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Auf brennendem Boden

Funkelnd und mit leisem Plätschern schaukelten die Wellchen um den Bug des winzigen Passagierdampfers. In einer halben Stunde sollte das fauchende kleine Ungetüm abfahren. Mit seiner protzigen heisern Stimme, die so wenig im Einklang zu seinem stolzen Namen »Bojarina« stand, verkündete es prustend und zitternd seine ernstgemeinte Absicht, die kurländische Hauptstadt Mitau zu verlassen.

Eine kühle Septembersonne schien aus hellbewölktem Himmel über das Prunkstück des Städtchens, das rosenrot getünchte, ehemalig herzogliche Schloß, blitzte nachdenklich um den hochaufragenden Trinitatiskirchturm, streifte die welken Kastanienblätter des Schloßparks und verlor sich zitternd in den kleinen, unruhig hüpfenden Wellchen des Aaflusses.

Am Landungsplatz tummelten sich geschäftig lettische Gepäckträger, schrien und zeterten ein paar Gemüsehändlerinnen auf einen jüdischen zerlumpten Burschen ein, der ihnen die halbwegs geleerten Marktkörbe über den wackelnden Dampfersteg getragen hatte und nun mit trotzig aufgeworfener Oberlippe aus fünf Kopeken mehr Trägerlohn bestand.

Ein paar jugendliche Lungerer standen, die Hände in den Hosentaschen, grinsend daneben. Aus der Rocktasche des einen lugte verräterisch ein Flaschenhals. Jetzt stießen sie einander an. »Ein richtiger deutscher Kungs!« sagte der eine halblaut. »Wohl so'n Baron. Sieh, was der für'n feinen Koffer hat! Oder ist's der hinkende Teufel selber; das linke Bein ist ihm ja zu kurz geraten. Und das da ist wohl das gnädige Fräulein Braut? Nu, ich, Jahn Kalning, hätt' mir eine frischere ausgesucht; dünn wie'n Brett!« Sie brachen in ein rohes Gelächter aus.

»Platz da!« sagte die ruhige Stimme des Herrn. Er trug einen grauen Überzieher und einen weichen Filzhut mit breiter Krempe. Seine Rechte stützte sich auf einen Stock mit silbernem Griff, in der Linken trug er einen Handkoffer. Er war soeben aus einer Droschke gestiegen, ihm folgte in einiger Entfernung eine junge Dame; ihres Gepäcks hatte sich der jüdische Bursche bemächtigt und drängte eilig vorwärts. Dabei stieß er den Herrn mit dem Koffer unsanft in den Rücken.

Ärgerlich drehte sich der Herr um; als er die biegsame Gestalt der jungen Dame erblickte, lüftete er den Hut und ließ ihr den Vortritt auf dem Brettersteg. Sie grüßte leicht und schritt an ihm vorüber. Er folgte.

»Eine Fahrkarte erster Klasse bis Annenburg!« sagte das Fräulein klar und bestimmt. »Wann sind wir in Annenburg?«

»Um fünf Uhr nachmittags!« war die Antwort des dicken, rotbäckigen lettischen Kapitäns. Er stand am Schalltrichter. »Fertig!« rief er dann in den Maschinenraum hinab.

Von kräftigen Bauernfäusten wurde der Brettersteg auf den Dampfer gezogen, noch einmal ertönte wütend und verdrossen zugleich der trompetenartige Ton der Dampfpfeife, und fauchend und prustend begann das Fahrzeug sich leise zu drehen.

So, als gewönne das häßliche kleine Dampfschiff durch die Bewegung allmählich ein wenig gute Laune wieder, stieß es jetzt noch einen heisern Schrei aus und paddelte in zorniger Geschäftigkeit stromaufwärts. Mitaus Häuserreihen strichen langsam vorüber, das Schloß, die Trinitatiskirche, die alte Mühle auf dem andern Ufer streckten sich neugierig, die Eisenbahnbrücke wölbte sich einige Momente über dem gedrungenen Schornstein des Dampfers, und links und rechts breiteten sich flache grüne Ufer mit bewaldeten Strecken vor den Augen der jungen Dame.

Sie stand in Gedanken versunken am Schiffsrand und blickte mit großen grauen Augen in die bläulichen Waldfernen. Sonnenschirm und Plaidriemen lagen auf der Bank; ihr Koffer nahm sich neben dem eleganten Gepäckstück des Herrn recht bescheiden aus, obgleich er viel größer war.

Hinter ihr, auf der gegenüberstehenden Bank, hatte sich der Herr niedergelassen. Er hielt sein offenbar steifes Bein von sich gestreckt und hatte seinen Spazierstock als Stütze daruntergeschoben. Seinen Oberkörper beugte er seitwärts vornüber und starrte über den Schiffsrand in das wirbelnde Wasser, das schäumend von dem Rade spritzte. Das glattrasierte ausdrucksvolle Gesicht mit dem blonden Haar erinnerte an den Kopf eines Schauspielers. Eine nervöse Falte aus der breiten Stirn vertiefte sich langsam; lässig stützte er den linken Arm aus den Schiffsrand und begann mit dem zweiten und dem kleinen Finger einen Triller aus der Holzbrüstung zu spielen.

Mit einem kleinen Seufzer hatte sich das junge Mädchen von dem gleichförmigen Landschaftsbilde abgewandt und Platz genommen. Ihr Blick streifte ihr Gegenüber und blieb amüsiert an den unentwegt forttrillernden Fingern haften. Dann schlug sie den grauen Schleier ihres Reisehütchens zurück, nahm aus der Tasche ihres Regenmantels ein Büchlein und begann zu lesen. Ihr zartes blasses Profil mit den feingeschwungenen dunklen Augenbrauen und dem beseelten Ausdruck hob sich weiß und leuchtend von dem Grün der Wiesen ab, an denen der kleine zornige Dampfer prustend vorüberschwamm. Sie mochte die allererste Jugend überschritten haben, ein energischer Zug um die schmerzlich zusammengepreßten Lippen verriet, daß sie das Sichbescheiden gelernt hatte.

Nun stolperte ein breitschultriger Mann herbei und fragte, ob die Herrschaften etwas zu speisen wünschten.

»Ich bitte um ein Glas Tee mit Zitrone«, sagte das Fräulein kurz.

»Eine Portion Kaffee mit Brot, Butter und Schinken«, bestellte der Herr.

Eine Viertelstunde später erschien das Schiffsfaktotum wieder mit einem Tablett aus der Schulter. In der Hand schleifte der Mann einen kleinen Tisch. »Befehlen Sie das Frühstück auf einem Tisch?« fragte er.

»Das hängt von der Dame ab. Ist's Ihnen recht, gnädiges Fräulein?« Der Herr war aufgestanden und verbeugte sich höflich nach dem jungen Mädchen hin.

Sie nickte.

Geschäftig trug der Schiffsdiener zwei Klappstühle herbei, deckte den Tisch und stellte das Tablett daraus. »Es ist angerichtet«, sagte er.

Die junge Dame stand auf. »Bitte!« sagte sie mit einer einladenden Handbewegung.

»Mein Name ist Ernst Philippi«, sagte der Herr verbindlich.

»Claire Schenkendorff.«

Beide setzten sich einander gegenüber.

»Wir scheinen ja die einzigen Passagiere erster Klasse zu sein. Das ist ein Ausnahmefall, denn sonst pflegt gerade der September die müßigen Städter zur Jagd aufs Land hinauszulocken. Auch die Landwirte und Gutsbesitzer sind heute merkwürdig seßhaft.«

»Aus dieser Bemerkung darf ich wohl schließen, daß Sie nicht zu den müßigen Städtern gehören, Herr Philippi,« sagte das junge Mädchen mit einem halben Lächeln, »auch daß Sie weder Landwirt noch Gutsbesitzer sind.«

»Das stimmt allerdings. Ein müßiger Städter bin ich nicht, doch habe ich auch keinen festen Beruf – wenigstens jetzt nicht«, verbesserte er sich. »Ich benutze daher meine freie Zeit zu einem Landbesuch bei einem alten Studiengenossen und Jugendfreunde.«

»Und ich«, sagte die junge Dame, »trete eine neue Stelle als Lehrerin an.« Sie seufzte.

Teilnehmend blickte er zu ihr hin. »Das klingt bei Ihrer Jugend seltsam.«

»O bitte, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt,« sagte sie einfach, »und an seltsame Wechselfälle bin ich gewöhnt. Dies ist bereits meine dritte Stellung. Das ist ja das Harte in unserem Beruf, daß man nirgends Wurzel fassen kann. Hat man sich einigermaßen in eine Familie eingelebt, so entwachsen die Kinder nur allzubald unsrer Leitung, und dann heißt es, sein Bündel schnüren und dieselbe Arbeit auf neuem Boden von vorn beginnen. Aber dies ist auch das letztemal, daß ich zu einer Familie ziehe,« fuhr sie energisch fort. »Ich habe nämlich in zwei Jahren die Anwartschaft auf eine feste Anstellung in einem Petersburger Institut, und dort will ich dann bleiben,« schloß sie befriedigt, nicht ohne einen Anflug von Selbstironie, »bis ich alt und grau werde!«

Er sah sie betroffen an. »Halten Sie denn die Aussicht für so erstrebenswert?« fragte er. »Das Arbeitsmaterial, die Schuljugend meine ich natürlich, wechselt ja auch von Klasse zu Klasse.«

»Aber dann habe ich doch ein dauerndes Heim!« rief das junge Mädchen mit glänzenden Augen. »Ich habe mein eigenes Zimmer, mein Zuhause, aus dem mich niemand vertreiben kann, mein eigenes Kopfkissen, meine eigenen Möbel!« Es klang beinahe triumphierend.

Armes Kind! dachte der Mann mitleidig. »Wie anspruchsvoll sind doch wir Männer im Vergleich dazu!« sagte er laut. »Ist solch ein bescheidenes Zukunftsbild nicht gar zu bescheiden? Ein eigenes Heim, wie Sie es sich ersehnen, habe ich schon längst, doch stelle ich mir unter meinem Heim etwas ganz andres vor. Eine liebe Frau, glückliche, gesunde Kinder – das ist's, was ich unter einem Heim verstehe.«

Sie lächelte fein. »Gewiß,« sagte sie, »warum sollten Sie nicht? Sie sind ja ein Mann.«

»Und ein Krüppel«, fügte er bedächtig hinzu.

Nun mußte sie hell auflachen. »Verzeihen Sie,« bat sie, »ich bemerkte vorhin, daß Ihr Knie ein wenig steif ist; da können Sie aber unmöglich das tragische Wort ›Krüppel‹ auf sich anwenden.«

»Und doch bin ich viele Jahre einer gewesen«, beharrte er ernsthaft. »Jahrelang habe ich sitzend in einem Rollstuhl verbracht. Die lustigen übermütigen Spiele einer Knabenjugend kenne ich nur aus der Anschauung, nicht aus persönlicher Erfahrung. Eine besondere Vergünstigung war es für mich, daß ich die oberen Gymnasialklassen im Rollstuhl durchmachen durfte. Ja, ich habe eine bittere Jugend hinter mir, und ich fühle, ich bin aus dem geradesten Wege, ein Sonderling zu werden.«

Die grauen Augen des Fräuleins leuchteten auf. »Ein Sonderling!« wiederholte sie leise. »So nennt mich meine Tante, die mich erzogen hat, schon seit Jahren. Eigentlich müßte ich ihr den Titel zurückgeben, denn ein sonderbareres Wesen als meine Tante habe ich nie gesehen. Freilich wurde mir das erst klar, als ich unter andre Menschen kam, und seitdem ich anfing zu vergleichen. Meine Mutter hab' ich nie gekannt, sie starb gleich nach meiner Geburt; meinen Vater hab' ich nur zweimal gesehen, auch er ist schon lange tot. Erzogen hat mich meine Tante Griseldis, und die war, so lange ich zurückdenken kann, Klassendame im Katharineninstitut in Petersburg. Steif, würdevoll, manieriert, von einer unendlichen befehlenden Höflichkeit des Benehmens war sie. › Vous aurez la bonté de vous lever à l'instant, Claire‹ – so pflegte sie mich morgens zu wecken. › Avez-vous débarassé votre coeur aux pieds du Seigneur?‹ – das war ihr Gutenachtgruß. Sie war die Ordnungsliebe und Pünktlichkeit in Person. Zärtlichkeiten durfte ich mir ihr gegenüber nur in unserem Stübchen erlauben. Vor den Schülerinnen hielt sie mich besonders streng, denn man sollte ihr nicht nachsagen dürfen, daß sie ihre Nichte bevorzugte. Ich war ein lebhaftes Kind, und als ich ihr einst mit ausgebreiteten Armen aus dem Schulkorridor entgegenlief und sie ungeschickt anrempelte, mußte ich eine Stunde lang nachsitzen. › Vous aurez la bonté de comprende, Claire‹, sagte sie mir später, › que je n'ose jamais faire des exceptions pour vous.‹ Aber leicht mochte es ihr nicht geworden fein, denn sie hatte damals Tränen in den Augen. Es war ja schon ein mächtiger Ausnahmefall, daß sie mich in ihrer Stellung bei sich behalten durfte. Zu meinen schönsten Erinnerungen gehören die Sommerferien, die ich mit Tante Griseldis in dem Hause einer befreundeten russischen Gutsbesitzersfamilie auf dem Lande zubrachte. Da lernte ich wirkliches Familienleben kennen. Da gab es große Gärten, Spielplätze, einen echten Tannenwald, Felder, Wiesen, Haustiere und wilde Knaben.«

»Haustiere und Knaben!« wiederholte Ernst Philippi lächelnd.

Sie errötete und lachte herzlich. »Sie haben recht zu spotten,« sagte sie, »aber denken Sie bloß, Haustiere und Knaben, das waren für mich armen Schößling eines Mädcheninstituts zwei gleich fernstehende Dinge. Außer einem lahmen Pensionskater gab es keine Tierseele in unserm Hause. Und Knaben ebensowenig. Wie oft habe ich mich nach einem Bruder gesehnt! Die kleinen Mädchen im Hause liebten ihre Brüder zärtlich und wurden von ihnen zwar gründlich geneckt, aber auch anderseits ritterlich beschützt.«

»In dieser Beziehung bin ich besser dran gewesen als Sie«, sagte Ernst Philippi; »ich habe zwei Schwestern, und sie haben mich auch in ihrer Art verzogen. Zum ritterlichen Beschützer taugte ich zwar nicht, doch habe ich ihnen stets ihre deutschen Aufsätze gemacht. So war ich doch zu etwas nütze.«

Ein bitteres Lächeln glitt über seine Lippen.

Erschrocken sah Claire zu ihm hin.

»An einem Kurorte – ich glaube, es war in Karlsbad –«, fuhr er fort, »war ich in einer Pension mit einem taubgewordenen Musiker zusammen. Etwas Herzzerreißenderes als das Lachen dieses armen Tauben habe ich nie erlebt. Er wollte doch auch einmal fröhlich sein, und hatte er nicht ein Recht darauf? Er war ja Mensch und seinen Anlagen nach ein reicherer Mensch als wir andern, denn trotz seines toten Gehörs vernahm er innerlich Musik, und so war er auch mit sich im reinen, solange er allein war. Unter Menschen aber schien er sich seines ganzen Jammers bewußt zu werden; da lachte er oft grundlos und zornig aus, oder wenn die andern fröhlich scherzten, saß er da mit zusammengezogenen Brauen und brütete finster vor sich hin, um dann plötzlich an unrechter Stelle zu wilder Heiterkeit überzugehen. Sie sehen mich verwundert an, mein Fräulein, und denken: Wozu erzählt er mir diese traurige Geschichte? Sie steht doch in keinem Zusammenhang mit diesem wohlsituierten Herrn. Und dennoch – das ist gewissermaßen meine Geschichte!«

»Ihre Geschichte?« Die Augen des jungen Mädchens wurden weit und groß.

»Gewissermaßen«, sagte ich. »Aber um Ihnen das zu erklären, müßte ich ziemlich weit ausholen. Mein Vater, ein griesgrämiger, strenger Mann, wünschte sich nach zwei Töchtern nichts sehnlicher als einen Sohn. In einem kräftigen, gesunden Träger seines Namens wünschte er ein altes Predigergeschlecht aufleben zu sehen, das in meinem Großvater erloschen war und seit drei Jahrhunderten mit Ehren bestanden hatte. Mein Vater selbst hatte es nur zum Apotheker gebracht. Mein Eintritt in die Welt war von einem bösen Vorzeichen begleitet, ich wurde mit einer gebrochenen Hüfte geboren. Die Hüfte wurde zwar geheilt, ich aber blieb ein schwächlicher, zarter Bub, und nach einem unglücklichen Sturz wurde ich ein Krüppel. Mein Bein war und blieb steif. Die strenge, düstere Atmosphäre meines Elternhauses reifte nur eine Sehnsucht in mir: den brennenden Wunsch nach Leben und Freude. Ich war einst im Theater gewesen, man hatte den ›Don Carlos‹ gespielt. Ich wollte Schauspieler werden – Schauspieler mit einem lahmen Bein!«

»Ich hielt Sie für einen Schauspieler«, sagte das Fräulein leise.

»Nun, um es kurz zu sagen, alles übrige dazu fehlte mir nicht: Stimme, Vortrag, Leben und das angeborene geheimnisvolle Etwas, das den Künstler macht. Ich lernte gut und leicht, ich hatte unzählige Rollen im Kopf und unterzog mich willig den schmerzhaftesten Kuren. ›Laßt dem Jungen seinen Spleen,‹ sagte meine sanfte Mutter. Sie wußte nicht, wie grausam diese Sanftmut war. So wiegte ich mich immer tiefer in meinen Glückstraum ein. Konnte ich erst gehen und stehen, so gab es vielleicht eine Möglichkeit, die Steifigkeit meines Beines zu verdecken. Ich machte ein gutes Abiturium, und dann – ja, dann kam das bittere Erwachen. ›Ich bin mit dir zufrieden, mein Sohn‹, sagte mein wortkarger Vater in seiner strengen Art, und es klang so, als verkündige er mir eine bittere Strafe. ›Es ist an der Zeit, daß du dir die dummen Schauspielerflausen aus dem Kopf schlägst. Ein lahmer Schauspieler, das ist ein Unding, und ein Rollenfach für Lahme wie ein Helden- oder Liebhaberfach gibt's einfach nicht. Dagegen bist du als Theologe am besten gegen dein Ungemach gewappnet, du kannst es seelisch und geistig überwinden und dir eine hervorragende, angesehene Stellung schaffen. Zudem weißt du, es ist mein Herzenswunsch, daß die unterbrochene Reihe der Theologen unsrer Familie in dir eine würdige Fortsetzung finde.‹ So mein Vater. Und ich muß ja zugeben, daß er von seinem Standpunkt recht hatte. Aber er rechnete nicht mit dem heißen zurückgedrängten Künstlertriebe eines leidenschaftlichen Jünglings. Ich fiel in eine tiefe, schwere Bewußtlosigkeit, und als ich erwachte, war ich ein gebrochener Mensch. Ich studierte Theologie, ich ward ein Musterknabe; ich tat alles, was man von mir verlangen konnte, ich machte sogar ein Examen um das andre – aus Pflichtgefühl, ohne jegliche Freude an meiner Wissenschaft, machte sogar meinen Kandidaten und trat auf die Kanzel zur Probepredigt. Doch da wurde mir das Ungeheure klar, das ich zu begehen im Begriff war: ich wollte die Kanzel zu einem Beruf mißbrauchen, den ich nicht in mir fühlte. Ich erklärte meinem Vater meinen Zwiespalt. Er konnte oder wollte mich nicht verstehen, und da kam es so weit, daß ich ihm, dem Erben einer Theologengeneration, auseinandersetzen mußte, daß mir die Kanzel zu heilig sei, um sie zum Piedestal meines bürgerlichen Vorwärtskommens zu erniedrigen. Es gab einen Riß zwischen ihm und mir, und ehe der verheilte, traf ihn der Schlag und er starb.«

Leise und monoton hatte Philippi gesprochen. Trübe fuhr er fort: »Was bin ich jetzt? Ein Theologe ohne Beruf! Ein Künstler ohne das primitivste Handwerkszeug – ein Krüppel, nicht nur am Körper, ein Krüppel auch an der Seele – der Erbe und Kummer meines verstorbenen Vaters, die Enttäuschung meiner Familie – – eine traurige Mißgeburt also!« Er lächelte bitter. Unablässig schlug er seinen Triller auf der Tischplatte.

»Sie sind ein ehrlicher Mensch!« sagte plötzlich die Stimme der jungen Dame fest und laut. »Und das sind nicht viele!«

Er blickte auf. Das junge blasse Mädchengesicht ihm gegenüber leuchtete von Wärme und Mitgefühl. Die dunklen Härchen über den kleinen Ohren zogen sich kraus zusammen und glänzten in der Sonne. In diesem Augenblick war sie schön.

Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen«, sagte er einfach. »Es ist mir lieb, daß Sie eine gute Meinung von mir haben, obwohl« – er lächelte sarkastisch – »das Ehrlichsein noch herzlich wenig sagen will.«

Sie schien nicht hinzuhören, denn plötzlich und unvermittelt fragte sie: »Haben Sie den Rezitator Türschmann gehört? Er war blind.«

»Gehört nicht, aber in Mitau auf der Straße gesehen. Wie kommen Sie auf den?«

»Man hat manchmal seltsame Ideenverbindungen«, sagte sie und stand auf. »Ob die Uhr bald fünf ist?« fragte sie in gänzlich verändertem Tone.

Er zog die Uhr. »Zehn Minuten nach vier«, sagte er und sah schmerzlich betroffen zu ihr hin.

Wie stand sie ihm plötzlich kühl und unnahbar gegenüber, sie, der er soeben sein zuckendes Innenleben offenbaren konnte! Was war mit ihr vorgegangen? Hatte er sie durch irgendein hingeworfenes Wort verletzt? Was hatte er denn gesagt? In Gedanken wiederholte er sich die Wendung, die das Gespräch genommen hatte.

»Verzeihen Sie,« begann er wieder, »wie kamen Sie auf Türschmann?«

»Nun, das ist doch sonnenklar«, sagte sie. »Das ist auch ein Mann gewesen, dessen großes schauspielerisches Talent in der Blüte seiner Kraft durch Blindheit gebrochen war. Da wurde er eben Rezitator. – Es ging eine dämonische Kraft von ihm aus«, fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Seine Frau begleitete ihn auf seinen Vortragsreisen. Man sagt, sie lese ihm die Dramen so lange vor, bis er sie könne. Was muß das für eine bewunderungswürdige Frau sein!« murmelte er in Gedanken versunken.

Eine rasche Antwort unterdrückend, sagte das junge Mädchen mit leisem Spott: »Sie hätten in ähnlichem Fall eine Frau nicht nötig; Sie können ja sehen.« Dann nahm sie ihr Büchlein wieder auf und fuhr fort zu lesen.

Nachdenklich setzte sich Ernst Philippi auf seinen früheren Platz. Eine trübe Stimmung war leise über ihn gekommen Verstohlen betrachtete er das junge Mädchen. Ihr schmaler Fuß mit dem hohen Blatt bewegte sich nervös wippend auf und nieder. Ihre ganze seine, zierliche Gestalt hatte etwas von der geschlossenen Elastizität eines jungen Rehs. Die kleine Hand mit dem bläulichen Geäder hielt das Büchlein, und an der Bewegung ihrer Lider sah er, wie schnell sie die Zeilen überflog.

»Schif–fe, die nachts sich be–geg–nen«, buchstabierte er mühsam zusammen. Ob sie auch schon ihrem Schiff begegnet ist? fuhr es ihm durch den Sinn. In der Mädchenpension – ha ha! Aber später vielleicht auf ihren beiden Stellungen. Wer kann's wissen? Er starrte gedankenvoll auf die vorbeifliegenden grünen Ufer, und ein unerklärliches Gefühl legte sich ihm schwer auf die Brust. Eine Ziegelbrennerei mit hohem Schlot erhob sich vor ihm, graugrünes Weidengebüsch, ärmliche Niederlassungen, ein paar saubere lettische Ziegelhäuser ... Schiffe, die nachts sich begegnen, summte es in ihm fort. Warum auch nicht tags? Schiffe, die tags, die heute sich begegnen!

Er zuckte zusammen, ein freudiger Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Ein weites großes Glücksgefühl erhob sich in seiner Seele. Impulsiv stand er auf und machte einige Schritte zu seiner Reisegefährtin hin. Erstaunt blickte sie auf.

»Ich danke Ihnen«, begann er bewegt, »für die schönen Stunden unsers heutigen Zusammenseins. Ich habe noch nie so ehrlich mit jemandem von mir selbst geredet. Es war mir Bedürfnis, Ihnen das zu sagen, Fräulein Claire – – Claire!« rief er.

Ihm war, als sähe er einen breiten glänzenden Strom vor sich und stände er auf einer schwebenden Brücke, unter sich den glitzernden Strom ...

Sie sah ihn ruhig an, und der glitzernde Strom versank in ein Nichts, die schwebende Brücke verschwand. Er stand auf einem kleinen zornig schnaubenden Dampfer, und vor ihm saß eine junge wohlerzogene Dame, die eine neue Gouvernantenstellung antrat, und las in einem Buche: »Schiffe, die nachts sich begegnen«, und er war ein lahmer Theologe, ein gebrochener Mann ...

Eine dunkle Röte der Verlegenheit flog über ihre Stirn. »Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll, Herr Philipp! – ich ... ich danke Ihnen für das Vertrauen, ich spreche mich auch ungern über mich selbst aus; heute tat ich es, und Tante Griseldis hätte sich sicher sehr über mich gewundert.«

Da hob er die Hände. »So lassen Sie um Gottes willen Ihre Tante Griseldis aus dem Spiel!« sagte er fast heftig. »Was hat diese würdige Dame zwischen Ihnen und mir zu schaffen?«

Erkältet, verletzt sah sie ihn an. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie kühl. Die warme Stimmung zwischen ihnen war verflogen.

Er verstand sich selbst nicht mehr. Halte, halte das Glück! rief es in ihm. Vergebens – es zerstob ihm unter den Fingern wie perlendes glänzendes Wasser. Mit einer steifen Verbeugung sagte er: »Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich unterbrach Sie in Ihrer Lektüre.«

»Oh – tut nichts«, sprach sie mit konventionellem Lächeln und sah in ihr Buch hinein. Aber um ihre Mundwinkel zuckte es wie bei einem kleinen Kinde, als wollte sie weinen.

Er setzte sich steif aus seinem Platz zurecht und starrte ins schäumende Wasser. Wirbelnd und mit unheimlicher Geschwindigkeit tanzten sein zweiter und kleiner Finger ein Presto con fuoco auf der Geländerbrüstung.

So saßen sie beide in düsterm Schweigen. Das stoßweise Klappern des Schiffsrades schlug den Takt dazu ...

Claire wandte eine Seite ihres Büchleins um die andre, sie las mechanisch, plötzlich aber mußte sie eine Stelle darin gefesselt haben, sie überlas sie noch einmal, und sacht fuhr ihre Hand in die Tasche ihres Mantels und brachte ein Tüchlein hervor. Verstohlen wischte sie sich die Augen. Plötzlich stand sie aus und ging in die enge Kajüte hinunter.

Sie blieb lange unten. Endlich vernahm sie, daß das Dampfrad langsamer und wie in giftigem Zorn lauter aufschlug, die schrille Dampfpfeife kreischte dröhnend, und ruhiger schüttelte das griesgrämige Fahrzeug aus ein grünes Ufer los.

Vor dem winzigen Kajütenspiegel strich sich Claire die Haare zurecht, zog den Schleier herab und eilte die Treppe hinauf. »Sind wir schon in Annenburg?« fragte sie mit unbewußter Steifigkeit.

»Dies ist Garosen, eine Station vor Annenburg,« erwiderte Ernst Philippi höflich. Ihn schien der winzige Flecken mehr zu interessieren als seine Reisegefährtin.

Der Steg wurde hastig auf das Ufer geschleudert, hin und wieder ertönten lettische Zurufe, das Schiffsfaktotum setzte einige Körbe mit Kohl und Kartoffeln ans Land, dann erschien eine dicke ältliche Dame, erhitzt und mit einer halboffenen ledernen Reisetasche, und begab sich auf das Deck der ersten Klasse. Ihr folgte ein schüchterner junger Mann, er trug einen Handkoffer.

»Daß Sie das nicht wissen,« begann die Dame laut und ungeniert, »daß Pastor Berger der beste Prediger weit und breit in der Runde ist! Ja, wo haben Sie denn Ihre Ohren?«

Claire horchte auf.

»Ich bin ja erst seit kurzem hier in der Gegend, gnädige Frau,« stotterte der junge Mann, über und über errötend, »da hab' ich noch nicht Gelegenheit gehabt, Pastor Berger zu hören.«

Ernst Philippi zog ein verzwicktes Gesicht. Ihn schien die Unterhaltung höchlich zu amüsieren. »Also Pastor Berger erfreut sich eines so vorzüglichen Rufes als Redner«, mischte er sich in das Gespräch. »Das freut mich, ich kenne ihn von Dorpat her.«

»So?« sagte die dicke Dame eifrig. »Wie interessant! Aber nicht nur als Redner sucht Pastor Berger seinesgleichen, sondern fast mehr noch als Mensch. In diesen unruhigen Zeiten, wo die revolutionären Hetzer ihr möglichstes tun, um das Ansehen der Deutschen und der Pastoren zu untergraben, hat er sich eine feste Stellung geschaffen und ist in seiner lettischen Gemeinde als Deutscher allgemein beliebt. Das will schon etwas sagen. Schade nur, daß er sich an diese geschiedene Frau gehängt hat!« Die dicke Dame pustete und warf einen beschwörenden Blick gen Himmel.

»Er soll aber doch überaus glücklich mit ihr sein!« warf Philippi ruhig ein.

»Ja, wissen Sie,« fuhr die Dame eifrig fort, »was bleibt ihm denn andres übrig? Hat man A gesagt, muß man auch B sagen. Mit diesem Menschen ist's kein Kunststück, glücklich zu werden.«

»Vielleicht aber wohl eins, ihn glücklich zu machen!«

»Ach herrje!« erhitzte sich die Dame immer mehr. »Wir haben hierzulande so nette, liebenswürdige Mädchen – die wären selig, einen solchen Mann bekommen zu haben. Da sind zum Beispiel gleich die Freundinnen meiner Tochter – reizende Mädchen, sage ich Ihnen, und so gescheit.«

»Ihrem Fräulein Tochter fehlt's doch auch gewiß nicht an Gaben,« bemerkte Ernst Philipp! lächelnd.

Die Dame stutzte. »Wieso denn? Kennen Sie Eveline?«

»Ich habe nicht die Ehre, Fräulein Eveline zu kennen,« sagte Ernst Philippi mit seinem verbindlichsten Lächeln, »aber es ist eigentlich selten, daß eine Mutter die Vorzüge der Freundinnen ihres Fräulein Tochter hervorhebt und diese selbst unerwähnt läßt.«

Die dicke Dame wurde rot. Sie wußte nicht recht, sollte sie diese Worte übelnehmen oder sich geschmeichelt fühlen? Sie entschloß sich zu dem letzteren. »Ja, meine Tochter ist ein tüchtiges Mädchen«, sagte sie mit zufriedener Behäbigkeit, »und so häuslich. Freilich,« fuhr sie giftig fort, »ein Schöngeist wie die Frau Pastorin Berger ist sie nicht, die malt ja und soll sogar schriftstellern! Weiß der liebe Himmel, wo sie dazu die Zeit hernimmt – wenn man seinem Mann zwei Kinder als einzige Mitgift in die Ehe gebracht hat ... Na, vom Wirtschaften hält die ja wohl überhaupt nicht viel.«

»Wenn der Pastor nur zufrieden ist, das ist doch für meine Kusine die Hauptsache.«

Die Dame starrte ihn entgeistert an, ihr Mund öffnete sich weit vor Schreck. »Ihre Kusine ...? Die Frau Pastorin Berger Ihre Kusine, mein Herr?« stotterte sie. »Wai, ich will ja nichts gesagt haben – der eine hat diese, der andre jene Geschmacksrichtung, nicht wahr? Der eine liebt zu wirtschaften, der andre mag eben schriftstellern – wie ein jeder kann.« Sie warf beleidigt die Lippen aus und wandte sich angelegentlich ihrem schüchternen Nachbar zu.

Philippi war aufgestanden und zu Fräulein Schenkendorff getreten. »Dort, jenes massive dunkle Gebäude ist der Annenburgsche Krug«, sagte er. »Ob uns das Leben jemals wieder zusammenführt, gnädiges Fräulein?«

Scheu blickte sie ihn an. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, möchten Sie die Befriedigung finden, die Sie das Verfehlte Ihres Lebens vergessen macht!« sprach sie leise.

»Das ist ein guter Wunsch, mein Fräulein!« sagte er warm. »Ich meinerseits wünsche Ihnen, daß Sie sich in Ihrer neuen Stellung so wohl fühlen, daß Sie Ihre Zukunftsträume im Katharineninstitut vergessen.«

»Das werde ich nie!« rief sie kampfbereit. »Was bleibt mir denn besseres übrig?« fügte sie resigniert hinzu.

»Also, ich wünsche Ihnen das Bessere«, sagte er bedeutungsvoll und schüttelte kräftig die kleine Hand.

Sie standen noch eine Weile nebeneinander. Schrill und verdrießlich verkündete die Dampfpfeife, daß das Endziel erreicht sei. Der Dampfer machte eine hastige unelegante Schwenkung, wie eine korpulente bäuerliche Tänzerin, und legte, merklich sanfter geworden, beim massiven Annenburgschen Brettersteg an. Ein unsanfter Ruck – da hielt er; eine Tauschlinge flog über den eingerammten Pfosten.

Ernst Philippis Blicke schweiften suchend über die zusammengedrängten Fuhrwerke am Landungsplatz. »Ah!« sagte er befriedigt, »ich sehe schon meinen Wagen. Es sind übrigens nur zwei herrschaftliche Kutschen da.«

»Ist ... ist Frau Pastorin Berger wirklich Ihre Kusine?« fragte Claire plötzlich.

Er sah sie lächelnd an. »So ungefähr, wie Sie meine Kusine sind, gnädiges Fräulein. Ich wollte nur der guten Klatschbase das Lästermaul stopfen.«

»Das ist Ihnen prächtig gelungen!« rief Claire herzlich. »Also leben Sie recht, recht wohl!« Sie ergriff ihr Handgepäck und schritt leichten Ganges über den Steg, er folgte mit seinem Koffer.

»Ich bringe Ihnen Ihren Koffer nach!« rief er und kehrte wieder auf das Dampfboot zurück.

Ratlos sah Claire sich um, dann eilte sie auf einen Wagen zu. Er war mit zwei flinken Füchsen bespannt. Der jugendliche Kutscher trug keine Dienerkleidung, aber eine neue blaue Mütze.

»Pastorat Kronenthal?« fragte Claire.

»Ja, ja.« Der Kutscher zog grüßend die Mütze und zeigte zwei Reihen gesunder Zähne.

»Ich kann nicht Lettisch«, sagte Claire freundlich. »Noch einen Koffer hab' ich, der Herr dort bringt ihn.«

Sie stieg in den Wagen, der Kutscher sprang vom Bock und eilte ihrem Reisegefährten entgegen.

»Ei, Granting,« sagte Ernst Philippi vergnügt, »Euch scheint's ja gut zu gehen. Ihr seid ja ordentlich breit geworden. Wie steht's denn im Pastorat? Alle gesund – was?«

»Alle sind gesund und lassen schön grüßen,« grinste Granting erfreut. »Haben der Herr eine gute Fahrt gehabt?«

»Alle Wetter, gnädiges Fräulein!« rief Ernst Philippi. »Das ist ja mein Wagen! Wo fahren Sie denn hin?«

»Nach Kronenthal, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Na, da hört aber verschiedenes auf!« platzte Ernst Philippi lachend los. »Erst nehmen wir da feierlichen Abschied voneinander auf Lebenszeit, um nachher in demselben Wagen an denselben Bestimmungsort zu fahren. Das ist ja ausgezeichnet! Oder fahren Sie etwa aufs Gut Kronenthal?«

»Ich fahre ins Pastorat zu Pastor Berger«, erwiderte Claire belustigt, »und Sie vermutlich auch. Das ist aber komisch!«

»Das ist mehr als komisch, das ist Bestimmung!« sagte Ernst Philippi ernsthaft. »Schiffe, die nachts sich begegnen – kennen Sie vielleicht zufällig dieses Büchlein?«

Sie wurde glühend rot. »Es war heute meine Reiselektüre,« sagte sie ohne einen Versuch auszuweichen.

Das freute ihn. Er reichte ihr vergnügt die Hand und stieg ein. »Also auf eine gute Weiterfahrt!« sagte er herzlich.

Die stattlichen Pferde zogen an. Claire bemerkte noch, wie sich eine schwielige Bauernfaust drohend erhob, und wie ein paar verwilderte Köpfe grimmig nach ihnen hinblickten.

»Man scheint uns Deutschen auch hier nicht sehr gewogen«, sagte sie ernsthaft.

Er zuckte die Achseln. »Das ist das Werk der berufsmäßigen Hetzer und Wühler,« sagte er. »Wir gehen einer schweren Krise entgegen. Das Deutschtum, das sich nach einer siebenhundertjährigen Kulturarbeit hier festgesetzt hat, wird sich seines alten Rechts noch zu wehren haben, und sei es mit den Waffen.«

»Sollte es soweit kommen?« flüsterte sie.

»Es ist schon zum Teil soweit gekommen. Die Unsicherheit in den Städten nimmt täglich zu, auf dem flachen Lande rotten sich in den Krügen und bei den Gemeindeschullehrern junge unreife Köpfe zusammen, halten sozialdemokratische Brandreden und versprechen dem mißleiteten Volk goldene Berge, sobald sie die Deutschenherrschaft abgeschüttelt haben. Einen Prügelknaben für soziale Mißstände muß man haben, folglich ist der Deutsche das gesuchte Objekt. Direkt gegen die Regierung sich auflehnen, ist ein allzu gefährliches Experiment, das ist Landesverrat; da müssen denn die baltischen Barone und Pastoren herhalten. Auf Wahrheit kommt es diesen Hetzern nicht an, die wird beliebig gebogen und gebrochen, und so erfinden sie die schauerlichsten Geschichten, die nur allzu gern geglaubt und nachgesprochen werden. Liest man die lettischen Hetzblätter, so sollte man meinen, unser Bauer seufze unter einem unerträglichen Joch, und dennoch ist er erwiesenermaßen unvergleichlich besser gestellt als der russische Bauer mit seinem Parzellensystem. Aus meiner Knaben- und Studentenzeit – ich war damals auf dem Lande – weiß ich noch recht gut, wie freundschaftlich, ja geradezu patriarchalisch oft das Verhältnis zwischen dem baltischen Adel und der Bauernschaft war. Aber es gärt ja in ganz Rußland, der unglückselige Krieg hat das übrige getan, die Bestechlichkeit der russischen Beamtenwirtschaft ist geradezu sprichwörtlich, und es ist so einfach und bequem, die Deutschen, die ja nie in Rußland ganz heimisch geworden sind, wenigstens hierzulande für die allgemeinen Mißstände verantwortlich zu machen. Der Deutsche steht zwischen Russen und Letten isoliert und hilflos da, folglich heißt es: Nieder mit den Deutschen!«

Claire hatte aufmerksam zugehört. »Ja, aber verzeihen Sie,« warf sie ein, »die baltischen Deutschen sind aber auch von einer unerträglichen Anmaßung. Ich darf das ja sagen, da mein Vater Livländer ist. Wenn man in Petersburg eine hochmütige Person bezeichnen wollte, so sagte man kurz und bündig: so hochmütig wie eine baltische Baronin. Das ging selbst bis in die Hofkreise hinauf. Ich habe ja auch viel mit russischen Aristokraten verkehrt. Da hieß es niemals: Wer oder was war Ihr Vater? Hier aber in den Ostseeprovinzen ruhen die Leute nicht eher, als bis sie Sie um ihren Stammbaum befragt haben, die Persönlichkeit genügt ihnen nicht; und haben sie das festgestellt, dann richten sie ihr Benehmen danach ein. Das ist doch empörend, und die Russen sind darin viel großzügiger, viel menschlicher, möchte ich sagen.«

»Sie vergessen, daß wir Balten allesamt Kleinstädter sind. Eine gewisse konservative Engherzigkeit liegt in dem Wesen des Kleinstädters.«

»Es gibt auch russische Kleinstädter.«

»Nun, die sind auch danach! Übrigens bin ich weit entfernt, die Fehler der Balten zu leugnen.«

»Das freut mich!« rief Claire mit glänzenden Augen. »Sehen Sie, in meiner vorigen Stellung – es war bei einem kurländischen Baron bei Libau – sah ich einen gebildeten jungen Mann, einen Letten, wieder, den ich bei meinen russischen Freunden auf dem Lande getroffen hatte. Er war Verwalter und ein sehr tüchtiger Mensch. Wie höflich und rücksichtsvoll behandelten ihn die Russen, wie hochmütig und von oben herab die deutsche aristokratische Familie! So etwas muß doch erbittern. Man sprach von ihm nicht anders als »der Kerl« oder »der Bauernjunge«, während die russische Familie ihn in seiner Abwesenheit immer höflich Peter Petrowitsch nannte.«

»Das sind Einzelfälle«, sagte Ernst Philippi. »Bedauerliche Einzelfälle gibt es überall.«

»Ich muß Ihnen widersprechen«, fuhr das junge Mädchen fort. »Der betreffende junge Mann hat aus einer Reihe von Erfahrungen den gleichen Schluß gezogen wie ich, und er ist doch hierin sachkundig.«

»Gewiß, das ist er, und ich will Ihnen zugeben, daß wir hartnäckige, eingewurzelte Fehler haben. Wer hat sie nicht? Auf die Schwächen des Gegners gründet sich ja jede Politik. Und auch einen andern Vorwurf kann ich uns Balten nicht ersparen: wir hätten vor Jahrhunderten bereits die Letten germanisieren sollen, dann hätten wir jetzt eine Schutzwehr, ein Volk hinter uns. Nun aber warteten wir human und lässig, bis die Regierung sie uns russifizierte. Die jungen Streber sogen in russischen Schulen antigermanische Ideen ein, die Söhne lettischer Bauern und Wirte trugen sozialistische, ja regierungsfeindliche Pläne in den unreifen Köpfen mit heim und wurden in ihrer traurigen Halbbildung von ihren Vätern als Wunder der Gelehrsamkeit angestaunt. Die russischen Lehrer sympathisierten selbst zum großen Teil mit diesen sogenannten »Freiheitsbestrebungen«, und so wuchs eine halt- und marklose Generation heran, hin und her geschleudert zwischen menschenfreundlichem Volksbeglückungswahn und frecher Unbotmäßigkeit. Das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern existiert nur noch als Sage, und Frechheit und Halbheit regieren die Welt. Oh, wie weit, wie unendlich weit sind wir von der maßvollen Freiheit der alten Griechen und Römer! Nur der, der gehorchen gelernt hatte, durfte zu befehlen wagen.«

Ernst Philippi hatte sich in Eifer geredet. Gespannt hörte Claire zu.

»Ich habe mich bisher wenig um Politik gekümmert«, sagte sie. »Wir Balten sind eigentlich keine Politiker.«

»Aber treue Untertanen und ehrenwerte Männer«, sagte er. »Haben Sie jemals gehört, daß sich in Dorpat, solange man uns unsre deutsche Sprache ließ, Nihilisten oder Sozialdemokraten breit machten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und jetzt!« sprach er weiter. »Was ist aus dem blühenden Städtchen geworden? Unsre Aula ein Versammlungsort für politische Brandredner, unsre stillen Straßen voll verwilderter, halb verhungerter russischer Studenten! Die medizinische Fakultät, früher eine Blüte der Wissenschaft, gilt jetzt nichts mehr. Unsre Mediziner der siebziger und achtziger Jahre brauchten in England kein neues medizinisches Examen zu bestehen; jetzt genügt das »Jurjewsche« Examen nicht mehr, sie müssen es in England noch einmal machen. Unsre tüchtigen deutschen Professoren – wo sind sie hin?« Er seufzte und blickte schwermütig in die friedlich dämmernde Landschaft hinein.

Eine Windmühle mit riesigen Flügeln erhob sich wie ein dunkles Gespenst auf der Wiese. Schattenhaft glitten die gewaltigen Flügel im Kreise herum wie eine gespenstische unentrinnbare Notwendigkeit. Die Ruhe der Umgebung hatte etwas Furchteinflößendes. Weit, weit, wohin das Auge reichte, bläuliche Waldzüge und stille schlummernde Stoppelfelder.

Der Kutscher wandte sich um. »Bitte, Herr, muß man die Wagenlaterne anzünden?« fragte er in lettischer Sprache.

»Ich meine, es ist noch hell genug; aber ganz, wie Ihr wollt, Granting. Es wird empfindlich kühl.«

Claire hatte sich erhoben und schnallte ihren Plaidriemen auf. Ernst Philippi wollte ihr dabei behilflich sein, aber ehe er sich's versah, hatte sie den Plaid um seine Schultern gehängt.

»Aber nein,« wehrte er, »das geht nicht an!«

»Seien Sie hübsch artig,« lachte sie, »einer Gouvernante muß man gehorchen.«

»Für mich sind Sie etwas anderes,« sagte er warm. »Aber Ihren Plaid nehme ich doch nicht. Das wäre ja allerliebst – und Sie sollte ich frieren lassen!«

»Aber mich friert durchaus nicht,« versicherte sie, »fühlen Sie nur meine Hand, sie ist ganz warm.«

Er nahm die kleine nervige Hand und drückte einen Kuß darauf.

Sie zog sie hastig zurück und wurde über und über rot.

»Wissen Sie, daß ich heute auf dem Dampfschiff im Begriff stand, Ihnen eine Liebeserklärung zu machen?« sagte er unvermittelt.

Ihr Herz schlug heftig. »Warum taten Sie es nicht?« sagte sie äußerlich ruhig.

Er zuckte zusammen. »Mein Gott, Claire – durfte ich denn? Nach dreistündiger Bekanntschaft – und ich eine unfertige Existenz – ein Krüppel ... ich hab' zu viel Achtung vor Ihnen.«

Sie lächelte leise und schwieg.

Immer dunkler wurde die Dämmerung. Über den fernen Waldrand glitt langsam ein großer kupferroter Mond. Schnell rollten die Räder über die glatte Fahrstraße.

Er faßte ihre Hand. »Sie waren nicht ermutigend, Claire.«

»Sie kommt, und sie ist da,« flüsterte sie.

»Claire!« jauchzte er ungläubig. »Claire?«

Es kam keine Antwort. Langsam rannen zwei Tränen über ihre Wangen.

Und wieder stand er auf der schwebenden Brücke, und unter ihm rauschte der blinkende Strom. Nahe, ganz nahe, in greifbarer, fühlbarer Nähe. Mein, mein das Glück! jubelte es und wogte es in ihm. Er schlang seinen Arm um sie; sie widerstrebte einen Moment, dann sank sie an seine Brust.

Beide wurden von einem Glücksgefühl durchrieselt.

Das Mädchen ermannte sich zuerst. Sie richtete sich wieder auf und strich mit der Hand über die Augen. »Es ist wie ein Traum«, murmelte sie; »aber wir dürfen nicht träumen. Ja, ich bin Ihnen gut«, fuhr sie mit erstickter Stimme fort. »Großer Gott, wie schnell ist das gekommen! Das ist meine ehrliche Antwort, aber ich bitte, sprechen Sie mir nicht mehr davon, bis ... bis ... Ich gehe einem neuen schweren Beruf entgegen, und ich muß meine ganze Kraft zusammenhalten.«

»Claire!« rief er in ehrlicher Bewunderung, »Sie sind ein herrliches Mädchen!«

»Ich bin nüchtern und vernünftig,« erwiderte sie, »so werden wir Gouvernanten.«

Nun beugte er sich wieder über ihre Hand und küßte sie. »Mein tapferer Freund!« sagte er leise. »Dank! Dank!«

Sie saßen in wortlosem seligem Schweigen. Das Glück war ihnen beiden zu groß und plötzlich gekommen, und sie waren des Glücks nicht gewöhnt. Wie ein stilles, unberührtes Wasserbecken, in das sich plötzlich eine Sturzwelle ergossen hat, Zeit braucht, um die wirbelnden Wasser entströmen zu lassen und zu seiner ursprünglichen Klarheit und Stille zu kommen, so mußten diese beiden Seelen, die sich bis auf den Grund erschüttert fühlten, harren, schweigen und sich klären.

Nach einer langen Pause fragte er: »Was war Ihnen heute, Claire, als ich sagte, daß Ehrlichsein zu den Selbstverständlichkeiten eines anständigen Menschen gehöre? Sie wurden plötzlich kalt und fremd gegen mich.«

»Was mir war?« fragte sie mit verändertem Ton. »Muß ich Ihnen das sagen?«

»Nur wenn Sie wollen, Claire.«

»Es fällt mir schwer, aber Sie sollen's wissen. Ich bin einmal unehrlich gegen einen Menschen gewesen, und da fragte ich mich, ob ich mich ohne weiteres zu den anständigen Menschen zählen dürfe, denen Ehrlichsein so selbstverständlich ist.«

»Und was antworteten Sie sich?« fragte er mit leisem Lächeln.

»Ich sagte mir, daß ich damals noch sehr jung war, und daß ich seitdem ehrlicher geworden bin.«

Jetzt lastete ein andres Schweigen auf ihnen. Es war bleiern und schwer. Claire fühlte ihr Herz pochen. Trapp, trapp, liefen die Pferde in gleichmäßigem Schritt.

»Betraf es jenen lettischen Verwalter?« fragte Ernst Philippi plötzlich.

»Ja,« flüsterte sie. »Er liebte mich, und – das machte mir Spaß. Ich quälte und neckte ihn, und als er mir seine Liebe gestand, lachte ich ihn aus und gab ihm einen Korb. ›Ich bin ja nur ein Lette‹, sagte er mir da, ›mit einem Herrensohn hätten Sie nicht zu spielen gewagt.‹ Ich weinte und bat ihn um Vergebung. An Rassen- und Standesunterschiede hatte ich nie gedacht, ich war ja noch ein halbes Kind. Er aber ging von mir in bitterem Groll und vergab mir nicht. Seitdem bin ich ernst und ehrlich geworden und erlaube auch niemandem, mit mir zu spielen.«

»Claire!« rief er bittend.

Sie lächelte und lehnte sich in den Wagen zurück. Sie war sehr bleich. Leise stahl sie ihre Hand in die seine und drückte sie.

Hastig und schnell atmend sprach sie weiter: »Sollte es jemals – anders zwischen uns werden, so – das sollen Sie ein für allemal wissen – so habe ich Ihnen nichts zu vergeben. Wir gehen dann still und einfach ohne Brücken auseinander, wie wir zusammengekommen sind. Versprechen Sie mir das?«

Er preßte die kleinen warmen Hände immer wieder an seine Lippen. »Und das Stübchen im Katharineninstitut?« fragte er mit einem jähen Umschwung seiner Stimmung und lächelte übermütig.

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Das mag ruhig auf mich warten,« sagte sie, »vielleicht lande ich doch noch einmal in seinem sichern Altjungfernheim.«

»Jetzt muß ich noch etwas sagen,« murmelte Ernst Philippi, »sonst wird mir nicht ganz wohl.«

»Was denn?«

»Geliebte ... ich liebe dich!« flüsterte er.

»Sst!« machte sie und legte ihm zwei Finger auf den Mund. »Wir sprechen vorderhand nicht mehr davon.«

Ein hoher ernster Föhrenwald schlug über den Reisenden zusammen. Weich und warm duftete ihnen die würzige Waldluft entgegen. Es war dunkel, und nur ein Streif des besternten Nachthimmels zwischen den stolzen Bäumen folgte den Windungen des schmalen Weges. Über knorrige Wurzeln und durch tiefe Regenlachen ächzte der Wagen, stolperten die müden Pferde. Granting ließ sie ruhig im Schritt gehen, und das flackernde Licht der Wagenlaterne malte rötliche flirrende Lichter auf die Föhrenstämme, sie schienen sich zu bewegen und umeinander zu drehen wie im langsamen gespensterhaften Reigen.

Claire atmete tief auf. »Allein würd' ich mich fürchten,« murmelte sie.

»Und jetzt?«

Sie lächelte. »Jetzt ist's schaurig süß, so wie wenn die alte russische Babuschka uns Kindern eine schöne Gespenstergeschichte erzählte. In der russischen Familie hatten die Kinder solch eine alte Großmutter. Ich liebte sie sehr.«

»Ihre Kindheit ist doch reicher als die meine, trotzdem Sie elternlos waren ... ich habe niemanden so recht geliebt, aber jetzt will ich's nachholen!«

Wieder schwiegen sie. Ihre Herzen waren zu voll. Allmählich lichtete sich der Wald, die Straße führte an einem Staketzaun vorüber, die Torflügel des Parkes waren geschlossen. Durch Bäume und Buschwerk hindurch schimmerte Licht. Ein heiserer Hund schlug an.

»Das ist die Forstei Marienhof,« sagte Ernst Philippi. »Jetzt sind wir nur noch eine halbe Stunde vom Pastorat.«

»Schon!« rief Claire bedauernd.

In schlankem Trabe fuhren sie an dem ausgedehnten Park vorüber in eine weite Ebene hinein. Da liefen drei Gesellen mit geschwärzten Gesichtern über den Weg; die Pferde scheuten und sprangen jäh zur Seite.

»Hallo – he!« rief Granting zornig. »Wer da?«

»Halt's Maul, du Herrenknecht!« war die heisere Antwort. Ein Stein flog um Handbreite an Grantings Kopf vorüber.

»Ruppiger Teufel!« schimpfte der Kutscher und faßte die Zügel fester. Die Peitsche sauste auf die Füchse nieder, da flog der Wagen in die nächtige Waldesstille hinein.

»Das war ja ein Überfall!« murmelte Claire scheu.

Ernst Philippi saß mit düster gerunzelten Brauen. »O Claire, wie soll ich Sie hier auf dem Lande zurücklassen?«

»Ich bin ja keine Vollblutdeutsche,« tröstete sie lächelnd, »mir wird man am wenigsten etwas anhaben. Meine Mutter war griechisch-orthodoxer Konfession, obgleich sonst gut deutsch gesinnt, denn meine Großmutter mütterlicherseits war Russin.«

Ernst Philippi fuhr auf. »Wie?« rief er. »Sind Sie also auch griechischer Konfession?«

»Den Landesgesetzen nach – ja,« sagte sie einfach, »der Überzeugung nach – nein. Ich fürchte, ich war längere Zeit ziemlich religionslos,« fügte sie traurig hinzu, »erst die letzten Jahre haben mich in ein persönliches Verhältnis zu Gott geführt.«

Widersprechende Gefühle und Gedanken stürmten auf Ernst Philippi ein. Ein halbes Jahr früher, vor dem kaiserlichen Aprilmanifest 1905, wäre ihm, dem Protestanten, eine Verbindung mit einer Braut griechisch-orthodoxer Konfession eine Unmöglichkeit gewesen, oder er hätte seiner geliebten kurländischen Heimat auf immer Lebewohl sagen müssen. Heute, Gott sei's gelobt, lagen die Dinge anders. Ihrem Übertritt lag ja nichts mehr im Wege, und formale Schwierigkeiten waren zu überwinden.

»O Claire,« rief er bewegt, »wir sind einer großen Gefahr entronnen!«

Sie sah ihn staunend an. Dann verstand sie. Ein schönes freies Lächeln beseelte ihr klares Gesicht. »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte sie. »Es ist selbstverständlich, daß ich auch äußerlich die Konfession annehme, mit der ich von Kindheit an verwachsen und vertraut bin, aber«, fuhr sie nachdenklich fort, »ob ich dadurch eine bessere Christin werde, weiß ich nicht. Ich habe mich auch von den Fesseln der griechisch-orthodoxen Konfession niemals innerlich fesseln lassen. Auch in die sprödeste Form läßt sich ein lebendiger Inhalt gießen.«

»Der Inhalt ist's aber zumeist, der die Form bildet oder beseelt!« rief er.

»Von Theologie verstehe ich nichts«, sagte sie freimütig. »Religion aber scheint mir so weit entfernt von Theologie wie Praxis von Theorie, und Religion ist für mich ein freies Kindesverhältnis zum Schöpfer der Welten.«

Er drückte ihre Hände. »Ist das dieselbe Claire,« fragte er staunend, »die mit dem wohlerzogenen Lächeln einer konventionellen jungen Dame Tante Griseldis um ihre Meinung befragen konnte?«

Sie lachte hell auf. »Oh,« sagte sie, »ich bin eine verschlossene Natur, wie eine Schmetterlingspuppe stecke ich in Gespinsten und Hüllen, und erst nach und nach wagt sich meine Seele scheu und frierend ans helle Sonnenlicht.«

»Claire,« bat er zärtlich, »wir sind gleich da; sagen Sie mir ein gutes Wort. Was meinen Sie mit dem Sonnenlicht?«

Da wandte sie sich zu ihm und flüsterte kaum hörbar: »Deine Liebe!«

Der Wagen war aus dem Waldesdunkel in eine freie Lichtung gerollt. Durch eine Allee junger Lindenbäume zwischen Stoppelfeldern führte der Weg zum Pastorat. Der Umriß einer uralten halbentblätterten Linde mit einem Storchennest hob sich dunkel gegen den sternbesäten Himmel.

Granting knallte mit der Peitsche. In eleganter Wendung bogen die Füchse um ein von Akaziengebüsch umhegtes Rasenrund. Der Wagen hielt vor der Haustreppe.

Mit einem Windlicht in der Hand trat die hohe biegsame Gestalt eines Mannes vor die Tür. Ein paar Kinder in kurzen Kleidern schoben sich an ihm vorüber.

»Willkommen, willkommen in Kronenthal, alter Freund! Gott segne Ihren Einzug, Fräulein Schenkendorff, meine Frau erwartet Sie schon sehnsüchtig.«

Die Männer umarmten sich. »Hier das kleine Kroppzeug, Else und Marthchen – na, nur herein, meine Herrschaften!«

Die kleinen Mädchen knixten immerfort und griffen zutraulich nach Claires Händen. Es waren zartgebaute, feingliedrige Kinder mit langen, blonden, offenen Haaren, etwa acht und zehn Jahre alt.

Claire streichelte und küßte sie. Man trat in das wohnliche erleuchtete Vorhaus. An die Saaltür trat eine große, schön gewachsene Frau, sie hielt eine Lampe in der Hand.

»Willkommen in Kronenthal!« sagte sie freundlich. »Ich hoffe, die Herrschaften hat nicht gefroren!« Ein forschender Blick aus den dunklen braunen Augen ruhte voll auf dem jungen Mädchen. Sie schüttelte Claire die Hand.

Ernst Philippi beugte sich über die weiße große Hand. »Fräulein Schenkendorff hat mit Selbstaufopferung für meine Wärme gesorgt. Ich mußte mich durchaus in ihren Plaid hüllen.«

»Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen, Fräulein Schenkendorff,« sagte die Pastorin und reichte Claire wieder die Hand. »Ich mache nie Redensarten, müssen Sie wissen,« fügte sie lächelnd hinzu.

Gefesselt blickte Claire die Hausfrau an. Sie hatte einen eigentümlichen Kopf. Kurz gehaltene dunkle Haare fielen wellig in ein klares, sympathisches Gesicht hinein. Die Augen hatten einen suchenden, forschenden Ausdruck und glänzten zuweilen strahlend auf, als hätten sie ein Rätsel erraten. Um den weichen Mund lag ein schmerzlicher Zug, doch konnte er oft kinderfroh und gewinnend lächeln. Der ganze Ausdruck war der eines unverdorbenen, ahnungsvollen Kindes.

Der Pastor sah seine Frau an und strahlte. »Sie macht nie Redensarten, das kann ich bezeugen, mein Fräulein,« sagte er lachend, »sie sagt aber zuweilen unbequeme Wahrheiten.«

»Aber du!« schmollte die Pastorin. »Was soll denn Fräulein Schenkendorff nach solcher Einführung von mir denken? – Kommen Sie, liebes Fräulein, und Sie, Herr Kandidat, das Abendessen ist bereit. Kinder, bringt einen Schal für Fräulein Schenkendorff!«

Wie die Pfeile schnellten die kleinen Mädchen davon.

Man trat in den geräumigen Saal. Neugierig blieben Ernst Philippis Augen an den dekorativ geschmückten Türflügeln und an dem mächtigen altmodischen Ofen hängen, auf dem in glühenden Farben eine Pyramide in einer ägyptischen Palmenlandschaft gemalt war.

»Ein Winkelchen aus dem Sonnenlande!« sagte die Pastorin lächelnd. »Es ist das ein Anziehungspunkt für die ganze Nachbarschaft geworden. Kommt man nicht zu den Menschen, so kommt man wenigstens zum Ofen. Jedem das Seine.«

»Ja, Isa ist wieder fleißig gewesen«, sagte der Pastor stolz. »Der eine tut sich im Brotbacken hervor, der andre malt, jeder wie er kann. Das Brotbacken wird aber hierzulande mehr geschätzt.«

Ein drolliger Blick Ernst Philippis suchte Claire. »Fast wörtlich ebenso haben wir heute von deiner Frau Gemahlin reden hören.«

»Ach, wirklich?« rief die Pastorin amüsiert. »Erzählen Sie doch!«

Ernst Philippi erzählte mit Behagen. Das Ehepaar sah sich glücklich und liebevoll an. Hier herrschte vollste Harmonie, das fühlte man. Man hatte sich um den ovalen Eßtisch gesetzt. Von einem rundlichen blonden Landmädchen wurde die warme Speise herumgereicht.

»Zum Schluß wäre unsere Fahrt beinahe tragisch verlaufen,« erzählte Ernst Philippi, »dramatisch war sie jedenfalls. Dein Kutscher Granting ist noch glücklich einem Steinwurf entgangen.«

»Wo? Wie war das?« fragte der Pastor lebhaft.

Ernst Philippi berichtete ausführlich, und Claire hatte Muße, den Pastor zu betrachten.

Sein bedeutender, wohlwollender Kopf war von kurzem, ergrauendem Haar gekrönt, das er sorgfältig gebürstet aufwärts trug. Ein paar kurzsichtige dunkelblaue Augen blickten scharf und freundlich durch eine goldene Brille. Ein mühselig gezogener Stoppelbart, der den nervösen Mund kaum beschattete, bedeckte die untere Gesichtshälfte. Man hätte ihn eher für einen Aristokraten oder weltmännischen Gelehrten halten können als für einen Landgeistlichen.

Ein ungewöhnliches, sympathisches Ehepaar! schloß Claire ihre Beobachtungen. Ich glaube, ich werde mich hier heimisch fühlen.

Die Herren vertieften sich in ein eifriges Gespräch über die politische Lage des Landes. Interessiert folgte die Pastorin ihren Auseinandersetzungen und warf hier und da ein verständnisvolles Wort dazwischen. Ein Blick auf Claires blasses, abgespanntes Gesicht bewog sie jedoch, die Tafel aufzuheben. Liebenswürdig sagte sie: »Die Herren mögen noch beim Glase Bier weiter politisieren, ich zeige Ihnen indessen Ihr Zimmer, Fräulein Schenkendorff. Sie sehen müde aus und wollen gewiß zu Bett.« Sie schob Claires Hand in ihren Arm und führte sie durch den Saal und das Vorzimmer auf die andre Hausseite. »Ich muß Ihnen noch besonders dafür danken, liebes Fräulein,« sagte sie herzlich, »daß Sie sich trotz der unruhigen und gefährlichen Zeiten entschlossen haben, zu uns aufs Land zu kommen. Uns gerade, hoffe ich, droht keine ernste Gefahr, mein Mann ist beim Landvolk allgemein beliebt, aber ernst genug sieht es rings um uns her aus. Das läßt sich nicht leugnen. Morgen machen wir noch Feiertag, Sie müssen zuvor Ihre Schulkinder als kleine werdende Menschen ein wenig kennen lernen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hoffe, wir werden gute Freunde.«

Durch die ernste Freundlichkeit dieser Worte getroffen, sagte Claire ehrlich: »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Frau Pastorin, Sie sind sehr gütig zu mir.«

Ihr seelenvoller Ausdruck war beredter als ihre Worte. Als die Tür sich hinter der Pastorin schloß, fiel Claire erschöpft auf einen Stuhl und stützte ihren Kopf gedankenvoll in die Hand. Wie unendlich viel hatte ihr dieser eine reiche Tag gebracht! Ein ganzes Leben, Hoffen, Fürchten, Lieben und Vertrauen, lag von diesem Tag umschlossen, und fern, unendlich fern dünkte ihr die Vergangenheit! –

Der folgende Tag war ein Sonnabend.

Am frühen Morgen bereits saß der Pastor in seiner Arbeitsstube und nahm Meldungen zur bevorstehenden Abendmahlsfeier entgegen.

Das Wartezimmer nebenan war voll besetzt; alle paar Minuten öffnete sich die Tür und ließ einen Bauern herein. Dem Scharfblick des Pastors war es nicht entgangen, daß die Haltung der Leute zurückhaltender war als noch vor vierzehn Tagen. Eine gewisse lauernde Gespanntheit lag in den harten Zügen und zuckte um die Mundwinkel. Für jeden von ihnen hatte Robert Berger ein gutes Wort, manchmal auch einen freundlichen Scherz, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß die Kraft seiner Persönlichkeit auch diesmal ihre Wirkung nicht verfehlte. Düstere, sorgenharte Gesichter klärten sich auf, und mit offeneren Mienen schoben die Leute zu zweien und dreien an seinem Fenster vorüber.

Endlich war auch der letzte Mann gegangen. Pastor Berger öffnete die Tür zum Saal und begrüßte Ernst Philippi, der, eine Zeitung lesend, im Schaukelstuhl saß. »Morgen, alter Freund,« sagte er, »gut geschlafen?«

»Ausgezeichnet!« rief Ernst Philippi und dehnte sich behaglich. »Über Pastoratsbetten und Pastoratsgastfreundschaft geht doch nichts.«

»Das freut mich zu hören, lieber Junge, und darum hoffe ich auch, jetzt keine Fehlbitte zu tun.« Der Pastor dämpfte seine Stimme und sah sich vorsichtig um. »Es liegt etwas in der Luft, hier in unsrer Gegend müssen sich unangenehme Dinge vorbereiten, und da du, so viel ich weiß, nichts versäumst, tätest du mir einen großen Gefallen, einige Wochen, na sagen wir gleich Monate, hierzubleiben. Meine Frau ist ängstlich und nervös, ihr wäre das sicher ein großer Trost und mir eine rechte Freude.«

Erfreut schlug Ernst Philippi in die dargebotene Hand. Claire war sein Hauptgedanke.

»Wenn es dir recht ist, gehen wir ein wenig in unsern Garten. Hast du unsere neue Hausgenossin schon gesehen? Sie scheint ja zu der schweigsamen Sorte zu gehören.«

»Stille Wasser!« sagte die Pastorin, die die letzten Worte vernommen hatte, und trat in den Saal. »Ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht in Fräulein Schenkendorff eine echte Perle gefunden hätten. Ich ging heute früh an dem Flüßchen spazieren, da hörte ich es in den Büschen zwitschern und lachen. Unser ernstes Fräulein war da mit unsern Kleinen zum Kinde geworden, haschte sich mit ihnen herum, und alle drei waren seelenvergnügt. Übrigens, Robert, weißt du, daß sie griechisch-orthodoxer Konfession ist?«

»So?« meinte der Pastor erstaunt. »Nun, da ich selbst den Religionsunterricht gebe, macht das ja weiter nichts. Wußtest du etwas davon, Ernst?«

»Fräulein Schenkendorff hat mir gestern davon gesprochen. Übrigens schließe ich mich Ihrem Urteil durchaus an, gnädige Frau. Fräulein Schenkendorff hat auf mich in den wenigen Stunden unsers Zusammenseins einen vortrefflichen Eindruck gemacht; sie ist eine ebenso stolze wie zurückhaltende Natur.«

»Das wußte ich, Robert,« jauchzte Isa Berger, »das wußte ich in dem Augenblick, als ich ihr in die Augen sah!«

»Meine Frau ist nämlich ein großer Hellseher, mußt du wissen«, neckte der Pastor. »Wehe dem, gegen den sie eine Abneigung hat; an dem gibt's sicher einen faulen Fleck.«

»Und mein Mann ist ein großer ›Seelensorger‹, wie unser Küster Kruhming sagt. Wehe dem, an dem er keinen faulen Fleck zum Behandeln findet, der hat schon das halbe Interesse für ihn verloren!«

Die Freunde lachten, griffen nach Hüten und Mänteln und schritten in den großen Obstgarten hinaus. Es war ein kühler Septembertag. Welk und verschrumpft zitterte das zerzauste Laub an den Apfel- und Birnbäumen. Vereinzelt hing noch hier und da ein rotbäckiger Apfel in den Zweigen. Leuchtend vergoldete die Herbstsonne das gelbe Laub in einer mächtigen Roßkastanie, die ihre gewaltigen Äste wie Riesenarme ausbreitete und mahnend auf die kleine Dorfkirche hinzuweisen schien. Vierhundert Schritt weit stand sie neben dem Kruge auf einer Anhöhe.

Der Pastor sah über den Zaun hinüber. »Mein Kirchlein!« sagte er leise.

Ernst Philippi schien mit einem Entschluß zu ringen. »Du,« sagte er mit halbem Lächeln, »ich knüpfe an die Worte deiner verehrten Gemahlin an und will dir als meinem Freunde und Seelsorger einen faulen Fleck in mir zum Behandeln preisgeben.«

Überrascht sah der Pastor auf. »Los, alter Junge!« sagte er und zündete sich gemächlich eine Zigarre an.

»Ich will umsatteln!«

»Das hab' ich erwartet,« sagte der Pastor.

»Das ist aber nur die eine Hälfte meiner Beichte, die Begründung meiner Absicht liegt darin, daß ich ohne innern Beruf zum Studium der Theologie gezwungen wurde und die Kanzel nicht mißbrauchen mag.«

»Vollkommen richtig.« Der Pastor nickte. »Was willst du nun aber werden?«

»Ich will Schauspieler werden; ich kann wahrscheinlich aber nur Rezitator werden, und ich werde vielleicht Bankbeamter werden müssen.«

»Du wirst Bankbeamter werden müssen ...« Der Pastor dachte angestrengt nach. »Warum müssen?« fragte er.

»Weil ich seit gestern verlobt bin.«

Robert Berger trat einen Schritt zurück. »Mensch!« rief er, »doch nicht mit ... mit Fräulein Schenkendorff?«

»Durchaus.«

»Aber das ist ja etwas Großartiges! Gratuliere, gratuliere von Herzen!« Er schüttelte Philipps Hände kräftig und freundschaftlich.

»Sie ist zwar griechisch-orthodox, wie du weißt, aber heute ist das ja kein Hindernis mehr.«

»Gottlob, nein!« sprach der Pastor.

Langsam schritten sie nebeneinander her.

Heftig zog der Pastor an seiner Zigarre.

»Es fällt mir der Gedanke nicht leicht,« begann er, »daß durch deinen Austritt aus dem Kreise der Theologen wir Balten um einen gewissenhaften und tüchtigen Menschen ärmer werden sollen. In Zeiten der Gefahr brauchen wir ganze Männer. Anderseits verstehe und billige ich deinen Entschluß vollkommen, daß du in einem Beruf nicht bleiben willst, in den dich nur äußerer Zwang hineintrieb. Es fragt sich nur, ob nicht doch in dem Erben eines dreihundertjährigen Pastorengeschlechts irgendwo ein lebendes Keimchen schlummert, das sich unter den heutigen außergewöhnlichen Verhältnissen zur kräftigen Pflanze entwickeln könnte. Wer weiß, ob nicht gerade der Druck deiner häuslichen Verhältnisse dich von vornherein in einen Widerspruch hineinzwängte, der bei freier Entfaltung deiner Persönlichkeit einfach nicht vorhanden gewesen wäre. Die Labyrinthe unsers Ichs sind oft außerordentlich verschlungen.«

Nach einer gedankenvollen Pause fuhr er fort: »Du hast unbedingt einen künstlerischen Zug in dir; aber hier liegt wiederum die Frage sehr nahe, ob du in unserm schönen Beruf nicht auch ein rechter Künstler zu werden vermöchtest – Redekünstler, Künstler der Psychologie, Künstler in der Seelsorge, vor allem aber Lebenskünstler! Es liegt an der einzelnen Persönlichkeit, ob man seinen Beruf als Amt, Handwerk, Kunst oder Religion auffaßt.«

Ernst Philippi strich sich mit einer nervösen Bewegung über die Stirn. »Ich danke dir«, sagte er einfach. »Deine Großzügigkeit wünschte ich unsern meisten Pastoren. Es wäre besser um unser Baltenland bestellt.«

»Noch eins,« warf Robert Berger hin; »darf ich's Isa sagen?«

»Selbstverständlich. Ich bitte darum.«

Von einer Last befreit ging Ernst Philippi neben seinem Freunde her. Da nahte sich ihnen geschäftig von der Hinterseite des Hauses eine rundliche Gestalt.

»Mein Küster Kruhming,« sagte Robert Berger. »Guten Morgen, Kruhming. Was bringen Sie mir Gutes?«

»Guten Morgen, Herr Pastor; guten Morgen, Herr Kandidat. Sind Sie wieder hier? Bringe diesmal böse Nachrichten.«

Beide reichten ihm die Hand.

Die Augen des kleinen runden Mannes funkelten listig vor verhaltenem Vergnügen. »Die Kirche in Birkenhof ist diesen Donnerstag am Kronsfeiertag geschändet worden. Den Pastor haben die Sozialdemokraten gezwungen, die rote Fahne in die Hand zu nehmen und dem Zuge voranzugehen. So sind sie vor das Gutshaus gezogen.«

Robert Berger war bleich geworden, er runzelte die Stirn. »Den Pastor gezwungen? Wie war das möglich?«

»Nu, was sollte der Pastor machen? Man will sich doch nicht totschlagen lassen wie einen räudigen Hund. Mit den Roten ist nicht zu spaßen, Herr Pastor, das können Sie glauben.« Eine schlecht verhehlte Schadenfreude verzerrte die gedunsenen Züge des Küsters.

»Wissen Sie, was ich glaube?« sprach der Pastor schwer und tönend und reckte seine hohe Gestalt gebietend empor. »Mit dem heiligen Amt eines Pastors ist noch viel weniger zu spaßen. Das ist meine Überzeugung.«

Der kleine Mann sank in sich zusammen und faltete die roten Hände über dem runden Leib. »Nu ja, nu ja,« sagte er scheinheilig, »es sind eben harte Zeiten.«

»Es gibt Härteres als den Tod. Als Petrus seinen Herrn dreimal verleugnete, wußte er nicht, was er tat. Als er es aber wußte, da hätte er gewiß gern dreifachen Tod erlitten; da ging er hin und weinte bitterlich. Kruhming, behüte uns beide Gott, Sie und mich, daß wir nicht hinweggehen müssen und bitterlich weinen wie Petrus.«

»Gott verhüte, Gott verhüte!«

»Hören Sie, lieber Kruhming,« fuhr Berger in gänzlich verändertem Tone fort, »ich bitte Sie dringend, meiner Frau nichts davon zu erzählen. Sie tun mir einen persönlichen Gefallen damit.« Er reichte dem Küster freundlich die Hand.

Der kleine dicke Mann war nur ein breites Lächeln. Er fühlte sich offenbar durch das Vertrauen sehr geschmeichelt. »Gewiß, gewiß,« sagte er dienstbeflissen, »warum sollt' ich denn der gnädigen Frau Sorgen machen?«

»Da erkenne ich doch meinen alten Kruhming wieder!« rief der Pastor fast fröhlich. »Wenn wir vom Amte nur treu zusammenhalten, da kann uns kein Teufel was anhaben, noch viel weniger eine arme mißleitete Masse. Hören Sie, Kruhming, auf meinem Schreibtisch finden Sie das Verzeichnis der Lieder für morgen.«

Mit tiefen Bücklingen empfahl sich der dicke Küster. Schweigend gingen die Freunde weiter.

»Robert,« sprach Ernst Philippi in ehrlicher Bewunderung, »du bist der geborene Seelsorger!«

Der Pastor drückte ihm schweigend die Hand. »Was soll daraus werden?« murmelte er sinnend. Dann blickte er über den Zaun zu seiner Kirche hinüber. Steil erhob sich das grüne Dach auf dem weißen Gemäuer. Die Sonne funkelte friedlich auf dem vergoldeten Kreuz. Halb entblätterte Kastanien standen im Kranz ringsumher. –

Sechs Wochen waren vergangen. Claire fühlte sich im Pastorat Kronenthal merkwürdig heimisch. Ihr ganzes Wesen war leichter und freier geworden. Wie beschwingt ging sie mit leichtem Schritt durch die weiten Räume des alten Hauses, ihre Augen leuchteten, ihre Stimme klang hell und freudig, ihr klares Antlitz mit dem beseelten Ausdruck sah mutig und vertrauend in die Zukunft. Die kleinen Mädchen hingen an ihr wie die Kletten, und auch einen großen Teil ihrer freien Zeit widmete sie den Kleinen.

Von Ernst Philippi sah sie nicht viel. Kaum eine Stunde täglich waren sie zusammen. Er hatte ihr die drohenden Wolken, die sich auch in der Nachbarschaft zusammenzogen, nicht verheimlicht, und sie war es, die ihn veranlaßte, den Pastor auf seinen Amtsfahrten zu begleiten. So kam es, daß Ernst Philippi seinen Freund von einer neuen Seite kennen und schätzen lernte. Keine körperliche Müdigkeit seiner zarten Natur hielt Robert Berger von seinen Pflichten zurück, keine Einförmigkeit in seinem Beruf lähmte seinen Eifer. Mit einem glücklichen Humor wußte er auch der Prüfung von Abcschützen eine interessante Seite abzugewinnen oder bei ehelichen Zwistigkeiten durch eine schlagfertige überraschende Wendung die Streitenden zu verblüffen und allmählich zu versöhnen. Mit bäuerlichen Schlaumeiern verkehrte er scheinbar wie mit seinesgleichen und gewann sie doch wieder durch ein herzliches Vertrauen, das sie beschämte. Der Grobheit und Verbissenheit begegnete er mit Spott und ironischer Höflichkeit, die auch die gröbsten Prahler dämpfte und zähmte. An Kranken- und Sterbelagern hörte Ernst Philippi ihn erhebende trostreiche Worte sprechen, die nicht bloß Worte waren, und allmählich und fast unbewußt begann er sich die Möglichkeit einer Berufstätigkeit unter solcher Leitung als etwas Schönes und Erhebendes vorzustellen.

Gerade das lebendige Wirken von Person zu Person begann seine künstlerische Natur zu interessieren. Statt als Schauspieler gedachte Gedanken in vollendeter Form zu verkörpern, neue einfache Gedankenreihen zu wecken, zu lenken und im Rohstoff schöpferisch mitzugestalten und so künstlerisch zu prägen – das erfüllte ihn nach und nach mit einem unbezwinglichen Tätigkeitstriebe. So kam es, daß er zuweilen mit eingriff und in seiner Weise die seelsorgerischen Gespräche zwischen Pfarrer und Bauer beeinflußte. Robert Berger schien ihn mit heimlichem Wohlgefallen immer wieder dazu anzuspornen, und eines Tages geschah es Ernst Philippi, daß er wie aus einem Traum erwachte und der Beruf eines Pfarrers keine Schrecknisse mehr für ihn hatte.

Zwar hütete er sich vor schwärmerischer Begeisterung – dazu war seine Natur viel zu grüblerisch und gründlich –, aber er begann in aller Stille die neuen Gedanken in sich zu verarbeiten.

Gründlich, wie er war, hatte er es sich auch in den Kopf gesetzt, sich gegen alle Möglichkeiten einer bösen Zeit zu wappnen und seinem Freunde in der Not wirklich von Nutzen zu sein. Deshalb hatte er sich in der nahen Kreisstadt einen funkelnagelneuen Revolver gekauft und pflegte sich regelmäßig dreiviertel Stunden im Schießen zu üben. Noch bin ich kein Pastor, sagte er sich, und somit ist mir dieses kriegerische Handwerk nicht versagt.

Die politischen Verhältnisse gestalteten sich indessen immer bedrohlicher. Ein kurländischer Baron war meuchlings erschossen worden, die Pastoren der benachbarten Pfarrämter klagten über anonyme Drohbriefe, die in maßlos erbitterten Ausdrücken gehalten waren. In einigen Kreisen hatten Wirte und Pächter ihre Zahlungen einfach eingestellt, Hofknechte verweigerten den Gehorsam, und nach und nach verbreiteten sich Schreckensgerüchte von Bränden und sengenden, plündernden Banden, die das Land durchzogen. Viele Gutsbesitzersfamilien flüchteten in die Städte oder gar ins Ausland, und ihnen folgte das höhnende Triumphgeschrei der Aufwiegler.

In Kronenthal war es bisher ruhig geblieben. Ein erster Schnee hatte sich schmeichelnd wie ein weicher Flaum über die Felder gelegt, und der Föhrenwald leuchtete in glitzerndem Kleide.

Die Pastorin trat an diesem Tage in die Schulstube. »Fräulein Schenkendorff,« sagte sie freundlich, »erlauben Sie mir, Ihren Unterricht für heute zu unterbrechen. Es ist ein so gottvolles Wetter, machen Sie einen Spaziergang mit Herrn Philippi, Sie sehen ganz müde und abgespannt aus. Ich will inzwischen mit Elschen und Marthchen einen Schneemann bauen.«

Fort flogen Bücher und Hefte. »Ach ja, Mammi, einen Schneemann! Einen Schneemann!« jauchzten die kleinen Mädchen und hängten sich liebkosend an die Mutter.

Ernst Philippi stand gestiefelt und gespornt im Flur. »Gehen wir?« fragte er. Seine Augen leuchteten.

Claire lächelte. »Wohin Sie wollen«, sprach sie fröhlich. Bald war sie bereit, und sie traten ins Freie.

»Da muß ich aber gleich zu Anfang protestieren!« sagte er.

»Wie? Auch das noch? Ich richte mich vollends nach Ihren Wünschen: Sie können mich führen, wohin Sie wollen – und Sie protestieren! Das nenne ich undankbar!«

»Claire!« bat er weich. »Hier unter diesen vortrefflichen Menschen, die um unser Verhältnis wissen, die uns ein so zartes Verständnis entgegenbringen – hier ist es nicht mehr angebracht, daß wir ›Sie‹ zueinander sagen und uns so maßlos vernünftig gegenüberstehen. Du hast mich noch nie bei meinem Namen genannt, hast das Dusagen immer ängstlich vermieden. Wozu nur?«

»Ernst,« sagte Claire, so recht aus Herzensgrund, »ich bin glücklich, glücklich, glücklich – hörst du, so aus dem vollen heraus, so wie ich es nie für möglich gehalten habe! Bilde dir nur nicht ein, daß du etwas dazu beiträgst,« spottete sie. »Ich liebe diese Menschen so sehr, unter denen ich lebe, und ich weiß nicht, wen ich mehr verehre, Pastor Berger oder seine Frau.«

»Nun, ich hoffe durchaus, die Frau Pastorin«, sagte er in drolliger Eifersucht.

Sie lachte hellauf. »Sie ist ein ganz eigentümliches Wesen,« sagte sie nachdenklich, »durch und durch eine künstlerische Natur und von einer fabelhaften Harmlosigkeit, die sich mit einer seltsamen Schärfe der Beobachtung paart. Das Verhältnis zwischen beiden ist erquickend und erhebend zugleich.«

Arm in Arm waren sie durch die entblätterte junge Lindenallee geschritten, jetzt nahm der schneeige keusche Wald sie auf.

»Sieh, wie wunderbar schön!« rief Claire andächtig.

Er schlang seinen Arm um sie. »Claire,« fragte er, »könntest du Landpfarrerin sein?«

»Ich wüßte mir nichts Schöneres!« rief sie begeistert. »Weshalb aber fragst du?«

»Ich habe es all diese Wochen mit mir herumgetragen«, sprach er bewegt, »und wagte nicht, daran zu glauben; aber ich meine, ich hoffe, auch ich könnte am Ende meinen bescheidenen Platz als Pastor ausfüllen; nicht in der genialen Weise wie Robert Berger ... ich habe an seiner Seite den Beruf lieben gelernt, Claire!«

»Ernst!« Sie flog ihm jubelnd an die Brust. Lange hielten sie sich umschlungen.

Erschüttert sprach er wieder: »Ich bin innerlich frei geworden! Eine drückende Fessel um die andre ist von mir abgeglitten. Nicht kampflos auf ausgetretenen Pfaden sollen wir wandeln, sondern auf ein tägliches Mitleben und Erleben unsers Berufs kommt es an, auf ein tägliches schöpferisches Neugestalten; und wahrhaftig, um es darin zur Meisterschaft zu bringen, muß man ein tüchtiger Künstler werden.«

Sie sah ihn mit strahlender Freude an. »Und unsre Zeit braucht ganze Männer!«

»Und ganze Frauen!« fiel er ein. »Unsere Zeit ist hart und böse. Wir gehen alle einher in des Todes Schatten und fragen uns: Hat Gott unser baltisches Deutschtum ganz dem Untergange geweiht? In mir aber lebt noch ein großes Stück Kampfeslust, das ist mir in diesen Wochen klar geworden. Hast du Mut, Claire? Wir brauchen beide Mut.«

»Liebe ist Mut!« sagte sie einfach.

»Claire!« sprach er begeistert, »du in deiner heiligen Weibesunschuld, du weißt nicht, welch ein herrliches Wort du aussprachst!«

Sie standen unter einer hohen Föhre eng aneinander geschmiegt, ein Windstoß schüttelte weiße flockige Sterne über zwei glückliche starke Menschen.

Arm in Arm traten sie aus dem Walde. Ihre Augen leuchteten in großer, strahlender Freude. An der Wegbiegung holte sie mit lang ausgreifenden Schritten der Gemeindeälteste, der Bauer Krimpe, ein.

Er grüßte kurz. »Finde ich den Herrn Pastor zu Hause?« fragte er.

»Ja gewiß«, antworteten beide wie aus einem Munde. »Kann ich vielleicht eine Bestellung für den Pastor ausrichten?« fragte Philippi.

»Ich muß ihn selbst sprechen«, sagte der Alte, sah das Brautpaar unter buschigen weißen Brauen durchdringend an und ging an ihnen vorüber.

»Der sieht ja aus wie das leibhaftige böse Wetter!« flüsterte Claire und sah der mächtigen Gestalt des Bauers nach. Ein wenig gebückt stützte er sich aus seinen Stock und schritt kraftvoll weiter.

»Es ist ein überaus tüchtiger Mann, Robert hält große Stücke auf ihn. Er nennt ihn den alten Nestor.«

»Nestor sah aber greulich unheimlich aus, vielleicht bringt er schlimme Nachrichten«, sprach Claire besorgt. »Laß uns rasch nach Hause gehen.«

Sie beschleunigten ihre Schritte und kamen leise in den Hausflur, während der Gemeindeälteste von der Rückseite des Hauses in Pastor Bergers Amtsstube trat.

»Sieh da, mein lieber alter Krimpe!« rief der Pastor erfreut. – »Hör' mal, Philippi! Bist du da? Komm doch meinen alten Krimpe begrüßen! – Was führt Euch zu mir? Hab' Euch lange nicht gesehen, nehmt Platz, lieber Freund!«

Zögernd trat Ernst Philippi in die Amtsstube. Gemessen begrüßte ihn der Gemeindeälteste.

Des Alten markiges Gesicht, das wie im Winterfrost erstarrt war, taute allmählich auf, als habe die warme Sonne es berührt. Aus seiner Rocktasche nahm er bedächtig ein geblümtes Tuch, fuhr sich damit über die Stirn und sah den Pastor mit den klugen grauen Augen forschend an. »Gnädiger Herr Pastor,« begann er langsam, »als Sie hierher nach Kronenthal berufen wurden, da wählten Sie die Gutsherren, wir Bauern hatten bei Ihrer Wahl nichts mitzureden. Ist es so oder spreche ich die Unwahrheit?«

»Ihr sagt die lauterste Wahrheit, Krimpe.«

»Gut.« Der Alte räusperte sich. »Sie sind nun hier seit zehn Jahren im Amt. Wir haben niemals – schauen Sie meine weißen Haare an, Herr Pastor – niemals einen Prediger gehabt, wie Sie einer sind. Wir Bauern sind mißtrauische Leute, Herr, wir sind mit unserm Urteil nicht heidi und holla fertig wie die vornehmen Herren. Wie wir gewohnt sind, den Kopeken dreimal umzudrehen, ehe wir ihn ausgeben, also sind wir auch vorsichtig mit unserem Urteil.«

»Woraus soll das hinaus, Krimpe?« fragte der Pastor lächelnd.

»Nur noch ein wenig Geduld. Es hat drei Jahre gedauert, gnädiger Herr Pastor, ehe ich Ihnen über den Weg getraut habe. Wem aber der alte Krimpe einmal traut, dem traut er, da nützt kein Rütteln. Ich sehe mit meinen eigenen alten Augen und nicht durch fremder Leute Brillen. Nach drei Jahren, da stand es bei mir fest: für den Pastor Berger sind lettische Bauern gleichwertige Menschen wie deutsche Herren, wenn sie nur ordentliche Menschen sind. Hab' ich recht gesehen oder nicht?«

Robert Berger nickte nur und strich dem Alten fast zärtlich über die braune schwielige Hand.

»Seitdem steht es so,« fuhr der alte Bauer umständlich fort, »wer dem Pastor ein Haar krümmt, der hat es mit dem alten Krimpe zu tun. In seiner Herde kennt ein guter Schäferhund sich aus, nun aber dringen fremde Böcke in meine Hürde, das Volk ist in Aufruhr, ob mit Recht oder Unrecht, ist eine andre Frage, und nun komme ich zur Hauptsache: predigen Sie morgen nicht, Herr Pastor, meine Macht ist zu Ende. Ein Überfall auf Sie ist geplant.«

Robert Berger war aufgestanden und schritt nachdenklich in der Amtsstube auf und nieder. Dann legte er dem Alten die Hand schwer auf die Schulter. »Ich muß,« sprach er. »Es ist meine Pflicht.«

»In sein Unglück zu rennen, ist niemandes Pflicht«, grollte der alte Bauer. »Wozu haben Sie denn den Herrn Kandidaten im Hause? Lassen Sie den für sich eintreten!«

»Lieber Robert,« sprach Ernst Philippi dringlich, »selbstverständlich …«

Gebietend hob Robert Berger die Hand. »Krimpe,« sagte er, »antwortet mir kurz und bündig: Was tätet Ihr, wenn Euer Sohn wider Euch von einer wilden Horde aufgewiegelt wäre und Ihr ihn nicht unter vier Augen vermahnen könntet? Würdet Ihr Euch krank sagen oder vor versammeltem Volk Euren Sohn zurechtweisen?«

Der Alte stand auf. »Ich würde für Bedeckung sorgen und meinem Sohn mit seinen Freunden nicht schutzlos gegenübertreten,« sprach er mit einem schönen Lächeln. »Leben Sie wohl, Herr Pastor, der alte Krimpe weiß, was er einem echten Seelsorger schuldig ist!«

Da hielt sich Robert Berger nicht länger, er warf sich an die Brust des Greises und küßte ihn.

Verschämt wischte der alte Mann eine widerspenstige Träne aus dem Auge und ging schwerfällig hinaus.

»Ist das nicht ein herrliches Erlebnis?« fragte Robert Berger tief aufatmend. »Ein Mann wie aus Stahl und Eisen … ein echter Freund! Gnade über Gnade!«

Bleich und erschüttert stand Ernst Philippi. »Robert,« sprach er mit tonloser Stimme, »von dir will ich lernen, Menschen fischen. Das ist fortan mein Beruf!«

*

Eine Reitdroschke, von einem nervigen Fuchs gezogen, riß schwarze Furchen in den frischgefallenen Schnee. Die Beine auf das Trittbrett gestemmt, eine Fellmütze über die Ohren geschoben, saß Ernst Philippi rittlings auf dem schmalen leichten Fuhrwerk und lenkte die Zügel mit fester Hand.

In der Tasche seines Friesrocks steckte der Revolver. Sein bartloser Schauspielerkopf leuchtete von Tatkraft und Entschlossenheit. Nun war er auf der Bühne des Lebens, und er gedachte seine Rolle mit Ehren durchzuführen. Scharf blitzten die blauen Augen über die weite schneebedeckte Ebene und spürten suchend in die Ferne. Mißtrauisch und vorsichtig musterte er jeden Busch und jeden Strauch und unterzog jedes Bäuerlein, das ihm etwa entgegenkam, einer genauen und gründlichen Prüfung.

Durch eine breite Kastanienallee fuhr er auf ein massives zweistöckiges Herrenhaus zu, das sich gewichtig und stattlich von einigen umliegenden Hofgebäuden abhob wie ein geborener Fürst inmitten seiner Untertanen.

Ein Hofknecht trat ihm in gebückter Haltung entgegen und küßte ihm unterwürfig die Hand.

»Ist der Herr Baron zu Hause?« fragte Philippi.

»Jawohl, gnädiger Herr.«

Ernst Philippi stieg die breite Freitreppe empor und drückte auf den elektrischen Knopf.

Ein alter Diener öffnete und blickte mißbilligend auf den grauen Friesrock.

»Melden Sie mich bei dem Herrn Baron Reuter – Kandidat Philippi aus Kronenthal.«

»Aus Kronenthal«, wiederholte der Diener. »Sofort, gnädiger Herr. Bitte treten Sie ein.«

Ernst Philippi entledigte sich seines Überrocks und trat in das komfortable Gemach. Alte Familienbilder in schweren vergoldeten Rahmen blickten in gezierten Stellungen von den Wänden. Ein meisterhaftes Porträt eines strammen alten Herrn mit einer Habichtsnase fesselte Philippis Aufmerksamkeit. Er trat näher heran – in der Tat, es war ein Lenbach.

Schnelle elastische Schritte nahten. Ein hochgewachsener eleganter Mann mit einem Zwicker auf der Nase und einem frischen rötlichen Gesicht trat ein.

Ernst Philippi verbeugte sich. »Ob Sie sich meiner entsinnen, Baron Reuter, weiß ich nicht. Ich hatte die Ehre, Sie vor zwei Jahren in Kronenthal bei meinem Freunde Pastor Berger zu treffen.«

Der Baron musterte ihn scharf und reichte ihm eine schlanke rötliche Hand. »Ah, Herr Kandidat Philippi! Sehr angenehm. Meine Frau ist leider ein wenig unpäßlich. Wie geht's denn unserm lieben Pastor?«

»Gerade in seinen Angelegenheiten bin ich zu Ihnen gekommen. Darf ich Sie um eine kurze Unterredung unter vier Augen bitten?«

»Sofort.« Der Baron schloß sorgfältig beide Flügeltüren. »Jetzt sind wir ganz ungestört. Bitte nehmen Sie Platz. Sie rauchen?«

Er schob Philippi ein gefülltes Täschchen mit Zigaretten hin und warf sich lässig in den hohen ledernen Polstersessel. Seine Mienen drückten verhaltene Spannung aus. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er verbindlich.

Ernst Philippi zündete sich eine Zigarette an. »Durch den Gemeindeältesten, einen äußerst zuverlässigen Menschen, den Wirt Krimpe, ist meinem Freunde Berger heute die Warnung zuteil geworden, daß morgen während des Gottesdienstes ein Überfall auf ihn geplant ist. Pastor Berger wurde dringend von dem Manne gebeten, morgen den Gottesdienst abzusagen.«

»So – so!« sagte der Baron nachdenklich. »Und wie gedenkt sich Pastor Berger zu dieser Warnung zu verhalten?« Ruhig streifte er die Asche von seiner Zigarette ab. Sein weltmännisches Gesicht war undurchdringlich.

»Er meint sie unberücksichtigt lassen zu müssen.«

»Sehr richtig!« sagte der Baron mit Nachdruck. »Das ist auch ganz meine Ansicht. Dieser feigen Bande aus dem Wege gehen, hieße ihr zu viel Ehre antun.«

»Meine Fahrt zu Ihnen, verehrter Baron Reuter, habe ich indessen aus eigener Machtbefugnis unternommen. Mein Freund Berger weiß nichts davon. Ich meine aber, in Rücksicht auf seine Familie und seine zarte Gesundheit ist es richtig, sich in solcher Notlage an die Herren Patrone zu wenden, zumal an Sie als Kirchenvorsteher, und Sie zu bitten –«

»Dem Gottesdienst beizuwohnen«, fiel der Baron lebhaft ein. »Aber das ist ganz selbstverständlich. Ich werde mir erlauben, noch mehrere Herren zur Teilnahme an dieser Expedition aufzufordern. Unserm Pastor Berger soll nichts geschehen. Verlassen Sie sich darauf!«

Philippi verbeugte sich, auf seinem Stuhle sitzend. »Ich darf Ihnen leider nicht einmal im Namen meines Freundes meinen herzlichsten Dank aussprechen. In seinem Sinne, verehrter Baron Reuter, wäre es gewiß geboten, nur im alleräußersten Falle tätig einzugreifen.«

»Versteht sich, Herr Kandidat. Die revolutionäre Stimmung durch unnütze Gewaltsamkeiten zu schüren, hieße nur Öl ins Feuer gießen. Wir Deutschen sind ja sowieso in der Minderzahl.«

Ernst Philippi hatte sich erhoben. »Meinen besten Dank«, sagte er.

»Der Dank liegt auf meiner Seite, Herr Kandidat. Ich versichere Ihnen, es ist mir eine aufrichtige Freude, einem allgemein so hochverehrten Manne einen Dienst leisten zu dürfen. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«

»Ich danke sehr, Baron Reuter. Die Güter Rausuppen und Finkenhorst liegen aus meinem Rückwege, da will ich noch persönlich vorsprechen.«

»So – so! Nun, vielleicht tun Sie gut daran; meinen Schwager und Vetter auf Gnadenfeld will ich selbst benachrichtigen. Also auf eine Schutzwache von fünf bis sechs kräftigen deutschen Männern können Sie sicher rechnen. Verzeihung – tragen Sie Waffen?«

Mit einem halben Lächeln zeigte Philippi seinen Revolver. »Ich bin ja noch nicht im Pfarramt«, sagte er, »und darf mich schon rühmen, ein leidlicher Schütze zu sein. Gestern schoß ich einer Pikaßkarte mitten ins Herz – Entfernung zwanzig Schritt.«

»Bravo, bravo!« sagte der Baron lachend. Allmählich war er aus seiner förmlichen Zurückhaltung getreten, dann zuckte er die Achseln. »Tja, wissen Sie, das ist auch so ein überkommener Brauch, daß ein Pastor sich nicht wehren darf. Selbstverständlich nicht, solange er auf der Kanzel steht, aber das seh' ich doch wahrhaftig nicht ein, weshalb ein Pastor sich von so einem lettischen Strolch und Raubmörder auf einer Fahrt zum Beispiel oder im Hause sollte wehrlos erschießen lassen. Da ist er eben Privatperson wie Sie und ich.«

»Ganz so denke ich auch«, erwiderte Ernst Philippi. »Dazu kommt aber heute noch etwas Besonderes: außerordentliche Verhältnisse bedingen ein außerordentliches Verhalten.«

»Ganz ausgezeichnet«, stimmte der Baron zu. »Und zu außerordentlichem Verhalten haben wir wahrhaftig reichliche Gelegenheit. Aus Wiedersehen also morgen, Herr Kandidat, wir sind sicher zur Stelle. Der Gottesdienst beginnt um zehn?«

»Um zehn, Baron Reuter. Bitte, empfehlen Sie mich gütigst Ihrer Frau Gemahlin.«

Die Herren schüttelten sich kräftig die Hände. Sie hatten einander gut gefallen.

»Hätten wir doch mehr Geistliche von der Sorte!« murmelte der Baron. »Kronenthal hat Glück – das muß man sagen.«

Ernst Philippi saß wieder auf seiner Reitdroschke. »Auf nach Rausuppen!« sagte er halblaut.

Friedlich und winterselig breitete sich wieder die weite Ebene vor ihm aus, nur ab und zu von niedrigem Buschwerk umstanden, das in der Sonne leuchtete wie weißes Korallengezweig. Ein stiller Wassertümpel hob sich in seiner weißen Umgebung dunkel hervor wie eine zerbrochene Spiegelscherbe. Weißbedachte Gesindehäuser und Bauernhütten guckten aus neugierigen, vom Alter mattgrün gefärbten kleinen Fensterscheiben dem vorübereilenden Gefährt nach, und ein lichter Himmel spannte sich über das flache Gelände.

Ernst Philippis Gedanken weilten bei Claire. Sein Herz klang und blühte mitten in des Winters Stille und wiegte sich in ferne selige Träume. »Liebe ist Mut,« hatte sie gesagt. Welch vornehmes, feines und doch so selbstverständliches Wort! Wie war sie in ihrer Liebe aufgeblüht, wie hatte sich ihr stilles, ernstes Wesen entfaltet wie eine heitere, seltene Blume! Und wieder mußte er an ihre Begegnung auf dem Dampfschiff denken – »Schiffe, die nachts sich begegnen«.

Das Rollen eines Bauernfuhrwerks schreckte ihn aus seinem Sinnen. Johlende heisere Stimmen klangen mißtönig durch den stillen Winterfrieden. Er sah einen Moment in ein paar rohe betrunkene Gesichter, und klirrend zerschellte eine leere Flasche an seinem Wagen. Sie war für seinen Kopf bestimmt gewesen.

»Mit solchen Kleinigkeiten halten wir uns heutzutage nicht mehr auf!« murmelte er in grimmiger Selbstironie und faßte die Zügel fester.

In scharfem Trabe flog der Fuchs vorwärts. Das Rausuppensche Gutsgebäude mit seinem weithin sichtbaren Turm lag bald vor ihm.

Er fand die Familie des Barons Osterloh beim Mittagessen und mußte sein Anliegen hinausschieben, denn er konnte natürlich die Teilnahme nicht ablehnen. Die Baronin, eine rothaarige schöngewachsene Dame mit wundervollen Händen, empfing ihn mit freundlicher Zuvorkommenheit. Zwei junge Mädchen in halblangen Kleidern, die Töchter des Hauses, begrüßten Ernst Philippi mit einem schülerhaften Knix.

»Sie finden Elvire und Gerda wohl recht verändert, nicht wahr, Herr Kandidat?« sagte die Mutter mit wohlgefälligem Lächeln.

Ernst Philippi blickte mit Behagen in die blütenreinen jungen Gesichter. »Vor zwei Jahren spielten wir noch Blindekuh miteinander,« sagte er lächelnd, »heute sind die jungen Damen schon fast erwachsen.«

»Ich würde aber wieder sehr gern Blindekuh mit Ihnen spielen,« sagte die Jüngere, »Sie waren ja so leicht zu fangen. Jetzt ist es so traurig, man hört nichts als schreckliche Sachen.«

»Ja, das ist nun mal so!« sagte Baron Osterloh, eine mächtige breite Reckengestalt mit einem Wallensteinkopf. »Der Größenwahn ist in unser verblendetes Lettenvolk gefahren. Und das schlimmste ist: die Sache nimmt so bald kein Ende. ›Nationale Erhebung‹ nennen sie ihr wahnwitziges Treiben! Ein Volk, das so mit Feuer und Schwert sengend und plündernd das Land durchzieht, das hat doch einmal klar seine nationale Unfähigkeit dokumentiert. Diese Mörderbande! Sehen Sie, Herr Kandidat, die Proklamation hier wurde dem Pastor von Birkenhof zugeschickt: ›Aus den Arbeiterliedern, herausgegeben von der lettisch-sozialdemokratischen Partei!‹« Mit dröhnender Stimme las er: »Dein Ende ist da, du groschenlüsterner Gutsbesitzer! Mit Feuer und Schwert hast du unser Land beraubt, siebenhundert Jahre lang hast du uns unsäglich gequält, den Schweiß unserer Väter hast du mit Blut gemischt getrunken und das Volk ausgehungert, bis es verreckte. Unsre Väter zeigen aus ihren Gräbern mit blutigen Fingern auf dich. Erst heute aber können wir rufen: Weh dir Deutschen! Wir wollen das Brot unsers Landes, die Früchte unsrer Arbeit nicht länger Schmarotzern geben. Und du, schwarzer Lügenbrauer, den wir in unsrer Einfalt für einen Gottesmann gehalten haben, du bist kein gerechter Gottesknecht, sondern lüstern nach dem Geld in der Hand der Reichen, und lehrst mit unerhörter Schamlosigkeit das Evangelium, das die Reichen schon vor Jahrhunderten zur Bedrückung der Armen erdacht haben. Mit deinen saubern Lügen von den Himmelsfreuden, die uns für alles irdische Leid entschädigen sollen, hast du unsre Väter wie Schafe zu den Füßen der Räuber gehütet. Weh dir, Bösewicht! Flieht eilends, ihr verfluchten Volksaussauger! Zur Befreiung der gequälten Heimat sind die Werkzeuge schon unterwegs: Dolche, Kugeln, Bomben, Dynamit!«

Während des Lesens schwoll eine mächtige Zornesader an der Stirn des Barons. »Ich denke, das genügt!« sprach er, und mit der Gebärde des Ekels faltete er das saubere Schriftstück wieder zusammen und schob es in seine Rocktasche. »Eins vor allem ist mir klar: Sollen wir uns in dieser unerhörten Weise ruhig weiter beschimpfen lassen, ohne nur einen Finger zu rühren? Nein! sage ich. Zusammenhalten sollen wir, alle miteinander, Adel, Geistlichkeit und Bürgerschaft! Aufhören sollen die kleinlichen Sonderinteressen, soll das beständige Gekniffensein! Zusammenstehen sollen wir Deutsche alle, denn wir haben die gleichen Heiligtümer zu wahren. Und eine Lehre sollen wir uns ziehen aus dieser dunklen Zeit: aufgeben sollten wir unsern Adels- und Literatenhochmut! Habe ich nicht recht, Herr Kandidat?«

»Sie haben mir aus der Seele gesprochen, Baron Osterloh«, sagte Philippi warm. »Jeder an seinem Teil sollte vor seiner Tür kehren und sich des Guten erinnern, das jeder Stand von dem andern empfangen hat.«

»Das ist ein gutes Manneswort!« rief der alte Herr und schüttelte seinem Gast die Hand.

Man stand vom Tische auf, und Ernst Philippi fand Gelegenheit, Baron Osterloh seine Bitte vorzutragen. Sie wurde in der ehrlichen warmen Weise, die dem alten Herrn eigen war, genehmigt, und erleichterten Herzens fand sich der junge Mann unterwegs nach Finkenhorst.

Baron Fink von Finkenhorst war ein schöngeistiger Sonderling, Kunstkenner und Sammler. Vor allem interessierte er sich für Musik und besaß eine Sammlung aller möglichen und unmöglichen Instrumente. Für ein Spinett aus der Zeit Mozarts konnte er enorme Summen verschwenden. Sein Haus war geradezu ein Museum aller nur denkbaren Streich- und Blasinstrumente, Harfen, Pauken, Trommeln und Zimbeln. Baron Fink war aber auch Musiker und Komponist und steckte beständig in irgend einer Melodie, die er harmonisieren mußte, oder vielmehr, beständig steckte eine Melodie in ihm.

Als Ernst Philippi ihm gemeldet wurde, trat der hagere pockennarbige Junggeselle, ein Motiv pfeifend, auf ihn zu, erkannte ihn zunächst nicht und reichte ihm zerstreut die lange Musikerhand. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er aber sofort auf und rief mit überseligem Ausdruck: »Verzeihung, Verzeihung! Ich hab's, ich hab's!« Er griff ein paar Akkorde auf seinem Blüthner und ging auf eine kriegerische, fanfarenartige Melodie über. »Aus den lettischen Kampfliedern und Kriegsgesängen!« sagte er strahlend.

Ernst Philippi wußte nicht, was er aus dem wunderlichen Kauz machen sollte. Sein schauspielerisches Talent kam ihm, vereint mit einem glücklichen Humor, zu Hilfe. Mit einer Fingerbewegung strich er sich seinen blonden Haarschopf ins Gesicht, zog die Schultern hoch, runzelte die Brauen, nahm eine düster versunkene Beethovenmiene an und sprach die Lormschen Verse:

Solang die Sterne kreisen
Am Himmelszelt,
Vernimmt manch Ohr den leisen
Gesang der Welt.

Dem seligen Nichts entstiegen,
Der ewigen Ruh,
Um ruhelos zu fliegen –
Wozu? Wozu?

Fassungslos, entgeistert starrte Baron Fink ihn an.

Allmählich glätteten sich Philippis Mienen, das düstere Beethovengesicht verschwand, die Haare flogen zurück. Mit ernsthaftem Lächeln saß wieder Kandidat Philippi vor dem verblüfften Junggesellen.

»Aber das ist ja ausgezeichnet!« jappte der Baron. »Sie sind ja der geborene Schauspieler,« fuhr er entzückt fort, »und so was nennt sich Kandidat der Theologie! Herr Philippi, Sie – Sie gehören auf eine große Bühne!«

»Ich stehe schon auf der Bühne des Lebens,« sagte Philippi, »und zwar mit beiden Füßen. Und nun hören Sie, Baron Fink: Meinem Freunde, Pastor Berger, droht morgen von den Sängern der Kampfes- und Kriegslieder Gefahr. Sie wollen ihn während des Gottesdienstes überfallen. Dürfen wir das dulden, wir deutschen Männer? Ihre Nachbarn, der Rausuppensche Herr und Baron Reuter, haben mir ihre Hilfe bereits zugesagt. Darf ich morgen um zehn auch auf ihre Anwesenheit rechnen, Baron? Pastor Berger weiß nichts davon.«

»Aber ja, natürlich!« rief der Baron, noch ganz verblüfft. »Nein, nein, sind Sie ein Künstler, ein echter Künstler!« Es wurde ihm ordentlich schwer, sich von Philippi zu trennen. »Daß ich Sie nicht meiner Schwester Claudine vorstellen kann!« sagte er betrübt. »Sie ist leider ausgefahren.«

Es dunkelte bereits, als der Kandidat seinen Heimweg antrat. Ein leiser Abendwind hatte sich erhoben. Die Tannenbäume hatten den Winter wieder abgeschüttelt und standen ernst und feierlich in ihrem dunkelgrünen Kleide. Leise senkte die Dunkelheit ihren düstern Mantel über den schweigenden Forst und öffnete weit und fragend ihre schwarzen Augen. Eine tiefe Wehmut von schmerzlicher Süßigkeit füllte des einsamen Mannes Seele, und gläubig dehnte sie sich empor zu dem Lenker aller Dinge. Schon kroch die Flamme des Aufruhrs leise glimmend immer näher und näher. Wie lange noch, und das Häuflein Deutscher stand wehrlos auf brennendem Boden.

»Schütze unser armes Land, großer Gott!« flüsterten seine Lippen. Halb unbewußt und aus der Tiefe seines Herzens seufzte er: »Und schütze Claire!«

So, als hätte ein magnetischer Rapport Claire in seine Nähe gezaubert, stand ihre leichte biegsame Gestalt plötzlich im Waldesdunkel vor ihm und breitete ihre Arme nach ihm aus.

Er schrak zusammen. »Kind, was suchst du hier allein im Walde?« fragte er mit bebender Zärtlichkeit im Tone.

Sie schwang sich auf die Reitdroschke hinter ihn und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Du bliebst so lange fort,« murmelte sie, »ich … ich war so bange um dich. Wo warst du nur?«

»Ich habe einige alte Bekanntschaften erneuert«, sagte er leichthin.

»Und weiter nichts?« fragte sie ernsthaft.

Er zögerte einen Augenblick. »Doch«, gestand er. »Ich habe einige Gutsherren um ihren persönlichen Schutz für Robert Berger gebeten. Ihm droht ein Überfall während des Gottesdienstes.«

Sie atmete tief. »Mir ahnte nichts Gutes«, sagte sie. »Er war so sonderbar zärtlich gegen die Kleinen heute und ließ seine Frau den ganzen Tag nicht aus den Augen.« Sie brach in ein heftiges Schluchzen aus. »Die arme, arme Frau!« stöhnte sie.

»Ob sie etwas ahnt?«

»Eine allgemeine Gefahr vielleicht, doch ist sie zu fest von der Liebe und Anhänglichkeit der Gemeinde zu Pastor Berger überzeugt. Ach, Ernst ...«

»Liebe ist Mut!« sagte er. »Dein schönes Wort hat mir auf der ganzen Fahrt das Geleit gegeben.«

Sie trocknete ihre Tränen und lächelte wieder. »Und dir ist nichts geschehen?« fragte sie.

»Wie du siehst, bin ich heil und ganz. Ein paar betrunkene Kerle johlten mich an.«

Sie streichelte seinen Arm. »Und du bist derselbe schwächliche Bub, der in Bewußtlosigkeit versank, als er hörte, daß es nichts sei mit dem Schauspielern. Wenn dein Vater dich jetzt sähe!«

»Ob er viel Freude an mir hätte?«

»Und ob!« sagte sie mit leuchtendem Blick. »Stolz wär' er auf dich!«

»Das ist mir denn doch durchaus nicht gewiß«, meinte er mit skeptischem Lächeln. »Mein Vater war ein praktischer Mann, durch und durch Realist, unter den gegenwärtigen Verhältnissen würde er es für geratener halten, Schauspieler als Pastor zu sein.«

»Aber nein!« rief sie entrüstet. »Du, ich hab' übrigens einen Brief von Tante Griseldis.«

»Nun, was schreibt sie?«

»Du sollst ihn selbst lesen. Sie gratuliert mir in höchst feierlichem Ton zu unserer Verlobung, zu ›der Wendung meines Geschicks‹, wie sie sagt, aber eine verhaltene Trauer über das Stübchen im Katharinenstift, das nun leer bleiben soll, blickt doch durch. Die gute Tante Griseldis!«

Er drehte sich lachend um und sah sie zärtlich an. »Die armen Alten!« sagte er mitleidig. »Claire, sind wir nicht glückliche Menschen?«

Sie schlug ihre Arme um seinen Nacken. »Ja!« rief sie aus vollster Seele.

Sie schwiegen eine Weile. Die Reitdroschke rasselte langsam vorwärts und holperte stöhnend über Wurzelknorren.

»Du,« begann sie wieder, »ich hab' die Frau Pastorin doch bedeutend lieber als deinen Freund.«

»Hast du dir's überlegt?« Er lachte.

»Nein, ich verehre Pastor Berger nach wie vor, aber ich glaube, er mag mich nicht recht; so was fühlt sich.«

»So? Woraus schließt du denn das?«

»Er neckt mich ein bißchen viel und stellt mir in jeder Beziehung seine Frau zum Vorbild.«

»Ja, mein Herz, das ist doch sehr nett von ihm. Seine Isa ist für ihn der höchste Maßstab.«

»Gut, gut,« lachte Claire, »aber von der Unterrichtsmethode weiß ich doch mehr als sie. Der Pastor ist nicht ganz unparteiisch.«

Nun mußte Ernst Philippi herzlich lachen. »So wenig unparteiisch bin ich mit vollem Bewußtsein. Über meine Claire geht mir nichts und niemand.«

Sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß. Der Fuchs bog jetzt in die Lindenallee, stieß ein fröhliches Wiehern aus und setzte sich in Trab.

»Er wittert seinen Stall«, sagte Claire und rückte sich zurecht. »Nun ist's auch für uns die höchste Zeit, auf die Erde zurückzukehren und gesittet und vernünftig zu sein!«

Robert Berger stand im Sonntagsornat. Isa hüllte sich in ihren Mantel.

»Du siehst blaß aus, Liebling,« sagte er zu seiner Frau, »tu mir den Gefallen und komme heute nicht in die Kirche.«

»Aber warum nicht?« fragte die Pastorin und riß ihre großen Kinderaugen weit auf. »Gerade heute wollte ich gehen. Ich habe freilich ein wenig Kopfschmerz.«

»Eben darum sollst du zu Hause bleiben. Lebe wohl, Lieb!« Er küßte sie.

Warum nur hatte seine Stimme gezittert? Eine seltsame Unruhe ergriff die Frau.

Sie stand am Fenster und blickte der hohen gebietenden Gestalt ihres Mannes nach, wie sie langsam über die Wiese der Kirche zuschritt.

Der Glockenläuter hatte den Pastor schon gesehen, denn soeben begann er andauernd zu läuten. Es schienen ungewöhnlich viele Menschen aus dem Kirchenplatz vor dem Kruge versammelt. Isa Berger begann mechanisch die Fuhrwerke zu zählen, immer wieder mußte sie von vorn beginnen, es wimmelte auf dem Platz wie in einem Ameisenhaufen. Kein Wunder, daß die Leute von nah und fern herbeieilen, um meinen Mann zu hören, dachte sie stolz, wer ist denn auch wie Robert!

In diesem Augenblick trat Claire in die Stube. »Darf ich Sie bitten, Frau Pastorin,« sagte sie schüchtern, »mir eine Stelle aus dem Englischen übersetzen zu helfen? Sie ist mir nicht recht verständlich.«

»Gern, liebes Fräulein, geben Sie nur her.«

»Sie sehen angegriffen aus, Frau Pastorin«, sagte Claire teilnehmend. »Kommen Sie auf Ihr Zimmer, da legen Sie sich ein wenig aufs Sopha, ich mache es Ihnen recht bequem, und wenn Sie erlauben, bleibe ich ein wenig bei Ihnen.«

Was ist nur heute in alle Menschen gefahren? grübelte Isa Berger, und laut sagte sie: »Sie behandeln mich ja wie eine Schwerkranke. Mein Mann, jetzt Sie – zuerst soll ich durchaus nicht in die Kirche, und ich bin doch einmal eine Kirchenläuferin, dann soll ich mich von Ihnen verziehen lassen. Ich habe doch nur Kopfweh, das passiert mir öfters. Seien Sie nicht so gut zu mir, Fräulein Schenkendorff, man hat seine Tage, wo man alles andre verträgt, nur nicht Güte.«

»Liebe Frau Pastorin,« sagte Claire weich, »nennen Sie mich Claire.«

Isa Berger sah in die ehrlichen grauen Augen des jungen Mädchens, zog ihren Kopf zu sich heran und küßte sie. »Gern, aber nur, wenn Sie mich Isa nennen wollen.« Sie drückte ihren schmerzenden Kopf in das Sofakissen, wendete Claire den Rücken zu und lag ganz still. »Lesen Sie mir ein wenig vor, Claire,« bat sie, »und seien Sie mir nicht gram, wenn ich darüber einschlafe.«

Claire begann mit hochklopfendem Herzen zu lesen, so einförmig und monoton, wie sie vermochte. Wie ein Plätschern von Regentropfen fielen die Worte von ihren Lippen, und von Minute zu Minute stieg ihre Bangigkeit und drohte ihr die Kehle zuzuschnüren. Isa Berger lag ganz still, aber an dem krampfhaften Zucken ihrer Schultern sah Claire, daß sie leise vor sich hin weinte. – –

Die kleine Kirche war gedrängt voll. Kopf an Kopf saßen die Bauern aus den Bänken, Kopf an Kopf standen sie um den Altar und im Mittelgange. Auf der vordersten Bank saß der alte Krimpe, neben ihm seine drei Söhne und Ernst Philippi, vor ihnen stand eine Reihe lettischer Frauen. Die sechs Barone hatten sich rund um die Kanzel gruppiert.

Der Pastor trat aus die Kanzel und beugte sein Haupt zum stillen Gebet. Dann sah er aus und blickte ruhig in die versammelte Menge hinein. Laut und deutlich verlas er den heutigen Text vom verlorenen Sohn.

Ernst Philippis nervöse Züge zuckten, er wartete in äußerster Spannung.

Die Predigt begann. In lichten, klaren Worten legte Robert Berger die Stimmung des heimkehrenden verlorenen Sohnes dar. Furcht und Hoffnung, Heimweh und Sehnsucht zittern in des Jünglings Seele, dann aber bei den liebenden Worten des Vaters überbraust jubelnde Freude alle kleinmütigen Gedanken. In gottbeflügelten gewaltigen Tönen schilderte der Redner die verzeihende Liebe des Vaters, und seine Worte fanden in der horchenden Gemeinde einen wunderbaren Widerhall. Erhaben mutig stand der Mann da, hoch aufgerichtet, und Ernst Philippi wußte, sein Freund hatte sich die Seele freigeredet und war dem Schicksal gewachsen, in welcher Form es ihm auch nahen sollte.

In atemloser Spannung lauschte die Gemeinde. Ein unterdrücktes Schluchzen seufzte durch die Kirche. Wie mit lichter Geisterhand hatte die große, steinfeste Gesinnung Robert Bergers sich der versammelten Menge zauberkräftig mitgeteilt und hielt sie fest unter dem Bann seiner starken Persönlichkeit.

Nach dem kurzen Kanzelvers neigte sich der Pastor zum allgemeinen Kirchengebet ... »Laß deine Gnade groß werden über dem Kaiser, unserm Landesherrn, Nikolai Alexandrowitsch ...«

Da entstand eine plötzliche Bewegung im Hauptgange – – »Du Lügner!« brüllte eine heisere Stimme. »Herunter von der Kanzel, du schwarzer Gottesknecht!«

Acht bis zehn unbekannte Männer drängten gewaltsam nach der Kanzel hin. Wie eine Mauer hatte sich der alte Krimpe, seine drei Söhne und Ernst Philippi erhoben und stellten sich in den Mittelgang vor die heranstürmende Schar.

»Ihr seid hier vor die unrechte Schmiede gekommen,« sprach der Alte gebietend und hob seine Hand, »geht zurück, woher ihr gekommen seid!«

»Nieder, nieder mit dem Pfaffenknecht!« Ein Faustschlag traf den Alten, daß er taumelte.

Hoch empor hielt der Vorderste der Bande, ein Riesenkerl, einen roten Sack. »Jetzt gebt's eurem Liebling an Hals und Kragen!« brüllte er höhnisch, »vor allem soll er in den Sack!«

»Hinein in den Sack!« johlte und zeterte die Bande und drängte wieder vorwärts.

Ein stummes Ringen begann. Ernst Philippi stürzte sich geschmeidig wie eine Katze von rückwärts auf den Anführer und hing sich an seinen Kragen fest, der alte Krimpe packte den Riesen bei den Schultern und hielt sie wie mit eisernen Schrauben umklammert. Seine Söhne und die Schar der Weiber warfen sich den übrigen Aufrührern entgegen.

Kreischend drängte die Masse der Ausgangstür zu.

»Feiglinge!« ertönte die gewaltige Stimme des Raussuppenschen Barons. »Steht! Verlaßt ihr so euren Pastor in der Not?«

»So seid ihr auch hier, ihr deutschen Barone? Landaussauger! Leuteschinder! Deutsche Hunde!« brüllte der Riese und schlug schäumend vor Wut um sich. Ins Gesicht getroffen sank der alte Krimpe nieder.

»Ruhe im Hause Gottes!« hallte groß und feierlich die Stimme Bergers. »Schieß, wenn du kannst!« Er sah die Mündung einer Pistole vor sich schwanken.

Sechs blanke Revolver hoben sich gleichzeitig gegen den Anführer.

»Wag' es, und du bist ein toter Mann! Nieder mit der Waffe!« donnerte der Rausuppensche.

Ein feiges Flirren in den Augen des Bandenführers – die Waffe senkte sich.

»Hinaus dort durch die Sakristei!« kommandierte der alte Baron. Die sechs Revolver folgten drohend und unerbittlich den Bewegungen der Aufrührer.

Schweigend drückte sich die Bande beiseite. Die Sakristeitür schloß sich hinter dem letzten Mann.

Einen Augenblick herrschte Totenstille.

»Kommen Sie, Herr Pastor. Weg frei, ihr Leute!« Und unter der Bedeckung der Barone schritt der Pastor in den Mittelgang.

»Ich dank' Euch, alter Krimpe; ich dank' euch, ihr Frauen!« sprach er. »Gott lohne euch eure Treue!«

Erhobenen Hauptes, mit seltsam glänzenden Augen trat Robert Berger ins Freie.

Ein schneidender Windstoß fuhr ihm entgegen, es war ein böses Wetter geworden.

Scheu wichen die Leute zur Seite.

»Da fahren sie hin!« sagte ein alter Bauer und wies auf den Weg.

Acht Radfahrer – der vorderste schwenkte einen roten Sack wie eine Fahne vor sich her – sausten an dem Kirchenkruge vorüber die Landstraße entlang.

»Daß wir sie entkommen ließen, die Halunken!« murmelte Baron Osterloh zwischen den Zähnen.

Da stieg der alte Rausuppensche auf einen Prellstein und rief: »Ihr Leute von Kronenthal! Hört mich! Eine Schmach ist heute eurer Kirche angetan, eine Schmach eurem Seelsorger, der seit zehn Jahren wie ein Freund zu euch gewesen ist. Wollt ihr diese Schmach auf euch sitzen lassen? Seht,« – mit einer zornigen Gebärde streckte er den Arm aus – »da ziehen sie hin wie erbärmliche Hasen, die in die Flucht gejagt sind, eure Volksbeglücker und Vorkämpfer. Wenn sie nur ihr Fell in Sicherheit bringen! Wollt ihr solchen Männern trauen? So haltet doch eure Augen offen und fragt euch: Ist das Wahrheit, was sie euch lehren? Werdet ihr wirklich so geknechtet und bedrückt, wie sie sagen? Gebt Antwort, ihr Männer von Kronenthal!«

Eine tiefe Stille. Erregte, erhitzte Gesichter ringsum. »Er ist ein Kungs!« schrie eine Stimme. »Hört nicht auf den Kungs!«

Alles schwieg. Furchtlos, mit Falkenblicken sah der alte Rausuppensche sich um. »Männer von Kronenthal,« rief er wieder, »kommt zur Besinnung! Seht hier, meine grauen Haare haben viel erlebt, und das weiß ich: wer seine Kirche und seinen Kaiser verachtet, der ist ein elender Mann! Dem blüht kein Glück, einem rechtschaffenen Manne aber folgt Achtung und Segen. Geht nach Hause, ihr Leute, und fragt euch aufs Gewissen, ob der alte Rausuppensche Herr die Wahrheit spricht oder nicht.«

»Er spricht die Wahrheit!« rief schrill und freudig die Stimme eines alten Mütterchens. »Schon als kleines Jungherrchen hat er immer die Wahrheit gesprochen. Ich kenn' ihn von klein auf, war seine Amme!«

»Alte Lihbing!« rief der Baron bewegt. »Alte Lihbing, wo kommst du her?« Er sprang vom Prellstein und drängte zu der Alten hin.

Strahlend vor Freude küßte sie ihm die Hand.

»Hurra! Der Rausuppensche Herr! Hurra!« schrien einige Stimmen.

Ein paar Mützen flogen in die Luft, die Stimmung war umgeschlagen – aufgehellte Mienen, freudige Gesichter.

»Ich dank' euch, Kinder,« rief der alte Herr, »die Ehre des Lettenvolkes ist noch nicht ganz darnieder, es gibt gottlob noch echte Männer unter euch!«

Da flog eine hellgekleidete Frauengestalt ohne Hut und Mantel unter die Menge. Ihre Augen leuchteten fieberhaft. Isa Berger war's. »Was geht hier vor?« schrie sie. »Hier geht etwas vor! Ich fühl's, ich weiß es ... Robert, lebst du?« Schwer atmend lag sie an seiner Brust.

Erregte Gruppen bildeten sich um sie her. Unbehelligt geleiteten die Barone den Pastor und seine Frau bis vor ihr Heim.

Robert Berger schwamm es vor den Augen. Eine nachträgliche Schwäche drohte ihn zu übermannen. »Wie kam es, daß die Herren alle so rechtzeitig da waren?« fragte er und blickte wie ein Kind von einem zum andern.

»Lassen's nur gut sein, lieber Pastor«, lachte der Rausuppensche gemütlich und klopfte ihn auf die Schulter. »Sie haben einen ganz tüchtigen Kandidaten!«

Robert Berger begriff noch immer nicht. Seine Frau kam rasch ihm zu Hilfe. »Darum also waren Sie gestern abend so lange fort, Herr Kandidat!« rief sie mit leuchtenden Augen und reichte ihm beide Hände. »Sieh, Robert, dein Freund ist bei all den Herren persönlich gewesen. O, wie danke ich Ihnen, Ihnen allen.«

»Aber das war doch selbstverständlich, gnädige Frau.«

»Treten Sie ein, meine Herren,« bat sie, »und trinken Sie eine Tasse Tee oder einen Kognak, es ist bitter kalt heute.«

»Verzeihung, gnädige Frau, wir müssen heim, da kommen auch schon unsre Wagen.«

Baron Fink von Finkenhorst trat zögernd näher. »Wenn Sie erlauben, Frau Pastor,« sagte er, »komme ich mit herein, ich muß Herrn Kandidaten Philippi noch einen Moment sprechen.«

Grüßend und ihre Hüte schwenkend rollten die übrigen Herren in drei Wagen davon.

Ängstlich zog Isa Berger ihren Mann in das Haus. »Und du hast die ganze Zeit in der Kälte gestanden!« klagte sie. »Mein Gott, wenn das nur gut abläuft!«

Sie traten in das Haus.

»Hören Sie, Herr Kandidat,« begann Baron Fink und zog Philippi in eine Ecke, »ich kenne Possart persönlich, hier ist ein Brief an ihn. Lesen Sie – er wird Ihnen die nötigen Schritte ebnen. Sie müssen zur Bühne!«

Mit einem klaren Lächeln sah Ernst Philippi den sonderbaren Gesellen an. »Vor vier Wochen noch hätte ich Ihr Anerbieten mit Dank und Freude angenommen, Baron Fink,« sagte er fest, »heute weiß ich, daß meine Pflicht woanders liegt, und sehen Sie doch nur mein steifes Bein, ich bin kein Bühnenheld, Baron.«

»Das – das hab' ich ja gar nicht bemerkt«, sagte Baron Fink betrübt. »Das tut mir aber wirklich leid! – Hören Sie,« fuhr er, von einer neuen glänzenden Idee erfaßt, fort, »meinen lettischen Kriegsgesang habe ich für Orchester gesetzt, den muß ich Ihnen unbedingt noch einmal vorspielen. Besuchen Sie mich doch bald.«

Isa Berger kredenzte dem Baron ein Gläschen Kognak, und auf einem Tablett brachte das Dienstmädchen heißen Tee herein. »Trink, Robert, trink!« bat Isa Berger, »und dann gleich ins Bett. Sie entschuldigen, Baron Fink.«

*

Drei Tage waren vergangen. Ein unheimlicher Druck lastete auf dem Pastorat.

Robert Berger war schwer krank und wälzte sich ruhelos auf seinem Lager. »Ich trage die rote Fahne nicht! Nein, nein, ich trage sie nicht! Schieß!« schrie er wild und machte Miene, aus seinem Bett zu springen.

Ernst Philippi und Isa Berger hatten Mühe, den fiebernden Kranken zu bändigen.

»Um Gottes willen, einen Arzt, Herr Kandidat!« stöhnte Isa. Ihre tränenlosen, weit aufgerissenen Augen, ihr angstverzerrtes Gesicht schnitten Ernst Philippi ins Herz.

»Ich fahre sofort in die Stadt, liebe verehrte Frau Pastorin,« sagte er, »und kehre nicht ohne Doktor wieder. Lassen Sie sich von Claire bei der Pflege helfen und schicken Sie den Kutscher nach dem alten Krimpe, auf den können Sie sich verlassen.«

Es war zehn Uhr abends, als Ernst Philippi in einem kleinen einspännigen Schlitten in den Wald hineinsauste. In den letzten Tagen war tiefer Schnee gefallen, jetzt knirschte der Frost unter den Kufen des Schlittens. Eine klare kalte Winternacht voll glänzender Sterne hing über den schweigenden weißen Bäumen. Hoch in unendlicher Ferne stand der blasse Mond mit seinem runden Silbergesicht und wunderte sich über den einsamen Mann, der in so unvernünftiger Eile durch den Forst jagte. Ernst Philippi nickte ihm zu. »Ja du,« murmelte er, »du hängst da in deiner kühlen luftigen Höhe und weißt nicht, wie bang und heiß uns Menschenkindern zumute sein kann!«

An der Forstei vorüber flog der kleine Schlitten, wieder schlug der Hund an, und wieder leuchtete es wie vor zwei Monaten durch die jetzt verschneiten Büsche. »Hussa, presto, vorwärts!« rief Ernst Philippi und schwang die Peitsche. Er war wie im Fieber. »Hier war's,« sagte er halblaut, »wo man eine Strecke abschneiden konnte, wenn man quer übers Feld ging.«

Rasch bog er von der Hauptstraße ab und fuhr über den verschneiten Graben auf die Wiese. Eine baufällige Heuscheune stand melancholisch einsam mitten auf der silberglänzenden Fläche. An der Scheune vorüber mußte er – ja, so war's. Durch flockige vorüberfliegende Wolken lugte der Mond, und eine große einsame Stille schärfte die wachsamen Sinne des jungen Mannes. Sein nervöses, scharf angespanntes Ohr vernahm deutlich Schritte, als sei ein ganzer Trupp Männer unterwegs. Das bedeutete zu dieser Stunde nichts Gutes. Wohin nur mit dem Gefährt? Hier auf der unbedeckten Fläche war es jedem Blick ausgesetzt. Ein seltsamer Instinkt schien Ernst Philippi zu beseelen: er überlegte nicht mehr, er handelte. Entschlossen sprang er aus dem Schlitten, führte das Tier am Zügel hinter die Scheune und band es fest. Dann zog er einen gestrickten Schal aus der Tasche, schlang ihn in Bauernart zweimal um den Hals, riß das Futter aus der Fellmütze des Pastors, wandte sich um und schlich sich zu Fuß an die Hauptstraße zurück. Hier warf er sich in den Schnee und horchte. Immer näher kamen die Schritte, immer näher. Ein paar schneebedeckte Tännlinge am Grabenrand trennten ihn von der Landstraße. Sein Herz klopfte in starken dumpfen Stößen. »Zur Not kann ich ja auch einen betrunkenen Landstreicher abgeben.« Steif und starr blieb er liegen.

»Morgen setzen wir den Kronenthalschen Pastor ab,« sprach ein langer Kerl mit dumpfer Stimme, »lange genug hat er seiner Gemeinde von der Kanzel gute Lehren verkündet. Nun ist die Reihe an uns!«

»Nun ist die Reihe an uns!« wiederholten zwei, drei Stimmen.

»Den hat schon ein anderer abgesetzt – der ist ja todkrank, ich weiß es vom Küster!« rief jemand.

»Um so besser, dann brauchen wir uns mit dem da nicht weiter aufzuhalten, wir haben wichtigere Dinge vor«, sprach der Anführer wieder.

»'s wird sich schön wärmen lassen an den Flammen der schwelenden Gutshöfe – ha ha ha!« brüllte eine trunkene Stimme.

»Stille! Wer untersteht sich da, so laut zu reden?« Lautlos huschten einige wilde Kerle hin und wider.

»Dem Finkenhorstschen werdet ihr aber doch nichts tun?« sagte eine ängstliche Stimme, und ein kleiner krummbeiniger Mann drängte sich an den Langen. »Das gnädige Fräulein, die Schwester des Kungs, ist gut zu mir gewesen, als ich krank lag, hat mir Wein gebracht und Suppe.«

»Ruhe! Wir kämpfen nicht gegen Weiber, und ›gnädige Fräuleins‹ gibt's nicht mehr, merk' dir das, Dumpje Marting. Seid ihr bereit?«

Im Schatten der Tannenbäume verschwanden die finstern Gesellen.

In Schweiß gebadet lag Ernst Philippi auf dem festgefrorenen Schnee. Er richtete sich auf und spähte die Straße hinauf, hinab. War das alles Wirklichkeit gewesen oder ein spukhafter, unbegreiflicher Traum? In der Richtung nach Finkenhorst, quer über den Weg, auf welchem er gekommen war, hörte er die Schritte fortstampfen.

So schnell ihn sein steifes Bein trug, lief er zur Scheune zurück, band das Pferd los und warf sich ächzend in den Schlitten. Sein Plan war gefaßt. »Gott sei uns gnädig!« stöhnte er, und fort sauste das Gefährt in wilder Jagd wie ein nächtiges Gespenst über die blanke Schneefläche, als habe es den Satan im Rücken.

Da war keine Zeit zum Denken. Und Ernst Philippi dachte nichts mehr, er schrie zu seinem Gott in seiner Angst und Qual, an ihm vorüber flogen Bäume, Telegraphenstangen und Gelände, und wie aus schwerem dumpfem Traum erwachend, sah er sich in der kleinen schlummernden Stadt. –

Dreiviertel Stunden später sprengte eine Abteilung berittener russischer Kosaken in geschlossenem Trabe dieselbe Landstraße zurück. Vor ihnen her wie ein winziger Punkt sauste ein kleiner Schlitten über die Schneefläche.

»Der Gaul hat den Teufel im Leibe, das muß man sagen!« rief der Leutnant lachend. »Sollen wir uns von dem Gaul eines deutschen Pfarrers beschämen lassen? Vorwärts, Kinder!«

Gegen den sternenklaren Himmel schlug eine feurige Lohe.

Mit den Zähnen knirschend schwang Ernst Philippi die Peitsche. »Finkenhorst brennt, Doktor!« sprach er heiser. »Die Kosaken kommen zu spät.«

»Wie gewöhnlich!« nickte der kleine Mann im Biberpelz. »Wann kommen jemals Kosaken in Kurland zur Zeit?«

Ein vielstimmiges Rindergebrüll tönte dumpf und klagend durch die stille Winternacht.

»Sie haben die Ställe in Brand gesetzt, die Banditen! Das Herrenhaus steht noch, wie mir scheint.« Philippi sprach mit zusammengebissenen Zähnen.

»Daß so ein Jammer über unser Gottesländchen kommen mußte! Womit haben wir das verschuldet?« murmelte Doktor Sartorius. Auch ihm wurden die Augen feucht.

Es wurde eine schweigsame Fahrt. Keiner der beiden Männer sprach mehr ein Wort. An der verhängnisvollen Stelle vorüber flog der Schlitten, wo Ernst Philippi, von ein paar jungen Tannen notdürftig verdeckt, auf dem Schnee gelegen und den ganzen düstern Zug hatte vorüberschreiten sehen. Eisig kalt kroch es ihm über den Rücken. Unwillkürlich lockerte er die Zügel und ließ den schweißtriefenden Gaul eine Weile Schritt gehen. Hinter ihm her jagten die Kosaken heran und bogen links vom Hauptwege in der Richtung nach Finkenhorst ab. Schweigend fuhren die beiden Männer in den weißen Tannenwald hinein, ein jeder von ihnen war mit seinen trüben schweren Gedanken allein. Das qualvolle Blöken und Brüllen der Rinder tönte noch immer in ihren Ohren.

»Was ist aus unserm Gottesländchen geworden?« – Jetzt knatterte eine Salve von Flintenschüssen; sie kamen aus der Richtung von Finkenhorst.

Die Männer drückten einander stillschweigend die Hand.

Es war ein Uhr nachts, als das dampfende Tier vor dem Pastorat hielt.

Auf der Schwelle stand im Winterpelz eine zarte Mädchengestalt. »Gott sei Dank, du bist da!« rief Claire. »Der Pastor hat ein paar Stunden geschlafen!«

»Doktor Sartorius – meine Braut, Fräulein Schenkendorff!« stellte Ernst Philippi vor.

»Bitte, treten Sie einen Augenblick in den Saal, Herr Doktor, und erwärmen Sie sich durch ein Glas Kognak!«

Der Doktor stürzte hastig zwei Glas Kognak herunter und wärmte seine Hände am Ofen.

Übernächtig und blaß trat Isa Berger zu ihnen. »Guten Abend, Herr Doktor!« sagte sie tonlos. »Ich habe für Sie das Zimmer neben dem Herrn Kandidaten herrichten lassen, Sie bleiben doch natürlich die Nacht hier.«

Der kleine Mann verbeugte sich. Sein spitzes Maulwurfsgesicht lächelte scharfsinnig und aufmerksam. »Wenn es Ihnen recht ist, komme ich gleich mit zu dem Herrn Pastor, hm!«

Auf den Zehenspitzen trippelte der kleine Mann hinter der schlanken Gestalt Isas aus der Tür.

Claire flog an Ernsts Brust.

»Claire, mein Lieb, ich habe Furchtbares erlebt!« stöhnte er erschöpft und preßte sie leidenschaftlich an sich; dann drängte er sie sanft fort: »Geh, geh, vielleicht bist du dort nötig.«

Die Untersuchung war zu Ende. Teilnahmlos lag Robert Berger da. Atemlos hing Isa an den Lippen des Arztes. Er reichte ihr die Hand und sah sie fest an. »Eine schwere Lungenentzündung, gnädige Frau. Nicht hoffnungslos –« fügte er rasch hinzu.

Claire stand neben der unglücklichen Frau. »Isa,« flüsterte sie, »Mut, Mut! Liebe ist Mut!« – –

Es folgten schwere Tage und furchtbare Nächte, Minuten voll aufflackernder Hoffnung und Stunden zehrender Qual. Drei Menschen rangen unablässig um das teure Leben, und an einem feucht-schweren grauen Wintermorgen war die Krisis vorüber.

Wieder stand Doktor Sartorius vor dem Lager des Kranken. Ein ernstes Lächeln glitt über seine spitzen Züge. »Ich gratuliere Ihnen, gnädige Frau,« sprach er, »der Pastor ist vorderhand außer Gefahr.« Damit begaben sie sich in Robert Bergers Arbeitszimmer.

Schmerz läßt sich ertragen, unerwartete Freude aber ist häufig der überquellende Tropfen im Becher des Leides.

Schwer glitt Isa Bergers Haupt vornüber auf den Schreibtisch ihres Mannes. Sie lag in tiefer Bewußtlosigkeit. Als sie wieder zu sich kam, mußte sie weinen wie ein kleines Kind.

Der Doktor ließ sie ruhig ausweinen. »Gnädige Frau,« sagte er, »ich bin noch nicht zu Ende. Die akute Gefahr ist beseitigt, aber ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß Sie jetzt nicht hier im Norden bleiben dürfen. Sie müssen in den Süden, und zwar so bald als möglich. Die Lunge Ihres Gatten ist angegriffen.«

Entgeistert sah Isa Berger den Doktor an. »Ich verstehe Sie nicht«, murmelte sie. »In den Süden?« Sie stützte den schmerzenden Kopf in die Hand und versuchte zu denken. Wie eine Woge um die andre brauste es ihr in den Ohren und klang wie von ferne an ihr Bewußtsein: in den Süden! »Mein Gott, womit denn?« sagte sie hilflos wie ein kleines Kind ...

Die Genesung Robert Bergers schritt stetig vor. Stundenlang lag er ruhig im Bett mit einem seltsamen Lächeln auf den eingefallenen Zügen. Die schrecklichen Bilder jenes Sonntags stiegen nur schattenhaft vor seine noch halb schlummernde Seele, zwei Dinge aber waren ihm klar, gewiß und deutlich: der alte Krimpe hatte ihn lieb, und Ernst Philippi wollte wirklich Pastor werden. Mit einem fast zärtlichen Ausdruck folgte er den Bewegungen seines Freundes, ja er begann auch wieder Claire zu necken. Nie aber wäre es so gut vorwärtsgegangen, wenn es Isa nicht gelungen wäre, ihre heimlichen Sorgen vor ihm zu verbergen.

Das Auge des erfahrenen Arztes jedoch ließ sich nicht täuschen. Besorgt sagte er einmal zu Ernst Philippi: »Die Frau Pastorin gefällt mir nicht, ich meine, sie macht sich pekuniäre Sorgen. Ihre sensitive Natur ist durch die letzten Wochen aufs äußerste überspannt worden. Ich will mit dem Pastor reden.« Er schloß die Tür des Krankenzimmers hinter sich, und Ernst Philippi und Claire traten zu Frau Berger.

»Verehrte liebe Frau Berger,« begann Ernst Philippi weich, »warum grämen Sie sich jetzt? Bin ich nicht Ihr Freund? Und ist es nicht selbstverständlich, daß Freunde dazu da sind, um einander zu helfen? Ich bin nicht ohne Vermögen, wie Sie wissen. Wie könnte ich es besser verwenden, als daß ich es meinem Freunde zur Verfügung stelle! Darüber ist doch kein Wort zu verlieren!«

Die großen Kinderaugen sahen ihn trostlos an. »Robert wird Kronenthal nie verlassen!«

»Um hierher zurückzukehren, wird er es, und Ihnen zuliebe wird er es erst recht«, beharrte Ernst Philippi, und seine Augen leuchteten zuversichtlich. »Sehen Sie, da kommt ja schon Doktor Sartorius. Nun, war unser Kranker ebenso schwierig wie seine Frau Gemahlin?«

»Unglaublich hartnäckig!« polterte der kleine Mann mit dem Maulwurfsgesicht. »Versuchen Sie Ihr Heil, Herr Kandidat!«

Mit heiter-zuversichtlicher Miene ging Ernst Philippi zu seinem Freunde. »Höre, mein lieber Robert«, sagte er, »was sind das für Sachen? Ich komme, um dir einen netten kleinen Vorschlag zu machen: Du gehst mit Frau und Kindern auf einen oder zwei Winter in den Süden und überläßt mir inzwischen als deinem Adjunkten dein Amt. Was sagst du zu dem Plänchen?«

Robert Berger schüttelte den Kopf und wollte eben den Mund zu einer Erwiderung auftun. Kurz und gelassen schnitt Ernst Philippi ihm das Wort ab. »Mein lieber guter Junge,« sagte er, und sein zweiter und sein kleiner Finger begannen einen bedächtigen Triller auf der Bettdecke, »allen Respekt vor dir als Seelsorger, aber wenn du jetzt nicht tun willst, was notwendig ist, bist du ein ganz gewöhnlicher Egoist. Sieh doch deine Frau an; mit ihrer Nervenkraft ist's zu Ende. Sieht sie nicht aus wie ihr eigener Schatten? Hast du denn keine Pflichten gegen deine Familie, nur Pflichten gegenüber dem Amt? Geld? Darüber verlieren wir kein Wort weiter. Es ist da, sobald du es brauchst und wieviel du brauchst, und jetzt ziehst du sofort ein freundliches Gesicht und machst deiner verehrten Frau Gemahlin nach all den schweren Tagen auch eine ordentliche Freude!«

Robert Berger schwieg noch immer. Endlich streckte er seinem Freunde die abgemagerte Hand hin und sprach: »Du hast gesiegt!«

Ernst Philippi öffnete die Tür weit, sein Gesicht strahlte: »Nur herein, Frau Pastorin!« rief er übermütig. »Der Adjunkt von Kronenthal hat seine erste Seelsorge mit Erfolg und Glück durchgeführt.«

Isa kniete schluchzend an dem Bett ihres Mannes nieder, die Gatten hielten sich fest umschlungen.

Im Nebenzimmer aber lag Claire lachend und weinend in den Armen des Geliebten.

Doktor Sartorius rieb sich schmunzelnd die Hände. »So weit hätten wir sie glücklich!« brummte er. Dann ging er ins Kinderzimmer, zog die beiden kleinen Mädchen auf den Schoß und gab jedem einen herzhaften Kuß. »Nun reisen wir allesamt nach Italien!« sagte er vergnügt, »und Elschen und Marthchen werden große Guckaugen machen und dem Onkel Doktor Sartorius alle Monate eine hübsche Postkarte schicken. Ja, werdet ihr das?«

»Mit Tieren drauf oder mit Menschen?« fragte Elschen, die Ältere, besinnlich.

»Nein, mit Häusern und Städten!« rief Marthchen lebhaft. »Ich schick' Onkel Doktor bunte Postkarten mit Häusern.«

»Und ich schwarze mit Menschen und Tieren«, entschied Elschen.

Und somit war die Sache vollständig und endgültig erledigt. Bergers hatten wirklich und wahrhaftig beschlossen, nach Italien zu reisen. Die Kunde verbreitete sich mit Windeseile in der Nachbarschaft.

Der Rausuppensche Herr erschien eines Vormittags und wünschte Robert Berger zu sprechen. Der starke Mann erschrak, als er die abgezehrte Gestalt des Kranken sah. »Das nenn' ich aber vernünftig, daß Sie reisen wollen, lieber Herr Pastor«, sagte er und setzte sich. »Wir werden Sie alle mit Sehnsucht und Freude zurückerwarten. Aber einen Vertreter haben Sie auch! Wer hätte dem kleinen blassen Kerl mit dem Schauspielergesicht solch eine Mordscourage zugetraut?«

Robert Berger öffnete die Augen weit. »Ich weiß ja von gar nichts«, sagte er.

»Wie?« ereiferte sich der alte Herr, »daß der Herr Kandidat dem Finkenhorstschen sein Gut und Leben gerettet hat – das wissen Sie nicht?«

»Aber keine Silbe.«

»Na, hören Sie mal! Mitten bei nachtschlafender Zeit, als er den Doktor – schockschwerenot! wie heißt er doch? – Doktor Sartorius für Sie aus der Stadt holte, da hat er, der lahme kleine Kerl, wie so'n Indianer sich in 'nen Graben gelegt, hat die Mordsbande mit all ihren sauberen Plänen belauscht und ist dann im Galopp in die Stadt gejagt, hat richtig eine Abteilung Kosaken aufgestöbert und sie – wohl zum erstenmal rechtzeitig in Kurland – nach Finkenhorst spediert. Den Viehstall hatte die Halunkenbande schon in Brand gesetzt, ein Teil der Tiere ist auch in den Flammen umgekommen, aber das Wohnhaus steht noch unversehrt auf zwei Beinen, die Spinette und all der musikalische Plunder sind auch heil und ganz geblieben.«

»Aber – kein Wort davon hat mir Philippi gesagt!« Robert Bergers Augen leuchteten und strahlten.

»Gefällt mir von dem jungen Mann, gefällt mir ganz außerordentlich!« schmunzelte der alte Herr. »Und wissen Sie noch etwas? Daß es Rausuppen nicht ähnlich gegangen ist, hab' ich ihm gleichfalls zu danken. Es war eben ein richtiger Mord- und Raubzug geplant worden, und der ist mal rechtzeitig im Keime erstickt!«

»Gott sei Dank!« seufzte Robert Berger. Er sah ganz verklärt aus.

»Ja – ja, Ihr Freund – einen besseren Vertreter ... Na, ich mag keine Komplimente machen, aber Sie beide sind einander wert!« sagte der alte Herr und verkniff sich mühsam eine heftig aufsteigende Rührung. – »Hören Sie also, lieber Freund und Pastor, ich muß Ihnen da noch etwas mitteilen: Wenn man auf Reisen geht und so weiter, braucht man so'n bißchen Klimbim und dergleichen. Ich kenne das. Also machen Sie mir die Freude und stecken Sie dies Kuvertchen hübsch unter die Decke – ja! Und nein – keine Worte machen! Und kommen Sie uns hübsch kräftig und gesund wieder. Auf unserm brennenden Boden brauchen wir tüchtige Männer!«

Sie schüttelten einander warm die Hände, immer wieder und wieder.

Robert Berger war ganz überwältigt. Der Rausuppensche wischte sich hastig eine Träne aus dem grauen Schnurrbart und fuhr eilends davon.

»Isa, Ernst, Fräulein Claire!« rief Robert Berger mit schwacher Stimme, »kommt alle, alle herein.« Er richtete sich auf und sah seinem Freunde lange ins Gesicht, als sähe er ihn zum erstenmal. »Pastor Philippi,« sagte er mit strahlendem Lächeln, »ich danke dir, daß du mir mein Amt abnimmst! Kehre ich wieder, so ist's gut, kehre ich nicht wieder – nein, ruhig! es kann einem doch alles mögliche passieren –, so weiß ich's in den besten, treuesten, tapfersten Händen geborgen, und ich kann ebenso ruhig nach Grönland wie nach Italien reisen. Mensch, Freund, Goldjunge, warum hast du mir von nichts erzählt? Die Bescheidenheit geht denn doch über die Bäume!«

Die Freunde umarmten und küssten einander. Claires blasses Gesicht strahlte wie eine helle Blume.

Erschöpft sank der Kranke auf seine Kissen zurück.

Eine Stunde später ließ Robert Berger seinen Freund zu sich bitten. »Mein Herzensjunge, ich hab' mir die Sache reiflich überlegt. Ich bin doch erst in ein paar Wochen reisefähig. Wozu aber sollt ihr beide Zeit verlieren? Da, meine ich, wäre es das Rechte, wenn du mit deiner Braut nach Mitau abreistest und dich dort ordinieren und möglichst bald trauen ließest! Was meinst du dazu?«

Der zweite und der kleine Finger Ernst Philippis setzten sich sofort in eine rasende Trillerbewegung. Mit einem freudigen Lächeln blickte der Kandidat auf. »Das ist mir sehr recht. Ja, was kann ich mir denn Schöneres wünschen?« sagte er. »Du bist nun, Gott sei's gelobt, überm Berg, alter Junge, und kannst uns entbehren.«

Robert Berger drückte ihm die Hand. »Noch eins,« sprach er, »nehmt die Kinder mit, meine Frau sorgt sich um ihre kleinen Mädchen, und die sind doch völlig unnütz sozusagen auf brennendem Boden.«

»Aber selbstverständlich ...«

»Mir armem Krüppel wird ja die wilde Horde nichts anhaben«, fuhr Robert Berger gedankenvoll fort. »Ich habe ja auch schon meinen Teil weg; aber die Kinder möcht' ich so bald als möglich aus dieser Stätte der Überfälle und der Brände entfernt haben. Besprich das mit deiner Braut.«

»Da ist nichts zu besprechen«, sagte Ernst Philippi warm. »Die Sache ist in Ordnung. Wir reisen morgen.« – –

Ein großer schwerbepackter Reiseschlitten fuhr über das flache Land in der Richtung zum Annenburgschen Kruge. Ein zweiter Schlitten folgte. Die Barone der benachbarten Güter, bis an die Zähne bewaffnet, hatten es sich nicht nehmen lassen, ihrem stellvertretenden Pastor das Geleit zu geben.

Fünf Wochen später zog das junge neuvermählte Paar in das ihnen so liebgewordene leere Pastorat Kronenthal, und wieder geleiteten es die Barone.

Diese einfache Handlung schloß symbolisch den Kern eines kraftvollen ferneren Zusammenhaltens von Adel, Geistlichkeit und Bürgerschaft in sich, in dem Sinne, wie der alte Rausuppensche und Ernst Philippi es empfunden und ausgesprochen hatten. Das Deutschtum sollte und mußte sich gegenseitig Halt und Stütze bieten, denn es stand und steht noch immer »auf brennendem Boden«.


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