Isolde Kurz
Von dazumal
Isolde Kurz

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Der Reisesack.

Es war ein gegenseitiges Erstaunen, als er zum ersten Male die Eisenbahn sah und die Eisenbahn ihn. Er bestand nämlich beinahe ganz aus einer sauberen, altväterischen Straminarbeit. Nur oben lief ein eiserner Bügel mit Ledergriff, der aber seiner Pflicht, den Reisesack zu verschließen, wegen hohen Alters nur noch unvollkommen nachkam. Seine Vorderseite nahm ein Wappenschild in ihrer ganzen Höhe und Breite ein. Auf dem Rücken dagegen war er völlig grün, wie die schönste Frühlingswiese, mit einem Rosenbouquet in der Mitte.

Seine Anfänge lagen weit zurück in der Dämmerung der Zeiten.

Eine Ahnfrau hatte ihn als Braut gestickt und mit zarten, weißen Händen das Wappen ihres Erwählten hinein gewirkt, ein sehr einfaches, weil uraltes Freiherrnwappen: drei rothe Schrägbalken im weißen oder, um es heraldisch zu sagen, im silbernen Feld und ein das Wappenschild überragender Helm mit zwei rothen und einer silbernen Feder.

Der Reisesack war gerade zu rechter Zeit fertig geworden, um ein feudales Liebesglück auf die Hochzeitsreise zu begleiten. Damals hatte er sich mit der 200 Welt im Einklang gefühlt; ehrfurchtsvolle Dienerhände schnallten ihn auf den Reisewagen und holten ihn bei der Ankunft vorsichtig wieder herunter; die Gegenstände, die er enthielt, und seine ganze Umgebung paßten zu ihm; wohin er kam, da fand er sich von den Gegenden und den Baulichkeiten, von breiten Treppen, langen Corridoren, von waffenblinkenden Rittersälen, von feierlichen Vorzimmern, vom Wiehern edler Rosse, von den gestickten Hofuniformen der Herren und starrenden Seidenroben der Damen, und nicht zum wenigsten von den Menschen selber angemuthet. Zeit der Jugend und des Glanzes, deren er den ganzen Rest seines Lebens hindurch mit Wehmuth gedachte!

Dann kamen auch für ihn die Tage, von denen es heißt: »sie gefallen mir nicht.« Er lernte gemeinsam mit seinen Herrn die Wandelbarkeit des Glückes kennen. Vorbei das vornehme Reisen in eigener freiherrlicher Carosse mit dem lustigen Pferdewechsel an den Poststationen. Er mußte es lernen, im gemeinen Postwagen zu fahren neben den Mantelsäcken bürgerlicher Passagiere und sich von groben Postillonshänden hin- und herschieben zu lassen. Das dauerte wieder ein Menschenalter; doch da er nicht gar zu oft auf Reisen ging, blieb wenigstens noch in seiner Erscheinung die angeborene Distinction haften.

Dann that er einen langen und tiefen Schlaf auf dem Dachboden einer Mietwohnung, und als er wieder ans Licht gezogen wurde, da war es mit seiner Herrlichkeit vorbei; die Motten waren an ihn 201 gekommen und hatten eine Feder seines Helms und das Rosenbouquet auf seinem Rücken angefressen.

Von den frommen Händen einer alten Stiftsdame gestopft, trat er eine neue Reise an, und bei dieser Gelegenheit war es, daß er zum ersten Mal mit dem Getriebe eines Bahnhofs, mit dem Anblick der Locomotive, der Schienen, mit dem Rauch und Gerassel der Eisenbahn bekannt wurde.

An jene Reise konnte er nur mit Entsetzen zurückdenken, und so oft er seitdem das Wort »Eisenbahn« hörte, schüttelte ihn das Grauen. Und doch war dem vollen Kelche Wermuth noch ein Tropfen Süßigkeit beigemischt. Er befand sich wenigstens in adligen Händen, in Händen, die ein Siegelring mit demselben Wappen schmückte, das auch das seinige war. Und diesen Händen mußte er sogar sehr theuer sein, denn sie hielten ihn krampfhaft fest, sie ließen ihn während der ganzen Eisenbahnfahrt keinen Augenblick fahren. Er hörte eine Stimme sagen: »Stellen Sie ihn in die Ecke, Gnädige – es ist Platz genug.«

Und darauf die ängstliche Antwort: »Ach nein, ach nein, ich will ihn lieber auf dem Schoße behalten; er könnte mir sonst gestohlen werden.«

Ja, seinem wahren Werth, das fühlte er, hatte die gesellschaftliche Decadenz nichts anhaben können.

In seinem zwiespältigen Innern trug er auf der einen Seite etwas feine, duftende Wäsche, mit der Freiherrnkrone gezeichnet, auf der anderen ein Gebetbuch und den Gothaschen Kalender.

Aber die Welt, wie war sie verändert, seit er sie 202 zum letzten Mal vom Dach eines Postwagens aus gesehen hatte! Was für ein Wahnsinn war in sie gefahren! Es war, als befände sie sich in einer rasenden Fluchtbewegung; die Bäume und Häuser, die Felder und die Dörfer flogen nur so weg, Berge kamen und gingen, man sah sich auf schwebenden Brücken, durch deren Eisengitter breite Wasser blinkten, und gleich darauf waren Brücken und Wasser schon in weiter Ferne geschwunden; als schwarze, funkensprühende Colosse donnerten die Schnellzüge vorüber. Der Reisesack und seine Trägerin befanden sich in der gleichen wirbelnden Betäubung, und die beiden alten Leutchen klammerten sich aneinander fest, um nicht den Schwindel zu bekommen.

Und so oft an der geöffneten Coupéthür der Schaffner erschien, wandte sich die alte Dame in namenlosem Bangen und zitternder Aufregung an ihn, ob sie auch ganz gewiß nicht in einen falschen Zug gerathen sei, wie weit sie noch bis zur Endstation habe, und was dergleichen besorgte Fragen mehr waren, die, kaum beantwortet, sich in neue Zweifel verwandelten, bis endlich den Schaffner die Geduld verließ, daß er sie barsch anfuhr, worauf sie nicht mehr den Muth fand, ihre Fragen zu wiederholen, sondern als ein stummes Bild der Angst, den grünen Reisesack auf dem Schoß, in ihrer Ecke saß. Der schweigende Gefährte fühlte das unruhige Schlagen ihres Herzens, und auf beider Seelen erhob sich zu gleicher Zeit das stumme Gebet, kein zweites Mal vor diese Prüfung gestellt zu werden.

203 Wieder verging ein Jahrzehnt, während dessen seine Ruhe nicht weiter gestört wurde. Er schlummerte, voll gepackt mit Briefen, die alle mit Grafen- und Freiherrnkronen geschmückt waren und nach einer schöneren Vergangenheit dufteten, friedlich von alten Zeiten träumend, im Grund einer breiten und tiefen Truhe. Eher hätte er des Himmels Einsturz erwartet als das, was ihm noch bevorstand.

Eines Tages wurde er aus seinem Schlupfwinkel hervor geholt, der Papiere entledigt und vor die Aufgabe gestellt, ein junges Mädchen auf ihrem ersten Fluge in die Welt zu begleiten. Der alte Knabe weigerte sich nicht, trotz der Schrecken, die auf der letzten Reise über ihn ergangen waren, sondern gedachte der ritterlichen Devise: »Fay ce que dois, avvienne que pourra.« Er ließ sich mit Toilettenutensilien und anderem Mädchenbedarf die beiden Taschen vollstopfen, biß die Zähne übereinander und schickte sich zum Aufbruch an. Das ging aber nicht so rasch, denn zuvor mußte von Großmutter, Mutter und Tante Abschied genommen werden, und alle Drei hatten der jungen Reisenden noch viele Lehren und Ermahnungen ans Herz zu legen.

Die Großmutter sagte – und öffnete dabei den schon geschlossenen Reisesack, um noch rasch einen kleinen Gegenstand hinein zu stecken: »Wenn wir nur schon die Nachricht von ihrer glücklichen Ankunft hätten!«

»Wäre sie wenigstens um ein paar Jahre älter,« setzte die Tante, die sich gleichfalls an dem Reisesack 204 zu thun machte, seufzend hinzu. – »Mit Zwanzig weiß man sich schon eher Respect zu verschaffen, aber siebzehn Jahre und so ganz allein!«

»Darum habe ich keine Sorgen,« versetzte die Mutter und schloß den Reisesack ab, dessen Schlüssel sie an den ledernen Griff hängte. – »Wenn nur die vielen Zerstreuungen der Hauptstadt nicht wären; die ziehen so einen jungen Kopf vom Lernen ab.«

Danach wanderten sie insgesammt zu Fuß nach dem nahe gelegenen Bahnhof, und den ehrwürdigen Reisesack trug das Dienstmädchen.

Vor der offenen Coupéthür ging das Abschiednehmen von Neuem an.

Zuerst zog die Großmama die junge Reisende bei Seite: »Ich habe Dir noch etwas Klingendes in den Reisesack gelegt; gib Acht, daß es nicht heraus fällt.«

»Danke, liebe Großmama.«

Dann kam die Tante: »In dem Sack steckt etwas, das Dir an kühlen Tagen gute Dienste thun wird. Schön ist es nicht, aber nützlich.«

»Sei bedankt, Tante.«

Und zuletzt die Mutter: »Damit Du nicht ganz in den Vergnügungen untergehst, habe ich noch eine ernste Lectüre für Dich eingepackt. Versprich mir, fleißig in dem Buch zu lesen; ich betrachte es als eine Art Talisman.«

»Gewiß, Mama.«

Endlich saß sie im Coupé. Jetzt hieß es: »Sei mir beim Aussteigen recht vorsichtig.«

205 »Ja, Großmama.«

»Und laß Dich nicht mit fremden Herren in ein Gespräch ein.«

»Nein, Tante.«

»Aber sei auch nicht unnöthig abstoßend, sondern wenn Dir Jemand behülflich ist, so bedanke Dich artig.«

»Ja, Mama.«

So ging es noch eine Weile fort mit »Ja, Mama« – »Nein, Tante« – »Ja, Tante« und »Nein, Mama«, wobei das junge Mädchen gar nichts mehr dachte, denn ihr Inneres war hin und her gezogen zwischen Abschiedswehmuth und freudiger Reiseungeduld.

Als der Zug sich schon in Bewegung setzte, rief sie noch lächelnd durch das offene Fenster zurück: »Seid ruhig, es wird kein Wolf kommen und mich fressen.«

Aber der Wolf, an den sie nicht glaubte, saß ihr bereits gegenüber. Vorerst zwar schlummerte er noch friedlich in seiner Ecke. Er fuhr schon seit mehreren Stunden und hatte die kleine Station mit dem kleinen Intermezzo völlig verschlafen. Er war ein Corpsstudent in höheren Semestern, der von der alma mater nach der Universitätsstadt des Nachbarstaates fuhr – nicht Studirens halber, sondern um zu »pauken«. Die Couleurmütze, die sich ein wenig verschoben hatte, deckte einen nicht mehr allzu dichten Scheitel, und das wenig sagende, aristokratische Gesicht war von unzähligen Schmissen zerhackt.

206 Das junge Mädchen schenkte ihm indessen so wenig Beachtung wie den anderen Mitreisenden. Sobald die kleine Station hinter ihr verschwunden und der letzte Abschiedsgedanke verweht war, glänzte sie auf wie eine junge Sonne in der entzückten Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. Sie hatte bis jetzt noch nichts von den Freuden des Lebens genossen, keinen Tanzsaal gesehen, kein Theater. Immer Sprachen studiren und Clavier üben, jeden Tag ihr abgemessenes Pensum auf Befehl der gestrengen Mama, die sie frühe an den Gedanken gewöhnt hatte, einmal für sich selber sorgen zu müssen. Und jetzt die erste Fahrt ins Unbekannte, in die Freiheit!

Keinen so beglückenden Gedanken hing ihr stramingestickter Begleiter nach. Sie hatte ihn beim Einsteigen in das Netz über ihrem Kopfe geschoben, und er kehrte dem Publikum seine grasgrüne Rückseite zu, indem er sein freiherrliches Wappen mit einer Mischung von Scham und Hochmuth an der Wand verbarg. Er allein wußte, was er an diesem Wappen besaß, dessen Schlichtheit dem Kenner sein hohes Alter verbürgte: diese rothen Streifen im Silberfeld – so war ihm von seiner Urheberin zugeraunt worden – seien das Symbol des Ritterschlages: sie sollten, von rechts nach links laufend, die drei Finger des Lehnsherrn darstellen, der vor so und so viel Jahrhunderten mit dem Blute des erschlagenen Gegners den Silberharnisch des Siegers gezeichnet habe.

Aber was kümmerte sich dieses Eisenbahnpublikum um die heraldische Mär seiner Jugend! Und wer 207 legte noch Werth auf das uralte Wappenschild, seit die Familie, die es geführt hatte, im Mannsstamm erloschen war! Seine junge Herrin gewiß nicht, die mit ihrem bürgerlichen Namen kein Anrecht mehr darauf besaß, und der jede lederne Handtasche neueren Datums lieber gewesen wäre als das ehrwürdige mütterliche Erbstück. Ein Glück für ihn, daß er nicht wußte, welche Kämpfe sein Mitgehen gekostet hatte. Selbst die gute bürgerliche Tante, der jungen Reisenden Vatersschwester, hatte sich auf die Seite der Nichte geschlagen und der Mutter vorgestellt, welches Aufsehen eine so vorsintfluthliche Ausrüstung im Eisenbahncoupé erregen mußte. Aber die Frau Mama, die alle überflüssigen Ausgaben haßte, war unerbittlich geblieben. Sie hatte nicht die Adelsvorurtheile abgelegt, um sich bürgerliche dafür aufhalsen zu lassen, – mochten die Leute denken, was sie wollten, sie als ein überlegener Geist, als Mutter, deren Erziehungsgrundsätze auf das Ernste, Wissenschaftliche gerichtet waren, that, was sie für gut fand.

Der Grüne empfand es selbst, daß er und sein junger Schützling nicht zusammengehörten, und das vermehrte seine Unlust. Auch machten die grauen Polster des Coupés so anmaßende Gesichter und konnten doch das Parvenuthum nicht verleugnen. Er wechselte im Geheimen feindliche Blicke mit ihnen, und man fand sich gegenseitig nicht comme il faut.

Plötzlich reckte sich der Wolf und riß die Augen weit auf, als er sein reizendes Gegenüber erblickte. 208 Wo zum Teufel war das allerliebste Kind mit einem Mal hergekommen? Der Blick, mit dem er sie umfaßte, schien von ihrer ganzen Person Besitz ergreifen zu wollen.

Er zündete sich eine Cigarre an und drückte ihr sein Wohlgefallen zunächst dadurch aus, daß er ihr den Dampf breit ins Gesicht blies, wozu er reglementsmäßig ein Recht hatte, denn das Coupé war ein Rauchcoupé. Dann nahm er plötzlich die Cigarre aus dem Mund und fragte, ob der Rauch sie nicht belästige.

Sie verneinte höflich, aber als er ein Gespräch daran knüpfen wollte, brach sie kurz ab, eingedenk der Verhaltungsmaßregeln, die ihr die Tante gegeben hatte, und weil ihr auch der junge Mann nicht allzu anziehend war.

Eine lange Pause entstand, während deren er ihre Person und Habe aufs Genaueste musterte. Er konnte nicht mit sich ins Reine kommen, was für einen Schlag Mädchen er vor sich habe. Ihr Anzug war einfach und gediegen und erschien durch die schöne Gestalt, die ihn trug, sogar elegant. Aber die übrige Ausstattung, wie Schirm und Plaid, war dürftig, und das grüne Ungethüm über ihrem Kopf war geradezu lächerlich. Er wußte durchaus nicht, wo er diese Zusammenstellung unterbringen sollte.

Unschuld vom Lande? Dafür bewegte sie sich zu frei, und ihre Mienen waren zu selbstbewußt. In städtisch-bürgerliche Verhältnisse wollte sie ihm erst recht nicht hinein passen. Vielleicht ein 209 Theaterkind? Aber dann wäre sie besser ausstaffirt. Und doch – in welchem anderen Stand läßt man ein so junges Geschöpf allein durch die Welt fahren?

Ihre Erscheinung beschäftigte ihn unaufhörlich, so daß von Wiedereinschlafen keine Rede war. Gedankenlos blieb er am Ende mit den Augen auf einer Stelle haften. Das mit einem breiten Matrosenkragen versehene Kleid war ein wenig ausgeschnitten und ließ den schön entwickelten Hals mit einem verführerischen weißen Grübchen sehen. Diese Stelle zog seine Augen unwiderstehlich an.

Die Schöne fühlte sich durch die Beharrlichkeit seiner Blicke belästigt und machte eine halbe Wendung, um sich dem fortgesetzten Anstarren wenigstens zum Theil zu entziehen. Dabei glitt ein Handschuh, den sie ausgezogen hatte, zu Boden.

Ihr Gegenüber bückte sich und hob ihn auf. Sie wollte noch zuvorkommen, und beinahe wären sie mit den Köpfen zusammengestoßen. Das rasche Bücken und die kaum vermiedene Berührung trieben ihr das Blut zu Gesicht, so daß sich ein rosiger Schimmer bis in das weiße Halsgrübchen hinab verbreitete und sie noch zehnmal hübscher aussah als zuvor. Sie empfing den Handschuh aus seiner Hand, und da ihr die mütterliche Ermahnung einfiel, für jede Höflichkeit höflich zu danken, so that sie es. Aber ein neuer Versuch von seiner Seite, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, scheiterte an ihrer Einsilbigkeit.

210 Sie hatte sich jetzt völlig weggewendet und sah zu ihrem schmalen Coupéfensterchen hinaus, indem sie ihm nur den anmuthigen Umriß der Wange und das kleine, rosige Ohr zukehrte.

»Eine raffinirte kleine Person,« dachte er und lehnte sich wieder in seine Ecke zurück, aber auch mit geschlossenen Augen sah er immer das weiße Grübchen.

So fuhren sie eine lange Strecke. Die alten Passagiere stiegen aus, und neue stiegen ein, und die Beiden saßen sich noch immer gegenüber. Sie hatte sich wieder gerade gesetzt, und auch er hatte sich aufgerichtet, um gleich wieder in sein altes Anstarren zurückzufallen.

»Will denn der Mensch niemals aussteigen?« dachte sie und versank dann gleich aufs neue in die angenehmen Träumereien, die sie auf der ganzen Fahrt beschäftigten.

Allmählich entleerte sich das Coupé. An einer kleinen Station stieg auch der letzte Mitreisende aus, und jetzt, Gott sei Dank, erhob ihr Gegenüber sich gleichfalls und trat gähnend, sich dehnend, auf den Bahnsteig. Sie sah ihm nach, wie er mit dem Gang eines Eroberers hinunter schritt. Der Schaffner schloß die Thür, und sie legte sich bequem in ihrer Ecke zurecht im behaglichen Alleinbesitz des Coupés. Aber sie hatte sich zu früh gefreut: nachdem schon abgerufen war, und der Zug sich eben in Bewegung zu setzen begann, wurde mit einem Fluch die Coupéthür aufgerissen, der Herr in Couleur sprang 211 behende herein, zog die Thür hinter sich zu und beugte sich tief hinunter, um selber abzuschließen.

Die Schöne bereute, ihren Platz nicht gewechselt zu haben, denn natürlich ließ er sich in seiner alten Ecke nieder, indem er diesmal einen Weindunst um sich verbreitete. Jetzt konnte sie nicht mehr weg, – das hätte Aengstlichkeit verrathen. Also verfiel sie auf den Ausweg, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen.

Ihr Gegenüber war wacher als je. Er hatte den Aufenthalt von zehn Minuten benutzt, um im Bahnhofrestaurant eine halbe Flasche Wein zu trinken von der Sorte, für welche der Ort berühmt war. Ueber dem zweiten Glas war ihm ein Gedanke gekommen, und im Weine, glaubte er, sei die Wahrheit.

Es fiel ihm nämlich ein, daß eine Dame aus seinen Kreisen, von hoher Stellung, aber nicht vom besten Leumund, ihm gesagt hatte, unter vier Augen mit einem schönen Weibe zu sitzen und keinen Annäherungsversuch zu machen, sei eine Beleidigung.

Als er sich jetzt fast gegen sein Erwarten mit der jungen Reisegefährtin mutterseelenallein sah, kamen ihm sofort diese Worte in den Sinn. Seiner jugendlichen Ruchlosigkeit fehlte es noch an der Erfahrung, welche unterscheidet, und das bißchen Instinct, das er besaß, war im Wein untergegangen. Angetrunken war er nicht, aber lebhaft angeregt.

»Wenn sie es selber sagen –« dachte er.

Fort und fort ging es ihm durch den Kopf, sie 212 auf das weiße Grübchen zu küssen, aber er fand nicht den Muth dazu; ein Etwas, von dem er sich keine Rechenschaft gab, hielt ihn im Bann.

Das Mädchen hatte die Augen wieder geöffnet, aber sie sah beharrlich an ihm vorbei. Ihre beweglichen Züge drückten zwar ein leises Mißbehagen aus, doch von den Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, ahnte sie nichts.

Ein Dritter aber ahnte sie, der von der Welt mehr wußte als eine Siebzehnjährige. Das war der mißachtete grüne Reisegefährte.

Er war auf der ganzen Fahrt nicht eingenickt, denn die schnippischen Gesichter der Grauen verhinderten ihn am Schlafen. Jetzt befand er sich außerdem in einer unbequemen Stellung: der eine der Passagiere hatte beim Ansteigen sein eigenes Gepäck etwas rücksichtslos unter ihm hervorgezogen und ihn dadurch aus seiner sicheren Lage gebracht. Er schwebte auf der Kippe und beobachtete still.

Eine neue Station . . .Wird denn diese Fahrt ewig währen?« dachte die junge Reisende. Sie schaute auf die Uhr: es fehlte noch eine halbe Stunde bis zum Ziel. Nun, in Gottes Namen, diese halbe Stunde mußte auch noch zu überstehen sein. Aber sie wurde heimlich ihren Warnerinnen gram, daß sie sie durch allzu viel gute Lehren um ihre natürliche Unbefangenheit gebracht hatten. Besser, sie hätte sich von Anfang an mit dem fremden Herrn in eine höfliche Unterhaltung eingelassen, dann könnte sie sich jetzt unter irgend einem harmlosen Vorwand auf die 213 andere Seite des Coupés setzen; aber mitten in diesem beklemmenden Schweigen war das Aufstehen eine Unmöglichkeit.

Bei dem Anderen war es unterdessen zu einer Zwangsvorstellung geworden, sie auf den weißen Fleck zu küssen, mochte daraus werden, was wollte. Jetzt aber fuhr der Zug aufs Neue langsamer, und darauf ein lang anhaltender Pfiff.

»Wenn wir aus der nächsten Station abermals allein bleiben, dann versuche ich's ohne Weiteres.«

Nur drei Personen standen auf dem Bahnsteig, die alle nebenan in das Coupé für Nichtraucher stiegen.

Der Zug ging weiter. Die Schöne rückte unbehaglich hin und her. Das Coupé noch immer leer und sie diesem Menschen gegenüber festgenagelt. Sein Gesicht hatte jetzt einen fast gehässigen Ausdruck angenommen. Wie gerne hätte sie sich weggesetzt, aber ein unbestimmtes Gefühl, daß sie die Feindseligkeiten nicht eröffnen dürfe, hielt sie zurück.

»Ich bin ein Narr, daß ich mich so lang besinne,« dachte der Andere. »Wer wird sie sein als ein Kammerkätzchen, das nach der Hauptstadt fährt, sich einen Platz suchen? – Es gibt auch feine – ja, sehr feine –.« Seine Augen funkelten.

Aber ihr guter Engel wachte. War er auch von ihr mißachtet und zur Seite geschoben, ein Cavalier von der alten Schule vergißt das Noblesse oblige nicht. Er hatte auf der letzten Station eine Beobachtung gemacht, die ihn aufs Höchste beunruhigte. 214 Der Schaffner war nämlich gekommen und hatte am helllichten Tage oben an der Decke ganz in der Nähe des Grünen eine Ampel angezündet. Er wußte nicht, was das bedeuten sollte, aber er hielt sich bereit.

Allmählich hatte er sich immer weiter auf den Rand des Netzes geschoben. Und jetzt – wie es zuging, konnte Niemand sagen; hatte der Zug bei der scharfen Curve einen Stoß gegeben, war's eine allmähliche Verschiebung des Gleichgewichts? – im Augenblick der Gefahr kam der Grüne plötzlich mit einem Kopfsprung herunter geschossen und warf sich mit seiner stolzen Vorderseite gerade auf den Feind. Die drei rothen Schrägbalken flammten wie Blutstreifen, und die Federn seines Helmes bäumten sich zornig.

Zum Glück war der Angegriffene selbst von adligem Geblüt, und die Sprache der Heraldik war ihm nicht fremd. Mit wortlosem Erstaunen blickte er den Standesgenossen an, der sich ihm so unerwartet enthüllt hatte. Er empfing ihn in den Armen und legte ihn achtungsvoll auf das Polster neben seine Besitzerin.

Da sein Schloß nicht mehr ganz fest war, hatte es sich beim Sturz geöffnet, und die drei zuletzt hinein gestopften Gegenstände waren ihm entflogen. Zwei davon hatte das junge Mädchen noch im Fluge aufgefangen: eine gehäkelte Börse, in der zwei Goldmünzen klirrten – der Reisepfennig der guten Großmama –, und ein paar wollene Pulswärmer, von 215 der Tante gestrickt; aber das Geschenk der Mutter, ein gelbes Büchlein, war zu Boden gefallen.

Der Herr in Couleur hob es auf, und da die Discretion nicht zu seinen Tugenden gehörte, las er neugierig den Titel.

Es waren die Selbstbetrachtungen des Marc Aurel.

Er empfand das Bedürfniß, irgend etwas zu sagen, eine Höflichkeit, einen Gemeinplatz, jedoch es fiel ihm gar nichts ein. Er war völlig ernüchtert und zu sich selber gekommen, aber zugleich wie vor den Kopf geschlagen. Doch das Reden war auch überflüssig, denn soeben wurde es vor den Fenstern dunkel, und donnernd fuhr der Zug in den Tunnel ein.

Als er nach sechs langen Minuten wieder ans Licht kam, lehnte der Wolf friedlich in seiner Ecke und hatte wie zu Anfang die Augen geschlossen, Rothkäppchen saß neugierig-vergnügt am Fenster, und der Grüne lag mit sich selbst zufrieden wohl vollbrachter Dinge auf dem Polster.

Nach weiteren zehn Minuten war das Ziel erreicht. Ein ernst blickender Herr in Civil mit einer sehr eleganten Dame und ein junger Offizier kamen auf das Coupé zugestürzt. Eine kleine Familienscene folgte. Die Dame schlang ihre Arme um die junge Reisende, und die beiden Herren küßten das schöne Kind mit brüderlicher Unbefangenheit auf die Wangen. Den Grünen hatte der Mitreisende höflich aus dem Wagen gereicht.

216 Sein Anblick erregte das lustige Lachen der Brüder. – »Ist der Alte auch noch am Leben?« hieß es.

»Das greuliche Möbel,« klagte die Schöne. »Denkt Euch, unterwegs ist ihm das Schloß aufgegangen und hat mich in die größte Verlegenheit versetzt.«

»Dem alten Herrn wackeln eben die Zähne,« antwortete der jüngere von den Brüdern, an dem Verschluß des Reisesackes rüttelnd, bevor er ihn dem Dienstmann übergab.

Der Geschmähte hüllte sich schweigend in sein Verdienst. Die holde Jugend brauchte es nie zu erfahren, was der alte Ritter für sie gethan hatte.

Das aber hat er nicht um sie verdient, daß er noch selbigen Tages in eine feuchte Moderkammer zu Schimmel und Motten wanderte, nachdem mit dem Gold der Großmutter ein moderner Handkoffer angeschafft worden war.

Und um das Unrecht zu sühnen, habe ich ihm dieses Denkmal gesetzt. Er ruhe in Frieden.

 


 


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