht, wie widerlich Frau Reinhart das alles fand, und hörte es auch nicht aus ihrem Ton heraus, als sie jetzt sagte:

»Auf eins möchte ich Sie noch aufmerksam machen.«

»Bitte!« sagte Margot.

»Es fällt mir ausserordentlich schwer, davon zu sprechen – aber es ist meine Pflicht; nicht Ihnen gegenüber – wenigstens nicht ausschliesslich – wenngleich auch Sie es wissen müssen …«

»Reden Sie nur ungeniert.«

»Also Peters Herz ist nicht frei!«

»Was heisst das? – Was bedeutet das?«

»Das heisst, dass er eine andre liebt.«

»Ich verstehe noch immer nicht – hat er eine unglückliche Liebe?«

»Es ist kein Mädchen der Gesellschaft.«

»Ah so! – Also ein Verhältnis!«

Ganz ungeniert sprach sie das aus.

»Ja!«

»Was geht das mich an?«

»Ich weiss nicht! – Ich hatte ja auch nicht die Absicht, es Ihnen zu sagen. Aber während unseres Gespräches hatte ich plötzlich das Gefühl, als wenn das Mädchen ein Recht darauf hätte, dass Sie es erfahren.«

»Ich finde es sehr lustig und modern, dass Sie mir das erzählen. – Nun verraten Sie mir aber auch: wer ist es?«

»Sie verstehen mich falsch! Das Mädchen …«

»Nein! nein! Ich verstehe Sie schon! Das arme Ding sitzt jetzt gewiss in irgendeinem Geschäft und plärrt. Oder ist sie gar vom Theater? Das wäre natürlich weit amüsanter. Also bitte, Sie haben mich neugierig gemacht, nun will ich alles wissen.«

»Ich hatte freilich eine andere Wirkung auf Sie erwartet. Jetzt tut es mir leid, dass ich überhaupt etwas davon gesagt habe.«

»Wie? Dachten Sie etwa, ich würde mich daran stossen oder gar moralisch zusammenbrechen?«

»Ich sagte Ihnen bereits: die beiden Menschen haben sich lieb.«

»Wenn schon! – Wenn es so eine ist, dann werden sie beide auch gewusst haben, dass sie nicht zeit ihres Lebens zusammenbleiben können. Obgleich – von mir aus …«

»Was?« fragte Frau Reinhart scharf.

Margot schwieg, denn sie empfand, dass Frau Reinhart irgend etwas missfiel. Nach einer Weile sagte sie:

»Sie wollen mir also nicht sagen, wer sie ist?«

Frau Reinhart besann sich – einen Augenblick – dann stand sie auf und trat vor Margot hin; beinahe feierlich klang es, als sie jetzt sagte:

»Doch! Ich will es Ihnen sagen! Sie heisst Aenne Hoffmann und ist zurzeit in Schandau im Sanatorium.«

»Gott, wie vornehm!« erwiderte Margot. »Ich hätte nicht übel Lust, sie mir anzusehen.«

»Tun Sie das!« erwiderte Frau Reinhart und reichte Margot die Hand. »Es kann nichts schaden!«

Margot machte einen Knicks, küsste Frau Reinhart die Hand und ging.

 

*

Heute, am dritten Tage meines Hierseins, hat sich folgendes ereignet.

Wir hatten die Hauptmahlzeit eben hinter uns – sechsmal bekommt man hier am Tage zu essen! – und ich wollte mich auf Vorschrift des Arztes eben schlafen legen, als Schwester Anna mir den Besuch einer jungen Dame aus Berlin meldete.

»Das muss ein Irrtum sein,« sagte ich, »Sie werden sich verhört haben.«

Im selben Augenblick ging auch schon die Tür, und ein bildhübsches, elegantes, junges Mädchen stand vor mir.

»Guten Tag!« sagte sie. »Sie sind Aenne Hoffmann?«

»Kennen Sie mich?« fragte ich erstaunt.

»Nein! Aber ich möchte Sie kennen lernen.«

»Und aus welchem Grunde, wenn ich fragen darf?«

»Wir haben gemeinsame Beziehungen!«

»Wir? – Ja, wer sind Sie denn?«

» Peters Braut

Mir war, als bliebe mein Herz stehen.

»Ich dachte, es ist besser, Sie erfahren es durch mich, als durch einen Fremden.«

»Und …Peter …?« – Es waren die einzigen Worte, die ich herausbringen konnte.

»Gewiss: der hätte es Ihnen auch sagen können; – aber, Sie wissen vielleicht, der ist in Südwest.«

Was ich in diesem Augenblick nicht begriff, war, dass ich nicht laut aufschrie und zusammenbrach. Aber ein ganz grosser Schreck wirkt wohl wie ein Wunder! Er lähmt das Gefühl! Der Eindruck ist zu stark; man fasst es und begreift es nicht. Erst später, wenn sich nach und nach die Stumpfheit löst, wird man sich klar, und dann erst empfindet man die ganze Schwere seines Unglücks. Wenigstens ging es mir so.

»Ich …meine …Peter …weiss?«

»Ob er was weiss?«

»Dass …Sie …hier …«

»Aber nein! Das weiss er natürlich nicht! Das darf er auch nicht wissen – wenigstens vorläufig nicht. – Als ich Mama sagte, ich gehe zu Ihnen, da sagte sie: ›Unsinn, das schickt sich nicht! Wie kann man sich so viel vergeben!‹ – Aber später, wenn wir verheiratet sind, dann werde ich's ihm gelegentlich schon mal erzählen.«

Ich sah sie gross an.

»Sie …sind – seine …Braut?« fragte ich, da ich es nicht fassen konnte.

»Ja! Was wundert Sie daran? Gefalle ich Ihnen nicht? Bin ich Ihnen nicht hübsch genug für Ihren Peter?«

»Doch! – doch! – sehr hübsch sind Sie!«

»Also! Dann freuen Sie sich doch, dass Ihr Peter eine so hübsche Frau bekommt – oder sind Sie gar eifersüchtig?«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie betrachtete mich genau.

»Sie sind auch nicht übel! Sehr hübsch sogar! Hübscher als ich, und haben, was mich bei Ihnen besonders wundert, sogar ein ganz feines Profil. – Aber unelegant! So gar nicht Dame! – Sind Sie am Theater?«

»Nein!«

»Was sind Sie denn?«

Ich antwortete ihr mechanisch.

»Korrespondentin.«

»Wie langweilig! – Ueberhaupt, ich hatte Sie mir ganz anders gedacht; wissen Sie: flotter! mondäner! – Liebt er denn das?«

»Was?«

»So wie Sie sind – ich weiss nicht, wie ich sagen soll – so entsetzlich solide!«

»Das …müssen … Sie …doch … wissen!«

»Ich? Wieso ich? Ich habe ihn vor fünf Jahren einmal gesehen – ich war ein Kind – dann nie wieder!«

» Waas?« sagte ich, »ich denke – Sie – sind …seine …« Ich brachte das Wort ›Braut‹ nicht über die Lippen.

»Seine Braut! Gewiss! Aber Sie sind seine Geliebte – und zwar seit Jahren – und lieben ihn sogar, wie mir seine Mutter erzählte – das heisst, ich bin nicht etwa eifersüchtig,« – sie verzog spöttisch den Mund, – »ich gönne Ihnen das Vergnügen, Sie werden nicht die einzige sein, – jedenfalls, Sie kennen ihn besser als ich – nicht wahr, er ist doch ein flotter, eleganter Mensch?«

Ich nickte.

»Liebt er Pferde?«

»Ich glaube.«

»Interessiert er sich für Rennen?«

»Ich weiss nicht!«

»Das muss er! Hören Sie! Das ist meine grösste Leidenschaft! Ich habe mir immer mal gewünscht, dass mein Mann Rennen reitet – hat er die Figur dazu?«

»Ich weiss es nicht!«

»Wieviel wiegt er?«

»Zweiundsiebzig Kilo, glaub ich.«

»Entsetzlich! Das geht nicht! Damit kann er ja keine Rennen reiten. Er muss sofort etwas dagegen tun! Hören Sie! Mindestens zwölf Pfund müssen herunter! Sie haben gewiss Einfluss! Sie müssen mir helfen! Es wird Ihr Schade nicht sein!«

Ich war sprachlos.

»Treibt er sonst Sport?«

»Ich glaube.«

»Er spielt doch Tennis?«

»Ja!«

»Aber mässig, nicht wahr? Sonst wäre man ihm doch auf Turnieren irgendwo mal begegnet.« Sie dachte nach. »Aber Reinhart, Peter Reinhart? Ich entsinne mich nicht, ihm irgendwo begegnet zu sein. Aber – da fällt mir ein! Richtig! Hat er nicht vorigen Winter in St. Moritz beim Bobsleigh einen Preis bekommen?«

»Ja!«

»Nun also!« rief sie erfreut, »dann ist er auch kein schlapper Kerl! Dann hat er was weg! Dann lässt sich auch was aus ihm machen! Und nicht wahr, Sie versprechen mir, dass Sie mir helfen werden! Sie verstehen doch mit ihm umzugehen, und Sie wissen, wie man ihn nimmt, wenn man etwas bei ihm erreichen will. Sie wickeln ihn doch gewiss um den Finger! – Wenn ich mir vorstelle, fünf Jahre von früh bis spät an der Schreibmaschine sitzen, und dann des Abends als Zerstreuung ein und denselben Mann! Nicht auszudenken! Na, ich wüsste, was ich an Ihrer Stelle täte, wenn ich unabhängig und darauf angewiesen wäre, Geld zu verdienen. – Aber das geht mich nichts an: jedenfalls, Sie müssen ihn ja in- und auswendig kennen und können mir helfen! Wollen Sie?«

Sie streckte mir die Hand hin:

»Verzeihen Sie,« sagte ich zögernd, »aber ich verstehe noch immer nicht; wann und wo haben Sie sich verlobt?«

Sie dachte nach, dann sagte sie:

»Ja, eigentlich haben Sie recht, das weiss ich selbst nicht.«

»Hat Peter Ihnen geschrieben?«

»Mir? Nein! Wie sollte er darauf kommen, wo wir uns doch kaum kennen?«

»Ja! Wenn Sie sich doch mit ihm verlobt haben.«

»Kind, das verstehen Sie nicht! Das ist doch nicht wie bei euch, dass man sich da erst gross kennen lernt, womöglich wochenlang miteinander herumzieht und abwartet, ob man sich am Ende gar ineinander verliebt. Dazu kommt's bei uns nie! Dazu haben wir viel zu viel vor! Gott sei Dank! Also die Verlobung haben Papa und Mama mit Peters Familie gemacht. Na, und dann sind wir gefragt worden. Wenigstens ich. Ob auch Peter, weiss ich nicht! Na, und ich habe es mir nicht lange überlegt. Was hängt schon schliesslich an so 'ner Ehe? Klappt's, ist es gut! Klappt's nicht, dann ist's noch ebenso. Dann geht eben jeder stillschweigend seine Wege; oder wenn ein Teil unmodern ist und sich daran stösst, – na, so trennt man sich. Und da ich als Frau Reinhart gesellschaftlich auf alle Fälle mehr bin als Fräulein Rosen, so kann ich bei der ganzen Geschichte nur gewinnen.«

»Und Peter?«

»Der wird auch wissen, warum er's tut! Umsonst heiratet der mich nicht. Mama sagt zwar: ›Unsinn, du bist hübsch genug, um jedem Esel einzureden, er hat sich in dich verliebt.‹ Aber ich weiss doch Bescheid. Reinharts sind in der vierten Generation getauft. Wir in der ersten. Bei denen denkt kein Mensch mehr daran, dass sie je Juden waren. Sein Grossvater war schon Offizier. Wenn da der einzige Sohn bei uns reinheiratet, ohne dass er mich kennt, nicht wahr, dann hat's doch'n Grund?«

»Das kann ich nicht beurteilen.«

»Jedenfalls ist mir lieber, Peter Reinhart heiratet mich des Geldes wegen, als irgendein Arzt oder Anwalt aus Liebe.«

»Davon verstehe ich nichts.«

»Wie sollten Sie auch! Sie Glückliche können ein Dutzend Männer haben, ohne dass Sie einen zu heiraten brauchen; ich muss heiraten, um einen einzigen Mann zu haben, der mich womöglich nicht einmal reizt. Bei Peter, na, da werd ich erst einmal sehen. Uebrigens, ist Peter eigentlich hübsch? Nicht wahr, er ist blond? Ich liebe eigentlich mehr dunkle Männer – aber Mama sagt: ›Unsinn, schwarze Männer haben schweres Blut und einen tiefen Charakter, das ist nichts für dich. Blonde sind oberflächlich.‹ – Ist Peter oberflächlich?«

»Nein!«

Sie verzog das Gesicht.

»Schade!« sagte sie.

»Peter hat also zugestimmt?«

»Wem?«

»Ich meine auf die Anfrage seiner Familie – –«

»Ach so! Wegen der Ehe?«

»Ja!«

»Er muss doch wohl. Oder seine Familie nimmt es wenigstens an. Direkt gesagt haben sie's nicht!« –

Ich ahnte es ja! Aber Du kannst Dir doch denken, Peter, wie wohl mir das tat! –

»So! so!« sagte ich.

»Jedenfalls werde ich es mir schwarz auf weiss zeigen lassen, ehe eine offizielle Anzeige erfolgt. Sie glauben gar nicht, wie vorsichtig ein junges Mädchen aus unseren Kreisen auf seinen guten Ruf bedacht sein muss. Seien Sie froh, dass Sie das nicht nötig haben.«

»Ich gestehe gern, ich beneide Sie nicht.«

»Und ich kann mich auf Sie verlassen?«

»Nach welcher Richtung?«

»Dass Sie mir helfen, den Peter richtig zu behandeln.«

»Ich Ihnen?« fragte ich erstaunt.

»Anderenfalls! …Sie wissen! …« Sie drohte mit der Hand. »Kucke ich euch auf die Finger!«

»Ja! Was meinen Sie!« ich war entsetzt. »Sie glauben doch nicht etwa, dass, wenn Sie seine Frau sind, dass ich dann …«

»Papperlapapp!« erwiderte sie und hielt mir ihren Handschuh vor den Mund, »keine künstliche Erregung!«

»Ja! Erlauben Sie!« sagte ich wütend.

Aber sie lachte überlegen und erwiderte:

»Nein! Ich erlaube nicht! Nämlich, dass Sie mir einen Bären aufbinden. Sie sehen zwar eher wie eine Pastorentochter, als wie die Geliebte Peter Reinharts aus; aber stille Wasser sind tief! – Also!« und sie hielt mir die Hand hin, »auf gute Freundschaft!«

Mechanisch legte ich meine Hand in ihre.

In diesem Augenblick empfand ich Mitleid mit dieser Frau! Wie trostlos öde muss es in einem solchen Menschen aussehen!

»Aber eleganter müssen Sie werden!« sagte sie und betrachtete mich ganz genau: »Famos!« rief sie, »Sie haben meine Figur! Sie können meine Kleider tragen!«

Ich sah sie entgeistert an. Sie drückte mir die Hand und ging.

 

Das also ist die Welt, in der Du lebst! –

Ich gab mir Mühe, mich hineinzudenken; da kam ein Brief Deiner Mutter, der mich ganz sehend machte – denn Dein Brief lag bei, Peter! – der Brief, den Du ihr geschrieben hattest! – Peter! Peter!! Nun sehe ich alles!

 

Aenne Hoffmann an Frau Geheimrat Reinhart.

Sehr verehrte gnädige Frau!

Ich hatte den Besuch jener Dame, die von Ihnen als Frau für Peter in Aussicht genommen ist. Ich bin in meiner Liebe zu Peter nicht blind genug, um nicht zu sehen, wo für ihn das Glück liegt. Schaffen Sie – meinetwegen unter Ausschaltung meiner Person, soweit haben Sie mich! – Verhältnisse, die sein Glück gewährleisten, und Sie werden mich nicht mehr im Wege finden. Für diese Dame aber, die ich nicht noch einmal in meiner Nähe dulden werde, opfere ich mich nicht!

Dem Sinne nach nicht anders müsste auch meine Antwort auf Ihren Brief lauten, den ich eben erhielt. Mein letzter Einwand ist der: einer Mutter, die ihr Kind liebt, muss es vor allem darauf ankommen, ihr Kind glücklich zu sehen. Die Frage lautet also: liegt Peters Glück in seiner Liebe zu mir oder in seiner Karriere? Liegt es in seiner Liebe, so hätten Sie sich für mich gegen die Karriere entscheiden müssen.

Indem sich Peter aber selbst für die Karriere entschied, hat er sich – ohne es zu wissen – gegen mich entschieden. Denn damit tritt er aus der Welt, die wir beide uns unbewusst errichtet hatten, heraus und kehrt in eine Welt zurück, in die ich nur einen Blick zu tun brauchte, um zu wissen, dass ich mich nie in ihr zurechtfinden würde. Und dass er nur in dieser Welt und im Verkehr mit diesen mir so wesensfremden Menschen vorwärts käme, weiss ich nun! Weiss also auch, dass ich ein Hemmnis seiner äusserlichen Entwickelung wäre, auf die zu verzichten innere Grösse gehörte. In dieser Grösse aber läge zugleich ein Opfer, das er seiner Liebe, vielleicht auch seiner Pflicht zu bringen bereit wäre.

Das, verehrte Frau Geheimrat, habe ich aus Ihrem Briefe, der ja doch ein Niederschlag der Zeilen Peters an Sie war, herausgelesen! Dass ich richtig las, beweist mir am Schluss Ihre Teilnahme. Das ist nicht mehr der Ton der um den Sohn kämpfenden Mutter, das ist das Mitgefühl des Siegers mit seinem Opfer!

Ich kehre noch heute nach Berlin zurück und bitte um eine Zeile, dass ich Sie richtig verstanden habe, gnädige Frau.

Ich bin

in aufrichtiger Verehrung
Aenne Hoffmann.

 

Landrat Moll an Frau Geheimrat Reinhart.

Liebe Mama!

Mich jemals wieder um Peters Privatangelegenheiten zu kümmern, liegt mir fern. Indessen werde ich, selbst auf die Gefahr hin, Dir zu missfallen, immer dann warnend meine Stimme erheben, wenn ich von Vorgängen höre, die das Renommee unserer Familie, zu der ich ja nun mal gehöre, schädigen können.

Nach allem, was hinter uns liegt, sollten wir froh sein, dass Peter nun einer ungewöhnlich aussichtsvollen Zukunft entgegengeht, und sollten alles vermeiden, was diese Zukunft gefährden kann. Dazu gehört natürlich, schon mit Rücksicht auf das von Zobel mit so viel Takt und Geschick durchgeführte Eheprojekt, dass jede, auch nur äusserliche Verbindung mit diesem hartnäckigen Frauenzimmer endlich einmal aufhört.

Zu meinem Entsetzen erfahre ich nun, dass sich diese Person durch die Vermittelung von Onkel Max bereits seit mehreren Tagen zur Kur in einem sächsischen Sanatorium aufhält! Ich muss an mich halten, um nicht zu schreien! Nächstens wird er noch seine Waschfrau zur Erholung nach Biarritz schicken! Aber ernst gesprochen: empfindet dieser Mensch denn gar nicht, wie taktlos es schon den anderen Gästen gegenüber ist, ihnen eine solche Gesellschaft zuzumuten? Wenn er, was ich annehme, Peters Erbschaft angetreten hat, worüber ich mich jeder Kritik enthalte, so soll er das Frauenzimmer doch nicht an Orte schicken, wo man ihn und möglicherweise auch uns kennt! Denke Dir nur, wenn einer von der Familie Rosen, oder gar das Fräulein Margot selbst, durch irgendeinen unglücklichen Zufall in das Sanatorium käme und auf diese Person stiesse – ja, geht Euch denn jedes Gefühl für Anstand ab – mir steigt einfach das Blut zu Kopfe, wenn ich nur an die Möglichkeit denke! Also bitte, liebe Mama, sorge, ehe es da wieder zu einem Skandal kommt, dafür, dass dieser Schamlosigkeit so schnell wie möglich ein Ende gemacht wird.

Wie immer
Dein Schwiegersohn Kurt.

 

Frau Geheimrat Reinhart an Aenne Hoffmann.

Mein liebes Fräulein!

Ich habe Ihre Zeilen erhalten und bitte um Ihren Besuch, wennmöglich noch im Laufe des heutigen Nachmittags.

Ihre ganz ergebene
Julie Reinhart.

Aenne und Frau Reinhart standen sich gegenüber.

Frau Reinhart stützte die Hand auf einen Tisch und sah Aenne an. Lange sass sie so und sprach kein Wort. Dann sagte sie mit bewegter Stimme:

» Das sind Sie also

In Aennes Augen standen Tränen.

»Verzeihen Sie mir,« sagte Aenne, »Sie hatten viel Kummer durch mich,« sie beugte den Kopf nach vorn und schluchzte.

» Und nun?« fragte Frau Reinhart, » was wird nun werden

Aenne hörte es kaum. Sie hatte in diesem Augenblick keine Gedanken; sie war wie betäubt.

»Ich konnte nicht anders!« sagte sie und sah Frau Reinhart mit Augen an, in denen das Bekenntnis ihres Herzens lag. Dann stürzten die Tränen, und sie wiederholte laut: » Ich konnte einfach nicht anders

Frau Reinharts Augen ruhten gütig auf Aenne. Es war mehr als Mitleid, wie sie jetzt dastand und sie mit einem feinen Lächeln um den Mund betrachtete. Lass sie nur weinen, dachte sie, es wird ihr gut tun. Dann, nach einer Weile, trat sie auf Aenne zu, legte ihren Arm um sie und sagte sanft:

»Ich weiss: Sie konnten nicht anders

Aenne fühlte diesen Arm, wie man mit dem Herzen ein Glück empfindet.

»Dann bin ich ruhig!« sagte sie.

Frau Reinhart nahm ihr den Hut ab.

Aennes schmales, blasses Gesicht schien unter dem dunklen vollen Haar noch feiner. Man sah es Frau Reinhart an, wie sehr sie ihr gefiel.

Sie fuhr ihr mit der Hand übers Haar; Aenne zuckte zusammen.

»Und so lieb haben Sie meinen Jungen?« fragte Frau Reinhart – und drückte sie an sich.

Da vergass sich Aenne und warf sich ihr an den Hals. Frau Reinhart schlang ihre Arme um sie, und beide Frauen, die so gar nicht sentimental waren, fanden sich in ihrer Liebe zu ein und demselben Menschen.

 

Eine Viertelstunde später sassen sie Hand in Hand nebeneinander auf der Chaiselongue.

»Es geschieht mir schon recht,« sagte Frau Reinhart vergnügt – »ich habe alle Dialektik angewandt, um Sie zu bekehren, Aenne! Und nun haben Sie mich bekehrt – nur mit dem Herzen – und ohne dass Sie es wollten.«

Und wie zuvor Frau Reinhart, so fragte nun Aenne, der das Glück in den Augen stand:

» Und nun – was wird nun werden

Da lachte Frau Reinhart vergnügt und stand auf. Sie beugte sich zu Aenne herab, nahm ihren Kopf zwischen ihre Hände und küsste sie auf die Stirn.

»Das wirst du gleich sehen, mein Kind! Mein liebes Kind!« sagte sie; dann setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb:

 

»Mein Junge!

Freue Dich! Deine Prüfungszeit ist vorüber. Wenn statt eines Jahres fünf Monate genügten, so dankst Du das ihrer Tapferkeit, die mich erst verstimmt und verblüfft, dann entwaffnet, schliesslich aber überzeugt hat.

Ich erkannte, dass ihr Widerstand kein Trotz und keine Berechnung, sondern die notwendige Aeusserung ihres Herzens war.

In ihrem Fühlen und Denken, dem Du die Richtung gabst, schlicht und gerade, wie es der Vater liebte, erschöpft sich für sie der Sinn des Lebens in Dir!

Da, Peter, haben alle Bedenken zu schweigen! Ich billige also Deine Wahl, in der auch ich nun Dein Glück sehe. Ein anderes vielleicht, als eine ehrgeizige Mutter sich erträumt! Aber doch ein Glück in Vaters Sinne, dessen letzter Wunsch sich nun erfüllt:

›Unseren Jungen musst Du nun glücklich machen. Vor allem: sei nicht ehrgeizig mit ihm. Er braucht nicht der erste zu sein und sich nicht hervorzutun. Sorge, dass er gesund und ordentlich ist und sein Leben geniesst.‹

Aenne steht von heute ab unter meinem Schutz! Ich habe sie bei mir! Wie das alles kam, darüber später.

Ich habe mit ihr gesprochen und alles bei ihr so gefunden, wie ich erwartet hatte.

Du wirst nun zeigen, dass Du ein Mann bist, und wirst ihr den Respekt verschaffen, den Du für Deine Braut fordern darfst. Je bestimmter Du auftrittst, um so schneller wird der Skandal verstummen; denn den wird es geben, das lässt sich nicht ändern.

Ueber Deine Karriere, die nun ja eine andere Richtung nehmen muss, sprechen wir, wenn Du hier bist. An mir, Peter, wirst Du jede Stütze haben. Dein Glück wird mir über alle Anfeindungen, denen Du und wir alle nun ausgesetzt sein werden, hinweghelfen.

Ich will Dir zum Schlusse noch sagen, dass ich Deine Aenne schon heute sehr lieb habe und dass wir sehr gut zu ihr sein müssen, um sie den vielen Kummer, den sie durch uns litt, vergessen zu machen. – In Liebe

Deine Mama.«

Frau Reinhart legte den Halter aus der Hand und stand auf. Jetzt erst fühlte sie, dass ihre Knie zitterten, und als sie den Brief noch einmal überflog, da sah sie, dass ihre Handschrift unsicher und verändert war. Aber als sie in Aennes Augen sah, die scheu und furchtsam zu ihr aufblickten und gar nicht mehr so glücklich schienen wie zuvor, da siegte wieder die Güte ihres Herzens, und sie schloss sie in ihre Arme, küsste sie und sagte:

»Mein Kind!«

Dann gab sie ihr den Brief:

»Lies!« sagte sie, ging ans Telephon und liess sich mit dem Medizinalrat verbinden.

»Ich muss dich sprechen!« rief sie in den Apparat. »Du musst gleich zu mir kommen! – Du hast den Brief meines Schwiegersohnes gelesen? – Was sagst du dazu? – Das meine ich auch. – Soll ich dir meine Antwort sagen? – Wie? – Nein! Du errätst es doch nicht. Setz dich in ein Auto und komme zu mir! – Warum? Das wirst du sehen. – Erraten!« rief sie freudig. »Ja! Er hat sich verlobt! – Aber mit wem! – I Gott bewahre! – Gott sei Dank! Das sage ich auch. – Nun, wen würdest denn du in Vorschlag bringen? – Du wüsstest schon, sagst du? Also? – Wen? – Aenne? Richtig! – Bravo! – Hörst du's, Aenne –?«

Sie wandte sich um, der Stuhl, auf dem Aenne gesessen hatte, war leer, die Tür stand angelehnt.

»Aenne!« rief sie, liess den Hörer fallen und sprang auf. »Aenne! – Wo bist du?«

Sie stürzte aus dem Zimmer. Die Tür zur Treppe stand offen.

»Aenne!« schrie sie.

Diener und Mädchen liefen herbei. Irgendwer hatte sie gehen sehen. Einen Brief hielt sie in der Hand – und sah verweint aus.

Weiter wusste man nichts. Und man begriff auch Frau Reinhart nicht, die ganz entsetzt zur Tür starrte, »Mein Kind!« rief und dann zusammenbrach.

 

Frau Reinhart war wieder bei Bewusstsein; sie lag auf der Chaiselongue; der Medizinalrat sass neben ihr und fühlte den Puls.

»Gott sei Dank! Es ist vorüber!« sagte er. »Es war eine ungewöhnlich starke Ohnmacht.«

Der Diener kam mit dem silbernen Tablett.

»Was ist?« fragte der Medizinalrat. »Meine Schwester braucht Ruhe.«

»Ein Rohrpostbrief.«

»Zeigen Sie her!«

»Was …ist …?« hauchte Frau Reinhart.

»Nichts –«

Der Medizinalrat nahm den Brief, öffnete und las:

 

»Meine liebe, gute und verehrte Frau Reinhart!

Ist es nicht sonderbar, wie das nun alles kam? Indem ich Sie überzeugte, haben auch Sie mich überzeugt! Und beide, ohne dass wir es wollten! Ich verstehe nun Ihre Welt und weiss, dass ich nicht hineingehöre – so wenig, wie Sie in meine! Darüber täuscht alle Liebe nicht hinweg! Auch Peter wird das eines Tages erkennen – wenn's zu spät ist. Wenn ich aber nicht mehr da sein werde, wird er leichter über alles hinwegkommen, der gute Junge! Ich bin sehr froh, dass ich etwas für ihn tun kann! Wirklich, ich bin ganz ruhig; ich darf Sie Mutter nennen und bin glücklich, als Peters Braut sterben zu dürfen.

Aenne.«

Der Medizinalrat konnte seine Erregung nicht verbergen. Es blieb ihm nichts übrig, er musste seiner Schwester den Brief zeigen. Die las ihn und verzog keine Miene. Als sie zu Ende war, sah sie ihn an und sagte:

»Ich habe es gewusst!«

Er half ihr auf, sie stiegen ins Auto und fuhren zu ihr.

 

*

Aenne sass in Mutters Sessel. Sie sah ganz ruhig aus.

»So habe ich sie nie gesehen!« sagte der Medizinalrat und legte seine Hände auf ihre Augen, »so ruhig und so zufrieden!«

Frau Reinhart stand regungslos und starrte sie an.

Der Schub des kleinen Tischchens stand offen. Vornan lag ein kleines Fläschchen. Der Medizinalrat nahm es auf und zeigte es seiner Schwester.

»Da haben wir's!« sagte er zu ihr. »Das hat ihr den Tod gegeben!«

Frau Reinhart bewegte den Kopf – ganz langsam – hin und her.

»Nein!« sagte sie mit toter Stimme und hob den Arm: »Wir!«

Da nickte der Medizinalrat und sagte:

»Du hast recht! Wir haben es getan! – Wir! Die Gesellschaft! –

 

*

 

Epilog:

Wie ich zu diesen Aufzeichnungen kam?

Ich las eines Tages in dem lokalen Teil einer Zeitung folgende Notiz:

»In ihrer Wohnung vergiftet aufgefunden wurde heute die 21jährige Stenotypistin Aenne Hoffmann. Der Grund ihres Selbstmordes ist in Stellungslosigkeit zu suchen.«

Da dachte ich mir:

Das etwa könnte der Leidensweg der armen Aenne gewesen sein.

*


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