Isolde Kurz
Die Stunde des Unsichtbaren
Isolde Kurz

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Der Iettatore

Eine vergessene Geschichte

Der Leser, der etwa wissen sollte, was es mit der Iettatura auf sich hat, braucht an dieser Überschrift nicht zu erschrecken, ich habe das Zeichen der Hörner über mein Blatt gemacht, damit ihm das Lesen und mir das Schreiben nicht schade. Wir nehmen zwar beide im allgemeinen an, daß wir über den Aberglauben erhaben sind, aber gut ist gut und besser ist besser.

Was ist der Iettatore für eine Art von Mensch? Einer der den bösen Blick hat, wird man antworten. Allein den bösen Blick kennt man im Norden auch, wer ihn hat, der will seinen Nebenmenschen Böses und ist von der Natur als Gefäß des Bösen gezeichnet, daß Kindermädchen auf zehn Schritte vor ihm ausspucken können. Anders der Iettatore, eine nur im Süden vorkommende Abart. Er kann der vollkommenste Ehrenmann sein und von den wohlwollendsten Gesinnungen beseelt; wenn er die verhängnisvolle Gabe zur Welt gebracht hat, ist er, solange er lebt, auf Schritt und Tritt, ohne es zu wissen und zu wollen, seinen Nebenmenschen gefährlich. An sein Erscheinen knüpft sich jedesmal irgendein Unheil, ein Verlust, wenn nicht gar ein Todesfall. Er selber kann sich lange Zeit des besten Gedeihens erfreuen, bis die Schädlichkeit auf ihren Urheber zurückwirkt, er kann in allen seinen Unternehmungen glücklich sein, während er zugleich wie eine Seuche unter seiner 104 Umgebung wütet. Er ahnt nichts von dem Verhängnis, das er bringt, teilnehmend drückt er dem Freunde A. die Hand, um ihn über den verlorenen Prozeß zu trösten, dessen Aussichten vor seinem letzten Besuche noch so günstig gestanden waren, dann hört er, daß Freund B. erkrankt sei, eilt augenblicklich in dessen Wohnung, wo ihn die Familie mit Schrecken empfängt und schnell zu entfernen sucht, – umsonst, drei Tage später geht er, eine Kerze in der Hand, in aufrichtiger Betrübnis hinter dem Sarge seines Opfers her.

Was ein rechter Iettatore werden will, kündigt sich gewöhnlich schon in der Wiege an: er hat entweder bei der Geburt der Mutter das Leben gekostet, oder die Amme ist, sobald sie ihn an die Brust legte, in unheilbaren Wahnsinn verfallen; später ist er Lehrern und Mitschülern verderblich geworden, hat durch seine bloße Anwesenheit Brände entzündet, Überschwemmungen verursacht, vielleicht sogar den Staat in Gefahr gebracht. Aber da die Familie das Übel solange wie möglich verheimlicht, kann er schon unendlichen Schaden gestiftet haben, bis zuletzt das Kainszeichen aller Welt sichtbar wird. Es ist kein Fall bekannt, daß ein mit Iettatura Behafteter jemals von seinem Übel genesen wäre, es ist angeboren, erblich und unheilbar. Es kann eine ganze Geschlechtsfolge überspringen oder in eine 105 Seitenlinie einschlagen, aber wie die Tuberkulose kommt es immer wieder zum Vorschein und soll sich mit den zunehmenden Jahren des Befallenen verschärfen. Die Heimat der Iettatura ist Neapel, was auf griechischen Ursprung schließen läßt, und sie heftet sich dort mit Vorliebe an die aristokratischen Familien.

Ehedem zeichneten sich im Neapolitanischen drei große Iettatorefamilien aus, sie trugen die stolzesten Namen des Landes; ich werde sie bei mir behalten, um sie und uns nicht zu schädigen. Mein Gewährsmann, ein sehr gebildeter und aufgeklärter Neapolitaner, wußte noch eine vierte, die gefährlichste von allen, aber er wollte sie nicht nennen: schon ihren Namen auszusprechen sei bedenklich. Auf langes Bitten und Drängen hat er ihn mir ins Merkbuch geschrieben, doch nicht, ohne mit zwei gespreizten Fingern der Linken das bekannte Schutzzeichen darüber zu machen und danach aus tiefster Seele zu seufzen: Dio ce la mandi buona! (Gott bewahre uns vor Unheil.) Ich habe das Merkbüchlein mit dem Namen verloren, und das ist wahrscheinlich gut. Unter der Herrschaft der Bourbonen soll es nicht selten vorgekommen sein, daß Angehörige solcher Familien ohne irgendein Verschulden des Landes verwiesen wurden, einzig, um die Iettatura unschädlich zu machen. Ihre nächsten Angehörigen konnten daneben ungestört die 106 höchsten Hof- oder Staatsämter bekleiden, denn gewöhnlich ist nur eine Person in der Verwandtschaft Träger des dämonischen Erbteils. Ich habe jedoch nicht vor, eine Abhandlung über Iettatura zu schreiben, sondern möchte von einem ganz vergessenen Iettatore erzählen, den ich persönlich kannte und der mir heute, da ich in alten, wiedergefundenen Aufzeichnungen meiner Florentiner Jahre kramte, plötzlich vor das innere Auge trat.

 

Es war in den neunzigern Jahren, daß ich einmal von Frau Clara G., der deutschen Gattin eines neapolitanischen Adligen, der ehedem in Florenz ein Haus gemacht hatte, jetzt aber nur noch selten von seinem Gut im Casentino zur Stadt kam, eine Einladung zum Abendbrot erhielt, mit der scherzhaften Nachschrift:

Da Sie die besonderen menschlichen Spielarten lieben, ist Ihnen für den Abend eine Überraschung zugedacht. Ich bitte aber, sich für alle Fälle mit einem Korallenhörnchen zu versehen, denn Sie werden den berüchtigsten Iettatore, den Marchese O., bei mir kennenlernen.

Ich wußte gleich, wer gemeint war, obschon ich den Namen noch nie gehört hatte: die mit dem schlimmen Rufe behaftete Gestalt war mir als eine städtische Merkwürdigkeit auf der Straße gezeigt worden: ein hagerer alter Herr von auffallender Gesichtsbildung und etwas 107 vernachlässigtem Äußern, woran jedoch die Spuren früherer aristokratischer Lebenshaltung noch hafteten. Seine Erscheinung war nicht anziehend, aber er hatte etwas im Blick, das zu Herzen ging, etwas Scheues und Stolzes wie ein Mensch, der einmal unschuldig zum Tode verurteilt worden ist und der seitdem den menschlichen Verkehr meidet.

Man sah ihn nie an öffentlichen Vergnügungsorten, dagegen wandelte er täglich nach den Cascinen, besonders in den frühen Morgenstunden, und auch dann am liebsten auf abgelegenen Reitwegen, wohin selten ein Spaziergänger gerät. Dort ging er langsam auf und ab, mit seinem Stöckchen den Torfgrund aufwühlend, sang halblaut vor sich hin und blieb auch dann und wann stehen, wobei er ein kurzes Lachen ausstieß, das nichts Fröhliches hatte.

Der Name des Marchese O. war mir, wie gesagt, noch nie genannt worden, auch seine persönlichen Bekannten vermieden es, ihn auszusprechen: wenn von dem unglücklichen Mann die Rede war, hieß er schlechtweg der ›Dings‹ oder der ›Herr Dingsda‹, und man konnte aus dem Mund gebildeter Menschen Aussprüche hören wie diesen:

Ich wollte heute eine Summe auf die Bank tragen, aber ich begegnete unterwegs dem Dings, da hielt ich 108 es für geratener, umzukehren. Oder: Ich muß mein Pferd verkaufen, der Marchese, Sie wissen schon, der Neapolitaner, hat neulich in den Cascinen seine Gangart gelobt, da wird es doch nächster Tage ein Bein brechen.

Nicht immer war der Marchese O. in Florenz ein Gemiedener gewesen. Ältere Leute erinnerten sich, ihn als lebenslustigen jungen Mann und glänzendes Mitglied der adligen Klubs gekannt zu haben, er ging damals auf hohen Wogen und war mit einem der reichsten und schönsten Mädchen aus der hohen Gesellschaft verlobt. Welche Umstände die Wende seines Glückes nach sich zogen, darüber war schon lange Gras gewachsen; jetzt führte er als Junggeselle ein weltverlorenes Dasein, lebte sparsam wie ein Geizhals, und ich war nicht wenig erstaunt, als ich ihn einmal, ein einziges Mal, in der Vorhalle der Pergola mit einem bildschönen jungen Mädchen am Arm begegnete, das er sorgsam durch das Gedränge herausführte und wie eine kostbare Vase vor jeder Berührung schützte. Man sagte mir, es sei die Tochter des Gerichtspräsidenten Lacava, das Patenkind und die mutmaßliche Erbin des Marchese, und als ich mich über die aufgeklärte Familie wunderte, die allein dem allgemeinen Vorurteil zu trotzen schien, wurde mir mit unbestimmbarem Lächeln geantwortet, im Hause Lacava habe die Iettatura keine Macht.

109 Ich war also nicht wenig gespannt, den Mann kennenzulernen, an dem ein so unbegreifliches Schicksal hing. Augenscheinlich wollte meine Landsmännin mit ihrem hellen Verstand und warmen Herzen einen Versuch machen, den Einsamen wieder unter Menschen zu bringen, und ich bedauerte nur, daß ich zu spät kam, die Gesichter der andern Gäste bei seinem Eintritt zu beobachten; freilich hatte Frau Clara vorsichtshalber fast nur Ausländer geladen. Ich fand ihn schon, glattrasiert und in tadellosem Gesellschaftsanzug, an der Seite der Hausfrau niedergelassen. Der ganze Kreis schien zu einem freundschaftlichen Komplott zusammengetreten zu sein, denn man umgab den Geächteten von allen Seiten mit den höflichsten Aufmerksamkeiten. Aus der Nähe gesehen hatte er nichts Abstoßendes, bloß die ungewöhnliche Schmalheit seines Gesichts, das eigentlich nur aus zwei Profilen bestand, und die lange gebogene Nase, die einem Messerrücken glich, konnten als unheimlich auffallen. Aber er hatte nichts vom klassischen Iettatoretypus, seine Haare spielten nicht ins Rötliche, und die Augen blickten nicht stechend, nur unendlich melancholisch, als wollten sie sagen: Ja, liebe Kinder, ihr kommt zu spät mit eurer Teilnahme, dieser alte Baum schlägt nicht mehr aus.

Der Hausherr, sein Landsmann und Altersgenosse, 110 suchte ihn unermüdlich durch Erinnerungen aus der Jugendzeit aufzumuntern, noch mehr aber trug die liebenswürdige und schöne Wirtin, die, obwohl um zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte, ihn gleichfalls wie einen alten Kameraden behandelte, dazu bei, den Gast aus seiner scheuen Zurückhaltung zu reißen.

Bei Tische löste sich auch wirklich der Bann, der Einsiedler entpuppte sich als unterhaltender Nachbar, aus der zugeknöpften Hülle brach ein quellendes südliches Temperament hervor und gesellschaftliche Talente, die nur eingerostet, nicht abgestorben waren. Er erzählte witzige Hofgeschichten aus der Bourbonenzeit und entwickelte jene altmodische Galanterie, die alte Herren um so liebenswürdiger machte, je weiter man sich schon von den Tagen, da sie Mode waren, entfernte.

Als man im Nebenraum den Kaffee nahm, stellte sich der Marchese mit dem Hausherrn ans Klavier, und beide sangen abwechselnd, indem sie sich gegenseitig begleiteten, lustige neapolitanische Volkslieder, die die Eingeladenen in hellen Jubel versetzten. Der Marchese hatte noch eine klare kräftige Stimme wie ein junger Mann und sang mit jugendlichem Feuer und Übermut, daß man einen Lazzarone zu hören glaubte.

Eine Dame trat zu ihm ans Klavier und sagte:

111 Ich hatte ja gar keine Ahnung, daß Sie so musikalisch sind, Marchese.

Gibt's denn einen Neapolitaner, der nicht musikalisch wäre? fragte dieser lachend, und die Hausfrau warf schnell ein:

Ach, Sie wissen nicht, daß der Marchese auch eine Oper geschrieben hat, ›Tullia d'Arragona‹, die auf Verdis Fürsprache an mehreren Bühnen angenommen wurde.

Und an keiner aufgeführt, setzte der alte Herr hinzu.

Warum das? fragte die Dame.

Im Costanzi wurde bei der Hauptprobe die Primadonna durch den Schuß eines verschmähten Liebhabers verletzt, und hier am Niccolini brach bei der ersten Vorstellung, noch ehe der Vorhang aufgezogen war, Feuer aus. Natürlich schrie alles: da sieht man's, die Iettatura. Und das hatte dann die Oper zu büßen, die samt ihrem Urheber zu den Toten geworfen ist. Denn von da an war es eine ausgemachte Sache: So oft die Tullia d'Arragona auf dem Spielplan steht, muß ein Unglück geschehen.

Unerhört! Der lächerliche Aberglaube! riefen die Zunächststehenden, und durch den ganzen Saal pflanzte sich ein mißbilligendes Gemurmel fort, während vielleicht schon einer oder der andere von den Anwesenden heimlich das Zeichen der Hörner machte.

112 Ja, nicht wahr? sagte Frau Clara lebhaft, man würde es anderwärts nicht für möglich halten. Und wir hatten mit unter der Torheit zu leiden, denn mein Mann hat das Libretto gedichtet. Es ist ein Stoff aus der eigenen Familiengeschichte des Marchese, den er mit der Gestalt der berühmten Dichterin und Hetäre verflochten hat.

Könnte man nicht etwas aus Ihrer Oper hören? fragte ich den Marchese.

Er warf einen fragenden Blick auf die Hausfrau, die schnell einfiel:

Meine Nichte wird Ihnen die Arie der Tullia: Oh, senza pace singen, und der Marchese wird die Güte haben, sie zu begleiten. Nicht wahr, Sie machen uns die Freude?

Der Marchese verbeugte sich stumm. Über sein ganzes Gesicht ging ein stilles Leuchten, das die unschönen Züge fast anziehend machte.

Die Nichte, eine hübsche siebzehnjährige Deutsche, die sich auf die Bühne vorbereitete, war schon nach der Ecke entschlüpft, um in dem Notenkorb zu wühlen, aus dem sie auch gleich die Arie hervorbrachte: der kleine Streich war von dem gastlichen Hause vorbereitet, um dem Einsiedler wohlzutun.

Annetta trat ans Klavier, der Marchese setzte sich, und die Zuhörer schlossen einen weiten Halbkreis. Ich konnte 113 kein Auge von dem alten Herrn abwenden, es war der Mühe wert, sein Gesicht während des Spiels zu beobachten. Er sah nicht auf die Tasten, sondern blickte nach oben, als wollte er den entschwebenden Tönen nacheilen, und die Finger fanden von selbst den Weg. Das Mädchen, das einen guten Sopran hatte, sang die Arie der liebeskranken Dichterin mit Ausdruck und Kraft und entlockte den Zuhörern ein Gemurmel der Bewunderung. Auch der Tonsetzer kam nicht zu kurz. Das ist Verdisches Feuer, hörte ich neben mir sagen, und als die Sängerin geendet hatte, wurde stürmisch das bis verlangt. Der Marchese war plötzlich um zehn Jahre jünger geworden und saß da wie in eine andere Welt entrückt.

Wenn Sie nicht müde sind, sagte er leise zu dem jungen Mädchen, das seine Lorbeeren teilte, so singen Sie vielleicht noch einmal die Stelle: Un sol desio.

Die Sängerin versicherte mit glühenden Wangen, nicht müde zu sein, und begann die ganze Arie von vorne:

Oh, senza pace, – aber sie brachte den ersten Satz nicht zu Ende, ein gellender Angstschrei verschlang ihre Stimme. Sie war mit ihrem hängenden Ärmel einer Klavierkerze zu nahe gekommen, und alsbald flammte das leichte blaue Seidenkleidchen hoch auf. Der Marchese wollte mit zitternden Händen das Feuer löschen, aber 114 zwei kräftige junge Arme kamen ihm zuvor und erdrückten die Flammen. Doch Annetta schien ganz von Sinnen, sie schrie immer weiter und mußte unter Zuckungen ins Nebenzimmer getragen werden. Nach zehn Minuten kam zwar Frau Clara zurück und berichtete, daß ihre Nichte mit dem Schreck davongekommen sei und bloß ein wenig Ruhe brauche, um ihre Nerven zu beschwichtigen, aber der Abend war doch verdorben, ein Herr hatte beim Löschen Brandwunden an der Hand davongetragen, und die Gesellschaft ging bestürzt auseinander. Jetzt erst bemerkte man, daß der Marchese fehlte, das Klavier stand noch geöffnet, und das verhängnisvolle Notenblatt lag unversehrt am Boden, aber der Iettatore war verschwunden.

Es ist mir nur leid um den armen Marchese, sagte Frau Clara, als wir nach dem Weggang der Gesellschaft noch ein halbes Stündchen beisammensaßen. Ich hatte es gut gemeint, aber der heutige Abend wird, fürchte ich, nur Öl ins Feuer gießen. Ich bin überzeugt, er zieht sich jetzt auch von uns zurück; denn er nimmt natürlich an, man schiebe den Unfall, an dem nur die dumme Mode der hängenden Ärmel schuld ist, auf seine Gegenwart.

Als ich nach der Lebensgeschichte des seltsamen Menschen fragte, wies sie mich an ihren Mann, der ihm schon in 115 der Jugend nahe gestanden und manch lustiges Pagenstücklein mit ihm verübt habe, bevor der Marchese blutjung einer der vielen Verschwörungen der späten vierziger Jahre beigetreten und dann mit jener Flutwelle neapolitanischer Flüchtlinge, die sich damals über die Toskana ergossen, nach Florenz gekommen sei.

Zu jener Zeit, fuhr sie fort, glaubte man allgemein, daß er einer glänzenden Zukunft entgegengehe. Obgleich er in den bescheidensten Verhältnissen lebte, weil seine Güter beschlagnahmt waren, so standen ihm doch alle großen Häuser offen, man riß sich in Florenz um den talentvollen und vornehmen Neapolitaner, und seine kleineren Tonstücke gingen in vielen Abschriften von Hand zu Hand. – Als ich ihn kennenlernte, war sein Stern bereits im Niedergang. Ich erinnere mich noch gut, wie schon damals Freunde meines Mannes sagten:

Wie, mit dem Marchese O. gehen Sie um, mit dem Iettatore? Drehen Sie ihm den Rücken, wenn er wiederkommt, spucken Sie aus vor ihm, er hat den bösen Blick, er wird Ihnen den Unfrieden ins Haus bringen.

Und der arme Marchese selber, der die Sache damals noch humoristisch nahm, brachte mir eines Tages ein Korallenhörnchen – ich besitze es noch –, das ich zum Schutz gegen ihn selber tragen solle. Ich ließ ihn natürlich nicht fallen, und er blieb unser Hausfreund, solange 116 wir die Winter in Florenz verbrachten, aber wir hatten schon damals einen schweren Stand gegen das Vorurteil, und wenn nur ein Braten anbrannte, dem armen Marchese wurde im Scherz oder Ernst die Schuld daran aufgebürdet.

Nun, es gab schon noch etwas mehr als verbrannte Braten, fiel ihr Gatte ein. Erinnerst du dich des Vorgangs mit dem neuen Sèvres-Porzellan? Meine Frau, erklärte er mir, hatte ein kostbares Sèvresgeschirr aus Frankreich kommen lassen und gab dem neuen Porzellan zuliebe ein Abendessen, bei dem Freund O. nicht fehlen durfte. Er sprühte von Liebenswürdigkeit, aber als der erste Gang abgetragen war, fiel es ihm ein, nach einem der Schälchen zu greifen, während eben der Bediente mit einem Arm voll Teller eintrat, und zu sagen: Es ist wirklich ein ganz reizendes Muster. Noch hatte er nicht ausgesprochen, so ertönte von der Türe her ein Krach und der Boden war mit Scherben bedeckt. Der Marchese aber wandte bei dem Geklirr harmlos den Kopf und sagte mit einem bedauernden Blick auf den Missetäter, der die Scherben zusammenlas: Diese Marmorböden sind zu glatt, ich habe Frau Clara öfters gewarnt –, ohne zu ahnen, daß die Hälfte der Anwesenden in ihm den wahren Schuldigen sah.

Er hatte recht, der Boden war in der Tat zu glatt, 117 entgegnete Frau Clara, ohne sich beirren zu lassen. Und es ist auch gar nicht ausgeschlossen, daß unser neuer Diener durch die Winke, die sie ihm in der Küche gaben, unsicher gemacht war, bevor er eintrat.

Und der große Kronleuchter, den er uns das nächste Mal zu Fall brachte? erinnerte der Gatte, der doch vielleicht nicht so sicher in der Aufklärung war, wie er sich vor seiner deutschen Frau gerne den Anschein gab.

Ich fragte, wie der Unglücksvogel das bewerkstelligt habe.

Oh, sehr einfach, war die Antwort: er kam, sah und siegte. Kaum daß er bis zur Mitte des Saales vorgetreten war, um meiner Frau die Hand zu küssen, so brach es von oben nieder, und unser schöner Kronleuchter lag in tausend Splittern.

Aber niemand war verletzt, beharrte Frau Clara seelenruhig, und als man die Kette untersuchte, zeigte sich's, daß das zerbrochene Glied rostig war; ein Wunder, daß es solang gehalten hatte. An dem ganzen Vorfall war nur das eine sonderbar, daß man einen Sündenbock dafür suchte.

Was wollen Sie? bemerkte der Hausherr gegen mich, Ausländer haben leicht sich über ein Vorurteil wegsetzen, mit dem sie nicht geboren sind. Aber dem armen Marchese haben diese wiederholten bösen Zufälle sehr 118 geschadet. Unter den Emigrierten wollte man jetzt plötzlich wissen, schon sein Vater sei Iettatore gewesen, und dann kam es Schlag auf Schlag. Wie es mit der Oper zuging, haben Sie von ihm selbst gehört. Um diese Zeit lud er einmal ein paar junge Leute zu einer Kahnfahrt auf dem Arno ein, um das Feuerwerk zu sehen, das auf der Brücke abgebrannt wurde. Das kleine Boot stieß mit einem größeren zusammen, kenterte, der Marchese rettete sich durch Schwimmen, die anderen ertranken, darunter ein Bruder seiner Braut, deren Familie so erschüttert war, daß sie die Verlobung löste. Von da an stand sein Ruf als Iettatore fest, er war wie von einem Brandmal gezeichnet. Die Herzogin Carafa, bei der er fast täglich verkehrte, hatte nacheinander drei reizende Kinder am Scharlach verloren, der Herzog war des Marchese ältester Schulfreund und ein völlig aufgeklärter Mann, er wollte seine Frau zwingen, den Gemiedenen auch ferner zu empfangen, aber die Herzogin schrieb ihm heimlich ein Briefchen, worin sie ihn beschwor, die Sorge einer Mutter, die sich ihr letztes Kind erhalten wolle, zu achten und freiwillig ihrer Schwelle fern zu bleiben. Der Unglückliche hatte Tränen in den Augen, als er mir diese Zeilen zeigte. Er zog sich gekränkt und verbittert aus der Gesellschaft zurück, und niemand machte einen Versuch ihn zu halten. Nicht, daß gerade 119 alle an seine verderbliche Wirkung geglaubt hätten, aber seine lange Nase erinnerte an so viele peinliche Ereignisse, bei denen sie zugegen gewesen, daß man es allmählich vorzog, sie nicht mehr zu sehen. Man ließ den Aberglauben auf sich beruhen und fand einfach, daß man ja nicht gerade nötig hatte, mit dem Marchese O. umzugehen, der ohnehin seine liebenswürdige Laune verlor und ein argwöhnisches, verbittertes Wesen annahm. Wenn er sich je noch beikommen ließ, gelegentlich da oder dort seine Karte abzugeben, fand er einfach niemand zu Hause.

Am Ende blieb ihm nur der Klub, in dem er nun seine ganze Zeit verbrachte. Aber auch dort mochten sie ihn nicht mehr so recht dulden, denn wenn er einmal einem Spiel zusehen wollte, konnte es leicht geschehen, daß ihn der Spieler, neben den er sich gesetzt hatte, zornig anschnob: Sehen Sie nicht, daß Sie mir das Spiel verderben, suchen Sie sich einen anderen Platz. – Da gab es denn Wortwechsel, peinliche Auftritte und sogar Duelle, bis der unglückliche Geächtete es vorzog, auch seinen Klub zu meiden.

Von der ganzen Gesellschaft, mit der er früher verkehrte, hatte ihm die Gräfin Valenza am längsten ihre Freundschaft bewahrt; zu ihr kam er noch dann und wann an den Donnerstagen, wo er ihren alten Kreis 120 beisammen fand, und dort wurde er auch noch immer mit unverminderter Herzlichkeit empfangen. Sein Stern, der vielleicht sein Unstern war, wollte es, daß er kurz vor dem Tode dieser wahrhaft großdenkenden Frau, der das gastliche Haus zersprengte, dort eine Bekanntschaft erneuerte, die über sein ganzes ferneres Leben entschied. Frau Lacava ist weder schön noch glänzend, aber sie besitzt einen klaren Verstand, gründliche Bildung und ist als geborene Engländerin von italienischen Vorurteilen frei. Sie näherte sich dem Verfemten mit Teilnahme, man sagt, daß sie ihn schon als Mädchen bevorzugt habe, aber von ihm, der um jene Zeit noch sehr gesucht war, übersehen worden sei. Ihre Ehe war schon damals eine rein äußerliche und ließ ihr Herz völlig unbeschäftigt, Präsident Lacava, der sich in ihren Vermögensverhältnissen getäuscht hatte, behandelte sie zwar mit Achtung, aber er ging seine eigenen Wege. Es geschah mit seiner vollen Zustimmung, daß der Marchese den leeren Platz an der Seite der Vereinsamten einnahm und allmählich in die Rolle des Hausherrn hinüberwuchs. Er begleitete die junge Frau in Abwesenheit des Ehemanns ins Theater und half ihr Gäste empfangen, er leitete die Erziehung des Söhnchens, und als später noch ein Töchterchen zur Welt kam, übernahm der Marchese die Patenstelle, und die Kleine erhielt nach 121 seinem Schmerzenskind, der unaufgeführten Oper, den Namen Tullia. Mittlerweile war er durch die politischen Umwälzungen wieder in den Besitz seines Vermögens gelangt, er hätte jetzt der ungastlich gewordenen Stadt den Rücken drehen und als wohlhabender Mann unbeschrien im Ausland leben können. Ein neues Dasein winkte ihm, es lag nur an ihm, seine ganze Vergangenheit und das leidige Vorurteil, das an ihm klebte, hinter sich zu werfen, am fremden Ort eine Familie zu gründen und ein Mensch zu werden wie andere. Frau Lacava selber riet ihm dazu. Aber sein Herz war gebunden, die Liebe zu seinem kleinen Patenkind verdrängte alle eigenen Wünsche. Er blieb am Ort und soll ein Testament gemacht haben, worin er Tullia Lacava zur Gesamterbin einsetzte. Auf diese kleine Menschenblume beschränkte sich von ihrer Geburt an all sein Dichten und Trachten, er unterrichtete sie in der Musik, sorgte für englische Nurses und französische Erzieherinnen, und den wenigen Freunden, die er noch besaß, meine Frau und mich voran, wurde er so gut wie ungenießbar, denn er sprach von nichts mehr als von den Fortschritten der Kleinen, ihrer Schönheit und ihren Talenten. Der Mutter, einer blassen kränkelnden Frau, bewahrte er eine dankbare zärtliche Freundschaft, aber vor dem Kinde lag er auf den Knien, das Kind war sein alles. – 122 ›Wenn die Tullia einmal groß sein wird‹, das war der Ausgangspunkt all seiner Zukunftsträume, und in den kindlichen Einfällen der Kleinen sah er die Anzeichen einer überragenden Begabung. Im Frühling und Herbst entführte er die ganze Familie auf seine Güter bei Neapel, den Sommer begleitete er sie auf Reisen oder ins Gebirge, und den Winter verbrachte er in aller Stille in Florenz, nur wie ein leiser Hausgeist um die Familie Lacava beschäftigt. Als Tullia zum erstenmal in die Welt geführt wurde, verschrieb er ihr ein Kleid, das Tausende kostete, aus Paris und sah ihr händereibend von der Treppe aus nach, wie sie mit Vater und Mutter in den Wagen stieg. Er geht in abgetragenen Kleidern, speist in einer billigen Gaststätte und schlägt Zinsen zu Zinsen, um die Mitgift seiner Tullia zu vergrößern. Wenn sich das Herzleiden der Mutter vorübergehend verschlimmert, so weicht er nicht von ihrem Lager und durchwacht die Nächte bei ihr, damit Tullias Schlummer nicht gestört werde. Und als das schon fast erwachsene Mädchen noch zu vollerer Weltbildung in ein vornehmes Institut geschickt zu werden verlangte, unterstützte er auch diesen Wunsch, so schwer es ihm wurde, ohne sie auf dem traurigen Posten auszuharren. ›Wenn die Tullia einmal verheiratet sein wird‹, damit tröstet er sich selbst für die eigenen 123 versäumten Familienfreuden und für alles, was das Glück ihm selber schuldig geblieben ist.

Und in der Familie Lacava hat sich der dämonische Einfluß wirklich niemals bemerkbar gemacht? fragte ich.

Herr G. schwieg und streifte seine Frau mit einem Blick.

Jetzt laß mich reden, sagte diese mit Nachdruck. Durch sechzehn Jahre, die der Marchese das Haus des Präsidenten betreute, ist dort kein Ziegel vom Dach gefallen. Ja, es war, als ob die schädliche Wirkung, die man ihm nachsagt, sich dort in lauter Segen verwandelt hätte. Aber einmal klopft das Verhängnis an jede Tür, mit oder ohne Iettatura.

Im Frühjahr Siebenundachtzig, traurigen Andenkens, flog die Nachricht von der Unglücksschlacht von Dogali wie ein Erdstoß durch Italien. Frau Lacavas ältester Sohn Alberto, ein hoffnungsreicher, bildschöner Junge von zweiundzwanzig Jahren stand mit seinem Regiment in Massauah. Von eben diesem Regiment war ein Teil in Dogali von den Abessiniern niedergemetzelt worden. Viele Tage umlagerten Mütter, Väter, Brüder das Kriegsministerium um Nachricht von ihren Lieben in Afrika. Der Herr Pate, so heißt der Marchese im Haus des Präsidenten, befand sich damals zufällig in Rom und eilte gleich auf das zuständige Amt, allein 124 er mußte noch eine Reihe von Malen vorsprechen, bis die Verlustliste aus Afrika eintraf: unter den Gefallenen stand als einer der ersten Alberto.

Der Marchese wagte nicht an die Familie zu telegraphieren, sondern brachte persönlich die Trauerbotschaft nach Florenz. Und nun sehen Sie, wie weit menschlicher Unverstand und menschliche Lieblosigkeit gehen. Die Schlacht von Dogali war ja längst geschlagen, und die Gefallenen lagen in der heißen Erde von Afrika, bevor die Totenliste nach Rom und in die Hände des Marchese kam. Und doch konnte sich Herr Lacava nicht enthalten, im ersten Verzweiflungssturm zu seiner Frau zu sagen: Was hatte denn der Unglücksvogel nötig, sich in unsere Angelegenheit zu mischen? Hätten wir nicht einen andern schicken können? Weiß er denn nicht, daß sein Krächzen das Unheil nach sich zieht?

Die sinnlose Gehässigkeit, die ganz plötzlich aus diesen Worten sprang, veranlaßte das erste Ehezerwürfnis im Hause Lacava, das seitdem nicht mehr ausgeglichen wurde und das nun auch auf Rechnung des Marchese geht.

Darüber verflossen ein paar Jahre. Da erblühte dem Haus Lacava aus dem alten Leid eine neue Freude, wie es das Menschenschicksal so mit sich bringt. Ein Graf Tancredi, Albertos Freund und Kamerad von der Kriegsschule her, war gleich in den ersten Wochen unter 125 dem Eindruck des frischen Verlustes gekommen, der Familie sein Beileid zu bezeigen, hatte die reizende Tullia in ihrer Trauer gesehen und war gefesselt geblieben. Zu einem Einverständnis kam es jedoch erst verflossenen Winter, als der junge Offizier mit seiner Schwadron hierher versetzt wurde. Man wollte nur für die festliche Verlobung Frau Lacavas Geburtstag abwarten, dann sollte zwischen dieser und der Trauung, wie es hier üblich ist, nur noch kurze Zeit verstreichen. Tancredi hatte auch das Herz des Herrn Paten im Sturm gewonnen, denn er spielte Schach mit ihm und zeigte sich der Lage völlig gewachsen, indem er dem Paten seiner Braut noch größere Ehrerbietung erwies als dem künftigen Schwiegervater selbst. Dazu hatte er allen Grund, denn der Marchese richtete den jungen Hausstand fürstlich ein und setzte dem Paar eine so stattliche Rente aus, daß ihm selbst nur noch ein knappes Jahreseinkommen blieb. Als Beweis seiner besonderen Zuneigung schenkte er dem jungen Offizier ein englisches Vollblut, das Rennpferd Vandalo, das schon in Rom und in Neapel Preise davongetragen hatte.

Am ersten Maisonntag gegen vier Uhr machte sich die ganze Familie Lacava bereit, nach den Cascinen zu fahren, wo Graf Tancredi mit dem Vandalo um den Arnopreis rennen sollte. Tullia saß schon in dem von 126 dem Marchese geschickten Landauer und glich in ihrem lichtgrünen Gewand, mit dem mächtigen Rosengebinde in den Händen, einer Frühlingsgöttin. Sie wartete auf ihre Eltern, die noch oben säumten, als sie zu ihrem grenzenlosen Erstaunen den Herrn Paten, mit tadellosem Schick gekleidet, eine Blume im Knopfloch, die Straße herabkommen sah. Er hatte einen Feldstecher umgehängt und trug eine Nadel in Hufeisenform in der Kravatte. Tullia wandelte die Lachlust an, so ungewohnt war ihr dieser Anblick, aber im nächsten Augenblick fuhr es ihr wie eine kalte Hand ins Herz: Er wird doch nicht mitfahren wollen?!

Richtig, er kam heran, grüßte und öffnete harmlos den Wagenschlag.

Aber Herr Pate, rief Tullia beängstigt, wir werden zu eng sitzen, Sie wissen ja, ich habe noch eine Freundin eingeladen.

Macht nichts, antwortete dieser gelassen, indem er neben ihr Platz nahm und sich an ihrem reizenden Anblick weidete, wenn sie kommt, so steige ich eben aus und folge euch zu Fuße. Ich habe mir fest vorgenommen, heute den Vandalo rennen zu sehen.

Die Ankunft der Eltern unterbrach das Gespräch, aber Tullia bebte am ganzen Leib, es war ihr, wie sie später erzählte, zumut, als müsse sie sich schreiend aus dem 127 Wagen stürzen. Sie suchte noch nach Einwänden, aber ein fester Blick der Mutter, die darauf hielt, daß dem Herrn Paten mit Ehrerbietung begegnet wurde, verwies sie zur Ruhe.

Ihre letzte Hoffnung klammerte sich an die Freundin, vor deren Haus man eben vorfuhr. Bianca hatte sicher zugesagt, und wenn Bianca erschien, so mußte der Pate den Platz räumen; um sie einzuzwängen, war er zu ritterlich. Eine peinliche Minute verging, dann kam der Bediente allein zurück: Fräulein Bianca war unpäßlich geworden und ließ sich entschuldigen.

Tullia lehnte kreidebleich an der Rückwand des Wagens und sagte kein Wort mehr. Es war also Schicksalsschluß, daß der Pate heute mitfuhr, er, der sie sonst niemals zu öffentlichen Vergnügungen begleitet hatte. Sie wich seinen bewundernden Blicken aus, zum ersten Male fand sie in seinen hageren Zügen, auf dem messerschmalen Rücken seiner Nase die Anzeichen des bösen Blicks, den man sie als wahnwitzigen Aberglauben verachten gelehrt hatte. Von diesem Augenblick an haßte sie ihren Paten, ich habe es aus ihrem eigenen Mund, und sie nahm sich vor, ihn ihre Angst bezahlen zu lassen. Hatte er nicht auch den armen Alberto bis Brindisi begleitet und ihm noch vom Hafendamm seine Segenswünsche nachgerufen? Und weiß man nicht, daß der Segen 128 eines Iettatore sich in sein Gegenteil verkehren muß? Was konnte es ihm ausmachen, ob er mit zum Rennplatz fuhr? Das war für den alten Herrn nur ein kindisches Vergnügen, während es für sie eine Stunde in der Hölle bedeutete.

Erst als Tancredi an den Wagen herantrat und sie ein paar Schritte an seiner Seite über den Rasen machte, glänzte sie wieder auf, und die Beängstigung verflog. Auf dem ganzen Rennplatz gab es kein schöneres Paar, und sie wußte es. Bewundert und beneidet und über alles geliebt sein, was gibt es für eine verwöhnte junge Braut noch mehr zu wünschen!

Und gar der Pate! Er war geradezu in Jünglingslaune, unter der strengen äußeren Form brach wieder einmal das neapolitanische Blut hervor, ein Schnellfeuer guter Einfälle kam aus seinem Munde, er war in beständiger Bewegung, setzte die Aussichten der verschiedenen Pferde auseinander und beteiligte sich sogar an den Wetten. – Da wir in dem Gedränge von Wagen und Pferden jenes Tages zufällig mit unseren beiden Landauern Seite an Seite zu halten gekommen waren, richtete er seine Worte fast immer an meinen Mann und mich.

Natürlich wettete er auf den Vandalo.

Nur das nicht, Pate! schrie Tullia auf, indem sie ihn beim Arm faßte.

129 Warum nicht, Närrchen? gab er lachend zur Antwort. Meinst du, ich verstehe mich nicht auf Pferde? Der Vandalo ist das beste Tier auf dem ganzen Turf. Was er gekostet hat, wird er heute wieder einbringen.

Tullia ließ den Kopf hängen und fand nichts mehr zu erwidern. Das Herrenrennen begann. Tullia, auf den Zehen aufgerichtet und blaß wie ein Marmorbild, stand auf dem gepolsterten Wagensitz und verfolgte mit ihrem kleinen Opernglas jede Bewegung des Vandalo. Er kam als zweiter vorüber, sein Reiter hielt ihn vorsichtig zurück, ein Rappe war ihm um Pferdelänge voran.

Recht so! sagte der Pate. Ihr werdet sehen, ihr werdet sehen, der Vandalo hat Luft in den Knochen wie ein Vogel.

Abermals flogen sie vorbei, diesmal war der Rappe weit zurück, aber ein Falber hatte den Vorsprung.

Vandalo, greif aus! greif aus! rief der Pate, der nicht einen Augenblick schweigen konnte. Es ging Tullia auf die Nerven, immerfort seine Stimme zu hören, sie bebte am ganzen Leib, und ihre Hände wurden kalt und feucht.

Jetzt aber machte der Vandalo Ernst, sein Reiter legte sich weit vor und peitschte ihn, er flog wie ein Sturmwind, zum drittenmal kam er vorbeigesaust, das Ziel war keine dreißig Meter mehr entfernt.

130 Bravo! Bravo, Vandalo! rief der Pate, und noch hatte er nicht ausgesprochen, so war der Vandalo untergetaucht, Roß und Reiter buchstäblich verschwunden unter den Hufen des nachfliegenden Falben. Ein allgemeiner Schreckensschrei empfing diesen, als er über den Gestürzten weg das Ziel erreichte. Der Vandalo lag unbeweglich und bedeckte seinen Herrn.

Aus Tullias Händen fiel das Opernglas, sie selber taumelte nach und konnte eben noch von den Armen des Paten aufgefangen werden. Er legte sie in die der Eltern, und gleich darauf bahnte sich seine lange hagere Gestalt den Weg durch die Menge. Vergeblich suchten wir andern das Mädchen mit dem dürftigen Trost zu beruhigen, daß die Bahn weich und frei von Hindernissen sei, daß also der Fall unmöglich ein so schwerer gewesen sein könne. Tullia lag wie eine Sterbende und stöhnte nur: Es ist aus, ich weiß, es ist aus.

Der Pate kam nicht zurück, und der Menschenandrang um die Stätte des Unfalls her weissagte nichts Gutes. Man ließ langsam, Schritt für Schritt, den Wagen durch die Kopf an Kopf wogende Menge der Stadt zufahren.

Wir andern folgten. Vor dem Ausgang der Cascinen sahen wir einen verhüllten Gegenstand vom Rasen her in das Erdgeschoß eines Hauses tragen. Der Pate 131 schritt neben der Bahre und hob die Augen nicht auf. Tullia wollte aus dem Wagen springen, aber vier Arme hielten sie fest, und der Landauer flog, sobald er die Menge im Rücken hatte, im schnellsten Trab der Wohnung zu.

Tullia hatte recht geahnt, ihr Geliebter erwachte nicht mehr zum Leben. Das Pferd war auf ihn gefallen und hatte ihm das Rückgrat zerschmettert. Wie es aber geschehen war, daß der Vandalo, der hochgepriesene Vandalo, geritten vom besten Reiter der Garnison, auf ebenem Boden zu Tode gestürzt war, das gehörte zu den Dingen, für die einfach die Erklärung ausbleibt. Ob er gestolpert war oder von dem nachfolgenden Pferde zu Fall gebracht? Tancredi konnte nicht mehr reden, die beiden Rivalen waren wohl im Augenblick der Katastrophe zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die Menge hatte nur den Sturz, nicht seine Ursache gesehen. Also mußte es ein Fall von Iettatura sein, wie man ihn ausgeprägter und schwerer nicht denken konnte.

Tullia lag viele Tage lang ohne sich zu regen und ohne ein Wort zu sprechen, nur wenn der Pate ins Zimmer trat, drehte sie den Kopf nach der Wand. Die weltkluge Mutter fand endlich, daß dieses Übermaß des Jammers den künftigen Aussichten ihrer Tochter schaden könne, um so mehr, als die Verlobung noch nicht öffentlich 132 gewesen war, und nahm das Mädchen mit sich fort nach England. Tullia ließ alles mit sich geschehen, nur der Begleitung des Paten widersetzte sie sich mit Heftigkeit; die Mutter mußte eine Ausflucht nach der andern ersinnen, um es dem alten Freunde zu verbergen, wie schwer sie ihn anklagte. Dagegen verlangte sie dringend nach der Gesellschaft des Vaters, der ihr früher nie so nahe gestanden hatte, und der Präsident mußte schon zweimal Urlaub nehmen, um die gemütskranke Tochter zu besuchen, während der arme Pate einsam in Florenz zurückgeblieben ist und Tag für Tag zur Post wandert, um Nachrichten aus England in Empfang zu nehmen. Die Mutter schreibt ihm regelmäßig und sendet erdichtete Grüße der Tullia, weil sie diese zu keiner Zeile an den Paten mehr bewegen kann. Der Ärmste erzählt uns dann mit leuchtendem Gesicht, was ihm der fromme Betrug an liebevollen Worten zuträgt, und meistens schließt er mit seinem gewohnten Kehrreim: Wenn erst einmal die Tullia verheiratet sein wird, – – Auf Bitten der Frau Lacava haben wir den Einsiedler für die Dauer unseres Aufenthalts wieder mehr zu uns gezogen, um ihn für seine Verlassenheit zu trösten, und eigens um seinetwillen wurde der heutige Abend veranstaltet, der nun durch die Ungeschicklichkeit meiner Nichte einen so verkehrten Ausgang nehmen mußte.

133 Das war das letzte, was ich auf lange Zeit von dem Marchese O. sah und hörte, denn die gemeinsamen Freunde verließen bald danach die Stadt. Wohl aber traf ich einmal in einem Badeort mit Tullia Lacava und ihren Eltern zusammen. Sie war immer noch schön, aber totenblaß, und die erzwungene Lebendigkeit, womit sie die Huldigungen eines älteren, gutgestellten Herrn entgegennahm, hatte für solche, die ihre Geschichte kannten, etwas Herzzerreißendes. Späterhin erfuhr ich, daß sie sich mit dem gutgestellten Herrn verheiratet und von ihrem Paten sein ganzes Vermögen als Schenkung erhalten habe.

Wieder vergingen Jahre, ohne daß ich den Ritter von der traurigen Gestalt oder sein Patenkind mehr nennen hörte; sein Bild hatte sich in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses zurückgezogen. Da wurde ich eines Tages in der Schweiz durch eine Begegnung mit Frau Clara G. an ihn erinnert.

Sie zog mich gleich auf die Seite und sagte:

Wenn Sie nach Florenz kommen, so tun Sie mir doch den Gefallen, und sehen nach dem armen Marchese O. Sie werden vielleicht nicht wissen, daß Frau Lacava gestorben ist, der Unglückliche hat jetzt keine Seele mehr, die teil an ihm nimmt.

Nun, und Tullia? fragte ich. Die schöne Tullia lebt 134 doch und ist, soviel ich weiß, in Florenz verheiratet.

Tullia? Ach, das ist eine traurige Geschichte. Tullia hat ihm die Tür gewiesen.

Wie, sagte ich, sein Patenkind, sein Abgott hat dem alten Mann wirklich und wahrhaftig die Tür gewiesen, nachdem sie die Schenkung seines ganzen Vermögens angenommen hat?

Freilich. Der Charakter Tullias ist nie ein angenehmer gewesen, was auch an Lob über sie im Umlauf war. Sie hat ihm den Tod ihres ersten Bräutigams nicht vergeben, in ihren Augen ist und bleibt er der Schuldige. Seine Anwesenheit, bildet sie sich ein, habe das Unglück herbeigezogen. Auch trug sie ihm nach, daß um seinetwillen das Haus ihrer Eltern kein gesellschaftlicher Mittelpunkt werden konnte. Sie hätte auch nach dem Tode des Tancredi noch eine bessere Heirat machen können ohne den Iettatore, das ist ihre Überzeugung. Was läßt sich dagegen machen? Ich glaube, daß sie ihm längst im stillen gram war, schon vor der Katastrophe mit dem Vandalo. Die Schenkung nahm sie ruhig an und sagte sich: Es ist das mindeste, was er für mich tun kann, – aber von ihrem Haus wußte sie ihn mit guter Art fern zu halten. Solang die Mutter lebte, trat ihm die Absicht nicht so ins Bewußtsein, sie sahen sich regelmäßig bei ihr. Aber nach dem Tode der Frau Lacava 135 – der Präsident ist ihr um ein halbes Jahr vorangegangen –, da kam es zwischen den beiden zur Aussprache. Es muß ein schlimmer Auftritt gewesen sein. Der Marchese wollte ihr alles sagen: was ihm die Mutter gewesen und welche Rechte er an sie habe, aber Tullia ließ ihn nicht ausreden: Bei dem Andenken meiner Mutter, schweigen Sie, ich kann Sie nicht anhören – und so trieb sie ihn von sich.

Hat sie Kinder, für die sie fürchten kann?

Das würde die Grausamkeit entschuldigen, aber die Ehe ist kinderlos. Sie erklärte ihm ins Gesicht, daß er ihr die Gäste vertreiben würde, daß sie nicht gesonnen sei, auf die Gesellschaft zu verzichten, wie ihre Mutter. Ja, sie drohte, Florenz zu verlassen, wenn er darauf bestünde, sie in ihrem Hause zu sehen. Man kann nur annehmen, daß das frühe Unglück ihr das Herz völlig vereist hat.

Und wie nahm es der alte Mann?

Er konnte nur lallen, als er mir die Sache erzählte. Das schlimmste ist, daß er selber jetzt abergläubisch wird und an seinen bösen Blick zu glauben anfängt. Da seine angebetete Tullia kein Unrecht tun kann, so läßt er das Gericht über sich ergehen und verhüllt still sein Haupt. Sie hat soviel gelitten, die arme Tullia, sagte er zu mir, sie soll durch mich kein weiteres Leid erfahren. – Jetzt 136 ist er siebzig Jahre alt und kränkelt. Suchen Sie ihn auf, bringen Sie ihm meine Grüße und sagen ihm, daß er noch Freunde hat; es wird ihm wohltun und ist ein gutes Werk.

Ich ließ mir seine Wohnung aufschreiben und sobald ich in Florenz war, schickte ich mich an, ihn zu besuchen. Als ich aber die steile Costa San Giorgio hinaufstieg, wo seine Wohnung lag, sah ich zwanzig Schritte vor mir seine lange hagere Gestalt gebückt und in fadenscheinigem Anzug auftauchen. Ich rief ihn bei Namen und eilte auf ihn zu; aber sobald er meiner ansichtig wurde, winkte er heftig mit der Hand ab und eilte schneller als es seine zitternden Knie erwarten ließen, in der Richtung nach dem Viale von dannen. Bei der Porta San Giorgio war er spurlos verschwunden, als habe er eine Nebelkappe übergezogen.

Der erste Versuch war also mißglückt. Er glaubte jetzt selbst an die Iettatura und wollte niemand Unheil bringen; so nur konnte ich mir sein sonderbares Benehmen deuten. Es galt also ihn in seiner Wohnung zu überrumpeln, wenn man ihm einen Gruß von der Außenwelt und ein Zeichen menschlicher Teilnahme bringen wollte. Aber der Weg war weit, und erst nach Wochen kam ich dazu, einen zweiten Gang zu unternehmen.

137 Ich zog die Klingel an seiner Wohnung, eine schmierige Frau öffnete die Tür.

Wie geht es dem Herrn Marchese, er ist doch zu Hause? fragte ich rasch, um ihn nicht entschlüpfen zu lassen.

Die Frau ließ mich eintreten und sagte:

Sie kommen zu spät – wenn Sie meinen armen Herrn besuchen wollen, so müssen Sie nach San Miniato gehen – dort liegt er seit acht Tagen.

Tot! sagte ich bestürzt und ließ mich vollends in die leere Wohnung führen.

Hier hat er zwanzig Jahre lang gewohnt, sehen Sie, und in diesem Bett ist er gestorben. Sie glauben nicht, welch ein guter Herr er war – zuletzt war er ein wenig geistesschwach geworden und bildete sich ein, sein Anblick bringe den Menschen Unglück. Aus diesem Grund wollte er auch keinen Arzt, als es dem Ende zuging, sondern schloß seine Türe ab und ließ auch mich nicht mehr vor sich. – Man mußte die Türe aufbrechen, da lag er mit dem Gesicht nach der Wand gekehrt, wie es im Schlaf seine Gewohnheit war. Alles war aufgeräumt und das letzte Stückchen Papier geordnet oder verbrannt, auf dem Tisch fand man ein Telegramm an seine einzige Schwester, die Klosterfrau, das er selber aufgesetzt hatte, um ihr seinen Tod anzuzeigen. Das nötige Geld lag abgezählt daneben. Hätten Ew. Gnaden 138 sein Testament verlesen hören! Den Herren vom Amt kamen die Tränen in die Augen. Sein Grab solle keine andere Bezeichnung tragen als die Nummer, die ihm zukomme; er wünsche, daß sein unglücklicher Name mit ihm selbst in San Miniato zur Ruhe gehe, denn er sei der Letzte seines Geschlechts. Er ersuche daher die wenigen, die ihn noch gekannt hätten, nie in ihren Gesprächen seiner zu gedenken. Auch die gute Antonia – damit meinte er mich – bitte er, ihn zu vergessen. – Und wissen Sie, was für ein Unglück es war, das er mir gebracht hat? Eine schöne Jahresrente und den ganzen Hausrat! Glauben Sie, daß man einen solchen Herrn vergessen kann? Der Rest gehörte den Armen. Die sind auch gekommen und haben ihn begleitet, als man den Sarg nach San Miniato hinübertrug – die armen Leute fürchten sich nicht, für die gibt es keine Iettatura. Sonst hat keine Seele sich um ihn gekümmert. Ew. Gnaden sind die erste Person, die nach ihm frägt.

Ich warf noch einen Blick auf das Zimmer und die leere Bettstatt, aus der die Matratzen herausgenommen waren. Ein Sonnenstrahl fiel durch das halboffene Fenster und spielte auf einem Bildnis, das Tullia Lacava in Institutstracht vorstellte. Ich versenkte mich in Betrachtung des stolzen römischen Profils, das zur Zeit der Aufnahme noch keine so ausgeprägte 139 Vogelphysiognomie gehabt hatte wie später. Da sagte Antonia, indem sie den Staub von dem Plüschrahmen blies:

Diese Dame hat meinem Herrn viel Leides getan. Ich wollte sie heimlich an sein Sterbebett holen. Er hatte es mir nicht aufgetragen, aber ich wußte, daß es ihn glücklich gemacht hätte – ich wurde gar nicht vorgelassen. – Am Begräbnistag brachte ein fremder Diener einen prachtvollen Kranz, aber er kam zu spät, denn der Sarg war schon aus dem Hause. Ich meine, es war auch besser so, der Kranz hätte auf ihm gelastet; wem das Leben keine Blumen gebracht hat, der will auch keine auf seinem Grab.

 


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