Selma Lagerlöf
Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgänsen - Erster Teil
Selma Lagerlöf

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IV. Glimminghaus

Schwarze Ratten und graue Ratten.

Im südöstlichen Schonen, nicht weit vom Meer, liegt eine alte Burg, die Glimminghaus heißt. Sie besteht aus einem einzigen hohen, großen und starken Sandsteingebäude, das meilenweit über die Ebene hin sichtbar ist. Sie ist nicht mehr als vier Stockwerk hoch, aber doch so gewaltig, daß ein gewöhnliches Haus, das daneben liegt, sich wie ein Puppenhaus ausnimmt.

Das große Gebäude hat so dicke Außenmauern und Zwischenwände und Wölbungen, daß in seinem Innern kaum Platz für etwas anderes ist als für die dicken Mauern. Die Treppen sind eng, die Gänge schmal und die Zimmer wenig an Zahl. Um die Mauern nicht ihrer Stärke zu berauben, sind in den oberen Stockwerken nur sehr wenig Fenster angebracht, und in dem untersten überhaupt keine. In den alten kriegerischen Zeiten waren die Leute ebenso froh, wenn sie sich in so ein starkes und mächtiges Haus einschließen konnten, wie wir es jetzt sind, wenn wir bei beißendem Frost in einen warmen Pelz kriechen können; als aber die gute Friedenszeit kam, wollten sie nicht mehr in den dunklen und kalten Steinsälen der alten Burg wohnen. Sie haben längst das große Glimminghaus verlassen und sind in Wohnungen gezogen, die so eingerichtet sind, daß Licht und Luft hineindringen können.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen herumreiste, wohnten also keine Menschen in Glimminghaus, aber deswegen fehlte es doch nicht an Bewohnern. Auf dem Dach wohnte jeden Sommer ein Storchenpaar in einem großen Nest, auf dem Boden lebten ein paar Horneulen, in den geheimen Gängen hingen Fledermäuse, auf dem Herd in der Küche hatte sich eine alte Katze häuslich niedergelassen, und unten im Keller hielten sich einige Hunderte von den alten schwarzen Ratten auf.

Ratten sind ja sonst nicht gerade sehr angesehen bei den andern Tieren, aber die schwarzen Ratten in Glimminghaus bildeten eine Ausnahme. Von ihnen wurde immer mit Achtung gesprochen, weil sie im Streit mit ihren Feinden unter großen Heimsuchungen, die ihr Volk betroffen, große Tapferkeit und viel Ausdauer an den Tag gelegt hatten. Sie gehörten nämlich einem Rattenvolk an, das einstmals sehr zahlreich und mächtig gewesen war, jetzt aber im Begriff stand, auszusterben. Gar viele Jahre hatten die schwarzen Ratten Schonen und das ganze Land besessen. Sie hausten in jedem Keller, auf jedem Boden, in Scheunen und Schuppen, in Speisekammern und Backstuben, auf Vorwerken und in Ställen, in Kirchen und Burgen, in Brennereien und Mühlen, in jedem Gebäude, das von Menschen errichtet war. Aber nun waren sie von allen diesen Stätten vertrieben und fast ausgerottet. Nur hier und da in einem alten einsamen Gehöft konnte man noch einige von ihnen finden, und nirgends waren sie in so großer Menge vorhanden wie in Glimminghaus.

Wenn ein Tiervolk ausstirbt, pflegen die Menschen in der Regel schuld daran zu sein, aber das war diesmal nicht der Fall. Die Menschen hatten freilich die schwarzen Ratten bekämpft, aber sie hatten nicht vermocht, ihnen nennenswerten Schaden zuzufügen. Überwunden waren sie von einem Tiervolk ihres eigenen Stammes, von den grauen Ratten.

Diese grauen Ratten hatten nicht von Olyms Zeiten her im Lande gewohnt, so wie die schwarzen Ratten. Sie stammten von ein paar armen Einwanderern ab, die vor ungefähr hundert Jahren von einer lybschen Schute aus in Malmö an Land gingen. Es waren zwei heimatlose, verhungerte arme Tiere, die ihr Leben im Hafen selber fristeten, zwischen den Pfählen unter dem Bollwerk herumschwammen und den Abfall fraßen, der ins Wasser geworfen wurde. Sie wagten sich nie in die Stadt hinauf, die im Besitz der schwarzen Ratten war.

Aber nach und nach, als die grauen Ratten an Zahl gewachsen waren, wurden sie dreister. Zu Anfang zogen sie in einige alte verödete Häuser, die heruntergerissen werden sollten und die von den schwarzen Ratten bereits verlassen waren. Sie fanden ihre Nahrung in den Rinnsteinen und Abfallhaufen und nahmen mit all dem Unrat fürlieb, den die schwarzen Ratten verschmähten. Sie waren abgehärtet, genügsam und unerschrocken, und im Laufe von wenigen Jahren waren sie so mächtig geworden, daß sie sich daran machten, die schwarzen Ratten aus Malmö zu verjagen. Sie entrissen ihnen Bodenräume, Keller und Speicher, hungerten sie aus oder bissen sie tot, denn sie waren keineswegs bange vor Krieg.

Und als Malmö genommen war, zogen sie in großen und kleinen Scharen von dannen, um das ganze Land zu erobern. Es ist gar nicht zu verstehen, warum sich die schwarzen Ratten nicht zu einem großen, gemeinsamen Zuge zusammenrotteten und den grauen Ratten den Garaus machten, so lange diese noch in der Minderzahl waren. Aber die schwarzen waren wohl ihrer Macht so sicher, daß sie sich nicht die Möglichkeit denken konnten, sie zu verlieren. Sie saßen still auf ihren Gütern, und währenddessen nahmen die grauen Ratten ihnen ein großes Gehöft nach dem andern, ein Dorf nach dem andern weg. Sie wurden ausgehungert, herausgejagt, ausgerottet. In Schonen hatten sie sich nicht an einem einzigen Ort zu behaupten vermocht, ausgenommen gerade in Glimminghaus.

Das alte steinerne Gebäude hatte so feste Mauern, und es führten so wenige Rattengänge da hindurch, daß es den schwarzen Ratten gelungen war, es zu bewahren und die grauen Ratten am Eindringen zu hindern. Jahr für Jahr, Nacht für Nacht hatte der Streit zwischen Angreifern und Verteidigern gerast, aber die schwarzen Ratten hatten treulich Wache gehalten und mit der größten Todesverachtung gekämpft, und dank dem prächtigen alten Bau hatten sie beständig den Sieg davongetragen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die schwarzen Ratten, so lange sie die Macht besahen, von allen andern lebenden Wesen ebenso verabscheut wurden, wie es heutzutage die grauen Ratten sind. Und mit vollem Recht. Sie warfen sich über arme, gefesselte Gefangene und peinigten sie, sie schwelgten in Leichen, sie stahlen die letzten Rüben in dem Keller des Armen, sie bissen schlafenden Gänsen die Füße ab, stahlen den Hühnern Eier und Küchlein und taten nichts als Böses. Aber nachdem sie ins Unglück geraten, war das alles vergessen, und niemand konnte umhin, die letzten eines Geschlechts zu bewundern, das so lange in seinem Widerstand gegen die Feinde ausgeharrt hatte.

Die grauen Ratten, die in Glimminghaus und seiner nächsten Umgebung wohnten, setzten beständig den Kampf fort und suchten jede passende Gelegenheit zu benutzen, um sich der Burg zu bemächtigen. Man hätte meinen sollen, sie hätten der kleinen Schar schwarzer Ratten Glimminghaus gern friedlich überlassen können, da sie ja nun selber das ganze übrige Land erobert hatten. Aber das fiel ihnen nicht ein. Sie pflegten zu sagen, es sei eine Ehrensache für sie, die schwarzen Ratten endlich zu besiegen. Wer aber die grauen Ratten kannte, wußte sehr wohl, daß es einen andern Grund hatte: Sie fanden nur darum keine Ruhe, ehe sie Glimminghaus erobert hatten, weil die alte Burg von den Menschen als Kornspeicher benutzt wurde.

Der Storch.

Montag, den 28. März.

Eines Morgens, ganz in der Frühe, erwachten die wilden Gänse, die draußen auf dem Bombsee auf dem Eise standen und schliefen, durch laute Rufe oben aus der Luft herab. »Triap! Triap!« klang es. »Triamut, der Kranich, läßt Akka, die wilde Gans, und ihre Schar grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt.«

Akka machte einen langen Hals und antwortete: »Gruß und Dank! Gruß und Dank!«

Dann zogen die Kraniche weiter, die wilden Gänse aber konnten noch lange hören, wie sie flogen und ihre Botschaft über jedes Feld und jeden Waldhügel hinausriefen: »Triamut läßt grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt!«

Die wilden Gänse waren sehr erfreut über diese Nachricht. »Das ist wirklich ein Glück,« sagten sie zu dem weißen Gänserich, »daß du mit zu dem großen Kranichtanz kommst!« – »Ist es denn etwas so Merkwürdiges, Kraniche tanzen zu sehen?« fragte der Gänserich. – »Das ist etwas, wovon du dir nie hast träumen lassen,« erwiderten die wilden Gänse.

»Nun müssen wir überlegen, was wir morgen mit Däumling anfangen, damit ihm nichts zustößt, während wir nach Kullaberg reisen,« sagte Akka. – »Däumling darf nicht allein bleiben,« entgegnete der Gänserich. Wenn die Kraniche nicht erlauben, daß er dem Tanz zusieht, bleibe ich bei ihm.« – »Noch nie zuvor hat ein Mensch der Tierversammlung auf Kullaberg beigewohnt,« sagte Akka, »und ich wage nicht, Däumling dahin mitzunehmen. Aber darüber müssen wir späterhin reden. Jetzt wollen wir vor allen Dingen daran denken, daß wir etwas in den Leib bekommen.«

Damit gab Akka das Zeichen zum Aufbruch. Auch an diesem Tage suchte sie ihre Weide weit ferne, aus Angst vor Reineke Fuchs, und ließ sich nicht nieder, bis sie die tiefgelegenen Wiesen eine Strecke südlich von Glimminghaus erreicht hatten.

Den ganzen Tag saß der Junge am Ufer eines kleinen Teiches und blies auf der Rohrflöte. Er war schlechter Laune, weil er nicht mit nach dem Kranichtanz kommen sollte, und er konnte sich nicht entschließen, ein Wort zu dem Gänserich oder zu einer der andern Gänse zu sagen.

Es war so bitter, daß Akka und die andern Mißtrauen gegen ihn hegten. Wenn ein Junge darauf verzichtet hat, Mensch zu sein, um mit einigen armen wilden Gänsen umherzureisen, so mußten sie doch einsehen, daß er nicht die Absicht hatte, sie zu verraten. Und sie mußten doch auch einsehen können, daß, wenn er so viel geopfert hatte, um sie zu begleiten, es ihre Pflicht war, dafür zu sorgen, daß er all das Merkwürdige zu sehen bekam, was sie ihm zeigen konnten.

»Ich werde ihnen wohl meine Meinung sagen müssen,« dachte er. Aber Stunde auf Stunde verging, ohne daß er seinen Vorsatz ausführte. Es mag sonderbar klingen, aber der Junge hatte wirklich eine Art Respekt vor der alten Führergans bekommen. Es war gar nicht so leicht, sich gegen ihren Willen aufzulehnen, das merkte er sehr wohl.

An der einen Seite des sumpfigen Wiesengrundes, wo die Gänse weideten, befand sich ein breiter Steinwall. Und jetzt geschah es, daß, als der Junge gegen Abend den Kopf erhob, um endlich mit Akka zu reden, sein Blick auf die Umzäunung fiel. Er stieß einen kleinen Ruf des Erstaunens aus, und alle Gänse sahen sofort in die Höhe und starrten nach derselben Richtung wie er. Im ersten Augenblick sah es für sie wie auch für den Jungen so aus, als wenn alle die grauen Rollsteine, aus denen der Wall bestand, Beine bekommen hätten und zu laufen begannen.

Aber sie sahen bald, daß es eine Schar Ratten war, die darüber hin liefen. Sie bewegten sich sehr schnell und liefen so dicht nebeneinander, Reihe auf Reihe, und es waren ihrer so viele, daß sie eine lange Weile die ganze steinerne Mauer verdeckten.

Der Junge war schon bange vor Ratten gewesen, als er noch ein großer, starker Mensch war. Wieviel mehr jetzt, wo er so klein war, daß ein paar von ihnen ihm den Garaus machen konnten. Es lief ihm einmal über das andere kalt den Rücken hinab, während er dastand und sie ansah.

Das Wunderliche aber war, daß die Gänse denselben Abscheu vor den Ratten zu empfinden schienen wie er. Sie sprachen nicht mit ihnen, und als sie wieder fort waren, schüttelten sie sich, als hätten sie Schlamm zwischen die Federn bekommen.

»So viele graue Ratten unterwegs!« sagte Yksi von Bassijaure, »das ist kein gutes Zeichen!«

Jetzt wollte der Junge die Gelegenheit benutzen und zu Akka sagen, sie solle ihn mit nach Kullaberg nehmen, aber er wurde abermals daran verhindert, indem sich ein großer Vogel plötzlich zwischen den Gänsen niederließ.

Wenn man diesen Vogel sah, konnte man glauben, er habe Leib, Hals und Kopf von einer kleinen, weißen Gans geliehen. Dazu hatte er sich aber große, schwarze Flügel, lange, rote Beine und einen langen, dicken Schnabel angeschafft, der viel zu groß für den kleinen Kopf war und ihn niederzog, so daß sein Aussehen etwas Bedrücktes und Kummervolles bekam.

Akka ordnete schnell ihre Deckfedern und machte viele Male eine Verbeugung mit dem Hals, während sie sich dem Storch näherte. Sie war nicht sonderlich überrascht, ihn so früh im Lenz in Schonen zu sehen, denn sie wußte, daß die Storchenmännchen zu rechter Zeit da hinüber zu fliegen pflegen, und nachsehen, ob das Nest im Laufe des Winters Schaden gelitten hat, ehe sich die Storchenweibchen die Mühe machen, über die Ostsee zu fliegen. Aber sie konnte nicht begreifen, warum er sie aufsuchte, da die Störche am liebsten mit Leuten ihrer eigenen Art verkehren.

»Ich hoffe, es ist doch nichts mit Ihrem Nest geschehen, Herr Langbein,« sagte Akka.

Jetzt zeigte es sich, daß es wahr ist, was man zu sagen pflegt, daß nämlich ein Storch selten den Schnabel aufmacht, ohne zu klagen. Und der Umstand, daß es dem Storch schwer wurde, die Worte hervorzubringen, bewirkte, daß das, was er sagte, noch kläglicher klang. Er stand lange da und tat nichts als mit dem Schnabel klappern, und dann begann er mit heiserer, schwacher Stimme zu sprechen. Er klagte über alles mögliche: das Nest, das ganz oben auf dem Dachrücken von Glimminghaus lag, war von den Winterstürmen ganz zerstört worden, und Nahrung war bald nicht mehr zu finden. Die Bewohner von Schonen waren im Begriff, sich seines ganzen Besitzes zu bemächtigen. Sie entwässerten die Wiesen und machten seine Sümpfe urbar. Es sei seine Absicht, dies Land zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

Während der Storch so jammerte, konnte Akka, die wilde Gans, die selber nicht die Stätte hatte, wohin sie ihr Haupt legen konnte, nicht umhin, im stillen zu denken: »Hätte ich es so gut wie Herr Langbein, da würde ich mich zu gut halten, zu klagen. Er ist noch heutigen Tages ein freier und wilder Vogel, und trotzdem ist er bei den Menschen so gut angeschrieben, daß niemand einen Schuß auf ihn abschießt oder ihm auch nur ein Ei aus seinem Neste stehlen würde.« Das alles aber behielt sie für sich. Zu dem Storch sagte sie nur, sie könne sich nicht denken, daß er von einem Hause fortfliegen wolle, auf dem, seit es erbaut war, Störche Wohnung gehabt hätten.

Da fragte der Storch plötzlich, ob die Gänse die grauen Ratten gesehen hätten, die nach Glimminghaus gezogen waren. Und als Akka antwortete, sie habe das Ungeziefer gesehen, begann er, ihr von den tapferen schwarzen Ratten zu erzählen, die seit vielen Jahren die Burg verteidigt hatten. »Aber in dieser Nacht wird Glimminghaus in die Gewalt der grauen Ratten gelangen,« sagte der Storch seufzend.

»Warum gerade in dieser Nacht, Herr Langbein?« fragte Akka.

»Weil fast alle Ratten gestern abend nach Kullaberg gezogen sind,« sagte der Storch, »im Vertrauen darauf, daß auch alle andern Tiere dahin wollten. Aber Sie sehen, daß die grauen Ratten zu Hause geblieben sind, und nun rotten sie sich zusammen, um über Nacht, wenn Glimminghaus nur von einigen alten gebrechlichen Ratten verteidigt wird, die keine Kräfte mehr haben, mit nach Kullaberg zu wandern, in die Burg einzudringen. Sie werden ihr Ziel schon erreichen, aber nun habe ich seit so vielen Jahren in guter Nachbarschaft mit den schwarzen Ratten gelebt, daß ich keine Lust habe, auf demselben Hause zu wohnen, in dem ihre Feinde sich eingenistet haben.«

Akka begriff nun, daß der Storch so erbittert über die Handlungsweise der grauen Ratten war, daß er sie aufgesucht hatte, um sich über sie zu beklagen. Aber nach gewohnter Storchenart hatte er nichts getan, um dem Unglück vorzubeugen. »Haben Sie den schwarzen Ratten einen Boten geschickt, Herr Langbein?« fragte sie. – »Nein,« erwiderte der Storch, »was hätte das auch nützen können? Ehe sie nach Hause kommen, ist die Burg ja schon genommen.« – »Das dürfen Sie nicht so unbedingt glauben, Herr Langbein,« sagte Akka. »Ich kenne eine alte wilde Gans, die so eine Schandtat gern verhindern würde.«

Als Akka das sagte, erhob der Storch den Kopf und machte große Augen. Und das war nicht zu verwundern, denn die alte Akka hatte weder Schnabel noch Krallen, die zum Kampfe taugten. Außerdem war sie ein Tagvogel, und sobald es dunkel wurde, fiel sie unfehlbar in Schlaf, wahrend die Ratten gerade des Nachts kämpften.

Aber Akka hatte sich offenbar entschlossen, den schwarzen Ratten zu helfen. Sie rief Yksi von Bassijaure zu sich heran und befahl ihm, die Gänse nach dem Vombsee hinaufzuführen, und als die Gänse Einwände erhoben, sagte sie sehr bestimmt:

»Ich glaube, es ist das beste, wenn ihr mir alle gehorcht. Ich muß nach dem großen steinernen Haus hinfliegen, und wenn ihr mich begleitet, läßt es sich nicht vermeiden, daß die Leute auf dem Hofe uns sehen und uns niederschießen. Der einzige, den ich mit auf die Reise nehmen will, ist Däumling. Er kann mir von großem Nutzen sein, weil er gute Augen hat und sich des Nachts wach halten kann.«

Der Junge hatte gerade seinen eigensinnigen Tag, und als er hörte, was Akka sagte, streckte er sich, um so groß wie möglich zu sein und ging, die Hände auf dem Rücken und die Nase in der Luft, auf sie zu, um zu sagen, daß er wahrhaftig nicht behilflich sein wolle, die grauen Ratten zu schlagen. Sie möge sich anderweitig nach Hilfe umsehen.

Aber in demselben Augenblick, als sich der Junge blicken ließ, kam Leben in den Storch. Er hatte die ganze Zeit dagestanden, wie Störche zu stehen pflegen, mit gesenktem Kopf, den Schnabel gegen den Hals gepreßt. Aber nun konnte man es tief drinnen in seiner Kehle förmlich glucksen hören, als lache er. Blitzschnell senkte er den Schnabel, ergriff den Jungen und warf ihn vier, fünf Ellen hoch in die Luft empor. Dies Kunststück machte er siebenmal hintereinander, während der Junge schrie und die Gänse riefen: »Was tun Sie denn da, Herr Langbein, das ist doch kein Frosch! Es ist ein Mensch, Herr Langbein!«

Schließlich jedoch setzte der Storch den Jungen ganz unbeschädigt wieder hin. Dann sagte er: »Nun fliege ich wieder nach Glimminghaus zurück, Mutter Akka. Alle, die da wohnen, waren sehr bekümmert, als ich von dannen zog. Die werden sich freuen, wenn ich nun komme und ihnen erzähle, daß die wilde Gans Akka und der Menschenknirps Däumling unterwegs sind, um sie zu erretten.«

Bei diesen Worten streckte der Storch den Hals lang aus, schlug mit den Flügeln und sauste davon wie ein Pfeil, der von einem stramm gespannten Bogen fliegt. Akka begriff sehr wohl, daß er sich lustig über sie machte, aber davon ließ sie sich nicht anfechten. Sie wartete, bis der Junge seine Holzschuhe gefunden, die ihm der Storch abgeschüttelt hatte; dann setzte sie ihn auf ihren Rücken und flog hinter dem Storch drein. Und der Junge leistete keinen Widerstand und sagte kein Wort davon, daß er nicht mitwolle. Er war so wütend auf den Storch daß er förmlich dasaß und schnob. Der rotbeinige Bursche glaubte, daß er zu nichts zu gebrauchen sei, weil er klein war, aber er wollte ihm schon zeigen, was für ein Kerl Niels Holgersen aus Vemmenhög war.

Wenige Augenblicke später stand Akka in dem Storchennest auf Glimminghaus. Das war ein großes und schönes Nest. Als Unterlage diente ihm ein Rad, und darauf lagen mehrere Schichten aus Zweigen und Grassoden. Das Nest war alt, und viele Büsche und Kräuter hatten dort oben Wurzel geschlagen, und wenn die Storchenmutter in der runden Vertiefung mitten im Nest auf ihren Eiern saß, konnte sie sich nicht nur an der schönen Aussicht über einen großen Teil von Schonen erfreuen, sondern auch noch an den wilden Rosen und dem Huflattich, die in ihrem Nest blühten.

Der Junge wie auch Akka sahen sofort, daß hier etwas vor sich ging, was die gewöhnliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte. Auf dem Rande des Storchennestes saßen nämlich zwei Horneulen, ein alter, graugestreifter Kater und ein Dutzend uralter Ratten mit schiefen Zähnen und rinnenden Augen. Es waren nicht gerade solche Tiere, wie man sie gewöhnlich friedlich beieinander sitzen sieht.

Keins von ihnen wandte sich um und sah Akka an oder hieß sie willkommen. Die hatten keinen andern Gedanken als auf einige lange, graue Streifen hinabzustarren, die hier und da auf den winterkahlen Feldern sichtbar wurden.

Alle schwarzen Ratten verhielten sich still. Man konnte ihnen ansehen, daß sie in tiefe Verzweiflung versunken waren und sehr wohl wußten, daß sie weder ihr eigenes Leben noch die Burg zu verteidigen vermochten. Die beiden Eulen saßen da und rollten mit ihren großen Augen, drehten ihre Augenkränze und sprachen mit unheimlicher, heiserer Stimme von der großen Grausamkeit der grauen Ratten, um deretwillen sie nun aus ihrem Nest fliehen mußten, denn sie hatten gehört, daß sie weder Eier noch Junge schonten. Der alte gestreifte Kater war überzeugt, daß die grauen Ratten ihn totbeißen würden, und er schalt ununterbrochen auf die schwarzen Ratten: »Wie konntet ihr nur so dumm sein, eure besten Streitkräfte von dannen ziehen zu lassen!« sagte er. »Ihr müßt doch wissen, daß auf die grauen Ratten kein Verlaß ist! Das ist ganz unverzeihlich.«

Die zwölf schwarzen Ratten erwiderten kein Wort, aber der Storch konnte es trotz seiner Betrübnis nicht lassen, Kurzweil mit dem Kater zu treiben: »Du brauchst nicht bange zu sein, Kater Murr!« sagte er. »Siehst du denn nicht, daß Mutter Akka und Däumling gekommen sind, um die Burg zu retten? Du kannst sicher sein, daß es ihnen gelingt. Ich muß mich jetzt hinstellen und schlafen, und das tue ich mit der größten Ruhe. Wenn ich morgen aufwache, ist, weiß Gott, nicht eine einzige Ratte mehr in Glimminghaus.«

Der Junge blinzelte Akka zu und machte ein Zeichen, daß er den Storch vom Dach herunterstoßen wollte, wenn er sich nun zum Schlafen auf ein Bein am äußersten Rande des Nestes aufstellte, aber Akka hielt ihn davon zurück: »Es sähe schlimm aus, wenn jemand, der so alt ist wie ich, nicht größere Schwierigkeiten wie diese überwinden könnte. Wenn nur der Eulenvater und die Eulenmutter, die sich die ganze Nacht wach halten können, mit einer Botschaft von mir ausfliegen wollten, so denke ich, kann noch alles gut gehen.«

Die beiden Horneulen waren bereit, und dann bat Akka den Eulenvater, die von dannen gezogenen schwarzen Ratten aufzusuchen und ihnen den Rat zu erteilen, so schnell wie möglich heimzukehren. Die Eulenmutter sandte sie zu Flammea, der Turmeule, die im Dom zu Lund wohnte, mit einem Auftrag, der so geheimnisvoll war, daß Akka ihn ihr nur mit flüsternder Stimme anzuvertrauen wagte.

Der Rattenfänger.

Es ging schon stark auf Mitternacht, als die grauen Ratten nach vielem Suchen endlich eine Kellerluke fanden, die offen stand. Sie saß ziemlich hoch in der Mauer, aber die Ratten krochen eine auf die Schultern der andern, und es währte nicht lange, bis die mutigste von ihnen in der Luke saß, bereit, in Glimminghaus einzudringen, vor dessen Mauern so viele ihrer Vorfahren hatten ins Gras beißen müssen.

Die graue Ratte blieb eine Weile ganz still in der offenen Luke sitzen und wartete, daß sie angegriffen wurde. Freilich war das Hauptheer der Verteidiger fort, aber sie dachte sich, daß die schwarzen Ratten, die noch in der Burg waren, sich nicht ohne Kampf ergeben würden. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf das geringste Geräusch, aber alles war still. Da faßte der Anführer der grauen Ratten Mut und sprang in den stockdunklen Keller hinab.

Eine graue Ratte nach der andern folgte dem Anführer. Sie waren alle ganz still, und sie waren alle darauf vorbereitet, daß die schwarzen Ratten irgendwo im Hinterhalt lagen. Erst als so viele von ihnen in den Keller eingedrungen waren, daß der Fußboden nicht mehr aufnehmen konnte, wagten sie sich weiter.

Obwohl sie nie zuvor in dem Gebäude gewesen waren, machte es ihnen keine Schwierigkeit, den Weg zu finden. Sie entdeckten sehr bald die Gänge in den Mauern, die die schwarzen Ratten benutzt hatten, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Ehe sie anfingen, diese schmalen und steilen Steige hinaufzuklettern, lauschten sie abermals gespannt, es war ihnen viel unheimlicher, daß sich die schwarzen Ratten so zurückhielten, als wenn sie ihnen in offenem Kampf begegnet wären. Sie wollten kaum ihrem Glück trauen, als sie so ohne Kampf in das erste Stockwerk hinaufgelangten.

Gleich bei ihrem Eindringen schlug den grauen Ratten der Geruch des Kornes entgegen, das in großen Haufen auf dem Estrich lag. Aber die Zeit, ihren Sieg zu genießen, war noch nicht für sie gekommen. Mit der größten Sorgfalt untersuchten sie erst die dunklen, leeren Säle. Sie sprangen auf den Herd, der mitten in der alten Burgküche stand und waren nahe daran, in dem innersten Raum in den Brunnen zu stürzen. Sie ließen nicht eine einzige der schmalen Lichtöffnungen unbesehen, fanden aber noch immer keine schwarzen Ratten. Als dies Stockwerk ganz und gar in ihrer Macht war, begannen sie, sich in derselben vorsichtigen Weise in Besitz des nächsten zu setzen. Wieder erfolgte ein mühseliges und gefährliches Klettern durch die Mauern, während sie in atemloser Spannung darauf warteten, daß sich der Feind über sie stürzen würde. Und obwohl sie der herrlichste Geruch der Kornhaufen lockte, zwangen sie sich, mit der größten Genauigkeit die gewölbte Gesindestube der alten Kriegsknechte mit ihrem steinernen Tisch und dem Herd und den tiefen Fensternischen und der Luke im Fußboden zu untersuchen, die man in vergangenen Zeiten benutzt hatte, um dahindurch kochendes Pech auf einen eindringenden Feind hinabzugießen.

Aber die schwarzen Ratten ließen sich noch immer nicht sehen. Die grauen tasteten sich hinauf nach dem dritten Stockwerk mit dem großen Festsaal des Burgherrn, der ebenso leer und kahl war wie alle die andern Räume in dem alten Haus, und sie fanden sogar den Weg zu dem obersten Stockwerk, das aus einem einzigen großen, leeren Raum bestand. Der einzige Ort, den zu untersuchen ihnen nicht in den Sinn kam, war das große Storchennest oben auf dem Dach, wo die Eulenmutter gerade in dieser Zeit Akka weckte und ihr mitteilte, daß Flammea, die Turmeule, ihr Begehren erfüllt und ihr das Gewünschte gesandt habe.

Als nun die grauen Ratten so gewissenhaft die ganze Burg durchsucht hatten, fühlten sie sich beruhigt. Sie begriffen, daß die schwarzen Ratten geflüchtet waren und nicht daran dachten, sich zur Gegenwehr zu setzen, und leichten Herzens liefen sie in die Kornhaufen hinauf.

Kaum aber hatten sie die ersten Weizenkörner heruntergeschluckt, als sie unten vom Burghof her gellende Töne aus einer kleinen, schrillen Flöte vernahmen. Sie erhoben ihre Köpfe vom Korn, lauschten unruhig, liefen einige Schritte, als wollten sie den Futterhaufen verlassen, wandten sich aber wieder um und begannen von neuem zu fressen.

Abermals erschallte die Flöte laut und gellend, und nun geschah etwas Merkwürdiges. Eine Ratte, zwei Ratten, ja eine Menge Ratten sprangen von den Haufen herunter, ließen das Korn liegen und eilten auf dem kürzesten Wege in den Keller hinab, um aus dem Hause zu gelangen. Es waren aber noch viele graue Ratten zurückgeblieben. Sie dachten daran, welch eine große Mühe es sie gekostet hatte, Glimminghaus zu erobern, und sie wollten es nicht verlassen. Aber noch einmal drangen die Töne der Flöte bis zu ihnen, und sie mußten folgen. In wilder Hast stürzten sie von den Haufen herunter, ließen sich durch die engen Kanäle in den Mauern gleiten und taumelten übereinander in ihrem Eifer, hinauszugelangen.

Mitten auf dem Burghof stand ein kleiner Knirps und blies auf der Flöte. Er hatte schon einen ganzen Kreis von Ratten um sich gesammelt, die erstaunt und verzaubert seinen Tönen lauschten, und jeden Augenblick kamen mehr hinzu. Einmal nahm er nur eine Sekunde die Flöte vom Munde, um den Ratten eine lange Nase machen zu können, und da sah es aus, als hätten sie Lust, sich über ihn zu stürzen und ihn totzubeißen. Aber sobald er blies, waren sie seiner Macht untertan.

Als der Knirps alle Ratten aus Glimminghaus herausgespielt hatte, begab er sich langsam vom Hofplatz auf die Landstraße hinaus, und alle grauen Ratten folgten ihm, weil die Töne seiner Flöte so süß in ihren Ohren klangen, daß sie ihnen nicht zu widerstehen vermochten.

Der Knirps ging voran und lockte sie den Weg nach Valby entlang. In allen möglichen Kreisen und Windungen und auf allen möglichen Umwegen führte er sie durch Hecken und in Gräben hinab, und wo er ging, mußten sie ihm folgen. Er blies unaufhörlich auf seiner Flöte, die aus einem Tierhorn gemacht zu sein schien. Aber das Horn war so klein, daß es heutigentags kein Tier gibt, dessen Stirn es entrissen sein könnte. Es wußte auch niemand, wer es verfertigt hatte. Flammea, die Turmeule, hatte es in einer Nische in dem Turm des Domes von Lund gefunden. Sie hatte es Bataki, dem Raben, gezeigt, und die beiden hatten ergründet, daß es so ein Horn war, wie es in alten Zeiten von denen gemacht wurde, die sich Gewalt über Ratten und Mäuse verschaffen wollten. Der Rabe aber war Akkas Freund, und von ihm hatte sie erfahren, daß Flammea im Besitze eines solchen Schatzes war.

Und es verhielt sich wirklich so, daß die Ratten der Flöte nicht widerstehen konnten. Der Junge ging voran und spielte, solange die Sterne schimmerten, und sie folgten ihm die ganze Zeit. Er spielte bei Tagesgrauen, er spielte bei Sonnenaufgang, und immer folgte ihm die ganze Schar der grauen Ratten und wurde immer weiter von den großen Kornböden in Glimminghaus fortgelockt.


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