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Hermann Kurz

Aus den »Jugenderinnerungen«

Hexengeschichten und Schauermären umgaben meine Kindheit wie ein finsterer Wald. Meinen Eltern war der Aberglaube fremd, und mein Vater verfolgte ihn mit allen Waffen des Spottes; aber wer will die Mägde und ihr heimlich Reden und Raunen hüten? Ein Vater kann im sorglosen Rationalismus dahinleben, während die Kinder unbemerkt in die dunkle Kammer geraten, in welcher das Grauen wohnt. Und wo konnte der strengste Rationalist die Dienstboten zweckmäßig auswählen, wenn der größte Teil der Umgebung selbst das nämliche glaubte, wie sie?

»Was wahr ist, bleibt wahr,« denken die Fanatiker jedes Glaubens, und zu der Wahrheitspflicht, die der Mensch in theoretischen Dingen manchmal nur allzu gewissenhaft beobachtet, kam in diesem Falle noch eine starke praktische Verpflichtung hinzu. Wie hätte es eine gewissenhafte Seele vor Gott verantworten können, die Kinder ungewarnt den Lockungen gewisser alter Frauen, verführerischen Lockungen mit Butterbrot, Äpfeln und Kuchen, zu überlassen, und sie auf diese Weise den Gefahren der greulichsten Behexung blindlings bloßzustellen? Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß ein Kind einem alten Weibe die dargereichte Gabe vor die Füße warf; brach die Geberin darüber in Tränen aus, so mußte sie Triefaugen haben; war sie aber härteren Sinnes und ging schimpfend und fluchend von dannen, so hatte der Verdacht vollends freie Bahn.

Eine meiner frühesten Erinnerungen dieser Art ist eine Geschichte, die etwas traurig Rührendes hat. Eine Frau war bei ihrem ersten Kirchgang »von einer Hexe angegangen worden« und kam krank nach Hause; sie konnte noch erzählen, wie ihr die Unholdin beim Herausgehen aus der Kirche begegnet sei und »einen einzigen Haucher an sie hin getan« habe, dann bat sie die Ihrigen, die Rache Gott zu überlassen, legte sich nieder und starb. Freilich, wo man an eine von der Hölle verliehene Macht glaubt, die uns das Liebste in der Blüte des Lebens knicken kann, da ist die Volkserbitterung zu begreifen, die einst den Arm des Richters oft noch über seinen Willen hinaus beflügelt hat. Diesen konnte man nun freilich nicht mehr anrufen; aber noch immer gab es außergerichtliche Hexenprozesse, worin alte Weiber eine zänkische Gemütsart oder ein unheimliches Aussehen bitter zu büßen hatten.

Ob in dem Witwenstüblein, von welchem ich meinen früheren Zuhörern erzählt habe, an Hexen geglaubt worden ist, weiß ich nicht bestimmt zu sagen; jedenfalls war die alte »Frau Dote« zu christlich, um einem Nebenmenschen etwas Böses nachzureden. An eine dämonische Welt aber glaubte sie felsenfest. Überhaupt spielten ihre Geschichten nicht ungerne ins Grauerliche; das kleine Zimmer mit dem warmen Ofen gewann dadurch sehr an Behagen.

Welche Schauer durchrieselten mich, wenn sie von dem Krokodil erzählte, das aus fernen Meeren seinen Weg in den Neckar fand, um in einem Keller zu Eßlingen die Küfer zu fressen! Doch dieses Monstrum gehörte, freilich nicht gerade buchstäblich, immer noch einigermaßen der Naturgeschichte an. Anderer oder auch gleicher Natur – wenn man nämlich in dem Schuppentiere einen rationalistisch fortgeschrittenen Drachen von älterem Datum erkennen will – waren die drei »Frälen« (Fräulein), die zu den Kindern der Menschen in den »Kaarz« oder »zu Stuben« kamen, mit ihnen spannen und Winterlang sich stumm verhielten, bis sie endlich nach einigen äußerst kindsköpfischen Reden, die ihnen entschlüpft, auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Diese Überbleibsel alter Mythen, die durch so viele Jahrhunderte sich erhalten haben, ragten selten in die Gegenwart, sondern meist nur in die nächste Vergangenheit herein; sie wurden fast immer als Erlebnisse der nächst vorhergegangenen Generation erzählt, aber die Worte oder Verse, die jenen elfischen Wesen in den Mund gelegt waren, wurden mit einer Art von liturgischem Tonfall vorgetragen, aus welchem das höhere Alter sprach.

Wunderbar war es zu hören, mit welcher Unbefangenheit jene geschichtliche Bezeugung festgehalten wurde. So hat unser Buchdrucker, so oft er uns die Mär von der Jungfrau des Urschelberges erzählte, jedesmal am Schlusse versichert, daß er diese Geschichte aus dem Munde seiner Mutter habe, die als ganz junges Mädchen beim Begräbnis des wortbrüchigen Geistererlösers zugegen gewesen sei und mit allem Volke den jammernden Geist in Gestalt eines weißen Vogels um die Kirchhofmauer flattern gesehen habe. Hierbei ist zu erwägen, daß in älteren Zeiten eine solche Sage als Gemeinbesitz der Gegend, an der sie haftete, gehütet wurde, gleich einem ruhmbringenden Wahrzeichen, für dessen Behauptung und Verwertung klein wie groß ein übriges zu tun imstande war.

Wiederum anderer Natur als jene Nachzüglinge einer untergegangenen Elfenwelt waren die eigentlichen Gespenster. Diese lebten in der unmittelbaren Gegenwart, hatten sich dem einen oder anderen Bekannten gezeigt, und die Namen solcher Gewährsmänner oder Gewährsfrauen mußten für die Wahrheit der Erzählung bürgen. Ja, die gute alte Erzählerin selbst konnte sich auf eigene Erfahrung berufen. Sie hatte sich einst als junge Pfarrfrau eines Abends mit ihrer Magd in der Küche befunden, als an einem entfernten Waldsaum ein Irrwisch, cidevant Felduntergänger und Betrüger, spazieren ging. Die Magd stieß ängstlich und zugleich kichernd ihre Gebieterin an. Die junge lebenslustige Frau konnte sich's nicht verwehren, das Küchenfenster zu öffnen und den Lichtkobold bei dem Namen Vitzliputzli zu rufen. Doch kaum war ihr das Wort entfahren, da kam er husch! durch die Luft herangesaust, und sie hatte kaum noch Zeit, ihm das Fenster vor der Nase zuzuschlagen. Beide flüchteten sich mit Geschrei, während er ihnen »ganz feurig durch die Scheiben nachsah«, ins Zimmer zu dem ernsthaften, nicht mehr so jugendlichen Pfarrherrn, von dem sie mit einem rechten Verweise wegen ihres Fürwitzes empfangen wurden.

Was hätte es nun da gefruchtet, über den Aberglauben zugunsten der Kinder eine Zensur auszuüben? Hatte doch eines der glaubwürdigsten Familienmitglieder selbst dem Vitzliputzli das Fenster aufgetan! Und wenn sie nachts beim Niederlegen sich mit Seufzern und Gebeten wider die bösen Geister unter dem Himmel waffnete, wie mußte es dem lauschenden Knaben zu Mute sein! Er glaubte sich auf einer Friedensinsel mit goldenen Dämmen geborgen, und in jedem Sausen der Luft, bei jedem Klirren der Fenster meinte er den andringenden Flügelschlag jener feindseligen Scharen zu vernehmen.

Wenn man die harmlose Glückseligkeit der Jugend gegen den kühlen Gleichmut späterer Jahre wieder einzutauschen wünscht, so darf man nicht vergessen, in die Wagschale auch die Angst einer armen Kinderseele zu legen, die nackt und bloß dem Entsetzen preisgegeben war. Der Sinn für das Unheimliche ist mir in der Kindheit so tief eingeprägt worden, daß es mich nachher manchen nächtlichen Gang in Wald und Öde gekostet hat, um über törichte Anwandlungen Meister zu werden. Vergebens, daß die geistige Ursache derselben längst aus dem Wege geräumt ist, die ersten Eindrücke sitzen im Gemüte fest, und in diesem Sinne darf man wohl gelten lassen, was vom Reich der Geister gesagt ist: »Sie liegen wartend unter dünner Decke, und leise hörend stürmen sie herauf.«


Indessen habe ich die Erfahrung gemacht, daß der Geisterglaube doch auch seine nützliche Seite haben kann.

Dies ereignete sich infolge des sonderbaren Unfalls, daß ein müdes Studentenpferd einmal in der Nacht mit mir durchging. Es war ein abgelebtes Tier, eine harmvolle Kreatur, die das leichte Fuhrwerk, dem sie vorgespannt war, im Schneckentrott bewegte, auf einmal aber, unwissend warum, einen verzweifelten Galopp anschlug und mit einer Gewalt, die man diesem Schatten eines Pferdes nicht hätte zutrauen sollen, dahinjagte, bis das Gefährt auf einen Steinhaufen geriet und umschlug. Das Abenteuer endete damit, daß ich einige Wochen übel zugerichtet im Bette zubringen mußte und alle Nachtwächter meiner Vaterstadt mit ihren verschiedenen und zum Teil sehr eigentümlichen Modulationen nachahmen lernte.

Zu den körperlichen Schmerzen aber gesellte sich das Seelenleiden, daß mein guter Ruf im Rosselenken höchlich gefährdet war. Hier nun kam mir ein Umstand zustatten, der mir eine starke Partei verschaffte. Die Stelle, an der ich »verunglückt worden« war, gehörte zu den Orten, wo es »nicht mit rechten Dingen zuging«, und das arme Pferd, mit dem den Tieren eigenen Seherblicke begabt, hatte etwas erschaut, was meinem profanen Auge verborgen geblieben war.

An jener Stelle pflegte nämlich ein überaus höflicher Partikulier, der den Kopf wie einen Claquehut unter dem Arme trug, aus Mangel an sonstiger Beschäftigung umzugehen. Hatte doch erst etliche Monate zuvor ein Herr Gevatter seine Bekanntschaft gemacht, als er nachts von der Frau Rosenwirtin, der besten Menschenverpflegerin der Umgegend, den Heimweg suchte. Das Muster aller Höflichkeit trat ihm am »Rank«, d. h. an der Biegung der Straße, mit abgezogenem Kopfe in den Weg. Der Herr Gevatter wollte in der Courtoisie auch nicht der letzte sein und wich von der Straße. Der andere aber ließ nicht nach, bis er ihn ein gutes Stündchen seitab durch dick und dünn auf den Gipfel einer Anhöhe hinauf komplimentiert hatte, von wo sich der Herr Gevatter erst am kühlen Morgen mit etwas flauem Gemüte in die Stadt herunterfand. Hätte er zu rechter Zeit daran gedacht, die Schuhe zu wechseln und den Hut verkehrt aufzusetzen, so würde er den ungebetenen Zivilkondukteur gleich wieder losgewesen sein.

Diese Spukgeschichte rettete meinen Kredit, und ich gewann vertrauensvolle Kunden für eine Spazierfahrt, die ich zur Feier meiner Genesung veranstaltete. Da ich bei diesem Unternehmen so geschickt war, über einen Eckstein wegzufahren, ohne umzuwerfen, so konnte kein Zweifel mehr aufkommen, daß es mit jenem Unfall seine »besondere Bewandtnis« gehabt haben müsse.

Eine gleiche hatte es, wenigstens nach der Ansicht meines alten Buchdruckers, mit einem anderen Abenteuer gehabt, das ich früher, jedoch nicht auf eigene Kosten, erlebte.

Über der Kammer, in welcher ich einen Teil meiner Kinderjahre verschlief, auf dem freien Boden, den man die »Bühne« heißt, befand sich die nächtliche Ruhestätte der uralten Dienstmagd, an die ich, da zu jener Zeit noch die Hausverfassung des alten Attinghausen galt, große Anhänglichkeit hatte. Eine schmale, sehr steile Treppe, oben mit einer Falltüre versehen, führte zu ihr empor. In der hintersten Ecke stand das magdliche Lager, auf welchem meine runzliche Freundin von Butter und Schmalz zu träumen pflegte. Da das Dach auf der einen Seite sich an dasselbe anlehnte, so konnte man ihre Ruhestatt mit einem offenen Zelt vergleichen, in dessen Hintergrund die Dachschindeln eine Art von Mosaiktapete bildeten. Und nicht schmucklos war die Umgebung. Durfte die meinige sich einer blanken Dekoration von Zinnflaschen erfreuen, so prangte dafür die ihrige mit einer ebenso ansehnlichen Garnitur von Sieben, groß und klein, welchen eine Menge ehrwürdiger, zur Ruhe gesetzter Hausgeräte Gesellschaft leistete.

Es mochte um die Mitte der Nacht sein, als ich auf einmal aus festem Schlaf erwachte und mich bei glockenheller Besinnung fand, ziemlich verwundert über die jähe Flucht des sonst immer getreuen Freundes und ein wenig schaurig angeregt durch die nächtliche Einsamkeit. Während ich vergebens der Ursache dieses plötzlichen Aufwachens nachsann, hörte ich etwas mir zu Füßen leicht auf die Decke springen und glaubte zu fühlen, wie diese in Wellenbewegungen über mich herflutete. Mit einer Mischung von Schreck und Zorn fuhr ich in dem großen Himmelbett empor und schüttelte die schwere Decke, aber es fiel nichts zu Boden. Eine Maus weiß sich immer zu helfen. Ich legte mich etwas unbehaglich zurück; kaum aber hatte ich die Decke einige Zoll näher gegen das Kinn gezogen, so hörte ich auf dem Boden über mir in der bekannten Ecke ein Geräusch, das mir die tröstliche Kunde gab, daß zu dieser Geisterzeit außer mir noch ein zweites menschliches Wesen wache. Es stand auf, es ging mit langsamen Schritten vor, aber wehe, auf einmal kommt es die steile Bodentreppe heruntergepoltert und schlägt auf dem Estrich mit einem gellenden, Zerschmetterung verkündenden Krachen auf. Zugleich erhob eine wohlbekannte Stimme ein Jammergeschrei, welches das ganze Haus in Aufruhr brachte. Entsetzen lähmte meine Schritte, da ich die alte Anna Marei mit zertrümmertem Schädel draußen zu finden fürchtete; ich bedachte nicht, daß ein Kopf, der mit solchem Gekrach in Stücke geht, schwerlich viel Laut auf Erden mehr geben wird.

Alles lief herbei. Da lag nun die Arme, sehr nachlässig angetan, zu Füßen der treulosen Treppe, und schrie so fürchterlich, daß wir kaum Hand an sie zu legen wagten. Allein der Kopf erwies sich unversehrt, auch war sonst nichts ab noch aus den Fugen, nur hatten ihr die Staffeln der Stiege eine beträchtliche Anzahl von Quetschungen beigebracht. Als man sie aufhob, zeigte sich denn auch bei Licht der Gegenstand, dessen schauervolles Krachen alle Herzen, die für die Gute schlugen, vor Entsetzen stillstehen gemacht hatte. Nein, es war nicht der Sitz ihrer wirtschaftlichen Gedanken, es war ein ganz anderes Geräte, aus Lehm gebrannt, dessen Scherben traurig auf dem Ziegelpflaster umherschwammen, Ursache und Verlauf des Ereignisses klar berichtend.

Die arme Bühnenkünstlerin war gegen ihre Gewohnheit im Schlafe aufgestanden, hatte sich ohne Zweifel nach der Dachrinne bewegen wollen, war aber, ungeübt in somnambulen Rollen, nach der Treppe hingeraten, wo die offene Falltüre leider ihrem abschüssigen Vordringen kein Hindernis in den Weg legte. Was sie in der Hand trug und beim Herabfahren mit Macht auf den Estrich schlug, hatte ihr als Opfer gedient, die finsteren Schicksalsmächte zu versöhnen. Ihr Geschrei aber entsprang aus mehreren Gründen. Einmal war sie, wie begreiflich, während der Fahrt noch schneller als ich vorhin aufgewacht und über die Maßen erschrocken. Sodann hatte sie sich auf einem Anfluge von Mondsucht ertappt, und obgleich sie zum Glück nicht mit triefenden Augen ausgestattet war, so schien jener Umstand doch einigermaßen geeignet, den Charakter einer Person ihres Alters in ein zweifelhaftes Licht zu setzen. Vornehmlich aber fürchtete sie durch den Fall zur Arbeit untauglich und für das Spital gereift zu sein, was dem reichsstädtischen Selbstgefühle, auch in einer alten Dienstmagd, so viel als Tod und Vernichtung war. Kaum hatte man sie über diesen Punkt beruhigt, so verbiß sie ihre Schmerzen, hörte zu schreien auf und ließ sich in ihr Bett zurückbringen. Nach einigen Schmerzenstagen war sie wieder vollständig im Geschirr; im Nachtwandeln aber hat sie keine Probe mehr abgelegt.

Das war nun zwar an und für sich eine ganz natürliche Begebenheit, aber mein alter Freund und Grübler, dem ich sie erzählte, hatte alsbald ein mystisches Haar darin gefunden. Freilich nicht ohne mein Zutun, denn ich hatte ihm, damals vielleicht wichtig genug, erzählt, daß ich unmittelbar vor der Katastrophe auf eine mir sonderbar scheinende Weise aufgewacht sei. Dies war seiner Dogmatik zufolge kein gewöhnliches Erwachen, sondern eine »Erweckung« gewesen. Auch ließ er die Maus keineswegs gelten, belehrte mich vielmehr, es gäbe eine Klasse von hilfreich gesinnten, für sich selbst jedoch hilflosen Geistern, die gerne Untaten und Unfälle von den Menschen abwenden möchten, zu diesem Behufe aber, da sie nur halb in die Wirklichkeit hereinragen, also weder Hände noch Füße haben, nur einem in der Nähe befindlichen, der Körperwelt angehörigen Geschöpfe einen Wink geben können, damit es, falls es Merks genug hätte, zum Werkzeuge der Rettung würde. Offenbar schwebte meinem Alten hier derselbe Gedanke vor, den der Zeichner jener Gespenster ausdrücken wollte, welche die Ermordung des gnadenreichen Duncan durch ihr lautlos gellendes Geschrei vergebens zu hindern suchen.

Seine Geistertheorie hatte ferner große Ähnlichkeit mit der Lehre von der Seelenverknöcherung, die ich hernachmals im Hörsaal eines eigenbrötlerischen Philosophen habe vortragen hören. Es gäbe Seelen, dozierte dieser, welche durch Hingebung an das Materielle unfähig werden, die Kruste ihres irdischen Daseins im Sterben zu zerbrechen, und daher in dem engen Durchgang nach dem körperlosen Jenseits stecken bleiben. Ohnmächtig kleben sie dann in endloser Langweile an den Gegenständen ihrer einstigen Leidenschaft, an Schätzen, die ihnen jetzt nichts mehr nützen, an den Stätten unaustilgbarer Freveltaten, oder treiben sich zwecklos schlurfend und polternd umher.

Bei dieser sinnreichen Erklärung ließe es sich wenigstens begreifen, warum die Geister, nach allem, was man in der Regel von ihnen hört, so herzlich geistlos sind.


Wieder ein anderes Abenteuer, von lustigerer Art und schmerzlosen Angedenkens, trug sich auf dem nämlichen Schauplatze während meiner Universitätszeit in den Ferien zu.

Ich hatte wieder mein altes Nachtlager, die Himmelbettlade in der ziegelgepflasterten Kammer bei den Zinnflaschen. Die alte Anna Marei nahm noch immer mit Ehren ihren alten Posten ein und schlief ebenfalls noch am alten Plätzchen, nämlich in ihrem offenen Zelte bei den kleinen und großen Sieben. Außer mir war noch ein Gast im Hause, ein geistlicher Vetter vom Gebirge her, der sich, da er nachts an Gesellschaft gewöhnt war, zu der Frau Dote ins Vorderzimmer einquartiert hatte. Nach Mitternacht hatte ich abermals die Unannehmlichkeit, plötzlich aufgeweckt zu werden, aber durch keine unerforschliche Ursache, sondern durch ein höllisches Getöse über mir. Es rasselte auf dem Boden hin und her, als ob alle bösen Geister ledig wären. Die alte Anna Marei konnte es nicht sein, die den Lärm verursachte, denn sie übertönte ihn noch mit ihrem gellenden Hilferuf. Ich enteilte so schnell als möglich dem Himmelbette, fand die Insassen des Hauses versammelt, und da standen wir nun, nicht eben im Sonntagsputz, an der Bodentreppe, Rat miteinander haltend, während das Gepolter und mit ihm das Hilfegeschrei immer stärker wurde.

Ehrenhalber stellte ich den Antrag, dem geistlichen Herrn den Vortritt einzuräumen. Er wollte aber nichts davon wissen. Ich habe Weib und Kinder, die meiner jetzt noch nicht entbehren können, sagte er, aber ein leichtsinniger Student wie du, der kann sein Leben eher in die Schanze schlagen. Ich erinnerte ihn an seine geistlichen Waffen. Vergebens; die Welt liegt im argen, sagte er, meine Bauern haben mir letzten Sonntag nachts den Kohl aus dem Garten gestohlen, nachdem ich ihnen morgens über das siebente Gebot gepredigt hatte; wer kann nun vollends wissen, an was der Poltergeist da droben glaubt! Unter allgemeiner Zustimmung ergriff ich das Licht, und mit Allons enfants de la patrie, dessen Klänge eben damals wieder die Welt erschütterten, klomm ich an der Spitze meines zaghaften Heeres die Bodentreppe empor.

Längst hatte ich an Gespenster zu glauben verlernt; als ich aber auf der obersten Sprosse stand und, auf die Bühne hineinleuchtend, ein unerhörtes Schauspiel sah, da wurde es mir denn doch auch ein wenig ungewöhnlich zumut. Die anderen, die mich stutzen sahen, wichen mit einem Schrei zurück, noch ehe sie etwas gesehen hatten.

Der Poltergeist war ein großes Sieb, das, nicht eingedenk der Bürgerpflicht, die man als die erste preist, seinen Nagel verlassen hatte und wie besessen auf dem ganzen Umkreis des Bodens hin und wider fuhr. Daß dies ein gewaltiges Gepolter verursachen mußte, ist einleuchtend. Das war aber noch nicht genug, sondern der Störenfried riß, wenn er an den Wänden hinstreifte, auch noch seine ruhigen Mitsiebe, ja selbst die gemäßigtsten Invaliden von Gerätschaften herab, schleppte sie, wenn sie ihn am Spuken hinderten, mit sich fort und vermehrte dadurch das Getöse ins Unbillige. Die alte Anna Marei schrie jedesmal »wie ein Dachmarder« – die Umgebung rechtfertigt den Ausdruck –, wenn das wahnsinnige Sieb an ihrem Bett vorüberfuhr, hinter welchem sie sich so gut wie möglich verschanzt hatte. Sie bat uns kläglich, über den Boden zu ihr zu kommen; aber das war mit heilen Gliedern kaum zu bewerkstelligen.

Was den Naturgesetzen schnurstracks zuwiderläuft, das bringt den Menschen in eine gewisse Art von Wut.

Die Spazierfahrt muß aufhören, sagte ich, gab dem Pfarrer das Licht und suchte das fahrende Sieb, so wie es in meine Nähe kam, mit dem Fuße in seinem Lauf zu hemmen. Dies gelang auch, aber das Sieb, das nicht nach Menschenweise ging, raste alsbald in der entgegengesetzten Richtung fort und gab gleich darauf unserer Kammersängerin Veranlassung, einen ihrer gelungensten Triller zu versenden. Was der Fuß nicht durchgesetzt hatte, wagte ich jetzt mit der Hand, und als der neue Planet nach kürzester Umlaufszeit wieder in meiner Erdennähe war, griff ich rasch hinunter, um ihn zu halten. Da ich hierbei wohlweislich mit der anderen Hand das Stiegengeländer gefaßt hatte, also keinen sehr langen Arm machen konnte, so wurde das Sieb auf der Seite, wo ich es ergriff, etwas emporgehoben. Kaum war dies geschehen, so rauschte eine große schwarze Katze mit zornigen Augen unter ihm hervor, schoß der Treppe zu, fuhr dem Pfarrer, ohne Achtung vor seinem Stande, doch nicht so gefährlich wie Reinekes Hinze, zwischen den Beinen durch, und brachte ihn so sehr aus dem Gleichgewicht, daß er das Licht fallen ließ und beinahe samt seiner Hintermannschaft die Treppe hinuntergefallen wäre. Finsternis-Geschrei vorn und hinten – nur das Sieb lag mäuschenstill zu meinen Füßen und rührte kein Glied. Nachdem Ruhe und Ordnung hergestellt waren, setzten wir uns, da es nicht ferne vom Tagesgrauen war, zu einem dampfenden Kaffee, den die erlöste Anna Marei mit großer Bereitwilligkeit kochte, indem sie ihren Schlafkumpanen, den Sieben, nicht mehr ganz zu trauen schien. Die Besessenheit des Rädelsführers derselben war leicht zu erklären. Eine unternehmende Katzenseele, die das Sieb auf einer nächtlich empfindsamen Reise angestreift und auf sich herabgeworfen hatte, war eine Zeitlang seine widerwillige Bewohnerin gewesen. Da es groß genug war, um die Katze unverletzt zu bedecken, so war es begreiflicherweise auch schwer genug, um ihr das Entkommen unmöglich zu machen, aber nicht so schwer, daß sie es nicht hätte umhertummeln können wie ein Kind seinen Gängelwagen, und von dieser Freiheit hatte sie denn auch leidenschaftlichen Gebrauch gemacht. Unter solchen historisch-pragmatischen Erörterungen schlürften wir unseren Morgentrank, und er wurde uns gemütlich gewürzt durch seine Brauerin, die zu tief in seinem Satze gelesen hatte, um nicht steif und fest dabei zu bleiben, daß die schwarze Katze, die Siebläuferin, eine Hexe vom ersten Rang gewesen sei.

»Wer weiß?« sagte mein alter Buchdrucker mit schlauem Lachen, als ich ihm die Begebenheit dieser Nacht erzählte.

Zu meiner desto größeren Verwunderung trat jedoch dieser mein Geisterphilosoph ein andermal, und zwar gerade in einem Falle, der ihm Wasser auf seine Mühle hätte liefern sollen, durchaus rationalistisch auf. Ich kam von einem vielbesprochenen Gespensterhause zurück, dessen unsichtbarer Tyrann durch eine Reihe jener »spiritualistischen« Töne, die bei den Eingeweihten ihre eigenen technischen Benennungen haben, vom »Papierknistern« an bis zu einem höchst unschicklichen Sägen, Husten, Röcheln, Blöken und Grölzen, sein Dasein zu vernehmen gegeben hatte. Der Tatbestand war an sich selbst unleugbar, und es blieb nichts übrig, als das ehrliche Bekenntnis, zwar nicht etwas gesehen, aber doch einiges gehört zu haben. Darum zweifelte ich jedoch keineswegs an einer natürlichen Ursache dieser Töne, obgleich sich eine bestimmte Erklärung nicht mit Sicherheit geben ließ. Auf der anderen Seite ergötzte es mich indessen auch wieder, mich von meinem alten Geisterseher, als ich ihn nach Gewohnheit besuchte, als Sonntagskind begrüßen zu lassen. Er aber legte das Gesicht in tiefe Falten, wiegte den Kopf und erwiderte, es tue nicht not, solche nächtliche Töne immer auf die »Nachtseite der Natur« zu beziehen. Einmal sei in dem Gebälke alter Häuser ein gar wunderliches Leben, Knistern und Krachen, und dann gebe es, zumal auf dem Dorfe, eine wenig beachtete Zunft von nächtlichen Musikanten, welche häufig bei derlei Fällen im Spiele sein mögen. Dies seien die Eulen, deren Schnauben und Schnarchen so täuschend in die Häuser dringe, daß man es oft aus der nächsten Nähe zu hören glaube.

Ich fand diese Erklärung vernünftig und dankenswert, mußte aber im stillen über den Widerspruchstrieb des menschlichen Geistes nachdenken, der im schwächsten Strohhalm eine Stütze für eine Meinung suchen und dann wieder wie in einer Art von Großmut einen ganz einladenden Fund von sich weisen kann, um der Wahrheit auf der anderen Seite gerecht zu werden.

Dankenswert nenne ich die Erklärung, die ich übrigens später noch einmal aus bedeutendem Munde vernommen habe; denn sie dient dazu, Erscheinungen, die sich doch nicht wegleugnen lassen, ihrer Seltsamkeit zu entkleiden. Einer solchen Erklärung, die nicht bloß »natürlich«, sondern auch befriedigend wäre, wartet ohnehin noch dieses und jenes zwischen Himmel und Erde, um sodann mit besserer Sicherheit an seinem gebührenden Ort, in den Sagenbüchern nämlich, untergebracht werden zu können.

Dahin gehört vor allen Dingen der alte Kriegsgeist des Odenwaldes, den man zwar mythologisch eingesargt zu haben meint, was ihn aber nicht abgehalten hat, noch jüngst in voller Lebens- und Geistergröße sich an Flut und Ebbe unserer Bewegungsjahre zu beteiligen. Bekanntlich hat man seinen Auszügen schon früher zu wiederholten Malen auf Befehl der Regierung amtliche Aufmerksamkeit geschenkt, und so ist auch diesmal, im Januar 1851, bei einer hessischen Behörde ein Protokoll über die Vorgänge aufgenommen worden.

»In der Nacht vom 2. auf den 3. März 1848« – so lautet die amtlich beglaubigte Sage – »hat der Burggeist von Rodenstein unter Waffengeklirr und Pferdegetrapp den kriegverkündenden Auszug nach seiner Kriegsburg Schnellert gehalten; am 31. Dezember 1850, Morgens zwischen 7 und 8 Uhr, ist er mit dem gewöhnlichen Geräusche nach der Friedensburg Rodenstein heimgekehrt.« Er konnte füglich zu jener Zeit wieder nach Hause gehen, der geriebene alte Politikus, der auch in den Tagen seines Glanzes mit allen Winden zu fahren gewohnt war, er hatte die richtige Witterung gehabt und seine alte Rabenzeitung besser gelesen, als mancher Publizist damals die seinige zu schreiben verstand: denn der Tag von Bronnzell war vorüber, und am 23. Dezember, neun Tage vor seinem Friedensmarsche, hatten die Dresdener Konferenzen begonnen.

Wenn er nun auch gleichwohl hier einigermaßen im Schlepptau der politischen Gezeiten erscheint, denen er sonst vorangeritten, in allerlei Vermummung die Geister aneinanderhetzend, der von der Kirche erfolglos abgesetzte und von der Sagenforschung längst wieder entlarvte altfränkisch-sächsisch-schwäbische Kriegsgott – so ist es doch bei der trotz Kirche, Staat und Polizei nichts weniger als tröstlichen Lage des in zwei Halbganze und eine Anzahl Bruchteile zerspaltenen Vaterlandes hochbedenklich, daß der alte wilde Händeljäger noch immer unbeschworen sein Wesen treiben darf. Suche man ihn daher eiligst, ehe er wieder losbricht, zu bannen, einerseits durch eine naturwissenschaftliche Erklärung aller jener sonderbaren, nicht bloß dem Winde zuzuschreibenden Lufttöne von der Teufelsstimme auf Ceylon bis zu unserem Muotisheer, andererseits aber und ganz insbesondere durch eine politisch-rationale Rechnungsformel, die aus den Bruchteilen, statt die Zweiheit mit ihnen zu nähren, die in ihnen gegebene Grundlage zur Ausgleichung des Zwiespalts und zur Einigung der Gesamtheit schafft: dann erst wird er sich, in den Lehrbüchern der Mythologie und auch in den Tafeln der Geschichte, für immer zur Ruhe setzen.

Endlich aber muß die Naturwissenschaft, wenn sie mit dem Aberglauben fertig werden will, auch nicht vergessen, der lebendigen Natur selbst gerecht zu werden. Mancher Aberglaube, der zum Beispiel mit den Mondphasen getrieben wird, ist nur ein scheinbarer, oder vielmehr, er ist es nur der Form und nicht dem Wesen nach; aber zuzugestehen, daß der Mond im Vollicht eine gewisse Wirkung auf Triebkraft und Wachstum ausübt, das kommt die moderne Wissenschaft sauer an. Ist mir doch einmal ein gelehrtes Haupt in den Weg getreten, das gar die Irrlichter leugnen wollte! Wenn nun diese Feuerschwaden, die ich in Menge gesehen habe, meist einzeln auf der Erde oder auf dem Wasser schwebend, bergauf oder bergab mit einer jeden Laternenträger hundertfach überholenden Geschwindigkeit wandelnd, einmal auch auf weiter Ebene gleichwie in einem Parlament versammelt, das an Zahl die größten Reichstage und Konzilien weit hinter sich ließ, – wenn sie aus der Reihe der natürlichen Dinge gestrichen werden müßten, dann bliebe mir wahrhaftig nichts anderes übrig, als wieder an Gespenster zu glauben.

Zwar der Schade würde durch eine ganz artige Errungenschaft aufgewogen, sofern dann das Geschichtchen von dem Bauer und dem Irrwisch nicht bloß heiter wäre, sondern auch wahr, oder möglich wenigstens. Der Bauer begegnete nämlich nachts einem feurigen Manne, der aber weiland kein bloßer Feldsteußler, sondern etwas viel Vornehmeres, nicht vom besten Angedenken, gewesen war. »Halt ein wenig,« rief er ihn an, »ich will mir nur die Pfeif' an Ihm anzünden.« Se. Gnaden schüttelte sich und schnob, daß die Funken stäubten, mußte sich aber geduldig zum Fidibus hergeben. »So, schön' Dank,« sagte der Bauer, als sein Stummel brannte. »Nichts für ungut. Herentgegen aber, Er ist eigentlich doch ein schlechter Kerl gewesen, das bißle Brennen schad't Ihm nicht die Laus.«


Einen anderen und stärkeren Antrieb zum Geisterglauben, als den Gewinn einer schnurrigen Geschichte, hatte ein gewisser Freund, den ich zu den ziemlich dicken rechnen darf. Dieser pflegte förmlich auf die Geister Jagd zu machen – aus Unsterblickeitsbedürfnis. Ihm wäre mit der Doktrin von der Seelenverknöcherung schlecht gedient gewesen, denn eine solche Knorpelbildung würde mehr für das Diesseits als für das Jenseits gezeugt und somit eine elende Bürgschaft für die persönliche Fortdauer im höheren Sinne abgegeben haben. Zwar glaubte er felsenfest an diese, aber man weiß ja, der Glaube hat keine Ruhe, er sehnt sich immer nach Beweisen.

So war denn unserem Freunde kein Weg zu weit und keine Nacht zu finster, wenn ihm verkundschaftet wurde, daß »einer« auf dieser Heide »laufe« oder an jenem Waldeck »schwebe«. Ich bin mehrmals mit ihm auf die Gespensterjagd gegangen, nicht weil ich dabei die Unsterblichkeit auf dem Korn hatte, auch nicht etwa weil ich die Seelenleberverhärtung unter das Seziermesser zu nehmen wünschte, sondern aus freundschaftlicher Teilnahme. Wir sind aber jederzeit ohne Weidmanns Heil nach Hause gekommen, was mich eben nicht verdroß.

Einmal in einer Neujahrsnacht zog ich mit ihm und ein paar anderen guten Gesellen nach einem öden Steinbruche, wo es spuken sollte. Während die übrige Menschheit sich beim Jahresabschiede gütlich tat, tappten wir uneigennützige Forscher – so kann ich wenigstens das Gefolge im vollsten Sinn des Wortes nennen – in der äußersten Finsternis und mit Gefahr, Hals und Bein zu brechen, die schlimmsten Pfade auf und ab, um unserem Ungeduldigen zu dem gewünschten Solawechsel auf die Ewigkeit zu verhelfen. »Alles wieder vergebens!« seufzte er zuletzt, nachdem wir die ganze Örtlichkeit ohne Erfolg durchstöbert hatten; da, siehe, im gleichen Augenblick loderte eine blaue Flamme unmittelbar zu seinen Füßen empor. »Ich hab' ihn!« rief er gierig und warf sich mit ausgebreiteten Händen auf die Erscheinung, wie man tut, wenn man einen Schmetterling am Boden haschen will. Aber die Flamme erlosch, und der Geruch von Kunstfeuerwerk, der ihr folgte, verriet alsbald, daß ein mutwilliges Mitglied der Gesellschaft mit gewandter Hand eine bengalische Täuschung hervorgezaubert hatte. Wir kamen noch eben recht zur Silvesterbowle heim, bei der wir es uns zur angenehmen Pflicht machten, den unbefangenen Mut unseres Geisternimrod, der ohne Stutzen und Grausen die andere Welt am Fittich gefaßt hätte, mit gebührendem Gläserklange zu ehren.

»Auf die Fortdauer der Persönlichkeit, ohne die es nicht der Mühe wert wäre, hienieden zu leben!« erwiderte er mit uns anstoßend.

Wir taten ihm gerne Bescheid. »Es ist jetzt nicht die Stunde zu metaphysischen Kontroversen,« bemerkte sodann einer von der Gesellschaft, »ich will daher die Frage selbst ruhen lassen, aber, ist es denn auch wirklich ein so großes Glück um die Unsterblichkeit, daß sie uns wünschenswert erscheinen sollte?«

»Wie?« rief unser Freund, »und sollte es den Guten nicht wünschenswert sein, drüben den Lohn zu empfangen, der ihnen diesseits meist vom Schicksal verkümmert, von den Menschen unterschlagen wird?«

»Die Auffassung ist nicht ganz uneigennützig,« bemerkte der andere. »Indessen, wie dem sein möge, die Seligkeit dürfte denn doch gar sehr getrübt werden durch das Herniederschauen auf die Hinterbliebenen, die gleichfalls vom Schicksal verfolgt, von den Menschen mißhandelt werden. Denke ich mir vollends Eltern, welche, um den stärksten Fall zu setzen, zusehen müssen, wie ihre verlassenen Kinder hilflos durch die Welt irren, im Elend verwildert, zu schrecklichen Entschlüssen geführt, so muß ich in der persönlichen Fortdauer, besonders für ein Mutterherz, eher eine Strafe als einen Lohn erkennen, und zwar eine Strafe, die man, mitten unter den himmlischen Freuden, den Höllenstrafen gleich achten darf.«

»Es ist aber,« wurde eingewendet, »ein reinerer Zustand möglich, denkbar wenigstens, worin dem Abgeschiedenen das Weh der Erde verborgen bleibt.«

»Das wäre ein sehr unzureichendes Auskunftsmittel,« entgegnete der Redner. »Um bei dem Gleichnis von den Eltern stehen zu bleiben, so würden sie mir in diesem Falle über dem Genüsse der ewigen Seligkeit entweder nicht besser vorkommen, als so manche irdische Eltern, die dem Vergnügen auf Bällen und Lustbarkeiten nachziehend ihre Kinder in fremden Händen verwahrlosen lassen, oder nicht glücklicher als Eltern, die durch eine traurige Fügung von den Ihrigen verschlagen sich in Angst um das unbekannte Los derselben verzehren. Da würde also eine Hauptbedingung der Glückseligkeit, die doch körperlosen Geistern vorzugsweise unentbehrlich sein müßte, die innere Freude und Ruhe nämlich, fehlen.«

»Welche Bedenken!« rief der Kämpe der Unsterblichkeit. »In jenen seligen Gefilden übersehen wir das Ganze des Weltlaufs, dort lösen sich dem erschlossenen Auge die scheinbaren Widersprüche, die Rätsel, Wirrnisse und Trübsale des Menschengeschickes, dort werden wir, wenn der Ausdruck noch erlaubt ist, den göttlichen Ratschluß verstehen lernen, der aus dem Dunkeln ins Helle, durch das Übel zum Guten führt.«

»Damit ist nicht viel gewonnen,« erwiderte der Gegner. »Unsereiner wird's dort drüben doch schwerlich weiter bringen, als hier schon die Frömmsten der Frommen, und wenn diese bei schweren Schicksalsschlägen sich nicht enthalten können, dem »unerforschlichen Gott«, wie sie ihn dann, mit aufgehobenem Finger gleichsam, anreden, ein in ein »Warum?« gehülltes konstitutionell-loyales Tadelsvotum auszusprechen, so würden auch wir im himmlischen Schauspielsaale als Zuschauer der Welttragödie die kritische Frage nicht zu unterdrücken vermögen, ob denn das Stück nicht auch ohne die vielen Grausamkeiten durchzuführen wäre, ob denn die Führung der Völker nur durch Blut und Tränen möglich sei, ob der Triumph der Gewalt und Ungerechtigkeit, der Verrat am Edelsten und, was ärger ist als alles physische Übel, die Seelenfolter, die geistige Verzweiflung, unvermeidlich in den Weltplan gehören.«

»Wenn aber diese Übel notwendig und diese Notwendigkeiten gut sind?«

»Das ist ja eben der Jammer! Ich mag das noch so sehr glauben, oder glauben müssen, so bin ich damit um nichts besser dran. Wenn ich auf Erden hier, wo Gott vor sei, einem meiner Lieben eine grausame Operation und schreckliche Verstümmelung angetan sähe, so könnte ich mich, bei aller Einsicht in die Notwendigkeit und Heilsamkeit, so weit nämlich Krüppelei heilsam ist, gewiß nicht sonderlich freuen. Drüben aber wäre es ganz der gleiche Fall, nur unendlich erweitert, denn als ein vollkommeneres Wesen, viel reiner und inniger fühlend, müßte ich ja, weit über die mehr oder minder egoistische Teilnahme an meinem engeren Kreise hinaus, allen Jammer des Universums von den höchsten Geistesschmerzen bis zu den Windungen des zertretenen Wurmes mitempfinden, müßte also unrettbar dem Weltschmerz verfallen, den wir mit Recht hienieden ans unserem Denken und Dichten verbannen, der aber wohl einer geläuterten Gestalt fähig sein mag, als Keim einer neuen Religion vielleicht, einer Religion des absoluten Mitleids, wie sie in den gesamten heidnischen und christlichen Religionsformen nicht dagewesen, wenn auch etwa hie und dort angedeutet ist.«

»Auf was für Grillen kommt man nicht, wenn man von einer falschen Voraussetzung ausgeht! Drüben brauchen wir kein Mitleid mehr, da sind alle irdischen Leidenschaften abgestreift, und der beschränkte Maßstab menschlicher Eintagsweisheit bleibt diesseits des Grabes zurück.«

»Das heißt mit anderen Worten: es wird eine Zwiebelhaut um die andere abgeschält, bis von der Zwiebel selbst zuletzt gar nichts mehr übrig ist. Die gröberen Leidenschaften will ich gerne der Verwesung übergeben; wenn aber auch die feineren und edleren den Würmern verbleiben, alle die Nahrungsstoffe des Feuers, das in jedem einzelnen gerade so und nicht anders brennt und ihn unbefriedigt und ruhelos an der Befreiung und Verschönerung des Menschenlebens arbeiten heißt, wenn der Schmerz über das unendliche Weh der Welt, der seine Berechtigung einfach in unserem Dasein hat, und der mit dem Schwinden des abstumpfenden Leichtsinns, mit dem Versiegen der mildernden Träne nur um so tiefer werden müßte, wenn die innige Teilnahme am Lose geliebter Wesen, wenn das alles uns nicht hinüber begleitet, was wäre dann der Rest? Entweder das Nichts oder etwa ein Fortdämmern im All, ohne Erinnerung, ohne Bewußtsein, jedenfalls ohne Mitgefühl für die verlassene Heimat, als ob sie keine Stätte des Geistes wäre, ein Zuschauen, wenn's hoch kommt, des kaltlächelnden Steines, der gelassen auf das Elend von Tausenden scheint. Nennt mir das eher alles andere, als eine Fortdauer der Persönlichkeit. Freilich verlassen uns die Leidenschaften, und gerade die edleren, oft mit zunehmendem Alter schon, die Persönlichkeit entblättert sich gleichsam auf langem Lebenswege, und das läßt uns schließen, was das Ende sein mag.«

»Genug!« rief ein anderer. »Lassen wir das dunkle Jenseits, und halten uns an das Wort, das unser Freund, der Dichter des Alexander, seinen jugendvollen Helden in diesem Falle sprechen läßt:

Füllen wir indes
Mit unvergänglichem Gehalt dies Leben,
Dann komme was da will.« Ludwig Bauer, Schriften, Seite 50.

Alle erhoben die Gläser und stießen, wenn auch nicht gerade auf das Vollbringen, doch auf den Vorsatz und den guten Willen an.

Freund Himmelsstürmer wollte jedoch seine Fahne behaupten. »Nicht alle Zwiebelhäute gehen ab,« rief er, »es bleibt ein Kern zurück, nicht die ganze Flamme erstirbt, sie reinigt sich nur vom Rauch –«

»Halt ein!« unterbrach ihn ein lustiger Rat, der das Disputieren satt hatte, »mich dünkt, der Punsch räuchelt ohnehin schon ein wenig, und wenn er auch noch vollends beharrlich in Gefahr gebracht wird, nach Zwiebeln zu schmecken, dann wehe mir, Alhama!«

»Vertagen wir also den platonischen Dialog,« erwiderte er lachend. Doch gab er sich noch nicht ganz zufrieden, sondern wendete sich zu mir und belobte den Eifer, mit dem ich ihm Jagdgenossenschaft geleistet, wobei er zu verstehen gab, daß dergleichen wohl nicht ganz ohne Neigung und Glauben geschehen sein könne, ja gar vielleicht gewisse Erfahrungen im Hintergründe stecken.

Ich verwahrte mich. »Ich bin nur ein Feiertagskind,« sagte ich. »Nicht einmal meine unbekannte Zukünftige hat mich bis jetzt zu sich auf die Vorschau entrückt. Am Reich der Schatten anzuklopfen habe ich außer unseren Streifzügen wenig Beruf gespürt, und noch weniger hat mir dasselbe Veranlassung gegeben, ihm ein Herein! zuzurufen. Zwar gehe ich gern mit abgeschiedenen Geistern um, aber ich kann dabei des Stechblicks entraten, denn teils läßt mir die Erinnerung ihre Gestalten aufsteigen, teils sind die Beschwörungsformeln, deren ich mich zum Geisterverkehr bediene, jedem zugänglich, der sich durch das Alphabet so weit durchgeschlagen hat, um die Errungenschaften genießen zu können, die ihm durch die gesegnetste aller schwarzen Künste bereitet sind. Und dennoch,« setzte ich hinzu, »kann ich Geister beschwören, die der Acheron besser verschlingt.«

»Rezensentengeister?« fragte einer spöttisch, auf das Schicksal anspielend, das einem armen kleinen Bändchen Gedichte – leibliche Kinder diesmal – rauh und kalt in den Weg getreten war. »Nein, o nein! Es sind zwei wirkliche Gespenster, die ich wohin getragen habe.«

»Unsinn! In einen Steinbruch oder unter eine Glasglocke?«

»Auf eine öde Insel sind sie gebannt, die in keinem Reisehandbuch verzeichnet steht, und die niemand kennt als ich.«

»In der Südsee?«

»Nein, im Bodensee.«

»Das wäre!«

Die Gesellschaft wurde neugierig, und unser Freund rückte unwillkürlich näher, obgleich seine Hoffnung auf einen Gewinn, den er in seinem Sinn einen geistigen hätte nennen können, schwach genug sein mochte.

Was ich jetzt beichtete, das habe ich seitdem einem kleinen, aber, wie sich von selbst versteht, gewählten Kreise ebenfalls erzählt. Nachdem ich jedoch in meinem gegenwärtigen Vortrage schon einmal die Schwachheit gehabt, statt des Teufels oder wenigstens eines klassischen Autors mich selbst zu zitieren, darf ich mir diesen allen Gesetzen der Literaturwelt hohnsprechenden Unfug nicht noch einmal beigehen lassen. Ich muß daher denjenigen ehrsamen Leser, der sich etwa hierher verirren sollte, ohne jener vertrauten Minderheit anzugehören, zu meinem Leidwesen auf seine eigene Gefahr nach der aufschlußgebenden Stelle, Band X, Seite Y, Zeile Zff., tasten lassen. Ob er sie nun findet oder nicht, – so viel kann ich ihm verraten, daß ich von der Silvestergesellschaft wegen meiner Beichte weidlich ausgelacht worden bin. Siehe das fünfte Buch der »Denk- und Glaubwürdigkeiten«.